Der schleichende Tod

 

 

 

Logo-DH

Band 34

 

Der schleichende Tod

 

von Ernst Vlcek, Neal Davenport, Uwe Voehl und Oliver Fröhlich

 

 

© Zaubermond Verlag 2013

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Die Gefahr, die von dem Kinddämon Baphomet ausging, ist gebannt. Mit dem Tod des Kinddämons, in dessen Körper der Geist des dämonischen Schiedsrichters Skarabäus Toth steckte, hat seine einstige Schülerin Rebecca ihre Stellung innerhalb der Schwarzen Familie gefestigt und ist ihrem Ziel, den Erzdämon Luguri zum Kampf um den Thron herauszufordern, wieder ein Stück nähergekommen.

In Wien baut Rebecca ihre Macht aus, basierend auf der Unterstützung der Vampire, die nach mehr Einfluss in der Schwarzen Familie streben. Rebeccas Absicht, auch die Hexe Coco Zamis vor ihren Karren zu spannen, misslingt jedoch. Es gelingt Coco, ihren Sohn Martin endgültig aus dem Bann der Vampirin zu befreien. Rebecca hingegen sinnt auf Rache. Sie weiß, dass der Tag, an dem sie die Macht über die Schwarze Familie an sich reißen wird, nicht mehr fern ist.

Zuvor aber wird Dorian Hunter abermals von Erinnerungen übermannt. Diesmal sind es die Geschehnisse aus seinem sechsten Leben, die die Ereignisse der Gegenwart auf unselige Weise beeinflussen und ihre Schatten auf den Zweikampf zwischen Rebecca und Luguri werfen ...

 

 

 

 

Erstes Buch: Blutiger Thron

 

 

Blutiger Thron

 

von Uwe Voehl

 

1. Kapitel

 

Conny Valenczak ging lieber zu Fuß durch die Nacht, als dass sie sich von irgendeinem Typen abschleppen ließ. Und Typen hatte sie an diesem Abend genug kennengelernt! Die Gothic Night, die jeden Freitag im Cave Club über die Bühne ging, schien jedes Mal kränkere Charaktere anzuziehen. An die Loser, die wahrscheinlich die ganze Woche über an Muttis Rockzipfel hingen, um dann freitags den starken Mann zu spielen, hatte sie sich gewöhnt. Schlimmer waren aber jene Spießer, die sich im normalen Leben als Bürohengst oder Chefarzt wer weiß wie vorkamen, um dann am Ende der Woche im Cave Club kleine Vampirmädchen aufzureißen. Widerlich!

Genauso wie die trügerische Neonwelt der Schaufenster, die selbst in der Nacht ihre Botschaften flimmernd loswerden wollten. Nur dass es niemanden gab, der sie lesen konnte. Der Graben, eine der beliebtesten Einkaufsstraßen Wiens, war zu dieser Uhrzeit menschenleer.

Conny bog in eine Seitenstraße ab, um den nervenden Lichtern zu entkommen. Hier war es dunkler. Die Auslagen der Geschäfte, die es hier gab, lagen unbeleuchtet da. Wie wohltuend! Das liebte sie an Wien: dass sie immer nur ein paar Schritte weit gehen musste, um in eine andere Welt abzutauchen. Eine Welt, die abseits der glitzernden Fassaden viel interessantere Nervenkitzel versprach.

Das einzige Licht in dieser Gasse spendeten einige weit voneinander entfernt liegende Laternen, deren gelblicher Schein trübe Inseln inmitten der Dunkelheit bildete. Doch selbst hier mied Conny das wenige Licht. Sie ging schneller, um den beleuchteten Zonen so rasch wie möglich wieder zu entkommen und mit der dazwischenliegenden Dunkelheit zu verschmelzen.

In ihr fühlte sie sich wohl. Und geborgen.

Sie musste wieder an den Kerl denken, der sie die ganze Zeit über angestarrt hatte. Der war garantiert ein Psycho! Einer, auf den zu Hause die nichts ahnende Ehefrau wartete, weil er ihr erzählt hatte, dass er wieder Überstunden machen müsste. Der Typ war viel zu alt für den Cave Club gewesen. Weit über vierzig. Okay, es verliefen sich immer mal wieder ein paar Uralt-Grufties dorthin. Aber der Mann hatte nicht wie ein Gruftie ausgesehen. Er hatte einen Trenchcoat getragen und ihn die ganze Zeit nicht ausgezogen. Kam sich wahrscheinlich wie Humphrey Bogart vor. Hätte nur noch gefehlt, dass er eine Sonnenbrille aufgehabt hätte. Eine Brille hatte er schon aufgehabt, aber eine, deren Gläser mindestens so dick wie Flaschenböden waren. Die hatten seine starrenden Augen noch größer erscheinen lassen. Die ganze Zeit über hatte er sie angeglotzt. Während sie sich an der Theke Drinks holte, auf dem Weg zur Toilette, während der Gespräche mit all den kleinen Jungs, die immer wieder versuchten, mit ihr anzubändeln … Und natürlich hatte er sie auch beim Tanzen angestarrt. Aber dort hatte es ihr nichts ausgemacht. Während sie schweißgebadet zu den Rhythmen von Sympathy for the Devil oder Black Sabbath ihren Körper bewegte, vergaß sie alles um sich herum.

Auch dass er nicht seinen Blick von ihr ließ.

Irgendwann war ihr dann doch der Kragen geplatzt und sie hatte ihn sich vorknöpfen wollen. Merkwürdigerweise war er gerade da verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.

Doch kurze Zeit später hatte sie ihn wieder gespürt, seinen Blick, der an ihr klebte wie eine widerwärtige, schleimige Schnecke. Abermals hatte sie den festen Vorsatz gehabt, ihn zur Rede zu stellen, doch in dem Gewühl hatte sie ihn abermals aus den Augen verloren. Später hatte sie es aufgegeben. Dafür hatte sie früher als sonst den Cave Club verlassen. Der Spanner würde Augen machen, wenn sie plötzlich weg war!

Plötzlich hörte sie hinter sich Schritte.

Blitzschnell wandte sie sich um, konnte aber niemanden entdecken. Auch die Schritte waren verstummt. Es musste nichts zu bedeuten haben. Vielleicht war der andere Passant in einen Hauseingang verschwunden.

Dennoch spürte sie ihr Herz schneller klopfen. Ob der Spanner ihre Spur aufgenommen hatte? Sie seufzte. Manche der Typen gaben leicht auf – andere niemals. Vielleicht hielt er sich auch in den Schatten verborgen, die zwischen den Lichtinseln der Laternen wie riesige schwarze Ölteppiche schimmerten.

In Wirklichkeit war es jedoch nur das nasse Kopfsteinpflaster, das dort glänzte.

Sie drehte sich um und ging weiter. Diesmal hörte sie genauer hin. Sie hatte sich nicht getäuscht. Die Schritte waren wieder deutlich zu hören.

Abermals musste sie an den widerlichen Spanner denken. Er war groß gewesen, bestimmt einsneunzig. Und kräftig. Eigentlich, so dachte sie jetzt, war er sogar recht attraktiv gewesen – wenn nur seine Brille nicht gewesen wäre. Sie konnte sich vorstellen, dass er bei Frauen dennoch ganz gut ankam. Aber wahrscheinlich stand er mehr auf Gothic Girls wie sie.

