Toteis

Georg Halder ist das Pseudonym eines Journalisten, der viele Jahre in Europa, Asien und Afrika für Zeitungen und Magazine im deutschsprachigen Raum unterwegs war. Darüber hinaus hat er sich in der Aus- und Weiterbildung von Journalisten betätigt.

Seine beruflichen Erfahrungen verarbeitet er jetzt in packenden Krimis. In den Bergen ist er seit seiner Jugend unterwegs, wobei er schon immer weniger auf Gipfel fixiert war, sondern sich mehr der Natur und Kultur dieser Regionen zugewandt hat. „Toteis“ ist sein erster Bergkrimi.

Georg Halder

Toteis

Bergkrimi

Bergverlag Rother

Tot|eis, bewegungslos gewordene Teile von Gletschern oder Inlandeis (meist infolge von Abtrennung bei raschem Gletscherrückzug), über die sich Sande und Kiese der Gletscherschmelzwässer lagern, oft von Moränen- bzw. Schmelzwasserablagerungen überdeckt, wodurch das T. lange erhalten bleibt. Beim Abtauen des T. entstehen unregelmäßige Hohlformen (T-Loch), meist abflusslos, daher heute vielfach von Seen erfüllt.

Brockhaus, 21. Auflage

PROLOG

Gletscherruß

Seit rund vierzig oder fünfzig Sommern taut Firnschicht um Firnschicht auf unseren Gletschern ab. Die jährlichen Rußablagerungen unserer industriellen Kultur, die sich in rund hundert Jahren auf hundert entsprechende Schichten verteilt haben, addieren sich im tauenden Eis, sammeln sich in einer einzigen Schicht, der jeweils aktuellen Oberfläche, an. Diese obere Eisschicht ist deshalb nicht mehr weiß, sondern von einem dunklen Grau-Schwarz und erwärmt sich unter Sonneneinstrahlung immer schneller. Und jeder neue Sommer legt weitere verschmutzte Firnschichten frei, legt neue, zusätzliche Grauschleier auf das alte Eis, beschleunigt damit das Abtauen der Gletscher-Oberflächen weiter. An einigen Gletschern in der Schweiz, die touristische Relevanz haben, geht man inzwischen so weit, die Oberfläche während des Sommers unter weißen textilen Folien zu verbergen. Aber auch das verzögert den Effekt nur lokal und temporär: Das Abtauen der Gletscher eilt der allgemeinen globalen Klimakatastrophe weit voraus.

Und das ist ein Problem, mit dem ich mich auseinandersetzen muss. Natürlich ist die Erwärmung der Erde ein globales, allgemeines Problem – eines der größten, das wir je zu stemmen hatten. Aber in meinem Fall und im Fall des Toteisfeldes im Watzmannkar ist es auch ein spezielles, ganz persönliches Problem.

Deshalb pilgere ich einmal im Jahr da hoch. Mitte, Ende September, spätestens Anfang Oktober – wie es mein Terminplan eben zulässt. Das Ganze dauert drei Tage – mit dem Zug nach Berchtesgaden, mit dem Bus zur Seelände. Von Bartholomä über den Rinnkendlsteig zur Kührointalm, dort übernachte ich. Früh am nächsten Morgen ins Kar, am Nachmittag habe ich dann gesehen, was ich sehen muss, um in mein normales Leben zurückkehren zu können, um ein Jahr Ruhe zu haben. Am Abend des dritten Tages bin ich wieder zu Hause, besuche einen alten Freund, der auch in der Sache drinhängt, und erstatte ihm Bericht.

Früher mal war ich oft und gerne in dieser Gegend, heute gehe ich nur noch unter selbstauferlegtem Zwang dorthin – wegen der Erinnerungen, die damit verbunden sind, die nicht schön sind. Ich gehe, weil ich weiß, wie tief das Toteis ist – weil ich weiß, was dort liegt: etwas, das besser unentdeckt geblieben wäre. Etwas, das meine unausgesetzte Aufmerksamkeit fordert.

So gesehen bin ich nie dort weggekommen, immer noch im Kar, auf zweitausend Meter Meereshöhe, zwanzig Meter unter dem Eis.

Denn das Eis der Gletscher taut, weltweit, und jedes Jahr wird das Toteis etwas kleiner.

