Cover

Ronald Skirth

Soldat wider Willen

Wie ich den Ersten Weltkrieg sabotierte

Duncan Barrett (Hg.)

Aus dem Englischen von Christoph und Karola Bausum

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Ronald Skirth / Duncan Barrett (Hg.)

Ronald Skirth wurde 1897 geboren und starb 1977. Mit 19 zog er in den Krieg und diente an der Westfront in Belgien und in Italien. 1919 kehrte er nach Hause zurück, heiratete seine Jugendliebe Ella und nahm eine Anstellung als Lehrer an. Fünfzig Jahre später begann er mit der Niederschrift seiner Erinnerungen. Seine Tochter Jean gab das Manuskript 1999 an das Imperial War Museum in London, wo Herausgeber Duncan Barrett es entdeckte und für die Veröffentlichung aufbereitete.

 

Duncan Barrett wurde 1983 geboren und lebt in London. Er studierte Englisch am Jesus College in Cambridge und ist als Autor, Herausgeber, Filmemacher und Schauspieler tätig.

Über dieses Buch

Unter Schock stolpert der 19-jährige Soldat Ronald Skirth im Juni 1917 über das Horror-Schlachtfeld von Messines in Belgien. Seine Kameraden sind alle tot. In einem Krater begegnet er einem weiteren Toten: dem jungen deutschen Soldaten Hans. So also sah der Feind aus – genauso wie er. Noch im Jahr davor war Ronald begeistert in den Krieg gezogen, aber in den Materialschlachten von Flandern hat er schnell gelernt, dass er und seine Kameraden für seine Vorgesetzten nur Menschenmaterial sind, das man ohne Bedenken in den Tod schickt. Nach der Konfrontation mit seinem deutschen Doppelgänger und dem sinnlosen Tod vieler seiner Kameraden verändert er sich, er wird zum inneren Kriegsgegner und Pazifisten und streut Sand ins Getriebe der Militärmaschinerie.

Diese Memoiren eines einfachen Soldaten sind eine bittere Abrechnung mit der Sinnlosigkeit des Krieges, umrahmt von einer anrührenden Liebesgeschichte; ein ungewöhnlicher Text, der lange verschollen war – ein authentisches britisches Gegenstück zu «Im Westen nichts Neues».

 

«Eine der außergewöhnlichsten Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg, die es gibt. Ein Klassiker, den man mit Ernst Jüngers ‹In Stahlgewittern› und Robert von Ranke-Graves’ ‹Strich drunter!› vergleichen muss.» Mail on Sunday

 

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2010 bei Macmillan, London unter dem Titel «The Reluctant Tommy».

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2013

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The Reluctant Tommy» Copyright © 2010 by Jean Skirth

Vorwort © Jon Snow 2010

Nachwort © Duncan Barrett 2010

Lektorat Frank Strickstrock

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

(Abbildung: akg-images; Foto des jungen Soldaten mit freundlicher Genehmigung aus dem Nachlass von Ronald Skirth)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-61530-6 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978-3-644-52181-0

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-52181-0

Fußnoten

1

Schülerin, die bei der Beaufsichtigung von Kindern hilft; die nächste Stufe wäre «Pupil Teacher», eine Schülerin, die bereits mit Lehraufgaben betraut wird, ohne schon mit ihrer Lehrerausbildung begonnen zu haben. (Anm.d.Übers.)

2

Während des Ersten Weltkriegs gab es in England Frauen, die jungen Männern, die sich noch nicht zur Armee gemeldet hatten, eine weiße Feder überreichten, um sie als Drückeberger oder Feiglinge zu diffamieren. (Anm.d.Übers.)

3

Letzte «freiwillige» Rekrutierungskampagne, bevor 1916 die Wehrpflicht eingeführt wurde. (Anm.d.Übers.)

4

New Army – auch «Kitchener’s Army» genannt – auf Initiative des Kriegsministers Herbert Kitchener seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs aufgestellte Massenarmee. (Anm.d.Übers.).

5

Um kundzutun, dass ich im Ernstfall nach dem Ritus der anglikanischen Kirche beerdigt werden sollte.

6

In der britischen Armee ist der Titel des Commanding Officer (C.O.) den Befehlshabern größerer Verbände vorbehalten; kleinere militärische Einheiten wie etwa Kompanien oder Batterien werden von einem Officer Commanding (O.C.) befehligt. (Anm.d.Übers.).

7

Der Schlüssel oder Code war einfach zu gebrauchen und schwer zu knacken (weil man ihn, wenn nötig, jede Stunde wechseln konnte). Er basierte auf folgendem Rezept:

Man nehme irgendein Wort, am besten eines mit mindestens sechs Buchstaben. Man eliminiert Buchstabenwiederholungen und schreibt danach alle weiteren Buchstaben des Alphabets. Teilt man das Ganze noch in zwei Hälften, dann sieht es so aus:

Beispiel 1: Codewort «DRAUGHTS»

Zum Verschlüsseln ersetzt man jeden Buchstaben durch denjenigen, der über bzw. unter dem benötigten Buchstaben steht. Die Nachricht ZERO HOUR MIDNIGHT wäre also IXKH OHMK UZJGZNOP.

Beispiel 2: Codewort «EASTER»

Die gleiche Nachricht hieße jetzt JKOR XRDO SYUTYWXN.

Natürlich musste man das Codewort des jeweiligen Tages kennen. Es gab ein ähnliches System für das Verschlüsseln von Zahlen.

8

«Du schlankes, bebend, furchtsam Thier! / Welch Zittern füllt das Herzchen dir! […] Doch, Mäuschen, du zeigst nicht allein, / Daß Vorsicht oft kann unnütz sein; / Denn was wir Menschen fädeln ein, / Geht krumm auch oft, / Und läßt uns nichts als Gram und Pein, / Wo wir gehofft. // Doch du bist glücklich gegen mich, / Die Gegenwart nur kümmert dich! / Ich aber, blicke rückwärts ich, / Seh’ nichts als Schmerz, / Und birgt zwar auch die Zukunft sich, / Doch bangt mein Herz.» (Übersetzung von Karl Bartsch, 1865)

9

Gewöhnliche Soldaten hatten kein Vertrauen zu ihrem Oberkommandierenden, Feldmarschall Haig. Generäle wie Plumer und Gough wurden bewundert – und ein Grund dafür war, dass beide persönlich kamen, um sich die Bedingungen an der Front anzuschauen. Haig kam der Front niemals näher als ein paar Meilen, bis der Holocaust von Passchendaele vorbei war. Mir wurde erzählt (obwohl ich es nie gedruckt gesehen habe), dass er, als er das verlassene Schlachtfeld sah, zusammengebrochen sei und geweint habe. Hätte er es vorher gesehen, dann hätten die Angriffe vielleicht nie stattgefunden und 100000 Leben wären nicht unnötig geopfert worden.