Abermals wandte sie sich blitzschnell um – und sah einen Schatten, der in der nächsten Sekunde in einem Hauseingang Schutz suchte. Diesmal war er nicht schnell genug gewesen! Die eine Sekunde hatte genügt, um ihr Gewissheit zu verschaffen.

Sie hatte ihn gleich an seinem bleich gefärbten kurzen Haar erkannt. Glaubte er wirklich, er könnte sich länger verstecken?

»Kommen Sie heraus, ich habe Sie gesehen!«, rief sie. Eigentlich hatte sie ihrer Stimme einen selbstbewussten Ton geben wollen, doch sie klang wie ein Mäuschen. Klein und verängstigt.

Er reagierte nicht. Natürlich nicht. Er wollte mit ihr spielen.

Sie konnte es schnell beenden. Sie konnte dorthin gehen, wo sie ihn noch immer vermutete, in jener Nische, aber sie war sich nicht sicher, wie er reagieren würde.

Sie wandte sich um und ging weiter. Diesmal beschleunigte sie ihre Schritte. Die hochhackigen Absätze ihrer Stiefel klackten auf dem Pflaster – gleichförmig, wie das Ticken einer Uhr. Ein schönes Bild, dachte sie. Vielleicht lief die Zeit ja ab. Für morbide Bilder hatte sie immer schon etwas übrig gehabt.

An der nächsten Quergasse bog sie unvermittelt ab und begann zu laufen. Bestimmt hatte er gesehen, dass sie abgebogen war, aber er vermutete wohl kaum, dass sie so schnell war. Sie versuchte abzuschätzen, wann er wohl um die Ecke kommen würde. Kurz bevor es so weit war, verbarg sie sich hinter einem parkenden Auto.

Auch seine Schritte waren jetzt wieder zu hören. Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Im Gegensatz zu ihr hatte er seinen Schritt nicht beschleunigt. Er wirkte wie ein ganz normaler, nächtlicher Passant. Hatte sie sich vielleicht doch getäuscht? War es Zufall? Wollte er gar nichts von ihr?

Sie hob ein wenig den Kopf, sodass sie ihn sehen konnte. Er war noch gut dreißig Meter entfernt. Diesmal hatte er es wohl nicht mehr nötig, sich zu verstecken. Er kam gerade auf das Auto zu, hinter dem sie sich verborgen hielt. Sie hielt den Atem an, hoffte, dass er vorbeigehen würde …

Aber den Gefallen tat er ihr nicht. Als er nur noch zehn Meter entfernt war, bückte er sich. Sie hatte ein Taschentuch verloren. Es war ein rotes Spitzentaschentuch. Natürlich würde er gleich vermuten, dass es nur ihr gehören konnte. Es lag direkt neben dem Wagen.

Sie duckte sich noch enger in den Schatten und hörte, wie er ein Lied pfiff. Sie kannte es. Es stammte aus dem Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder. In dem Film hatte Peter Lorre es immer dann gepfiffen, wenn er ein weiteres Opfer gefunden hatte.

Wieder hatte sie das Gefühl, dass er sich einen Spaß daraus machte, sie in Angst zu versetzen.

Er war jetzt genau auf der anderen Seite des Wagens. Er hatte das Taschentuch aufgehoben, nun presste er es gegen die Nase und roch an dem parfümierten Stoff. Wie ein Hund schnüffelte er daran herum.

Widerwärtig!, dachte Conny.

Von ihrem Versteck aus sah sie, wie er theatralisch lächelnd den Mund verzog. Doch dann geschah etwas, womit sie überhaupt nicht gerechnet hatte: Er hob den Kopf und stieß einen Heullaut aus.

Wie ein Wolf, dachte sie.

Im nächsten Moment ruckte sein Kopf herum und er schaute in ihre Richtung. Obwohl sie völlig hinter dem Wagen verborgen lag, hatte sie das Gefühl, dass er sie sehen konnte. Sie duckte sich noch weiter hinein in die Schatten.

Er kam näher, sie hörte seine Schritte. Die Absätze klackten auf dem Pflaster. Jetzt hatte er die Vorderseite des Wagens erreicht. Vorsichtig kam er herumgeschlichen. Als Erstes sah sie seine Hand. Sie war lang, schmal und behaart …

Blitzschnell warf sie sich zu Boden und kroch unter den Wagen.

Sie hielt den Atem an, während seine Schuhe in ihrem Blickfeld auftauchten. Es waren schwarze, blank gewienerte Businessschuhe. Mit solchen Schuhen geht man nicht tanzen, dachte sie. Schon gar nicht in einen Schuppen wie den Cave Club. Wahrscheinlich hatte er auch gar nicht vorgehabt zu tanzen. Nein, er hatte die ganze Zeit nach einem Opfer ausgespäht. Und er hatte sich für sie entschieden.

Die Schuhe verharrten einen Augenblick genau vor ihrem Gesicht. Siedend heiß wurde ihr klar, dass er wusste, dass sie sich unter dem Wagen befand. Er beugte sich hinab, und sie sah direkt in sein Gesicht. Er grinste. Am liebsten hätte sie in seine Visage getreten, aber ihre Beine waren von seinem Gesicht zu weit entfernt. Außerdem war es so eng, dass sie sich kaum bewegen konnte.

Dafür kam ihr ein anderer Einfall. Blitzschnell fuhr ihre linke Hand vor und riss ihm die Brille ab. Er schrie auf. Sein Schrei hallte durch die ganze Gasse. Sie hielt die Brille in der Hand, hielt sie ganz fest – wie eine Trophäe. Wahrscheinlich war er jetzt halb blind, dachte sie befriedigt.

Aber dafür umso gefährlicher! Seine Faust kam herangeschossen und traf sie an der Schulter. Rasch rückte sie weg von ihm, auf die andere Seite. Es war ihre einzige Chance: schneller zu sein als er! Sie robbte sich unter dem Wagen hinweg, sprang auf die Beine und lief fort. Sie hörte, wie er hinter ihr aufbrüllte vor Wut. Sollte er! Es stand eins zu null für sie!

Sie schlug einen Haken und tauchte in eine weitere Gasse ein. Hier war es so eng, dass gerade mal ein Auto zwischen den Häusern hindurchpasste. Als sie zurückschaute, war ihr Verfolger noch immer nicht zu sehen. Sie stoppte. Ihr Blick fiel auf die Brille, die sie ihm entrissen hatte. Der rechte Bügel war voller Blut, wie sie befriedigt feststellte. Hoffentlich litt er Schmerzen! Aber warum kam er nicht? Sie glaubte nicht, dass er schon genug hatte. Er war nicht der Typ, der sich so schnell abschrecken ließ. Ob er seine Wunde versorgte? Vielleicht war die Verletzung schlimmer, als sie gedacht hatte.

Wie auch immer, sie nutzte den Moment, um die Brille zu Boden zu werfen und darauf zu treten. Das Geräusch der knirschenden Gläser war wie Musik in ihren Ohren. Für die Gläser müsste man eigentlich Pfand verlangen können. Flaschenpfand, dachte sie amüsiert. Wahrscheinlich kam der Kerl nicht, weil er jetzt völlig blind durch die Gegend taumelte.

Da sah sie seinen Schatten. Er tauchte am Anfang der Gasse auf. Deutlich zeichnete sich der Umriss seiner Gestalt ab. Wie ein Scherenschnitt.