KAPITEL 1

Jahrhundertsommer

Oktober 2006 bis Oktober 2007

… schon wie ich das Wrack gefunden habe, ist eine Geschichte für sich. Das war im Oktober 2006, auf dem Toteisfeld des Watzmannkars, in etwas über zweitausend Meter Höhe. Ich hatte Steigeisen unter den Stiefeln, eine Sonnenbrille gegen das gleißende Nachmittagslicht auf der Nase – und sammelte Abfall ein.

„Math. Hager – Mineralwasserfabrik – Berchtesgaden“. Ein alter Flaschenverschluss, der Drahtbügel war längst weggerostet, er hatte nur braun-goldene Verfärbungen auf dem schneeweißen, glatten Porzellan hinterlassen – aber die Aufschrift war gut erhalten. Solche Verschlüsse hatte ich zuletzt in meiner Kindheit gesehen. Von der Flasche war natürlich nichts mehr übrig – in tausend Scherben zerplatzt, als sie auf das Eis geknallt war, nach hundert, dreihundert, sechshundert Meter im freien Fall. Sie war als lästiger Ballast aus der Kleinen Ostwand geworfen worden, als sie nutzlos, als sie leer gewesen war. Und drei Meter weiter lag eine antike Nivea-Dose auf dem Eis …

Nach einer halben Stunde hatte ich vier dieser Flaschenverschlüsse, einen kleinen Glastiegel mit festsitzendem Blechdeckel, ein einzelnes, zerbrochenes Steigeisen, drei Gewehr-Patronenhülsen, eine Bombennase und zwei handgroße Granatsplitter aufgesammelt. Dazu, so erstaunlich es klingen mag: verwelkte Buchenblätter – auf über zweitausend Meter Höhe. Erinnerungen an einen längst vergessenen Sturm.

Dann begriff ich es: Das hier war eine archäologische Fundstätte, eine, auf der nicht gegraben werden musste – weil die Artefakte von selbst ans Licht kamen. Eingesunken in der Sommerhitze, zugedeckt vom Winterschnee, ins Eis gepresst, tiefgefroren. Nach vierzig, sechzig oder siebzig Jahren wieder ans Licht getaut, als Folge der globalen Erwärmung. Ausgeapert aus altem, totem Eis …

Hier taute offenbar eine Kulturschicht aus dem Boden, die etwa sechzig bis siebzig Jahre alt sein musste – die neunzehnhundertdreißiger und -vierziger Jahre waren das, die hier an die Oberfläche kamen. Ich fand das faszinierend, konnte nicht aufhören, Kreise zu ziehen, auf diesem vier, fünf Fußballfelder großen blauen Eisfladen. Dann ein Teil, das zu groß war, um es einzustecken: aus Blech, verdreht, gestaucht und rotgerostet – keine Ahnung, was das sein könnte. Ich versuchte, die ursprüngliche Form zu erkennen – mehrere gekrümmte Röhren, die zusammenliefen und an einer größeren ansetzten. Ich hatte so was schon mal gesehen, da war ich mir sicher, kam aber nicht drauf wo.

Die Zeit verging, und ich hatte ja noch was anderes vor, das, weshalb ich eigentlich hier heraufgekommen war: Ich wollte mir den Einstieg zu einer Führe durch die Kleine Ostwand des Watzmanns ansehen, die sogenannte „Wiederroute“. Einfach, aber spektakulär schön, sie wird heute nur noch wenig begangen. Die Kopie einer alten Zeichnung hatte ich dabei und mit der war es kein Problem, diesen Einstieg zu finden: Ganz oben im Kar, am oberen Ende eines eisbedeckten Schuttkegels, begann eine steil nach oben führende Rinne. Wir würden Steigeisen brauchen, um sicher den Einstieg zu erreichen. Ab da würde es dann eine reine Genusstour werden …

Anderthalb Stunden hatte ich von der Alm bis hier zum Einstieg gebraucht, ohne meine Extrarunden auf dem Eisfeld. Etwa drei Stunden rechnete ich für die siebenhundert Höhenmeter bis zum Gipfel, wenn man es langsam und gemütlich angehen würde. Dann eine halbe Stunde über den Grat zum Hocheck, anderthalb Stunden runter zum Watzmannhaus, weitere anderthalb für den Abstieg zur Kührointalm. Acht Stunden, ohne die Pausen. Ein wunderschöner, langer Tag in den Bergen, zusammen mit einem guten Freund als Seilpartner. Am Abend auf der Alm dann ein Weißbier als Aperitif und einen Kräuter-Enzian hinterher. Im kommenden Hochsommer oder im frühen Herbst. Herrlich, einfach perfekt.

