Zweites Kapitel
Ebenso wunderschön wie eiskalt
Zuerst fragte sich Shade, ob dieser Verrückte etwas mit dem Winter zu tun haben könnte, aber dann schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Angeblich war der erste Gedanke immer der richtige. Das konnte sie hiermit widerlegen, denn ihre spontane Assoziation war kompletter Blödsinn! Sie hatte nur das, was sie sah, nämlich diesen Mann, mit ihren Überlegungen gekoppelt. Herausgekommen war eine Idee, die völlig an den Haaren herbeigezogen war.
Offensichtlich brachte der weiße Niederschlag am Oktoberbeginn nicht nur die Tiere durcheinander, sondern auch die Menschen.
»Damit meine ich ihn, nicht mich«, stellte sie vor sich selbst klar und lief hinter ihm her den Pfad hinauf, so schnell es die Schneedecke zuließ, um ihm zu helfen. Offensichtlich war er in Not. Ihr kam der Gedanke, dass er gefährlich sein konnte, verwirrt und unberechenbar. Aber so, wie sie Menschen davon abhielt, Steine nach streunenden Hunden zu werfen oder nach ihnen zu treten, obwohl Shade dabei Gefahr lief, selbst zur Zielscheibe zu werden, konnte sie auch diesmal nicht anders, als ihrem Beschützerinstinkt zu folgen.
Doch sie kam viel zu langsam voran. Es schien ihr, als würden sich die Flocken am Boden nun doch immer höher türmen. Inzwischen reichten sie schon an den Rand ihrer Boots heran. Das Laufen wurde immer beschwerlicher. Sie blieb stehen und stemmte die Hände in die Seiten, weil es sich anfühlte, als kniffe jemand sie von innen. Keuchend schaute sie sich um. Wo war der Kerl hin?
Dort machte sie Spuren aus. Und dann sah sie ihn auch wieder – wenn auch nur für wenige Sekunden, denn er verschwand hinter zwei dicht nebeneinanderstehenden Tannen. Er schien einen Schwan auf dem Rücken zu tragen. Das wurde ja immer verrückter!
»Entweder spinnt er oder ich«, feixte Shade und gab bei dem Voting ihre Stimme für ihn ab.
Ungläubig rieb sie sich die Augen. Dann trieb sie sich den Hang wieder ein Stück weit hinab, um dem Mann den Weg abzuschneiden. Sie musste ihm schließlich helfen! Er würde hier draußen ohne Kleidung erfrieren. Sie wollte ihm ihre Jacke über die Schulter hängen, ihn zu ihrem Wagen bringen und in die Stadt fahren.
Außerdem würde ein nackter Mann ihr wohl kaum gefährlich werden.
Der Kneifer, der in ihren Hüften saß, fing an, mit einem spitzen Gegenstand ihre Seiten zu traktieren. Trotz Schmerzen kämpfte sie sich weiter. Als sie jedoch bei den Tannen eintraf, kam plötzlich Wind auf. Eine Böe wirbelte ihr Schnee ins Gesicht, sodass sie sich kurz abwenden musste. Danach stellte sie verwundert fest, dass der Fremde nicht mehr in seinem Versteck weilte.
Ein Schatten zu ihrer Linken zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der Unbekannte – immer bedacht darauf, sich hinter Bäumen oder Sträuchern zu schützen – hatte sie offenbar getäuscht, denn er floh längst zur anderen Seite und befand sich nun dort, wo sie zuvor innegehalten hatte, um nach Luft zu ringen.
»Schuft!« Das wollte Shade nicht auf sich sitzen lassen. Sie hatte einmal einen Taschendieb in L.A. drei Blocks durch die nahezu verstopften Straßen und Bürgersteige der Innenstadt und über die unheimlichen und ihr bis dato unbekannten Hinterhöfe und Schleichwege verfolgt, bis sie ihn schließlich gestellt hatte. Nun gut, er war erst acht oder neun Jahre alt gewesen, weshalb sie ihm, erschrocken über sein junges Aussehen und den hungrigen Blick, zehn Dollar in die Hand gedrückt und ihn laufen gelassen hatte. Dennoch gab sie nicht so leicht auf, schlechte Kondition hin oder her.