Mit leicht vorgestreckten Armen bewegte er sich vorwärts. Dabei ging er Zickzack, wie ein Hund, der nach einer Fährte schnüffelte.

Und dann fing er an, sich zu verwandeln.

Er war ein Werwolf!

Conny wich zurück. Sie sah sich um. Das hier war gar keine Gasse. Es war nur ein schmaler Gang, der von den Rückseiten zweier Häuserfronten gebildet wurde. Sämtliche Türen waren wahrscheinlich verrammelt. Und was noch schlimmer war: Es war eine Sackgasse. Sie sah die Front eines weiteren Hauses vor sich aufragen.

Trotzdem lief sie weiter.

»Lauf nur, ich bekomme dich doch!«, hörte sie ihren Verfolger rufen. Er schien sich ziemlich sicher zu sein. Auch in dem Punkt, dass ihr keiner zu Hilfe kommen würde …

Wenn sie nur gewusst hätte, wie blind er war. So konnte sie es nur vermuten.

Ein halb blinder Werwolf! Eigentlich war es zum Lachen! Sie versuchte sich vorzustellen, wie sein Wolfsgesicht wohl mit der Brille aussah.

Plötzlich kam ihr ein anderer Gedanke. Ihre Stiefel! Klar, er orientierte sich an dem Geräusch der Absätze. Rasch beugte sie sich hinab und zog die Stiefel aus. Jetzt stand sie zwar nur noch auf ihren schwarzen Netzstrümpfen da, aber er konnte sie jetzt nicht mehr hören!

Sie drückte sich wieder tiefer in die Schatten.

Jetzt hatte er die Stelle erreicht, an der ihre Stiefel lagen. Er sah sie nicht. Tatsächlich stolperte er über einen und fiel fast hin. Sie hörte ihn fluchen. Er bückte sich, hob den Stiefel auf und roch daran.

»Jetzt habe ich dich gleich, meine Süße!«, hörte sie ihn drohen. Er war höchstens fünf Meter entfernt von ihr.

Keine falschen Versprechungen, dachte sie, während sie sich den Kopf zermarterte, wie sie ihn sich vom Leibe halten sollte. Sie hatte da eine vage Idee. Die ganze Zeit schon wühlte sie in ihrem samtenen Taschenbeutel. Sie hatte ihn eigentlich nur dabei, weil er perfekt zu ihrem Gothic-Vampir-Outfit passte. Meistens warf sie alles nur lose hinein. Es herrschte ein wahres Chaos darin. Mit einer Hand wühlte sie darin herum. Sie suchte nach etwas Bestimmtem. Zunächst bekam sie nur ein paar Schminkutensilien zu fassen. Doch dann fand sie das, was sie gesucht hatte. Die Nagelfeile.

Ihr Verfolger war inzwischen so nah herangekommen, dass sie seinen alkoholisierten Atem riechen konnte. Seine Arme hatte er weit vorgestreckt.

»Ich rieche dich, mein Schätzchen«, sagte er. »Ich mag dein Parfum. Fleur du mal, nicht wahr?«

Er kannte sich aus, guck an.

»Ich bin gespannt, wie du zwischen deinen Schenkeln riechst«, grinste er. »Komm, zeig dich dem bösen Wolf. Du hast bestimmt einiges zu bieten …«

»Wie wär's damit?«, zischte sie, während sie gleichzeitig mit der Nagelfeile zustieß. Sie traf seinen Hals. Mit tiefster Befriedigung bohrte sie die Nagelfeile noch tiefer in sein Fleisch. Er schlug mit den Fäusten nach ihr. Seine Linke traf sie knapp über dem Auge. Die Braue platzte auf und Blut schoss hervor. Es lief ihr in die Augen, und für ein paar Momente war sie genauso blind wie er.

Mist, sie hätte sich besser beherrschen sollen. Jetzt wusste er, dass mit ihr nicht zu spaßen war.

Aber noch war es nicht zu spät. Sie drehte sich um und lief weiter in die Sackgasse hinein.

»Ich bring dich um, du Miststück!«, schrie er hinter ihr her. Offensichtlich hatte er immer noch nicht begriffen!

Sie hatte unterdessen das Ende der Sackgasse erreicht, stand mit dem Rücken zur Wand. Ihr Vorteil war, dass ihr Gegner wahrscheinlich so blind war, dass er es noch gar nicht registriert hatte, dass sie in der Falle saß.

Sie wischte sich das Blut aus den Augen. Trotzdem konnte sie nur verschwommen sehen. Es reichte, um zu erkennen, dass ihr Verfolger im Moment damit beschäftigt war, sich die Nagelfeile aus dem Fleisch zu ziehen. Seinem Gesichtsausdruck nach war dies eine sehr schmerzhafte Prozedur.

Schade, dass sie die Waffe nun nicht mehr hatte!

Dafür kam ihr plötzlich eine andere Idee. Ihre Hände fuhren unter den Rock. Rasch zog sie sich die Netzstrumpfhose aus. Einen Versuch war es wert …

Das eine Fußende verknotete sie an einem Regenrohr, das andere mit einem Gitter, das vor einem Kellerfenster hing. Es ging blitzschnell. Sie war selbst überrascht, wie gut sie im Improvisieren war. Die gespannte Strumpfhose befand sich gut zwanzig Zentimeter über dem Boden und nahm die gesamte Breite der Gasse ein.

Genau die richtige Höhe, dachte sie zufrieden.

Sie war keine Sekunde zu früh damit fertig geworden. Ihr Verfolger kam bereits wieder auf sie zu. Seine Halswunde blutete noch immer. Die Nagelfeile hielt er nun selbst in der Hand.

»Dafür wirst du eine besondere Bestrafung erhalten, mein Engel!«, knurrte er. Sein Spott schien ihm jedoch vergangen zu sein. Offensichtlich hatte er erkannt, dass er es mit einer besonderen Gegnerin zu tun hatte. »Weißt du, was ich mit dieser Nagelfeile bei dir anstellen werde? Ahnst du es?« Er lachte schmutzig und gemein, während er näher und näher kam. »Dein Gesicht? Nein, das ist zuletzt dran. Deine Fotze? Na ja, vielleicht …«, flüsterte er heiser.

»Ich habe noch ein paar weitere Nagelfeilen«, bluffte Conny. »Die kannst du dir alle in den Arsch schieben!«

Er schrie auf vor Wut – sie hatte erreicht, was sie wollte. Noch einen Schritt …

… und es passierte genau das, was sie bezweckt hatte. Er stolperte über die Strumpfhose und fiel der Länge nach hin. Nun hatte sie ihn genau da, wo sie ihn haben wollte. Hier würde niemand seine Schreie hören. Sie hatte sich lange genug beherrscht. Angesichts seiner noch immer blutenden Halswunde wuchs ihre Gier.

Mit einem befreienden Aufschrei stürzte sie sich auf ihn und landete auf seinem Rücken. Sie vernahm ein Knacken, aber wahrscheinlich hatte sie ihm nicht gleich das Rückgrat, sondern nur einige Wirbel gebrochen.

»Du Aas!«, brüllte er. Vor Wut. Aber auch vor Schmerz.

»Du wolltest doch, dass es wehtut, oder?«, antwortete sie.