Unser eigener Kommandant war General Gough, hitzköpfig, aber beliebt. Ich war mit dem Telefonisten im Armee-Hauptquartier bekannt, der sah, was Gough mit den versiegelten Befehlen machte, die ihm Anweisungen für die Schlachtführung gaben. Er kritzelte «IMPOSSIBLE» über das erste Blatt, «BLOODY IMPOSSIBLE» auf das nächste, und über die Paragraphen mit dem «Zeitplan» schrieb er «BULL——». Diese Kommentare, mit dickem blauem Stift geschrieben, wurden an Haig zurückgeschickt. Das Ergebnis: Gough wurde entlassen und durch Plumer ersetzt.

10

Französisches Äquivalent von «Tommy».

11

«Wir sind Fred Karnos Truppe [komödiantische Theater-Tourneegruppe] / Zu was sind wir nütze? / Wir können nicht schießen, wir können nicht kämpfen / Wir sind zu nichts nütze.»

12

«Ich will nach Hause gehen / Ich will nach Hause gehen / Kohlenkiste [Granate, die mit schwarzem Rauch explodiert] und Schrapnell, sie pfeifen und brüllen / Ich will nicht mehr in den Schützengraben / Ich will übers Meer / Dorthin, wo der Kaiser keine Bomben auf mich schießen kann / Oje! / Ich will nicht sterben / Ich will nach Hause gehen.»

13

«Ich sah sie nur vorübergehen / Und doch werde ich sie lieben, bis ich sterbe.»

14

Defaulter bezeichnete entweder jemanden, der sich der Kriegsdienstpflicht zu entziehen versuchte, oder – wie wohl in diesem Fall – jemanden, der gegen Dienstvorschriften verstoßen hatte und eine Strafe abzusitzen oder abzuleisten hatte. (Anm.d.Übers.)

15

Sprenggranaten oder «High Explosive Shells» bohren sich in den Boden, bevor sie explodieren, außer wenn sie mit einem Aufschlagzünder versehen sind.

16

Die vielfältigen Formen posttraumatischer Belastungsstörungen bei Soldaten, die an Kampfhandlungen teilgenommen haben, rückten seit dem Ersten Weltkrieg verstärkt ins öffentliche Bewusstsein – schon allein aufgrund der großen Zahl der Fälle. Lange Zeit war nicht bekannt, was die Ursache dieser Störungen war, geschweige denn, wie sie zu behandeln wären. Während man in Deutschland vor allem von «Kriegszitterern» sprach, bürgerte sich in England der Begriff shell shock ein, weil man glaubte, Auslöser seien die Druckwellen der Explosionen. (Anm.d.Übers.)

17

Kreuzungspunkt mehrerer Straßen und einer Bahnlinie auf der Straße von Ypern nach Menen, deshalb und wegen ungünstiger Lage Tag und Nacht starkem deutschem Beschuss ausgesetzt (Anm.d.Übers.).

18

Metallgefäße mit Deckel und Henkel, in der britischen Armee zum Transport von Essen und Trinken eingesetzt. (Anm.d.Übers.)

19

Deutsches 5,9-Zoll-Geschütz. Das Pendant zu unserer 6-Zoll-Haubitze.

20

Leuchtgeschosse, die aus speziellen Signalpistolen abgefeuert werden.

21

Kurz für disconnected – unterbrochen.

22

Royal Army Medical Corps oder auch «Rob All My Comrades» (Beklaue alle meine Kameraden), je nach persönlicher Sichtweise.

23

Railway Transport Officer.

24

Royal Engineers.

25

Mit der Hilfe meines Taschenwörterbuchs konnte ich einigermaßen genau vom Italienischen ins Englische übersetzen. Ich glaube, ich muss mir das während der «verlorenen» Monate selbst beigebracht haben. Vermutlich war ich im Krankenhaus ständig in Kontakt mit italienischen Muttersprachlern.

26

Es handelt sich um das Bild auf Seite 10.

27

Pickfords – eines der ältesten Umzugsunternehmen Englands (Anm.d.Übers.).

28

Breiter Ledergürtel mit diagonal getragenem Schulterriemen (Anm.d.Übers.).

29

Distinguished Service Order – Orden für hervorragenden Dienst (Anm.d.Übers.).

30

Distinguished Service Order bzw. Distinguished Conduct Medal: hohe Tapferkeitsauszeichnung für Offiziere bzw. «other ranks», d.h. Unteroffiziere und Mannschaftsdienstgrade; Military Cross bzw. Military Medal: nächstniedrigere Tapferkeitsauszeichnung für Offiziere bzw. «other ranks» (Anm.d.Übers.).

31

«Minnie»: englische Abkürzung für deutsche Minenwerfer oder Mörser.

32

Nach dem Ende des Krieges erfuhr ich, dass Ellas Bruder unter denen gewesen war, die den feindlichen Beschuss abbekommen hatten.

33

Mein Vertrauen war gerechtfertigt. Als der große «Schub» der Alliierten am 24. Oktober losging, lag das Dorf unter schwerem Artilleriebeschuss. Nur sehr wenig von der Kirche blieb stehen, doch die Wand, gegen die «Windsor Castle» angelehnt stand, überlebte, ebenso wie mein Lager selbst.

34

Alice in Wonderland war inzwischen verlorengegangen – vielleicht in einen Kaninchenbau gerutscht!

35

«Besucher? Viel zu wichtig, um sie als Besucher zu bezeichnen! Oberster General Diaz und König Viktor Emmanuel! Und zwei weitere Generäle!»

36

Mädchen im Teenageralter, die die Haare den Rücken hinunter lang trugen, nannte man Flapper («Flatterer»); wenn sie sich erwachsen fühlten, steckten sie ihre Haare hoch.

37

Unter mir ist ausgebreitet wie ein grünes Meer / Die wellenlose Ebene der Lombardei, / Begrenzt von der dunstigen Luft, / Mit Inseln versehen in Gestalt schöner Städte; / Unter den azurfabenen Augen des Tages / Liegt Venedig, des Ozeans Säugling, / Von Menschen bevölkertes Labyrinth von Mauern, / Amphitrites schicksalhafte Hallen, / Die ihr altersgrauer Vater nun pflastert / Mit seinen blauen und strahlenden Wellen.

38

Eine Gruppe aus einem Unteroffizier und vielleicht sechs Soldaten, deren Aufgabe es ist, jedes unerlaubte Verlassen des Zuges zu unterbinden.