Sie hatte den Nackten nun einmal entdeckt, jetzt fühlte sie sich für ihn verantwortlich. Auf keinen Fall würde sie ihn im Wald zurücklassen, um irgendwann in den nächsten Tagen in der Zeitung zu lesen, dass ein Verrückter in der Sierra Nevada erfroren war!
»Na warte!«, dachte sie und nahm die Herausforderung an. Sie schlug einige Haken, jagte ihm hinterher, änderte plötzlich ihre Richtung und verwirrte ihn anscheinend, denn er schlüpfte zwischen zwei Sträuchern hindurch, machte zwei Schritte vorwärts und kehrte abrupt zurück, um sich in das Dickicht zu kauern, offenbar davon überzeugt, dass Shade ihn nicht bemerkt hatte.
Als sie vor ihm stand, schrak er auf. Doch sie hatte nicht einmal die Chance, ihn genauer zu betrachten, denn plötzlich fegte ein kräftiger Wind über den Hang. Die Baumkronen bogen sich und schüttelten die Schneeflocken ab. Shade riss ihre Hände hoch, um ihr Gesicht abzuschirmen. Stecknadelgroße Hagelkörner trafen sie. Während sie mit einer Hand ihre Mütze tiefer über ihre Ohren zog und den Kragen ihrer Skijacke hochklappte, hielt sie ihren Arm schützend nach oben.
Blinzelnd hielt sie nach dem Fremden Ausschau. Sie musste ihm ihre Jacke geben, sonst würde er nicht lange überleben. Doch er lief schon wieder weg! Er hatte ihr bereits seinen Rücken zugewandt und stapfte nun davon. Durch den Schneesturm konnte sie vage den Schwan auf seinem Rücken ausmachen. Es musste sich um ein riesiges Tier handeln – oder wohl eher um eine Art Rucksack.
Entweder erkannte er nicht, dass sie ihn retten wollte, oder er wollte nicht gerettet werden. Der Grund für sein ausgeprägtes Fluchtverhalten war zweitrangig für Shade. Sie musste ihn ins Bridgeport Hospital schaffen, so schnell wie möglich.
Langsam wurde sie sogar ein wenig sauer. Impulsiv warf sie sich nach vorn, um den Fremden zu Fall zu bringen. Ungeschickterweise erwischte sie nur seinen Fuß, den er gerade beim Laufen nach hinten streckte. Wie ein nasser Sack fiel sie in den Schnee und kam sich vor, als befände sie sich mit einem Mal in einer dieser Hollywood-Komödien, die ihre Nerven strapazierten, da sich die Figuren darin einfach zu dämlich verhielten. Völlig unrealistisch! Niemand war derart tollpatschig. In diesem Moment revidierte sie ihre Meinung.
Einige Sekunden lang hielt sie sein Fußgelenk noch fest, dann benutzte sie lieber ihre Hände dazu, sich den Schnee von Kinn und Stirn zu wischen. Zumindest hatte sie erreicht, dass er stehen blieb. Er schaute auf sie hinab, das spürte sie.
Aber noch stand sie nicht auf, sondern starrte auf seine Füße, die nicht in Schuhen steckten. Fror er denn gar nicht? Er zitterte nicht einmal.
Ihr Blick glitt höher zu seinen Beinen, die nicht von einer Hose verhüllt wurden. Kräftige Waden, muskulöse Oberschenkel. »Nicht schlecht!«, dachte sie unpassenderweise. Er trieb offenbar mehr Sport als sie. Sie konnte keine Gänsehaut ausmachen. Seine Haut wirkte jedoch wie weißer Marmor – dick, widerstandsfähig und wächsern.