Er versuchte sich zu befreien, aber er hatte keine Chance. Diese Frau besaß Bärenkräfte! Dabei war sie zart und klein. Er hatte sie den ganzen Abend beobachtet, sie mit den Blicken ausgezogen und sich ausgemalt, wie sie wohl unter ihrer Korsage und dem ledernen Mini aussah. Er stand auf kleine Frauen. Wenn sie unter ihm lagen, zappelten, sich wehrten, schrien …

Jetzt war er es, der schrie.

Sie hatte seine Faust gepackt, die die Nagelfeile umklammert hielt. Mit einer anscheinend beiläufigen Kraftanstrengung brach sie ihm sämtliche Finger. Er ließ die Feile los. Sie packte sie, und dann machte sie das wahr, was sie ihm angedroht hatte.

Er spürte, wie sie ihm die Feile ins Fleisch trieb. Ihm wurde schwarz vor Augen.

»Heh, nicht schlappmachen!«, hörte er ihre enttäuschte Stimme. »Ich habe noch viel mit dir vor, mein Großer! Mein großer, böser Wolf!«

Er schrie auf, als sie die Feile wieder hervorzog. Ihre Finger massierten nun seinen Hals. Er konnte zwar ohne seine Brille nicht viel erkennen, aber doch so viel, dass ihre Finger sich plötzlich in Klauen verwandelten. Bevor er noch darüber nachdenken konnte, waren die Krallen wieder verschwunden. Dafür verwandelte sich sein Rücken in einen einzigen feurigen Schmerz. Sie hatte sie in seinen Rücken geschlagen und hinterließ dort tiefe Furchen.

»Schade, dass du nicht sehen kannst, was ich mit dir anstelle«, hörte er die Frau sagen. »Schade auch, dass du nie wieder kleinen Mädchen nachsteigen wirst. Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du noch nicht einmal mehr aufstehen können.«

Er ahnte, dass dies kein Spaß mehr war. Nie gewesen war! Sie hatte ihn reingelegt!

»Verdammtes Miststück!«, brüllte er und bäumte sich unter ihr auf. Und diesmal gelang es ihm sogar. Na bitte! Er warf sich herum, sodass er ihr jetzt wenigstens in die Augen schauen konnte. Er sah zwar nur einen verschwommenen Schatten, aber immerhin konnte er seine Gegnerin jetzt sehen.

Aufstehen konnte er allerdings immer noch nicht. Sie saß auf seinen Armen und sorgte so dafür, dass er praktisch bewegungslos war.

Dann beugte sie sich über ihn. Ihr Kopf war nur noch Zentimeter von seinem entfernt. Sie öffnete die vollen Lippen. Verdammt, zu gern hätte er ihr die Zähne eingeschlagen!

Die zeigte sie ihm nun. Irgendwas daran kam ihm merkwürdig vor. Er musste schon verdammt genau hinsehen, um zu erkennen, dass die Eckzähne spitz wie Dolche waren.

Ihre Hand packte sein Kinn, sodass es brach, und schob seinen Kopf nach oben. Sein Hals lag nun frei vor ihr.

Mit einem heiseren Schrei schlug sie ihre Zähne in sein Fleisch.

Die Jagd hatte sich gelohnt!

 

Sie rekelte sich zusammen mit Rebecca auf dem riesigen Bett, während sie genüsslich die Einzelheiten ihrer nächtlichen Jagd zum Besten gab.

»Er lebte bis zuletzt«, schwelgte sie in der Erinnerung der vergangenen Nacht. »Er bekam sogar noch mit, wie ich ihm die Augen aussaugte.«

»Ich weiß, dass du besonders fantasievoll darin bist, deine Opfer leiden zu lassen«, bestätigte Rebecca.

»Danke, Herrin, ich weiß dein Lob zu schätzen«, schnurrte Conny. Sie schmiegte sich erneut an Rebecca, aber diese hatte plötzlich keine Lust mehr, das Liebesspiel erneut aufzunehmen.

Conny gab einen enttäuschten Laut von sich, fügte sich aber.

»Trotzdem sollten wir es nicht übertreiben«, setzte Rebecca hinzu. Sie richtete sich auf und schien mit ihren Gedanken plötzlich wieder woanders zu sein. Jedenfalls nicht bei ihr, wie Conny in Gedanken enttäuscht feststellte. Rebecca hatte sie seit einer Woche als Liebhaberin erkoren – eine Stellung, die Conny, wie sie glaubte, mit Bravour gelöst hatte. Sie hatte rasch gemerkt, dass Rebecca beim Liebesspiel besonders darauf stand, grausame Einzelheiten ihrer nächtlichen Raubzüge zu erfahren.

Rebecca war eine große, schlanke, schöne Frau mit weichen Hüften und großen Brüsten. Ihr längliches Gesicht wurde von den großen, dunklen Augen beherrscht. Ihre Haut war blass. Lang fiel das schwarze Haar bis auf die Schultern herab; ihr Gang war der einer Raubkatze, ihr Lächeln war vieldeutig und doch unerklärlich wie das der Mona Lisa.

Doch Rebecca war nicht nur schön, sie war auch mächtig. Es war ihr gelungen, das Volk der Vampire um sich zu scharen und sie zu einer der stärksten Gruppierungen innerhalb der Schwarzen Familie anwachsen zu lassen. BLOODY IS BEAUTIFUL! Mit diesem Motto hatte sie es geschafft, als ernsthafte Anwärterin auf den Thron der Schwarzen Familie angesehen zu werden.

Ihre Stärke war, dass sie diesem Ziel alles unterordnete. Sie kannte weder Freunde noch Regeln.

Sie hatte eines der letzten Tabus innerhalb der Schwarzen Familie verletzt, indem ein Vampir das Blut eines magisch begabten Dämons getrunken hatte. Was andere als Makel betrachteten, sah sie als Fortschritt an. Ja, sie war eine richtige Vampirin, auch wenn sie sich bisher ihre Opfer immer unter Schwerverbrechern gesucht hatte, die der Justiz entgangen waren. Sie hatte sich immer fünfzig Fledermausgeschöpfe gehalten. Wenn einer oder mehrere umgekommen waren, hatte sie die Zahl wieder aufgestockt, indem sie sich neue »Liebhaber« aus den Reihen der Verbrecher gesucht hatte. Diese hatten sich dann in die Riesenfledermausgeschöpfe verwandelt, nachdem Rebecca ihnen das Blut ausgesaugt hatte.

Aber auch in dieser Hinsicht hatte sie sich geändert: Was die Wahl ihrer Bettgefährten anging, war sie experimentierfreudiger geworden. Conny konnte es bestätigen.

»Was ist, Herrin? Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte sie besorgt.

»Wir dürfen uns niemals zu sicher wähnen«, ermahnte Rebecca sie. »Irgendwann wird unser Volk so stark sein, dass wir auch vor den Menschen nichts mehr zu befürchten haben, doch bis dahin sollten wir es nicht zu offen mit ihnen treiben.« Sie kannte Connys bevorzugte Spielchen nur zu gut. Die kleine, schwarzhaarige Vampirin liebte diese Katz-und-Maus-Spielchen. Sie reizte die Männer so lange, bis diese ihr auf den Leim gingen. Dann drehte sie den Spieß um. Gut, in diesem Fall hatte sich ihr Opfer als Werwolf entpuppt, und das war auch gut so. Einmal mehr würde man innerhalb der Schwarzen Familie vor den Vampiren auf der Hut sein.