39

Schiffe, die in der Nacht ihre Routen kreuzen und während des Vorbeifahrens miteinander sprechen: / Nur ein gezeigtes Signal und eine ferne Stimme in der Dunkelheit; / So fahren auch wir auf dem Ozean des Lebens aneinander vorbei und sprechen miteinander, / Nur ein Blick und eine Stimme; dann wieder Dunkelheit und Stille.

40

40 Erinnerungsbuch, in das Fotos, kurze Texte und sonstige Andenken wie Postkarten, Eintrittskarten usw. eingeklebt werden (Anm.d.Übers.).

Vorwort von Jon Snow

Nach dem Ende des Krieges wurde sie von Winston Churchill als die «die tapferste kleine Straße Englands» bezeichnet: Chapel Street war eine kleine Sackgasse in Altrincham in der Grafschaft Cheshire, doch diese Straße allein schickte 161 Männer, um im Ersten Weltkrieg für König und Vaterland zu kämpfen. Obwohl dies eine beeindruckende Zahl ist, gab es überall im Land Gemeinden, die sich eines fast ebenso großen Engagements rühmen konnten. Ein großer Teil der Männer, die in diesen Krieg zogen, kam nicht zurück.

In der winzigen uralten Kirche des Dorfes im Westen Berkshires, in dem mein Zuhause steht, hängt eine hölzerne Gedenktafel an der Wand. Auf ihr sind die Namen von fast 20 Männern verzeichnet, die die fruchtbare Scholle verließen, auf der sie arbeiteten, um auf einem fremden Schlachtfeld zu kämpfen. Die Zahl der Familiennamen ist weitaus geringer. Die Familie Wiggins schickte vier Männer; zwei weitere schickten drei – Väter, Brüder und Söhne.

Ronald Skirth war einer aus dieser Unzahl von Männern aus ganz Großbritannien, die in den Krieg zogen. Irgendwie kam er zurück. Irgendwie schaffte er es, den Kriegsdienstverweigerer in sich zu lokalisieren und wehrhaft zu machen, womit er letztlich nicht nur sein Leben, sondern auch seine geistige Gesundheit rettete. Skirth gehört zu einem ganz kleinen Kreis von «Tommys», die den Ersten Weltkrieg nicht nur erlebten und überlebten, sondern die es darüber hinaus auch noch schafften, anschaulich darüber zu schreiben. Von den Offizieren und Politikern jener Zeit gibt es Memoiren ohne Zahl; schriftliche Zeugnisse aus den niedrigeren Rängen sind rar. Ronald Skirths bemerkenswertes Buch trägt eine der seltensten Perspektiven überhaupt bei. Es ist die Perspektive eines Mannes, der lernte, das Töten zu hassen, und der Wege fand, um es zu vereiteln – bis hin zum Erstellen falscher Zielangaben für die eigenen Geschütze, um dem Feind die Gelegenheit zum Entkommen zu geben.

 

Ich verlebte meine Kindheit in den 50er Jahren, in denen die zeitliche Nähe des Zweiten Weltkriegs leicht jegliches Bewusstsein für den Ersten bei mir hätte überschatten können, wäre da nicht dieses Porträt über dem Kaminsims in unserem Wohnzimmer gewesen.

Mein Großvater, Lieutenant General Sir Thomas D’Oyly Snow, KCMG, KCB, schaute in voller Uniform, geschmückt mit reihenweise Ordensbändern und Medaillen, auf das Treiben im Wohnzimmer herab. Von ihm wurde in ehrfurchtsvollen, bisweilen auch in prahlerischen Tönen gesprochen. General Thom befehligte die Vierte Division unter Sir John French und wurde innerhalb der Familie als ein Held erster Klasse angesehen. Er hatte 1915 den Rückzug von Mons geleitet. Dies wurde damals – und teilweise auch noch heute – als eine Tat angesehen, die einer sehr deutlichen Niederlage noch eine Art Sieg abrang. Die Somme wurde niemals erwähnt, obwohl er auch dort war.

Von der britische Armee im Ersten Weltkriegs ist gesagt worden, es seien «Löwen, kommandiert von Eseln» gewesen. Wenn Ronald Skirth ein «Löwe» war, dann war Thom Snow letzten Endes ein «Esel». Thom verbrachte die Schlacht an der Somme im Hinterland, acht Kilometer hinter der Front, umgeben von den Annehmlichkeiten eines Landschlösschens, und schrieb seiner Frau Charlotte einen Brief über die Schönheiten der französischen Landschaft. An dem Tag, an dem er dies schrieb, an diesem einzigen Morgen, starben 4000 seiner Männer.

Glücklicherweise war Ronald Skirth nicht darunter, und der «Soldat wider Willen» lebt sogar über den natürlichen Tod seines Autors hinaus, um uns eine wichtige historische Perspektive zu schenken.

 

London, 2010

 

Ella im Alter von 17 Jahren.

Sechs treue Diener habe ich:

(sie lehrten all’s mich, was ich weiß)

Sie heißen Was und Wo und Wann

und Wie, Warum und Wer.

Rudyard Kipling

ERSTES KAPITEL Unsere Liebesgeschichte

Wenn diese Geschichte ein Märchen wäre, dann würde man sie vermutlich so erzählen:

Es waren einmal ein Schuljunge und ein Schulmädchen, die sich ineinander verliebten. Er war achtzehn, und sie war erst fünfzehneinhalb.

Ein paar Monate, nachdem sie sich getroffen hatten, meldete er sich freiwillig zur Armee und ging in fremde Länder, um für seine Heimat zu kämpfen. Und die alten Leute sagten: «Damit ist diese kleine Romanze vorüber. Sie ist noch viel zu jung, um zu wissen, was sie will; den wird sie bald vergessen haben.»

Doch der Junge und das Mädchen wussten, dass sie einander nicht vergessen würden.

Nachdem sie ein Jahr lang getrennt gewesen waren, sagten die Freundinnen des Mädchens: «Warum suchst du dir nicht einen anderen Jungen, mit dem du ausgehen und dich amüsieren kannst?» Aber sie wollte keinen anderen Jungen, weil sie ihrem Liebsten glaubte, der ihr schrieb, dass er sie mehr liebte als je zuvor, auch wenn sie getrennt waren. Und obwohl sie manchmal traurig war, schwieg sie und lächelte still vor sich hin.

Als eineinhalb Jahren vergangen waren, sagten die Freundinnen: «Dieser Kerl amüsiert sich mit all diesen Mädchen in der Fremde. Er wird dich jetzt nicht mehr wollen. Warum vergisst du ihn nicht?» Sie glaubten, dass sie einsam sei, und sie tat ihnen leid. Doch sie war nicht so unglücklich, wie die Freundinnen dachten, denn sie vertraute ihrem Liebsten und glaubte ihm, wenn seine Briefe ihr sagten, dass er sie noch immer liebte. Deshalb schwieg sie weiter und lächelte still vor sich hin.