Ich stieg wieder ab, runter zum Eisfeld. Auf halber Höhe sah ich, dass sich das Oberflächenwasser des Feldes einen Abfluss gefressen hatte, nahe dem Schutthügel, an dem das Eisfeld bergab endete. Ich legte meinen Weg so, dass ich daran vorbei kommen würde.

Ein senkrecht nach unten führender Schacht in wasserpoliertem Eis, gewunden, oben eineinhalb Meter im Durchmesser, nach unten verengte und verzweigte er sich – den Grund konnte man nicht sehen. Da hinein floss das ganze Schmelzwasser des Eisfeldes, ein klarer, gurgelnder Bach, eiskalt, gerade so über der Frostgrenze. Sofort hatte ich Lust, da hinunterzusteigen, mir die Höhle im blauen Eispanzer anzusehen, die das Wasser gefressen hatte. Aber das kam nicht in Frage: Zum einen war ich alleine hier, ich hatte auch weder Eisschrauben noch ein Seil dabei. Außerdem wäre ich patschnass geworden da unten.

Ich umrundete den Schutthügel rechts und stieg ein paar Dutzend Meter am gegenüberliegenden Hang auf, setzte mich auf einen Block, lehnte mich an einen zweiten und holte das Fernglas aus dem Rucksack. Damit und mit der alten Beschreibung der Route versuchte ich, sie in der Wand nachzuvollziehen, ausgehend von der Einstiegsrinne, die ich weiter oben gefunden hatte. Nicht, weil ich aus diesem Winkel viel hätte erkennen können vom Weg durch diese Wand – mehr, um festzustellen, ob meine Beschreibung zutreffend und verlässlich war.

Anscheinend war sie das, zumindest im unteren Drittel der Wand war alles da, wo diese Beschreibung es haben wollte. Zufrieden packte ich ein und machte mich an den Abstieg.

***

Das Kar, eingeklemmt zwischen den hohen Wänden von Hocheck, Mittelspitze und der Watzmannfrau, dem höchsten der Nebengipfel, ist im oberen Drittel eine reine Steinwüste. Mittendrin liegt das Toteisfeld: ein riesiger Fladen aus altem, blauem Eis, das in einer schief gehaltenen Schüssel aus Fels und Steinschutt festgefroren ist. Drumherum ein Durcheinander von Felsbrocken – vom Einfamilienhaus-Format bis runter zum fingernagelgroßen Kiesel. Die größeren Brocken sind an manchen Stellen geradezu übersät mit Fossilien – Muscheln hauptsächlich, die wegen ihrer Form „Kuhtritte“ genannt werden.

Durch dieses Chaos windet sich ein Weg, der oft nur durch kleine Steinmännchen erkennbar ist, aufgeschichtet von den wenigen Wanderern, die noch hier heraufkommen. Vor allem im oberen Teil ist er über weite Strecken kaum erkennbar oder nachvollziehbar – deshalb achtete ich gar nicht groß auf die Markierungen, suchte mir meinen Weg in diesem Fels-Chaos selbst. Das führte mich zu meiner nächsten Entdeckung an diesem Tag.

Eine flache Felsplatte lag da vor mir, staubgrau, wie die ganze Umgebung, aber an der Oberfläche seltsam gleichmäßig strukturiert, wie gestreift. Eine so große Versteinerung? Als ich auf sie trat, erlebte ich eine Überraschung: Das Teil war, obwohl mehr als einen Quadratmeter groß, federleicht und rutschte sofort ein Stück zur Seite, gab dabei einen ganz charakteristischen und unverwechselbaren Ton von sich: Das war kein Fels, das war ein Stück Blech.

Ich ging in die Hocke, sah mir das Ganze aus der Nähe an: ein Stück Wellblech, verdreht und verbogen, fast gefaltet an manchen Stellen – aus zähem Aluminium. Als ich es umdrehte, sah ich profilierte Verstrebungen, Versteifungen und Nietenköpfe.

Wie kam das hierher, wozu hatte das gehört? Ich wusste die Antwort, bevor ich mir die Frage noch richtig gestellt hatte – vor allem wegen des Profils der vorderen, weich gerundeten Kante: Das war ein Teil der Tragfläche eines Flugzeugs. Irgendwann war hier ein Flugzeug abgestürzt, ein altes, vor langer Zeit – und dem Anstrich nach war es vielleicht eine Militärmaschine gewesen. Mit Tragflächen aus kleingewelltem Aluminiumblech.