Was mochte sie an seinen Lenden erwarten? Nicht hinsehen! Nicht hinsehen! Nicht hinsehen! Es wäre anständig gewesen, sich zu erheben und ihm ins Gesicht und nirgendwo sonst hinzuschauen, seine Intimsphäre nicht zu verletzen und ihrer Neugierde zu widerstehen. Aber wieso lief dieser Kerl auch im Adamskostüm hier herum! Er hielt noch nicht einmal seine Hände vor sein Geschlecht.
Sie hob ihren Kopf und stockte. Was zum Teufel war das? Staunend klimperte sie mit den Wimpern, um die Flocken, die daran klebten, loszuwerden und klarer zu sehen. Er trug eine Art Lendenschurz und schien aus Watte zu sein. Oder waren das etwa …? Ein verrückter Gedanke keimte in ihr auf. Es machte den Anschein, als hätten sich Schneekristalle an seine Lenden geheftet, um sein bestes Stück zu verbergen. Unweigerlich lief ihr Kopfkino auf Hochtouren, und sie stellte sich den Schaft unter dem Eishöschen vor: zu Rosinengröße geschrumpft.
Beinahe hätte sie losgelacht. Lächelnd musterte sie den muskulösen Oberkörper des Fremden. Doch als sie seine finstere Miene bemerkte, verging ihr das Grinsen sogleich.
Rasch stand sie auf und klopfte ihre Hose und ihre Jacke ab. Hoffentlich war ihre Kamera nicht beschädigt! Als Shade sie eingehend begutachtete, bemerkte der Unbekannte scharf: »Ich würde das lassen!«
Seine Stimme war tief und dunkel. Shade nahm ein Vibrieren darin wahr, das sie als erotisch empfand. Er betonte jede Silbe und strahlte Selbstbewusstsein aus. So aufrecht, wie er vor ihr stand, erinnerte er sie an den Krieger eines Indianerstamms. Nur – was trug er auf seinem Rücken? Waren das zwei Schwerter mit hellen Griffen, die in mit weißen Federn geschmückten Scheiden steckten?
Erst jetzt merkte sie, dass der Sturm aufgehört hatte, offenbar genauso abrupt, wie er angefangen hatte. Allerdings schneite es nun wieder stark, sodass Shade den Fremden wie durch einen Perlenvorhang hindurch sah.
Das alles war sehr merkwürdig. Der vorzeitige Winter, dieser Mann, der die Kälte nicht zu spüren schien, ihre Reaktion auf diesen Sonderling … Statt abgeschreckt zu sein, wurde ihr heiß. Ihr Puls ging schneller, aber sie schaffte es nicht, sich einzureden, dass ihr beherzter Sprung die Ursache dafür war.
Eben noch hatte sie geglaubt, dass ein Nackter ihr nicht gefährlich werden konnte. Nun wusste sie es besser: Dieser Kerl brauchte keine Waffen, um zu kämpfen. Seine Muskeln besaßen gewiss genug Kraft, um sich zu verteidigen oder lästige Verfolgerinnen loszuwerden. Er machte keineswegs einen verwirrten oder schutzbedürftigen Eindruck auf sie – im Gegenteil: Sie hatte plötzlich das Gefühl, diejenige zu sein, die Schutz benötigte – vor ihm.
Dennoch fühlte sie sich auch zu ihm hingezogen. Wie eine Motte zum Licht, das in Wahrheit ihren Tod bedeutete. Denn trotz seines langen silbrigen Haars, das er am Hinterkopf mit einem Lederband straff zusammengebunden hatte, dem alabasterfarbenen Teint und dem weißen Lendenschurz wirkte er zwar wie eine Lichtgestalt … aber er besaß eine finstere Aura.
Als wäre er in Wahrheit ein schwarzes Loch, das alles, was ihm zu nah kam, einsog und auf ewig auslöschte.