Dann, nach vielen aufregenden Abenteuern, kam der Junge aus dem Krieg nach Hause und war kein Soldat mehr. Und der Junge und das Mädchen stellten fest, dass sie einander mehr liebten als je zuvor.

Und sehr bald verließ er sie wieder, um in die große Stadt zu gehen und zwei Jahre lang eine Ausbildung zu machen. In den Ferien konnten die Liebenden zusammen sein, und sie waren sehr glücklich. Doch auch nach dem Ende seiner Ausbildung konnten sie nicht lange zusammen bleiben, denn der Junge war nicht reich und musste in die Fremde gehen, um sein Glück zu suchen.

Mittlerweile hatten die meisten Freundinnen des Mädchens geheiratet. Sie glaubten, dass das Mädchen sie beneidete, und hänselten sie, indem sie sagten: «Er wird dich niemals heiraten. Wenn er dich liebte, dann ließe er dich nicht so lange warten.»

Aber tief in ihrem Herzen wusste sie, dass er es eines Tages tun würde, darum ignorierte sie die Hänseleien, schwieg und lächelte weiterhin still vor sich hin.

Eines Tages, acht lange Jahre, nachdem sie sich ineinander verliebt hatten, kam der Junge, der nun ein erwachsener Mann war, aus der großen Stadt zurück und sagte auf einmal: «Ich habe ein schönes kleines Heim für uns gefunden. Willst du mich heiraten?» Und das Mädchen sagte: «Ja, das würde ich gerne tun!»

Und all die Leute, die sie geneckt und geglaubt hatten, dass aus dieser Romanze nie etwas werden würde, waren froh, dass sie sich geirrt hatten. Sie alle kamen, um die Hochzeit zu sehen, und sie flüsterten einander zu: «Sind sie nicht ein schönes Paar?»

Und natürlich lebten der Junge und das Mädchen glücklich bis an ihr Ende.

 

Es geschieht nicht oft, dass das wahre Leben sich so entwickelt wie ein Märchen, und doch ist dieses Märchen eine exakte Zusammenfassung unserer Liebesgeschichte.

Aber sie enthielt noch viel mehr als das – wie Sie schon an der Länge dieses Buches sehen können. Ich möchte damit beginnen, etwas über die Ereignisse und die Zeit zu schreiben, bevor Ella und ich uns kennenlernten. Dann erzähle ich von unserem Treffen und von dem, was danach geschah, dann von unserer Trennung und endlich unserem Wiedersehen. Das alles ist so konventionell, es entspricht genau dem Muster aller Liebesgeschichten: Junge trifft Mädchen, Junge verlässt Mädchen, Junge kehrt zurück und heiratet Mädchen. So konventionell, wenn man es auf diese Weise aufschreibt, aber in Wirklichkeit alles andere als «gewöhnlich»! Ich glaube kaum, dass ich mir die Mühe gemacht hätte, diese Geschichte eines ganz gewöhnlichen Jungen und eines ganz gewöhnlichen Mädchens aufzuschreiben, wenn nicht einem von ihnen außergewöhnliche Dinge widerfahren wären.

Hier ist also unsere Geschichte, eine Sammlung von Reminiszenzen, ein Erinnerungsalbum, ein Durcheinander, ein Sammelsurium. Sie folgt keinerlei Muster, außer dass sie einen traurigen Mittelteil hat, einen glücklichen Anfang und ein Ende, das, wie wir hoffen, noch lange auf sich warten lassen wird.

Kindheitstage

Ich habe immer Sussex als meine Heimat betrachtet, obwohl meine Familie erst dorthin zog, als ich acht Jahre alt war. Sussex ist die Grafschaft, in der ich aufgewachsen bin, die mich angenommen hat. Ella war ein waschechtes Kind von Sussex, wie schon ihr Vater vor ihr war auch sie in Hörweite des Meeres geboren.

Als ich zwölf Jahre alt war, bekam ich ein Stipendium für den Besuch eines Gymnasiums. (Das war eine ziemlich bemerkenswerte Leistung, weil es nur nur 40 freie Plätze für die ganze Grafschaft gab.) Da es sich bei meiner neuen Schule um eine gemischte Schule handelte, war die Hälfte meiner Mitschüler weiblich. In diesem Alter war ich von der Gesellschaft von Mädchen nicht sonderlich begeistert. Ich war der Meinung, dass ich schon mehr als genug davon zu Hause hatte. (Ich hatte zwei Schwestern, eine zwei, die andere sieben Jahre jünger als ich, und für die jüngere musste ich ziemlich oft Babysitter spielen.) Mit zwei Schwestern und ihren Freundinnen zu Hause und Hunderten von Mädchen der verschiedensten Formen und Größen in der Schule sollte man eigentlich annehmen, dass ich nicht gerade ein schüchterner Typ war. Aber das war ich.

Jedenfalls fand ich zu dieser Zeit Eisenbahnzüge weitaus aufregender als Mädchen. Meine neue Schule war in Rye, und um von Bexhill dorthin zu kommen, musste man auf den Strecken zweier verschiedener Eisenbahngesellschaften fahren, 27 Kilometer hin und 27 Kilometer zurück. Für einen eisenbahnverrückten Jungen wie mich war die Möglichkeit, mit meiner Schüler-Dauerkarte unbegrenzt Zug zu fahren, eine großartige Zugabe.

Ella Christian, das Mädchen, das eine wichtige Rolle in dieser Geschichte spielen wird, war zu dieser Zeit neun Jahre alt. Sie wohnte weniger als einen Kilometer von mir entfernt. Sie interessierte mich nicht besonders, obwohl ich ihren Bruder kannte, der drei Jahre älter war als ich, weil wir beide die anglikanische St.-Barnabas-Schule besucht hatten; das heißt, bevor ich aufs Gymnasium kam. Das Haus der Christians grenzte an den Schulhof, und der Fußball, mit dem meine Freunde und ich spielten, landete früher oder später unweigerlich in ihrem Gemüsegarten. Ich kannte ihren Vater, weil er im Kirchenchor, in dem ich Erster Sopran war, Bass sang, und weil ich auf meinem Schulweg an seiner Hufschmiede vorbeikam. Ich konnte nie vorbeigehen, ohne stehen zu bleiben und den muskulösen Schmied und seinen Gehilfen dabei zu beobachten, wie sie Funken aus rot glühenden Hufeisen schlugen.

 

Mutter hatte eine Stelle als Haushälterin bei einem gutaussehenden, blassen jungen Arzt angenommen, der in unserem rasch wachsenden Städtchen seine erste Praxis eröffnet hatte. Dr. Stokes war Junggeselle und ein glänzender Pianist. Sein Klavier stand im Wohnzimmer, das auch als Sprechzimmer diente, unser Klavier stand im angrenzenden Raum dahinter, in unserem Wohnzimmer. Ich durfte nur üben, wenn der Doktor nicht zu Hause war.