Ich legte meinen Rucksack ab und untersuchte den Boden im Umkreis. Fast sofort fand ich weitere, kleinere Stücke desselben Materials, vier waren es nach ein paar Minuten. Aber als ich meinen Kreis etwas weiter zog, fand ich nichts mehr. Ich stieg auf den Felsbrocken, an dessen Fuß ich auf das Tragflächen-Teil gestoßen war, und schaute mich aufmerksam um, erst ohne, dann mit dem Fernglas, suchte einen Kreis von etwa hundert Meter ab – und fand nichts weiter.

Natürlich kann man auf diese Weise ein derart chaotisches Gelände nicht vernünftig absuchen. Das erste Teil, immerhin einen Quadratmeter groß, hatte ich erst bemerkt, als ich fast draufgestanden war. Und bei nachlassendem Licht – und das hatten wir jetzt so langsam – macht es noch weniger Sinn. Zwei der kleineren Blechteile packte ich in meinen Rucksack. Dann stieg ich weiter ab.

Beim Abendessen in der Hütte auf der Kührointalm wusste ich es plötzlich: ein Auspufltopf. Das zerrissene, rostrote Röhrengebilde auf dem Eis war Teil der Auspuffanlage eines mehrzylindrigen Verbrennungsmotors gewesen. Und das passte fast schon zu gut zu meiner Tragfläche. Ich überlegte kurz, ob ich die Hüttenbetreiber nach einem Flugzeugwrack im Kar fragen sollte – aber der Chef war nicht da und die jungen Frauen, die bedienten und in der Küche arbeiteten, waren Studentinnen, die ihren Ferienjob hier oben abrissen. Direkt neben der Hütte gab es noch eine Dienststelle des Bundesgrenzschutzes und ein Büro der Nationalparkverwaltung – aber ich sah zu diesem Zeitpunkt keine Veranlassung, so offiziell mit der Sache umzugehen. Ich wollte erst mal für mich recherchieren, mal sehen, was dabei herauskam. Die Verwaltung des Parks wäre dann die nächste mögliche Adresse.

Am Morgen stieg ich ab und fuhr mit Bus und Bahn nach Österreich rüber. Ich hatte noch ein paar Tage frei und bestieg den Hochkönig über eine lange, selten begangene Route von dem Ort Werfen aus. Ich wollte eigentlich weiter ins Steinerne Meer und dann zurück zum Königssee, aber beim Sonnenaufgang, in dreitausend Meter Höhe, sah ich eine riesige Gewitter-Zelle auf dem gegenüberliegenden Gebirgszug, die langsam in meinen Weg drehte. Um diese Jahreszeit kann aus so einer Wettersituation alles entstehen, von einem frühen Wintereinbruch bis zum Schneesturm. Ich stieg also nach Südosten, an der imposanten Torsäule vorbei, nach Bischofshofen ab.

***

Nur zwei Wochen danach wurde ich an mein „Wrack“ im Watzmannkar erinnert – auf dem Flughafen in Stuttgart. Zu der Zeit fotografierte ich dort ein, zwei Tage im Monat für die Firmenzeitschrift der Betreibergesellschaft.

Ich stand auf der Besucherterrasse, mit einem schweren Teleobjektiv auf einem Einbeinstativ im Anschlag, und nahm Szenen auf dem Vorfeld auf – dem „Parkplatz“ der Verkehrsmaschinen. Hinter mir waren einige alte Helikopter und Flugzeuge aufgereiht, die ich mir ansah, als ich fertig war. Bei einem bestand die Rumpfverkleidung und die der Tragflächen aus einem kleingewellten Aluminiumblech, das ich schon einmal gesehen hatte und von dem ein paar Stücke in meinem Keller lagen. Der Tafel zufolge, die davor angeschraubt war, handelte es sich um einen Nachbau einer F13 der Junkers-Werke von 1920.

Im Internet hatte ich keinerlei Hinweise auf einen Flugzeugabsturz im Watzmannkar gefunden. Jetzt hatte ich einen Namen – und innerhalb von ein paar Stunden wusste ich, dass diese Aluminium-Wellbleche quasi ein Markenzeichen der Junkers-Werke gewesen waren, kein anderer Hersteller hatte die je in Flugzeugen verbaut. Ich schrieb eine Mail an die Pressestelle des Nationalparks, erhielt aber nie eine Antwort darauf.

Und genau das stachelte meine Neugier so richtig an.