Es klopfte an der Tür.

»Komm schon rein!«, rief Rebecca. Es konnte nur einer ihrer Diener sein. Die Tür öffnete sich, und ein Vampir trat ein. Boris war muskulös gebaut und ein wahrer Adonis. Rebecca überlegte, ob sie Conny nicht doch bald wieder gegen einen stattlichen Bettgefährten austauschen sollte.

Der Blick des Vampirs glitt über die beiden halb nackten Frauen und blieb ergeben an seiner Herrin kleben.

»Hast du eine Nachricht von Druso?«

Boris verneinte. »Leider nicht, dafür hat sich uns eine weitere bedeutende Sippe angeschlossen. Es sind die La Montaines, die in Paris residieren …«

Rebecca winkte ab. Sie erhob sich und zog sich einen Morgenmantel über. Nicht etwa, weil sie sich ihrer Nacktheit vor ihrem Diener schämte, sondern um anzuzeigen, dass sie nun wieder »offiziell« als Herrscherin agierte.

»Die La Montaines, die Baker-Family, die Carusos und wie sie alle heißen. Ihr beide wisst, dass diese Sippen sowieso früher oder später zu uns übergelaufen wären. Bloody is beautiful! Dieser Losung können sie sich nicht entziehen!« Schwungvoll warf sie das füllige Haar in den Nacken. »Aber noch zögern einige wichtige Familien. Sie zögern, weil sie darauf warten, wie sich Capricio Druso entscheidet.«

»Er wird keine andere Wahl haben, als dich als seine Herrin zu akzeptieren«, beeilte sich Boris zu versichern. Rebecca winkte ab. »Du brauchst mir kein Blut ums Maul zu schmieren. Druso ist eine harte Nuss, er wird nicht so leicht zu überzeugen sein wie die anderen.«

Seit Tagen wartete sie bereits auf den Boten, der mit einer Botschaft von ihr zu Druso aufgebrochen war. Bislang hatte er sich nicht wieder gemeldet. Ihr schwante nichts Gutes …

 

»Jemand wünscht dich zu sprechen, Herrin!«, teilte Boris ihr wenig später mit.

»Endlich Nachricht von Druso?«, fragte sie gespannt.

»Nein, unser Bruder Vego ist noch nicht zurückgekehrt. Der Besucher, der auf euch wartet, stellte sich als Zakum vor.«

»Zakum?«, fragte Rebecca überrascht. »Der Archivar Luguris und, wie man hört, neu ernannte Lordkanzler höchstpersönlich?«

Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Wollte er sie ausspionieren? Es war nicht anzunehmen, dass er eine gute Nachricht brachte. Andererseits fühlte sie sich Luguri inzwischen überlegen. Erst recht in ihrem neuen Refugium. Sie hatte sich in Wien gut eingelebt. In dem alten windschiefen Gebäude, das sich wie ein Zwerg zwischen die anderen Häuser in der Schönbrunner Straße zwängte und das ehemals Skarabäus Toth als Kanzlei gedient hatte, genoss sie jeden erdenklichen Schutz. Vor allem das Tunnelsystem unter dem Haus, das sich weit über das eigentliche Grundstück erstreckte, bot ihr ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten. Für ihre privaten Bedürfnisse hatte sie sich ein besonders großes Gewölbe ausgesucht. Kein Mensch, der an dem Gebäude vorüberging, hätte vermutet, was hinter und unter seinen Mauern wirklich vorging.

Die Menschen waren nach wie vor ahnungslos – und so sollte es auch sein. Zwar gab es immer mehr rätselhafte Todesfälle, da Wien inzwischen zu einer Hochburg der Vampire geworden war. Und von irgendetwas mussten sich die Vampire ja ernähren. Doch die wahren Opferzahlen kamen kaum ans Licht, da die wichtigsten Ämter von Mitgliedern der Schwarzen Familie besetzt wurden – zumeist ebenfalls Vampire. Die meisten anderen Dämonen hatten die Stadt inzwischen vorzeitig verlassen.

So vorteilhaft das Haus für ihre Zwecke war, liebäugelte sie doch mit einem Umzug in die Villa, die früher der Familie Zamis gehört hatte. Diese gehörte derzeit zwar den Geauscus, einer mächtigen Vampir-Familie, aber sie würden das Anwesen sicherlich räumen, wenn ihre Herrin Rebecca es ihnen befahl. Doch derzeit gab es drängendere Probleme.

Die letzten Tage und Wochen hatte sich Rebecca darauf beschränkt, ihre Boten in alle Teile der Welt zu entsenden, um weitere Verbündete unter den Vampirsippen anzuwerben. Bislang hatten sie von überallher nur Erfolgsmeldungen erreicht. Bis auf Druso …

Diese Gedanken schossen ihr durch den Kopf, während sie die unterirdischen Gänge durchschritt und auf dem Weg nach oben war.

Zakum erwartete sie im Besucherzimmer. Sie hatte im Haus alles so gelassen, wie es auch zu Toths Lebzeiten gewesen war. Das Mobiliar und die Räume machten allesamt einen leicht veralteten Eindruck.

Damit passen sie ja zu Zakum, diesem verknitterten Wurzelmännchen, dachte sie spöttisch.

Zakum war ein uralter Dämon. Er hatte bereits Asmodi gedient. Es hieß, dass er stets dem jeweiligen Oberhaupt der Schwarzen Familie ergeben sei. Nun, dachte Rebecca, vielleicht muss ich mich an ihn gewöhnen. Sobald sie sich als rechtmäßige Herrin der Finsternis ausrufen lassen würde, müsste Zakum demzufolge auch ihr Gehorsam leisten.

Als sie den Besucherraum betrat, erhob Zakum sich von seinem Stuhl. Er war mittelgroß, hatte eine graue verrunzelte Haut sowie dünne Arme und Beine. Wie üblich trug er einen togaähnlichen Umhang, aus dem die dürren Finger seiner Hände wie Spinnenbeine hervorragten. Als Rebecca zur Begrüßung seinen Händedruck erwiderte, hatte sie das Gefühl, die Haut eines Toten zu spüren.

»Ich danke Ihnen, dass Sie mir die Ehre erweisen, Sie empfangen zu dürfen, Zakum«, säuselte Rebecca. »Was ist der Grund Ihres so überraschenden Besuches?«

»Oh, die Ehre ist ganz meinerseits«, gab Zakum zurück. »Ich habe so viel von Ihnen in letzter Zeit gehört, dass es geradezu mein Verlangen war, Sie persönlich aufzusuchen.«

»Und was bringen Sie mir für eine Nachricht?« Rebecca beschloss, den Small Talk beiseitezulassen. »Hat es sich Luguri überlegt? Haben Sie die Kapitulation dabei?« Natürlich wäre das zu schön gewesen. Sie wusste, dass Luguri sich so schnell nicht würde ins Bockshorn jagen lassen. Also konnte es sich nur um irgendeine Gemeinheit oder Falle halten, die ihr Zakum unterbreiten sollte.