Meinen Schwestern und mir war es verboten, das Sprechzimmer zu betreten. Doch immer, wenn zu hören war, dass der Doktor spielte, schlich ich mich unbeobachtet hin und legte mein Ohr ans Schlüsselloch, um zu lauschen. Ich war mir sicher, ich würde niemals so gut spielen können.

Eines Nachmittags missachtete ich das Verbot, um meine Neugier zu befriedigen. Was ich zuvor vom Klavierspiel des Doktors gehört hatte, hatte mich elektrisiert, und ich wollte wissen, welche aufregende Musik das gewesen war. Die Noten lagen noch auf dem Klavier: ein Buch mit Mozarts Klaviersonaten.

Dann nahm ich aus irgendeinem unerklärlichen Grund eines der schweren medizinischen Bücher des Doktors aus dem Regal, legte es auf den Boden und öffnete es. Ich war elf oder zwölf Jahre alt und las alles, was ich in die Finger bekommen konnte. Wie es der Zufall wollte, sollte ich an diesem Nachmittag über die «Fakten des Lebens» aufgeklärt werden, die mit Empfängnis und Geburt zu tun hatten. Ich verschlang den Text und studierte jede Illustration.

Ich zitterte regelrecht vor Aufregung und Schuldgefühlen. Gerade war ich dabei, das Buch zuzuklappen, als das Unheil über mich hereinbrach. Ich hörte, wie die Tür sich öffnete, und der Doktor kam herein. Mit hochrotem Kopf stand ich da – auf frischer Tat ertappt. Ich konnte nicht sprechen. Ich wagte nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Alles, was ich sah, während ich an ihm vorbeirannte, waren seine Handschuhe, die er in aller Seelenruhe auszog. Jetzt würde es Ärger geben! Aber mehrere Tage gingen vorüber, und nichts geschah. «Der ist ein echter Sportsmann!», dachte ich. «Er hat mich nicht verpetzt.» Und als ob das noch nicht ausgereicht hätte, um ihm Heldenstatus zu verleihen, geschah ein paar Wochen später das Folgende:

Es war abends, um die Zeit herum, in der ich gewöhnlich Klavier übte. Ich war ein lernwilliger Schüler und übte eifrig. Meine einzige Sorge war, dass der Doktor meine kindlichen Bemühungen mithören und für ziemlich schwach halten könnte.

An diesem besonderen Abend war ich gerade damit fertig geworden, beim Licht zweier Kerzen eine Gavotte von Bach zu üben, die ich bei der bevorstehenden Examensfeier aufführen sollte. Ich hatte Lust, noch etwas Leichtes und Entspannendes zu spielen. Ich nahm ein Notenbuch mit verschiedenen kurzen Stücken aus dem Regal und schlug es bei Schumanns «Träumerei» auf. Dieses Stück hatte ich nicht im Klavierunterricht gelernt, ich spielte meine eigene Version.

Als der letzte Akkord verklungen war, hatte ich plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich schaute mich um. Die Tür stand halb offen, und im Halbdunkel konnte ich schemenhaft die Umrisse von Dr. Stokes ausmachen. Er sagte: «Das war ausgezeichnet, Ronald, ausgezeichnet!», dann verschwand er.

Ich blies die Kerzen aus, klappte das Klavier zu und ging hinauf in mein Zimmer. Ich wollte nicht, dass Mutter mich weinen sah. Aber die Tränen in meinen Augen waren Tränen der Freude.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich irgendwie das Gefühl gehabt, dass Klavierspielen etwas für Mädchen war: dass ein Junge es eigentlich vorziehen sollte, Fußball zu spielen. Wenn allerdings der Doktor das Klavierspielen für eine lohnende Betätigung hielt, musste ich mir keine Sorgen machen. Wenn es für ihn in Ordnung war, dann war es auch für mich in Ordnung.

 

Als ich 15 war und Ella 12, kamen wir durch die sozialen Aktivitäten unserer Kirche des Öfteren miteinander in Kontakt, bei Gartenpartys im Pfarrhaus, bei Amateurkonzerten und in der Sonntagsschule, wo wir beide zu sehr jungen – und sehr unerfahrenen – Lehrern für Gruppen von noch jüngeren Kindern wurden.

Vielleicht sollte ich kurz schildern, wie ich als Teenager war. Nun, meine Größe war ziemlich durchschnittlich und mein Körperumfang unterdurchschnittlich: viel zu «mager» für meinen eigenen Geschmack. Mein Haar war gerade dabei, seine Farbe von einem sehr hellen Blond zu einem undefinierten Braun zu wechseln. Ich konnte es nie bändigen, ohne es mit Wasser zu übergießen. (Haaröl war viel zu teuer.) In sportlicher Hinsicht machte ich keine allzu gute Figur gegenüber Ellas Bruder Ernest, der gut sechs Kilo schwerer, Boxer und Kapitän einer Fußballmannschaft in seiner Altersklasse war. Lediglich in einem Bereich sportlicher Aktivität hätte ich damit prahlen können (was ich aber nicht tat), dass ich ihm überlegen war: Schwimmen. Es ist ziemlich seltsam, dass, obwohl doch alle Mitglieder seiner Familie in Sussex geboren waren, kein Einziger von ihnen das Meer mochte.

Meine einzige andere sportliche Begabung war der Querfeldeinlauf. Ich schlug mich einigermaßen in der Turnhalle, konnte ein wenig rudern und spielte zweimal, wenn auch nicht sehr erfolgreich, für die zweite Fußballmannschaft der Schule.

Zu den Mängeln meines Charakters gehörten eine ziemlich schüchterne, fast mädchenhafte Art, zwei linke Füße und eine große Liebe für so unmännliche Dinge wie «Natur», alte Gebäude, Gedichte, Musik und Kunst. Außerdem war ich gerne allein.

Unsere Familien waren miteinander bekannt, bevor Ella und ich Freunde wurden. Vater, dessen Gesundheitsprobleme der Grund für unseren Umzug an die Küste gewesen waren, hatte sich so weit erholt, dass er einer leichten Arbeit an der frischen Luft nachgehen konnte. Er wurde Versicherungsvertreter, ein deutlicher Kontrast zu seiner Position in der Seidenabteilung von Debenham and Freebody in London, wo sich meine Eltern kennenlernten. Jeden Montag stattete mein Vater Ellas Mutter einen geschäftlichen Besuch ab.