Wie ein geheimnisvoller Brunnenschacht, in den man fiel, wenn man zu neugierig wurde und sehen wollte, was sich auf dem Grund befand.
Seine Augen waren so wunderschön, dass Shade ihren Blick nicht von ihnen nehmen konnte, und gleichzeitig waren sie so kalt, dass sie meinte, eine eisige Hand würde nach ihrem Herzen greifen.
»Du hättest mich nicht sehen dürfen«, brummte er.
»Willst du meine Skijacke?«, fragte sie, um ihre aufkeimende Furcht zu überspielen.
Er neigte seinen Kopf zur Seite und runzelte seine Stirn.
»Ich bezweifle, dass sie passt, aber du könntest sie wenigstens über deine Schultern legen.«
Seine Augen weiteten sich, wohl weil er verstand, dass sie um sein Wohlergehen besorgt war. Doch er ging nicht darauf ein. »Meine Beute sollte zu mir finden, nicht du.«
»Beute?«, echote sie mit belegter Stimme.
Ein Grollen drang aus der Tiefe seiner Kehle, als wäre er ein Bobcat und kein menschliches Wesen. »Mein Opfer.«
Bang machte sie einen Schritt zurück, doch ihr Stiefel rutschte auf einer Eisfläche aus, die – das hätte sie schwören können – vorher noch nicht da gewesen war. Sie fiel auf ihren Hintern, richtete sich jedoch hastig wieder auf.
»Ich bin ein Jäger«, erklärte er, worauf Shade sich etwas entspannte. Allerdings wunderte sie sich, wo er sein Gewehr gelassen hatte. »Oder tötet er mit bloßen Händen?«, witzelte sie in Gedanken, bis sie bemerkte, dass sie damit nur ihre Angst weiter entfachte.
»Erwartest du etwa, dass sich die Maultierhirsche freiwillig vor dich stellen, obwohl sie deine Absichten wittern? Du musst sie schon jagen.« Sie betonte das letzte Wort sarkastisch.
Erneut runzelte der Mann die Stirn, und sie fing an zu glauben, dass er doch nicht ganz bei Trost war.
»Hast du überhaupt eine Lizenz?« Er trug sie garantiert nicht bei sich, so viel stand fest. Sie genoss es, ihn immer wieder von oben bis unten anzuschauen. Er war wirklich eine Augenweide.
Sein Blick wurde intensiver. »Keine Tiere.«
»Menschen?« War er ein Kopfgeldjäger? Sie schluckte schwer. Jedenfalls wusste sie, warum er sie nicht sofort verstand: nicht etwa, weil er begriffsstutzig war, sondern weil sie ständig aneinander vorbeiredeten. Als würden sie nicht dieselbe Sprache sprechen. Oder nicht aus derselben Welt stammen.
»Zielpersonen. Es besteht eine magische Beziehung zwischen uns, sodass wir voneinander angezogen werden.«
So, wie er das sagte, klang es nicht nach etwas Gutem. Überraschenderweise reagierte ein Teil von ihr ganz anders auf diese Neuigkeit. Sie war enttäuscht, nicht die Person zu sein, die mit ihm verbunden war, wie auch immer er das mit dem »magisch« meinte. In Shades Ohren hörte es sich jedenfalls romantisch an.
Er musterte sie von oben bis unten, und sein Blick drückte Bedauern aus. »Du bist es nicht.«
»Oh, wie schade!« Ein Teil von ihr meinte es sogar so.
»Trotzdem hätten wir uns niemals begegnen dürfen, nicht so.«
Sie wandte sich ab, um schnell den Hang hinabzulaufen, doch im nächsten Moment stand der Fremde auch schon vor ihr. Er breitete seine Arme aus und das, was er schon die ganze Zeit auf dem Rücken trug, und versperrte ihr den Weg.