Zakums Teufelsfratze, die seine innere Bosheit widerspiegelte, verzog sich zu einem süffisanten Lächeln. Er war bekannt dafür, dass er seine Feinde am liebsten durch Worte quälte. Insofern sah man es ihm an, dass es ihm ein besonderes Vergnügen bereitete, Rebecca die Botschaft seines Herrn zu überbringen: »Meine Liebe, ich fürchte, die Botschaft, die ich überbringen muss, ist keine angenehme. Luguri lässt Ihnen ausrichten, dass er Ihnen genau vierundzwanzig Stunden Zeit gibt, um zu kapitulieren.«

Rebecca lachte auf. »Wieso sollte ich?« In Wahrheit musste sie sich eingestehen, dass sie das Ultimatum beunruhigte. Was hatte der Schurke vor? Er musste irgendetwas in der Hinterhand haben. Vierundzwanzig Stunden – das war eine kurze Zeit. Und es würde sich sehr schnell rumsprechen, wenn er nur bluffte. Niemand würde ihn dann mehr besonders ernst nehmen.

Zakum lächelte verschlagen und zupfte eine Falte seines Umhangs zurecht. »Luguri appelliert an Ihr Verantwortungsgefühl Ihrem Volk gegenüber. Falls Sie nach wie vor gegen ihn agieren, wird etwas Schreckliches mit den Blutsaugern geschehen – jedenfalls mit jenen, die Ihnen die Gefolgschaft zugesichert haben.«

»Ich zittere jetzt schon!«, spöttelte Rebecca. »Geht es vielleicht auch etwas konkreter?«

Zakum schüttelte den Kopf. »Mehr darf ich leider nicht verkünden. Aber wenn ich Ihnen einen privaten Rat geben darf …« Er beugte sich vor, sodass sie seinen stinkenden Atem roch. »… sozusagen einen Rat von Dämon zu Dämon: Nehmen Sie Luguris Warnung ernst. Kapitulieren Sie. Wir können es so arrangieren, dass Sie dabei nicht das Gesicht verlieren. Wir regeln es ganz diplomatisch. Vorerst würde Luguri sich damit zufriedengeben, wenn Sie sämtliche weitere Bemühungen einstellen und ihm versichern, nicht weiter gegen ihn zu intrigieren.«

»Ach, wie gnädig. Ich hätte gedacht, ich müsste auf allen vieren zu ihm hinkriechen und ihm die Füße lecken!« Sie merkte, wie die Wut in ihr hochschoss. Der Lordkanzler hatte mit seiner Süffisanz erreicht, dass sie fast explodierte. »Ich bitte Sie, auf der Stelle mein Haus zu verlassen. Sagen Sie Ihrem Herrn Luguri, dass umgekehrt ich ihm ein Ultimatum stelle: Auch er hat vierundzwanzig Stunden Zeit, mir gegenüber die Kapitulation zu erklären!«

Zakum erhob sich. »Mein Herr ist auch Ihr Herr«, gab er zu bedenken.

»Vierundzwanzig Stunden!«, wiederholte Rebecca.

»Ansonsten …?«

»Lassen Sie sich überraschen«, erwiderte sie lächelnd. »Bloody is beautiful!«

Die Tür öffnete sich, und Boris erschien. Er führte den Archivar und Lordkanzler Luguris hinaus.

Rebecca blieb unschlüssig zurück. Sie war wütend und verunsichert zugleich. Wütend über Luguris Unverschämtheit, über Zakums penetrantes Auftreten ihr gegenüber, wütend aber vor allen Dingen auf sich selbst, weil es ihm gelungen war, sie aus der Reserve zu locken. Sie war wohl doch noch nicht so ausgebufft, wie sie von sich selbst geglaubt hatte. Und sie war verunsichert, weil es ihr nicht gelang, seine Drohung so einfach an sich abperlen zu lassen.

Luguri plante etwas gegen sie. Oder bluffte er vielleicht doch nur? Das eben war es, was sie so verunsicherte. Auch in dieser Hinsicht musste sie sich noch eine dickere Haut zulegen, wie sie erkannte.

Auf jeden Fall musste sie Vorkehrungen treffen, falls Luguri tatsächlich einen Angriff auf sie wagen würde.

Kaum hatte sie wieder ihre Fassung zurückgewonnen, als Boris erneut anklopfte und endlich Vego ankündigte. Rebecca ließ ihn sogleich hereinführen. Im Gegensatz zu Boris, der jung und ansehnlich war, bot Vego genau das umgekehrte Bild. Er wirkte wie ein alter Tattergreis, ging stets gebückt und ließ sich nicht bekehren, sich von seinem alten Frack zu trennen, der ihm eine butlerartige Aura verlieh. Sein schlohweißes Haar hing ihm bis auf die Schultern. Wie immer, so stützte er sich auch heute auf seinen Stock, dessen Knauf mit einem silberfarbenen Totenschädel verziert war. Normalerweise war Vego nicht unbedingt Rebeccas Fall, aber sie hatte festgestellt, dass er ihr treu ergeben war und im Vergleich zu den meisten jungen Vampiren ein weit höheres Verhandlungsgeschick an den Tag legte. Insofern hatte sie sich bewusst für ihn entschieden, als es darum ging, jemanden damit zu beauftragen, mit Capricio Druso zu verhandeln.

Rebecca bot dem alten Vampir sogleich einen Platz an. »Du kommst spät. Was hat deine Reise ergeben?« Sie konnte ihre Ungeduld kaum zügeln.

Vego sah sie mit dem linken Auge vorwurfsvoll an. Das rechte war mit einer milchigen Haut überzogen und blind. »Ich war tagelang unterwegs«, rasselte er mit erschöpfter Stimme. »Immer darauf bedacht, nicht Luguris Häschern in die Hände zu fallen. Eine Geheimmission wie die meine erfordert besonderes Geschick …«

Rebecca winkte ab. Vegos Litaneien und Ausschmückungen, wenn es um seine Großtaten ging, waren gefürchtet. »Hat Capricio Druso mir seine Unterstützung versichert oder nicht?«, kam sie auf den Punkt.

»Wenn Ihr einem alten Vampir zunächst einen Gefallen tun wollt. Ich habe seit Tagen nichts mehr getrunken …«

Rebecca gab Boris einen Wink, und dieser kredenzte Vego ein Glas Blut aus einer Karaffe.

»Ein herrlicher Tropfen«, sagte sie ungeduldig. »Von einer frisch geopferten Jungfrau.«

Vego schnalzte mit der Zunge. Nachdem er das Glas abgesetzt und sich die blutverschmierten Lippen abgeleckt hatte, sagte er: »Er hat nicht.«

Rebecca stampfte mit dem Fuß auf. Jetzt war sie wirklich sauer.

»Du hast versagt!«, schrie sie den alten Vampir an. »Ich habe mich auf dein Verhandlungsgeschick verlassen, aber anscheinend bist du völlig unfähig …« Sie redete sich in Rage.

Vego beeindruckte dies wenig. Er war zu alt, um überhaupt noch irgendetwas zu fürchten. Außerdem kannte er seine Herrin zu gut. Genauso schnell, wie sie in Rage geriet, kühlte ihre Wut auch wieder ab.

»Ich hätte mir diesen Druso besser selbst vorknöpfen sollen«, schloss sie ihre Wutrede.