Während meiner Jahre in der Rye Grammar School verbrachte ich außer an Wochenenden und in den Ferien wenig Zeit in meiner Heimatstadt. Alle meine engen Freunde wohnten im weit entfernten Rye – und 27 Kilometer war in diesen Tagen weit entfernt!

Ella hatte, wie sie zugibt, Notiz von mir genommen. Sie sagt, ich sei fast immer allein gewesen und habe ein rot eingebundenes Buch mit mir herumgetragen. Sie fand mich ziemlich ungesellig. Ich glaube nicht, dass ich viel Notiz von ihr genommen hatte – damals.

Das Ende meiner Schulzeit

Klügere Menschen als ich haben Theorien aufgestellt, ob Umwelt oder Erbgut einen größeren Einfluss darauf haben, wie sich der Charakter eines Kindes entwickelt. Ich kann einen Fall anführen, in dem es keinerlei Zweifel gibt: meinen eigenen. Weder mein Vater noch meine Mutter hatten irgendwelche künstlerischen Interessen, keiner von beiden war musikalisch. Aber ich hatte das große Glück, unter dem Einfluss (wenn das das richtige Wort ist) zweier der schönsten Orte Englands aufzuwachsen. Rye war einer davon, Winchester der andere.

Während der Rekonvaleszenz meines Vaters hatten wir drei glückliche Jahre lang in Ropley gewohnt, einem winzigen Dorf in Hampshire. Jeden zweiten Mittwoch musste mein Vater geschäftlich nach Winchester fahren. Wenn keine Schule war, konnten Mutter und ich ihn begleiten. Was für eine wunderbares Erlebnis es war, in der offenen Kutsche hinter unserer Stute Polly die Wege entlangzurollen, besonders wenn ich auf einer der kurzen geraden Strecken die Zügel halten durfte!

Manchmal ging Mutter mit mir die Sehenswürdigkeiten besichtigen. Ich muss ziemlich anstrengend gewesen sein – ich stellte unendlich viele Fragen und wollte weiter und immer weiter gehen. Natürlich war es die Kathedrale, die mich am meisten anzog. Ich durfte hineingehen und allein umherwandern, während Mutter sich auf einer der Bänke auf dem Platz davor eine wohlverdiente Ruhepause gönnte.

Die immense Größe der Kathedrale überwältigte mich. Ich fragte mich, wie Menschen jemals in der Lage gewesen waren, ein steinernes Deckengewölbe zu bauen, das so hoch und so breit war. Wenn gerade der Chor sang oder die Orgel spielte, war ich von der Schönheit des Ganzen so überwältigt, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. (Ich konnte nie verstehen, warum ich – anders als die anderen Jungen – weinen musste, wenn ich glücklich war.) Ich ging erst wieder zu Mutter zurück, als alle Tränen getrocknet waren.

Wenn auch das kleine Städtchen Rye nicht mit einer großen Kathedrale aufwarten konnte, hatte es doch ebenso große Wirkung auf mich. Ich liebte die steilen Pflasterstraßen, die Schindel- und Fachwerkhäuser und natürlich die berühmte, auf einem Hügel gelegene Kirche, die von den Einheimischen als die schönste in ganz Sussex bezeichnet wurde. Bei schönem Wetter konnte man nicht die Straßen entlanggehen, ohne ein halbes Dutzend Künstler bei der Arbeit zu sehen. Als Schüler hatte ich Architekt werden wollen, aber dafür gab es keine Ausbildungsstätten in der Nähe, sodass ich diesen Traum aufgeben musste. Ich entschied mich stattdessen, Lehrer zu werden.

Ich erinnere mich noch ganz genau an meinen letzten Tag an der Rye Grammar School. Es war der Tag nach dem offiziellen Beginn der Osterferien. Ich war noch da, um meine letzten Sachen abzuholen und mich von Freunden zu verabschieden, die ich zuvor verpasst hatte. Das einzige Mitglied des Lehrerkollegiums, das ich sehen wollte, war Mr. Matson, der während meiner ganzen sechs Jahre dort mein Hausvater gewesen war. Er sagte mir ein paar nette Worte zum Abschied: «Viel Glück, Skirth! Ich erinnere mich, dass du mir einmal gesagt hast, es sei dein Ziel, Architekt zu werden. Nicht viele von uns sind in der Lage, genau den beruflichen Weg einzuschlagen, den sie sich wünschen. Tja, es gäbe nicht viele Architekten, wenn nicht Burschen wie wir zur Stelle wären, die ihnen zuerst einmal Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen. Lehrer mag der am schlechtesten bezahlte Job sein, den du dir aussuchen konntest, aber es ist sicher auch der lohnendste!»

Er schüttelte mir zum Abschied die Hand, und ich erinnere mich an den Gedanken, der mir durch den Kopf schoss: «Guter alter Mattie! Wenn ich halb so gut in diesem Job werde, wie du es bist, will ich zufrieden sein.»

Bevor ich das Gebäude verließ, schlenderte ich noch einmal durch die Aula, und dort sah ich etwas, das mir die vielleicht schönste Überraschung meiner gesamten Schulzeit bescherte. Ein Schildermaler war gerade damit fertig geworden, der dort hängenden Ehrentafel in Goldlettern zwei neue Namen hinzuzufügen. Der zweite war meiner. (Ein Schüler aus meinem Jahrgang und ich selbst hatten es geschafft, in allen Fächern Bestnoten zu bekommen.) Es bewegte mich zutiefst, dass ich es geschafft hatte, meiner Schule ein positives Andenken an mich zu hinterlassen.

 

Nun hatte ich noch eine weitere Pflicht zu erfüllen, deren erfolgreiche Erledigung mich wunschlos glücklich machen würde.

Die Fahrten zwischen zu Hause und der Schule mussten immer in Hastings unterbrochen werden, weil es keine durchgehenden Züge gab. Aus diesem Grund musste ich zwei unterschiedliche Dauerkarten bei mir tragen, wodurch ich mich schrecklich wichtig fühlte. Doch heute hatte ich einen besonderen Grund, die Unterbrechung meiner Fahrt zu nutzen. Statt in Hastings auf Bahnsteig 1 auf meinen Anschlusszug zu warten, verließ ich den Bahnhof und ging die Zufahrtsstraße entlang bis zum Fuß des Hügels, wo sich das örtliche Rekrutierungsbüro befand. In Bexhill war ich zu gut bekannt und schon zweimal abgewiesen worden. Ich hatte nicht vor, eine dritte Ablehnung zu riskieren. Diesmal würde ich mich zur Armee melden, selbst wenn das bedeutete, eine falsche Altersangabe zu machen.