Perplex öffnete Shade den Mund. Kein Rucksack, kein Schwan, keine Schwerter in Scheiden, sondern wunderschöne weiße Flügel ragten hinter ihm hervor. Er musste sie zusammengefaltet und vom Körper weggestreckt haben, sodass Shade sie nicht hatte erkennen können. Die Perspektive hatte sie verwirrt, überdies das vermaledeite starke Schneien und das Knistern der Kristalle, das sie nun vielmehr als Wispern wahrnahm – wie Millionen leiser Fistelstimmen, die sie ablenkten. Zudem hatten ihre Augen wohl nicht wahrhaben wollen, was sie sahen, und ihr Gehirn hatte in völlig falsche Richtungen gedacht.
Der Wunsch, die Schwingen zu berühren, wurde beinahe übermächtig. Sie sehnte sich danach, mit ihren Fingerspitzen über die einzelnen Federn zu streicheln und ihre Wange daran zu reiben.
Ebenso faszinierend wie tödlich, denn als der Unbekannte dicht an sie herantrat, fielen ihr einzelne federlose Stege am Rand der Flügel auf. Shade vermochte nicht zu sagen, ob der Fremde das Wissen auf sie projiziert hatte oder ob es sich um ihre eigene Assoziation handelte, aber aus irgendeinem beängstigenden Grund wusste sie, dass diese Kiele tief ins Fleisch stoßen und Wunden reißen konnten, die nie wieder heilten. Vor ihrem geistigen Auge tauchten Bilder von blutverschmierten Schwingen auf. Sie erschauderte vor Grauen.
Eindringlich betrachtete der Mann ihr Gesicht, als würde er prüfen, ob sie nicht doch die Person war, die er jagte. Er wischte mit seinem Zeigefinger über ihre Wange und betrachtete das Schwarz ihres Kajals, der offenbar erneut verlaufen war.
Warum fühlte sich diese Berührung nur so gut an? Shades Herz pochte so heftig, dass ihr schwindelig wurde, aber sie riss sich zusammen und straffte ihre Schultern, um mutiger aufzutreten, als sie war.
Behutsam strich er mit seinem Daumen über den Gecko auf ihrer Stirn und zog ihr die Mütze ab. »Du hast kurze Haare wie ein Mann.«
»Und du lange Haare wie eine Frau.«
»Ich bin ein Eisengel«, erwiderte er, als handelte es sich um ein drittes Geschlecht. Vielleicht war es das sogar.
Sie ließ ihren Blick an ihm hinabgleiten. »Für mich siehst du aus wie ein Kerl.« Und zwar wie einer, dem alle Frauen der Welt zu Füßen gelegen hätten, wenn er nur nicht so grimmig dreingeschaut hätte.
Erneut schaltete sich ihr Kopfkino ein, ohne dass sie es verhindern konnte. Sie fragte sich, was geschähe, wenn sein Schaft sich aufrichtete, weil er sie ebenso attraktiv fand wie sie ihn. Würde er diesen seltsamen Lendenschurz anheben oder durch die Schneeflocken hindurchstoßen und seine kecke Spitze sich ihr entgegenrecken?
Als hätte er ihre frivolen Gedanken erraten, funkelten die Augen des Fremden lüstern. Shade gab einen erstaunten Laut von sich, denn seine Iriden veränderten sich daraufhin. Sie wechselten von einem sehr hellen Blau in ein Kaleidoskop von Farben. Wie Licht, das sich in einem Eiskristall bricht. Doch schon im nächsten Moment wurde der Regenbogen immer dunkler, bis seine Augen schließlich das dunkle Blau eines tiefen kalten Bergsees annahmen.
Shades Furcht gewann die Übermacht, denn sie spürte den Sog des Wassers, so irrsinnig es ihr selbst erschien. Der Wunsch, sich hineinzustürzen, wurde immer drängender, obwohl ihr bewusst war, dass das ihren sicheren Tod bedeutet hätte.