»Genau das ist der Punkt«, erklärte Vego. »Er lässt Ihnen ausrichten, dass Sie sich schon persönlich zu ihm bemühen müssen, wenn Sie von ihm etwas verlangen.« Er seufzte. »Ich habe wirklich alles versucht, aber er ließ sich zu keiner Solidaritätsbekundung verleiten.«

In Rebeccas Augen blitzte es kalt auf. Es war anscheinend nicht ihr Tag. Erst dieser unverschämte Zakum und nun Drusos Absage. Doch es war eines, sich mit Luguri zu messen. Immerhin fochten sie um dieselbe Sache, befanden sich sozusagen auf Augenhöhe. Doch von einem anderen Vampir derart brüsk abgewiesen zu werden, war sie nicht mehr gewohnt. Und sie war auch nicht willens, es hinzunehmen.

»Also schön«, zischte sie. »Wenn er mich unbedingt persönlich kennenlernen will, so kann er das haben. Ich werde heute noch in die französischen Pyrenäen reisen! Boris, bereite alles für meine Abreise vor!«

»Mit der Kutsche, Herrin?«

Sie hatte es sich seit einiger Zeit angewöhnt, sich mit einer schwarzen Kutsche, vor die vier Rappen gespannt waren, durch Wien kutschieren zu lassen. Für sie war es ein Gag. Es hatte jedoch den Nebeneffekt, dass andere Vampire höchst beeindruckt waren, wenn sie derart standesgemäß an ihnen vorüberrauschte. Für weitere Fahrten eignete sich die Kutsche jedoch kaum. Erst recht nicht, um damit Druso aufzusuchen.

»Nein, du Idiot«, antwortete sie. »Natürlich mit dem Flugzeug!« Sie wandte sich an Vego. »Und du kommst mit!«

»Das werden Sie nicht von mir verlangen«, antwortete Vego. »Druso besteht darauf, dass Sie allein kommen.«

 

 

2. Kapitel

 

Der Blitz schlug keine hundert Meter vor ihnen ein. Unwillkürlich trat Dorian auf die Bremse. Der winzige Renault kam ins Schleudern. Für einen Moment drohte er sogar, die Seitenabsperrung zu durchbrechen und in den Abgrund zu stürzen. Der Wagen touchierte die Randbegrenzung, ratschte Funken sprühend daran entlang, ehe Dorian ihn wieder unter Kontrolle bekam und endlich zum Stehen brachte.

»Dieses Scheißwetter!«, fluchte er. »Und dann noch in dieser Mistkiste!« Er schlug mit der Faust aufs Lenkrad und verschaffte seiner Wut dadurch Luft. Das Unwetter hatte vor einer Stunde begonnen, und seitdem kurvten sie hier in den Pyrenäen herum, ohne auf irgendeinen Hinweis oder wenigstens eine Herberge gestoßen zu sein. Mehr als einmal waren sie nur um Haaresbreite einem Unglück entkommen. Mal war eine Steinlawine herabgeprasselt, ein anderes Mal war ihnen auf ihrer Spur ein Lkw entgegengekommen, der einen anderen Wagen in der Kurve überholt hatte. Es war, als hätte jemand es darauf abgesehen, ihnen den Garaus zu machen.

»Du oder ich?«, fragte Dorian.

»Du oder ich?«, echote Zicci verständnislos.

»Schaust du nach, ob die Straße noch existiert, oder soll ich das machen?«, präzisierte Dorian sein Anliegen. Natürlich hätte er es Zicci auch einfach befehlen können, aber es lag ihm absolut nicht, ständig den Herrn herauszukehren. Mehr oder weniger hatte Zicci sich ihm als Hausgeist aufgedrängt – und Dorian war jetzt in der Zwickmühle, sich um ihn zu kümmern.

Zicci seufzte. »Nicht in dieses Unwetter!«, zeterte er. »Außerdem tobt das Gewitter noch immer über uns. Der nächste Blitz könnte mich erschlagen!«

»Besser dich als mich«, konterte Dorian. »Außerdem war es allein deine verfluchte Idee, in den Pyrenäen nach Hinweisen auf Libussa zu suchen!«

Außerdem hatte ausgerechnet Zicci vorgeschlagen, sich dem möglichen Ziel auf herkömmlichem Wege zu nähern und nicht mittels Magie, um eventuelle Dämonen nicht zu warnen.

Dies alles dem Hausdämon vorzuwerfen, war dennoch nicht ganz fair. Dorian wusste das. Er hatte die letzten Nächte wieder Libussas Stimme vernommen. Sie hatte ihn um Hilfe angefleht. Und wie die ganzen Nächte zuvor, so hatte er sich nach wie vor keinen rechten Reim darauf machen können. Eigentlich hatte er geglaubt, die Sache wäre erledigt gewesen. Libussa hatte Zicci in der Vergangenheit den Auftrag gegeben, ihn zu Hilfe zu holen. Doch der Hausdämon hatte sich in den Zeiten geirrt. Und anstatt sich an Matthias, Dorians Inkarnation in seinem sechsten Leben zu wenden, war er in die Zukunft gereist und hatte im Castillo Basajaun heillose Verwirrung gestiftet. Da Dorian jedoch wusste, dass Libussa damals dem Scheiterhaufen entkommen war, hatte er tatsächlich die Vergangenheit für abgeschlossen befunden.

Doch seit den Ereignissen am Mummelsee wusste er, dass seine Einschätzung falsch gewesen war. Von Libussa hatte er allerdings nicht die geringste Spur mehr gefunden. Schließlich hatte ihm ausgerechnet Zicci einen weiteren Hinweis gegeben – mit der Begründung, Dorians leidende Miene nicht mehr ertragen zu können.

»Libussas Geist hat keinen Frieden gefunden. Ich bin kein Hellseher, aber mir stehen bestimmte magische Mittel und Wege zur Verfügung, um herauszufinden, was sie quält.«

»Also schön, dann wende sie an!«, hatte Dorian gefordert.

Doch der Hausdämon schüttelte vehement den Kopf. »Selbst einem ansonsten allwissenden Dämon wie mir sind manche Antworten verwehrt. Dunkle Rachegeister harren dort der unwissend Forschenden. Wir müssen uns ihnen auf Umwegen nähern, um nicht ihre Aufmerksamkeit zu erwecken.«

Dorian hatte verstanden: »Das heißt, du kannst uns nicht direkt dorthin befördern?«

»Es wäre unklug.«

»Aber du weißt wenigstens, wo wir ungefähr suchen müssen, um Hinweise auf Libussa zu finden?«

Und so saß er nun seit geraumer Zeit mit Zicci zusammen in diesem verdammten Renault und durchfuhr ziellos die französischen Pyrenäen. Mehrmals hatte Zicci ihm theatralisch zu verstehen gegeben, einer »Stimme« oder einer »ganz heißen Spur« zu folgen. Doch jedes Mal hatte der Hausgeist kleinlaut zugeben müssen, sich geirrt zu haben. Und schließlich waren sie in dieses Unwetter geraten …

»Schön, aber ich gehe nur unter Protest!«, sagte Zicci nun, öffnete die Beifahrertür und stapfte todesmutig hinaus in den Regen. »Wenn mich ein Blitz erschlägt, wirst du dir dein Leben lang Vorwürfe machen!«, hörte Dorian ihn noch knurren. Dann war er hinter den Regenschleiern verschwunden.

Dorian schaltete das Warnblinklicht ein. Trotzdem hoffte er, dass ihnen niemand entgegenkam oder von hinten auffuhr. Obwohl er am Seitenrand parkte, traute er den Franzosen nicht. Sie fuhren wie die Geisteskranken.