Der Rekrutierungsoffizier in Hastings war weniger gründlich als sein Pendant aus Bexhill, mit dem Resultat, dass ich sein Büro, das ich als Zivilist betreten hatte, 15 Minuten später als Soldat wieder verließ. Ich fühlte mich nicht verändert, und ich sah auch nicht verändert aus, aber ich hatte die erforderlichen Papiere unterschrieben, den vorgeschriebenen Eid geschworen, mich verpflichtet und war ein zurückgestelltes Mitglied der Royal Garrison Artillery Seiner Majestät geworden. Meine Einberufung, so wurde mir gesagt, würde am Ende meiner Ausbildung zum Lehramtsanwärter kommen. Als ich die zum Bahnhof hin ansteigende Straße zurückging, trug ich stolz die khakifarbene Armbinde mit aufgestickter Krone, die ich als Freiwilliger der Armee bis zum Antritt meines Dienstes zu tragen berechtigt war.

Als ich nach Hause kam und meinen Eltern davon erzählte, war ich über ihre Reaktion außerordentlich erfreut. Offenbar war meinem Vater bereits zugetragen worden, dass ich schon zweimal versucht hatte, mich zu verpflichten. (Ich hatte gedacht, dass meine Versuche geheim geblieben waren!) Sie waren stolz auf mich und freuten sich, dass ich es für meine Pflicht hielt, König und Vaterland meine Dienste anzubieten. Doch ich bin sicher: Hinsichtlich der Frage, was zuerst kommen würde – der Ruf zu den Waffen oder das Ende des Krieges –, waren die Hoffnungen meiner Mutter das genaue Gegenteil meiner eigenen.

 

Ich hatte aus der Schule ein paar Schriftstücke mitgebracht, die für meine Zukunft von großer Bedeutung waren. Eines war ein Bewerbungsformular für das St. John’s College, die Dependence der University of London für die Lehrerausbildung. Außerdem hatte ich vom Direktor der Schule einen ausgesprochen positiven Empfehlungsbrief bekommen. «Morgen», so sagte ich mir, «werde ich zu Pfarrer Mortlock gehen und auch bei ihm eine Empfehlung erbetteln.» Er kannte mich, seit ich acht war, und hatte einen gewissen Einfluss bei den zuständigen Stellen in London.

Alle meine Hoffnungen erfüllten sich. Der Pfarrer leistete seinen Beitrag, und einige Zeit später bekam ich die Nachricht, dass ich ab Ende des kommenden Septembers einen Platz als «Resident Student» hatte. In Anbetracht «besonderer Umstände» würden für meine Unterbringung und Ausbildung keine Gebühren erhoben, abgesehen von einem nominellen Betrag von 25 Pfund, die ich aus eigenen Mitteln bestreiten müsste. Ich war über diese Nachricht mehr als erfreut, vor allem, weil die finanzielle Belastung meiner Eltern ihre Mittel nicht übersteigen würde.

Die Schule, der ich zugewiesen wurde, war jene, die ich besucht hatte, bevor ich nach Rye gewechselt war. Dort wurde ich von demselben großartigen Direktor betreut, der mir sechs Jahre zuvor geholfen hatte, mein Stipendium zu bekommen. Diese Zuweisung erwies sich als einer der größten Glücksfälle, die mir je widerfuhren.

Unsere Liebesgeschichte beginnt

Ich verliebte mich in Ella am Abend des 26. Juli 1916 um sieben Uhr. Es war ein wunderschöner Tag, sonnig und warm. An diesem Morgen hatte mir ein unverheiratetes, romantisch veranlagtes weibliches Mitglied des Lehrerkollegiums eine ziemlich persönliche Frage gestellt: «Haben Sie noch keine junge Dame?» (Der Ausdruck «Freundin» war damals noch nicht gebräuchlich.) Ich hatte geantwortet: «Gott sei Dank nicht», das hatte sie nicht davon abgehalten, mich zu einem «Musikalischen Abend» einzuladen, wie man das damals nannte.

Nun waren mir Partys ausgesprochen zuwider, doch die plötzliche Einladung, die Tatsache, dass die nette Dame mir schon sehr geholfen hatte, und meine Unfähigkeit, eine plausible Ausrede für ein Ausschlagen dieser Einladung aus dem Ärmel zu schütteln, ließen mir keine andere Wahl als so würdevoll wie möglich anzunehmen. «Gut!», sagte sie. «Es wird jemand dort sein, den Sie kennenlernen sollten.»

Wie sich herausstellte, war besagter «Jemand» ein schlankes, blondes und blauäugiges Fräulein in einem blau-weißen Sommerkleid. Noch nie in meinem Leben, so dachte ich mir, hatte ich ein Mädchen gesehen, das so hübsch aussah.

Ich hatte schon erwähnt, dass Ella und ich uns bereits kannten. Trotzdem wurden wir einander formell vorgestellt.

Mir war sie immer still, ernst und reserviert erschienen. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ich erkennen sollte, dass sie praktisch das genaue Gegenteil war: nicht besonders häufig ernst, hin und wieder still, aber kaum jemals reserviert!

In den Monaten vor diesem Treffen hatte ich sie hin und wieder mit ihrer Freundin Muriel, die ich ziemlich gut kannte, in der Stadt gesehen. Muriel und ich hatten früher den gleichen Zug genommen, wenn ich in die Schule und zurück fuhr (sie nur bis Hastings, acht Kilometer entfernt). Manchmal ging ich mit ihr nach Hause, weil es für mich kein großer Umweg war; ich fand sie in Ordnung, aber nicht sonderlich anziehend. Sie hatte eine pingelige Art, die mir nicht besonders sympathisch war. Um einen Ausdruck aus dieser Zeit zu gebrauchen, sie «bildete sich etwas ein». Vermutlich hatte es damit zu tun, dass sie auf eine Privatschule ging. Ihrem Vater gehörte ein florierendes Molkereiunternehmen.

Ich hatte die Mädchen nicht angesprochen, wenn ich sie zusammen in der Stadt sah. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass ich ganz gut ohne weibliche Gesellschaft leben konnte. Dieser konnte ich ja schon in der Schule und zu Hause nicht entgehen. Die Leiden unerwiderter Liebe hatte ich während drei oder vier kurzen, aber – zumindest für mich – intensiven «Liebesaffären» mit Klassenkameradinnen kennengelernt. (In jedem dieser Fälle war meine Bewunderung dem betreffenden Mädchen entweder vollkommen unbekannt oder vollkommen gleichgültig gewesen.)

Ich wusste damals nicht, dass Ella sich schon für mich interessiert hatte, bevor wir einander vorgestellt wurden. Sie dachte, dass es sicher «nett wäre, mich kennenzulernen», wenn ich nur nicht immer so ernsthaft, distanziert und in Gedanken versunken wäre.