Mühsam riss sie sich los und taumelte den Hang hinab. Doch der Eisengel flog einfach über sie hinweg und landete vor ihr, sodass sie jäh anhalten musste, um nicht mit ihm zusammenzuprallen.
Sie wich nach rechts aus und lief auf derselben Höhe weiter, um nach ein paar Metern erneut zu versuchen, hinabzusteigen, denn sie musste zu ihrem Geländewagen gelangen. Eine andere Chance, dem Unbekannten zu entkommen, sah sie nicht, wenn sie nicht zufällig einem Ranger oder Touristen begegnete. Darauf durfte sie sich nicht verlassen.
Bei jedem Schritt knackte es unter ihren Stiefelsohlen. Die oberste Schicht der Schneedecke gefror, dabei war es gar nicht klirrend kalt. Als der Engel ihr ein zweites Mal den Weg versperrte, rutschte sie aus und fiel schmerzhaft auf ihr Gesäß.
Doch sie rappelte sich ebenso schnell wieder auf und stürmte den Hang hinab. Merkwürdigerweise war der Schnee hier bereits angetaut. Das Laufen glich einer Rutschpartie. Sie ruderte mit ihren Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Plötzlich geriet sie ins Schlittern und konnte sich gerade noch an einem Baum festhalten.
Shade fluchte laut, war allerdings froh, erst einmal Halt zu haben. Sie kam jedoch nicht dazu, durchzuatmen, denn der Eisengel stand längst, an den Stamm gelehnt, neben ihr, roch provokant an ihrer Mütze, die er immer noch in der Hand hielt, und schmunzelte überlegen.
»Na warte!«, dachte Shade keuchend. Gereizt bückte sie sich, hob eine Handvoll Schnee auf und warf sie ihm ins Gesicht. Sie war clever genug, nicht auf seine Reaktion zu warten, sondern setzte ihren Weg ins Tal fort.
Weit kam sie nicht, denn ihre Beine versanken bis zu den Knien im weißen Bodenbelag. Stöhnend stapfte sie voran, als auch schon der Wind wieder einsetzte, doch diesmal wehte er nicht vom Berg herab, sondern kam aus dem Tal.
Das alles ging nicht mit rechten Dingen zu. Inzwischen fielen die Flocken wieder dicht vom Himmel, sodass Shade ständig blinzeln musste. Sie merkte erst, dass der Fremde direkt vor ihr stand, als sie mit ihm zusammenstieß. Ihre Handflächen lagen auf seinem muskulösen Brustkorb. Er hielt sie an den Armen fest und sah ihr tief in die Augen.
Für einen Moment stand die Welt still. Von einer Sekunde auf die andere hörte es auf, zu stürmen und zu schneien. Nicht eine einzige Schneeflocke fiel mehr herab. Der Eisengel musste diesen absonderlichen Winter kontrollieren. Wie das funktionierte, übertraf Shades Vorstellungskraft.
Seine Iriden schimmerten wieder in Regenbogenfarben. Wie gebannt beobachtete Shade das farbige Funkeln, sie konnte gar nicht anders, und krallte ihre Finger in den Oberkörper des Fremden, bis sie spürte, dass sich die Muskeln unter seiner Haut anspannten. Erst da ließ sie lockerer.
War dieses faszinierende Schillern wirklich ein Zeichen seines Begehrens? Oder fungierte dieses Phänomen nicht vielmehr als Köder, der sie ins Verderben stürzen würde? Immerhin wusste sie, was auf das Leuchten folgte: Finsternis.
Bevor seine Augen das Schwarzblau annahmen, vor dem sie sich fürchtete, riss sie sich von ihm los oder versuchte es zumindest. Sein Griff war jedoch zu fest. Sie kam nicht von ihm frei – egal, wie stark sie sich gegen ihn wehrte.
Plötzlich trat hinter dem Engel ein Mann mit grauem Haar und tiefen Falten im Gesicht aus dem Unterholz hervor. Der Lauf seines Gewehrs zielte genau auf Shade.