Die Minuten vergingen, während der Regen unablässig aufs Dach prasselte. An einigen Stellen tropfte es herein. Abgesehen davon, dass man in dem Unwetter sowieso kaum die Hand vor Augen sah, dämmerte es bereits. Dorian wusste, dass in dieser Gegend fast übergangslos die Dunkelheit hereinbrechen würde. Hoffentlich beeilte sich Zicci.

Doch der Hausdämon ließ ihn zappeln. Wahrscheinlich, weil ich ihn zu grob behandelt habe, dachte Dorian. Sein schlechtes Gewissen hielt sich allerdings in Grenzen. Er steckte sich eine Players an und inhalierte tief. Es konnte nicht schaden, sich bald eine Unterkunft zu suchen und einen Bourbon zu sich zu nehmen. Morgen sah die Welt bestimmt schon wieder ganz anders aus.

Als Zicci auch nach fünf Minuten noch nicht wieder zurückgekehrt war, platzte ihm der Kragen. Er stieg ebenfalls aus. Obwohl er eine Regenjacke trug, war er innerhalb von Sekunden durchnässt. Der Wind blies ihm die Regentropfen direkt ins Gesicht. Er musste die Augen mit der Hand abschirmen, um überhaupt etwas sehen zu können. Nach rund fünfzig Metern hatte er die Stelle erreicht, an der der Blitz eingeschlagen hatte. Die Entladung war nicht das Problem. Der Blitz hatte nicht viel Schaden anrichten können, obwohl die Luft noch immer aufgeladen war. Schlimmer war die Steinlawine, die die Straße an dieser Stelle unpassierbar machte.

Von Zicci war nichts zu sehen. Als hätte er sich in Luft aufgelöst.

»Zicci? Wo verdammt steckst du?«

Der Hausgeist würdigte ihn keiner Antwort. Oder er war tatsächlich verschwunden und hatte ihn, Dorian, hier zurückgelassen.

»Agiel Arcanus Kadmon, lux in tenebris, Magga Zicci Margrave!«, schimpfte Dorian. Das war normalerweise die einzige Möglichkeit, Zicci herbeizurufen – die Zauberformel sozusagen.

Doch auch dieses Mal tat sich nichts. Der Hausdämon verweigerte den Befehl. Fluchend stampfte Dorian wieder zum Wagen zurück. Diesmal hatte er den Wind im Rücken. Zwar kam er dadurch schneller vorwärts, aber als er sich endlich wieder hinter das Steuer gequetscht hatte, war seine Kleidung auch hinten völlig durchgeweicht.

Dorian schlug die Tür zu und startete den Wagen. Er sah kaum noch etwas. Obwohl das Gebläse auf Höchsttouren lief, waren sämtliche Scheiben beschlagen. Er nahm darauf keine Rücksicht. Blind setzte er zurück, wendete auf der engen Straße und war im Begriff, wieder talwärts zu fahren. Zicci sollte bleiben, wo der Pfeffer wuchs. Und seinetwegen nie wieder auftauchen!

Da bemerkte er den Pfad zu seiner Rechten, den er bisher nicht wahrgenommen hatte. Er bahnte sich zwischen den Felsen durch und ließ gerade mal Platz für einen Wagen. Noch interessanter als der Pfad war jedoch das verblichene Hinweisschild, dessen verblasste Schrift soeben ein weiterer Blitz erhellte.

Château Blanc, entzifferte Dorian. Er wusste nicht, ob es sich wirklich um ein Schloss handelte. Der Name brachte jedenfalls irgendetwas in ihm zum Klingen. Wie eine längst versickerte Erinnerung … Aber vielleicht irrte er sich auch. Viel wichtiger aber war, dass er dort vielleicht auf eine Herberge traf, ein Hotel oder was auch immer für ein Haus, wo er hoffen konnte, diesem Unwetter zu entkommen.

Ohne weiter darüber nachzudenken, steuerte er den Wagen herum und fuhr den Pfad hinein. Die Felsen türmten sich zu beiden Seiten in die Höhe. Dorian fragte sich, was wohl passieren würde, wenn ihm hier ein anderer Fahrer entgegenkäme. Er fuhr langsam, fast im Schritttempo. Seine Wut war bereits wieder verraucht. Und er hatte nicht vor, hier einen Unfall zu provozieren. Wahrscheinlich würde er tagelang vergeblich auf Hilfe warten.

Der Pfad schlängelte sich in steilen Serpentinen noch immer bergan. In einigen der Kurven wurde es geradezu klaustrophobisch eng. Die nach wie vor aus schwarzen Wolken zuckenden Blitze erhellten bizarre Gesteinsformationen.

Plötzlich, wie aus dem Nichts, ragten hinter einer weiteren Kurve die düsteren Mauern einer Burg empor. Der Pfad verbreiterte sich zu einer Allee, die direkt zu dem gewaltigen Bau führte. Insgeheim hatte Dorian nicht mehr damit gerechnet, in dieser Einöde überhaupt auf eine von Menschen bewohnte Behausung zu treffen. Und diese Burg schien sogar bewohnt! Hinter einigen der hohen, schlanken Fenster brannte Licht.

Ein schmiedeeisernes verschlossenes Tor bedeutete zunächst einmal das Ende seiner Fahrt. Er drückte auf die Hupe und wartete ab. Nichts passierte. Wahrscheinlich ging der Hupton in dem Gewittergrollen völlig unter! Also gut, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als sich erneut dem Unwetter auszusetzen. Als er die Wagentür öffnete, drang sofort ein Regenschwall herein. Dorian hievte seine lange Gestalt aus dem winzigen Wagen und kämpfte sich zum Tor vor. Es war zweiflügelig und ließ sich leicht öffnen, wie er feststellte. Vergeblich suchte er dafür nach einer Sprechanlage oder Klingel.

Er entschied, den Wagen zunächst stehen zu lassen. Nass bis auf die Knochen war er nun sowieso. Er schob die Torflügel so weit auseinander, dass er hindurchpasste, und lief weiter die Allee entlang auf das Hauptgebäude zu. Er erkannte, dass das, was er zunächst für eine einzelne Burg gehaltenen hatte, aus mehreren Gebäuden bestand. Aber in nur einem, dem größten, brannte auch Licht.

Schließlich hatte er die Pforte erreicht. Fehlte nur noch, dass ihm niemand öffnete. Wahrscheinlich sah er in seinem Zustand nicht gerade vertrauenserweckend aus. Eine Klingel gab es auch hier nicht, dafür einen altmodischen Türklopfer in Form einer fantasievoll gestalteten Klaue.

Dorian ließ ihn dreimal gegen das Holz krachen und wartete ab. Zumindest gab es hier ein kleines Vordach, das gegen den Regen schützte. Trotzdem fühlte er sich, als sei nicht nur seine Kleidung völlig durchweicht, sondern er selbst auch.

Da sich nichts tat, pochte er mit der Faust gegen die Tür. Als er gerade ein weiteres Mal den Türklopfer betätigen wollte, wurde die Pforte geöffnet. Ein warmes Licht drang von innen heraus. Im Türrahmen stand eine junge Frau, die ein erschrockenes Gesicht machte, als sie ihn sah.

»Guten Abend, entschuldigen Sie, dass ich Sie belästige, aber ich bin in dieses Unwetter geraten und …«

»Kommen Sie rasch herein!«, unterbrach ihn die Frau. »Sie bringen ja geradezu den Weltuntergang mit!«