Um aber auf die Party zurückzukommen: Hier waren wir zum ersten Mal zusammen, ohne dass Muriel mit ihrer Anwesenheit abgelenkt hätte. Mit einem Blick auf Ella waren alle «Liebschaften» meiner jüngeren Vergangenheit wie weggewischt, als hätte es sie nie gegeben. Ich war gefesselt.

Nachdem Tee gereicht worden war, versammelte sich die «Gesellschaft» zur Hausmusik. Ich saß am Klavier. Wir sangen Lieder, die gerade populär waren, was uns bis gegen halb sieben beschäftigte. Bald zog unsere Gastgeberin ein Album mit Klavierduetten hervor und fragte Ella und mich, ob wir eines davon auswählen wollten, um es zusammen zu spielen. Ella blätterte es durch, zeigte mir ein Stück und sagte: «Wenn du Primo spielst, spiele ich Secundo», was nichts anderes bedeutete als: «Du spielst die erste Stimme und ich die Begleitung.» (So würde jeder Fehler, den ich machte, deutlich herausstechen, während ihre Fehler voraussichtlich kaum auffallen würden. Nicht dass sie irgendwelche derartigen Gedanken gehegt hätte!)

Leider kann sich keiner von uns beiden an den Komponisten des kleinen Stücks erinnern, das wir spielten, eines «Klavierduetts in D zu vier Händen». Ich konnte einigermaßen sicher vom Blatt spielen, und unsere Darbietung wurde überschwänglich gelobt. Was ein Wunder war, da ich wegen der Nähe von Ellas Körper in Schweiß gebadet war. Um ein Duett zu spielen, muss man eng zusammensitzen, und so nahe war ich noch nie zuvor einem Mädchen gewesen. (In dieser Hinsicht zähle ich meine Schwestern nicht als Mädchen.) Ich hatte mich noch nie so schüchtern und unbeholfen gefühlt.

Als wir fertig waren, muss es wohl fünf Minuten vor sieben gewesen sein. Man gönnte uns eine kurze Ruhepause, während einer der Männer «Asleep in the Deep» zu Gehör brachte. Dieses Lied war zu jener Zeit ein «Muss» für jeden, der Bass singen konnte. Dann forderte unsere Gastgeberin Ella auf, etwas zu singen. Sie erklärte sich bereit, unter der Bedingung, dass ich sie begleiten würde. Natürlich war ich einverstanden.

Das Lied war eine jener sentimentalen «Drawing Room Ballads», die in der Zeit vor dem Radio so beliebt waren. Es trug den Titel «Love, Here Is My Heart».

Vor diesem Abend hatte ich es noch nie gehört. Es war egal. Als nach dem kurzen Vorspiel ihre klare, warme, süße Stimme erklang, war ich überzeugt, dass dies der lieblichste Klang war, den ich jemals gehört hatte. Die banalen Worte des Textes erschienen mir wie reine Poesie, und ich war vollkommen verzaubert. Als wir die letzten Noten erreichten, war ich leidenschaftlich rettungslos verliebt.

Wir verließen das Klavier und setzten uns nebeneinander, während die anderen ihre Beiträge darboten. Als Ella mir zuflüsterte: «Vielen Dank, du hast sehr schön gespielt», konnte ich keine Worte finden, um meinem Glück Ausdruck zu verleihen.

Ich kann mich an jedes Detail dieser musikalischen Augenblicke erinnern. An den Rest des Tages aber habe ich keinerlei Erinnerung. Zweifellos brachte ich sie nach Hause – das wäre ein Fußweg von 20 Minuten gewesen.

 

Ella hat meinen Bericht unterbrochen, um mich daran zu erinnern, dass ich sie tatsächlich nach Hause brachte. Weil es, wie sie sagte, dunkel wurde und sie keine Lust hatte, allein durch die verdunkelten Straßen zu gehen. (Ja, wir hatten auch im Ersten Weltkrieg eine Verdunklung.)

Ich habe schon beschrieben, welche Eigenschaften mich so stark zu ihr hinzogen. Es gab eine Eigenschaft, die ich früher nicht benennen konnte, von der ich aber glaube, dass sie der Grund für ihre besondere Anziehungskraft war. Etwas, das ich noch nie zuvor bei einem Mädchen in ihrem Alter beobachtet hatte.

Ich nehme an, jedes 15-jährige Mädchen verfügt über ein gewisses Maß an Charme und weiblicher Schönheit; wenn sie Pech hat, hat sie wenig von beidem; wenn sie Glück hat (so wie Ella), hat sie von beidem reichlich. Wenn sie außerordentliches Glück hat, wird sie auch etwas von jenem gewissen «Extra» besitzen, das zu beschreiben mir so schwerfällt. Man sah es. Es zeigte sich in der Art, wie sie sich bewegte, wie sie saß, wie sie sich hielt. «Würde» ist ein zu pathetisches Wort dafür. Es hatte nichts mit Stolz, Eitelkeit oder Einbildung zu tun. Ich glaube, nur ein Mädchen, das sich der Tatsache nicht bewusst war, dass sie gleichzeitig schön und bezaubernd war, konnte sie besitzen … diese spezielle, individuelle Eigenschaft, die wir … ich glaube, ich habe endlich einen Begriff gefunden! … die wir Haltung nennen. Ja. Das ist das Wort. Haltung.

Natürlich war es die Verbindung dieser Fassung mit all ihren anderen Qualitäten, die ich unwiderstehlich fand. So unwiderstehlich, dass meine Freude beinahe ekstatisch war, als ich sie nach dem Ende der Party ein Stück begleitete und eine Art sechster Sinn mir sagte, dass sie mich auch mochte.

Das ist der Grund, warum ich, immer wenn ich mich an jenen lang zurückliegenden Sommertag zurückerinnere, erkläre, dass es ein wunderschöner Tag war. Auch wenn es rund um die Uhr geschüttet hätte, würde ich dennoch schwören, dass es der schönste Tag des ganzen Jahres war. Der 26. Juli 1916 ist ein denkwürdiges Datum für mich. Wenn es einen Tag im Leben gibt, der wichtiger ist als alle anderen, dann war es in meinem Leben jener Tag, von dem ich gerade berichtet habe – der Tag, an dem die Liebesgeschichte begann.

 

In den folgenden Wochen trafen wir uns häufig. Ich entdeckte, dass sie ein völlig anderer Mensch war als das stille, reservierte Mädchen auf der Party. Sie war lebhaft und fröhlich und in vielerlei Hinsicht mein genaues Gegenteil. Sie schien sich durch nichts aus der Fassung bringen zu lassen und ging mit einem vergnügten Lächeln durchs Leben. (Mit Ausnahme der wenigen Male, wenn sie für ein Foto posieren musste. Dabei wurde sie stets in einer Pose abgelichtet, die untypisch für ihr fröhliches Wesen war.)