***

Damals arbeitete ich noch als Journalist, als Pressefotograf, war aber auch schon dabei, mich von dieser Sparte zu lösen. Zum einen wurden die Arbeitsbedingungen für uns Fotografen immer schlechter, zum anderen, weil ich so langsam den Glauben an die Rolle der „Fackel“, die der Journalismus in unserer Gesellschaft spielen sollte, verlor. Die letzten beiden Jahre hatte ich vermehrt Firmenaufträge angenommen – aber der Rechercheur, der alte „Schnüffler“, steckte noch tief in mir drin und ließ mir keine Ruhe.

Nachdem ich also wusste, dass es Teile einer alten Junkers waren, die da oben lagen, musste ich annehmen, dass sich der Absturz in den dreißiger oder vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts abgespielt hatte. Das passte auch ganz gut zu der übrigen Fundlage auf dem Gletscher. Aber warum fand ich nichts zu diesem Ereignis in den Archiven? So etwas musste doch ein Echo in den Medien gefunden haben, das ging doch nicht unter, vor allem nicht damals, als die Fliegerei noch relativ jung war.

Eine mögliche Lösung für dieses Rätsel fiel mir ein: Wenn es in den letzten Kriegstagen passiert war, im Untergang des Dritten Reiches, als nichts mehr funktionierte, alles auf der Flucht war, dann wäre das vorstellbar. Es gab noch eine andere Erklärung dafür – aber auf die kam ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Dazu war meine Idee auch viel zu spannend: ein geheimnisvoller Flug in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, der im Watzmannkar endete – um was hätte es dabei gehen können? Woher kam er und was war das Ziel dieses Fliegers gewesen, was sein Auftrag?

Jetzt muss man natürlich wissen, dass am Obersalzberg, nur ein paar Kilometer von Berchtesgaden, dem Watzmann und dem Kar entfernt, die „Alpenfestung“ Adolf Hitlers lag. Was soll ich sagen? Ich konnte die Geschichte hinter diesen Fakten buchstäblich riechen, sie fast schon mit den Händen ertasten, wie ein Blinder ein fremdes Gesicht. Da war nichts mehr zu machen, das würde mich nicht mehr loslassen, bis ich herausgefunden hatte, was dahintersteckte.

***

Die folgende Recherche zog sich über Monate. Immer wenn ich etwas Zeit erübrigen konnte, holte ich die Unterlagen heraus, brachte mich auf den letzten Stand und versuchte, neue Ansätze zu finden.

Im Frühjahr 2007 schließlich, nach Stunden über Stunden im Netz, nach Diskussionen in Web-Foren, zahllosen Mails und telefonischen Anfragen, stieß ich auf eine erstaunlich knappe Meldung in einer Tageszeitung, die während der NS-Zeit im Raum Berchtesgaden erschienen war. Die Ausgabe datierte auf den 2. November 1940 und in der Rubrik „Aus dem Berchtesgadener Land“ war Folgendes zu lesen:

„Am vergangenen Mittwoch kam es zu einem schweren Flug-Unfall nahe unserer Stadt. Eine Ju 52 der Deutschen Luftwaffe zerschellte bei schlechter Sicht an der Ostwand des Watzmanns.

Die Insaßen der Maschine, Pilot, Copilot und vier Soldaten, verloren dabei ihr Leben. Mittenwalder Gebirgsjäger werden heute mit der Bergung der Toten aus dem Watzmannkar beginnen. Wir trauern mit den Angehörigen.“

Das erstaunte mich sehr. Es war also eine Junkers 52 gewesen, ein recht großes Flugzeug für die damalige Zeit, dreimotorig, eine militärische Version wahrscheinlich. Und 1940, im Oktober war das geschehen – im ersten Kriegsjahr also. Das erklärte natürlich die Zurückhaltung der Presse: Es war Krieg, es ging um einen militärischen Einsatz, also war das Ganze mehr oder weniger geheim. Die damaligen Kollegen schrieben nur das, was sie vom Militär geliefert bekamen. Nachfragen, eigene Recherchen oder Spekulationen waren nicht erlaubt und hätten gefährlich werden können, so nahe an der „Alpenfestung des Führers“. Ende der Geschichte.

Weiter hieß es, das Flugzeug sei an der Ostwand des Watzmanns zerschellt – „Kleine Ostwand“ wäre zutreffender gewesen – und ins Kar gestürzt.

Sechs Tote, vier davon Soldaten, hatte man geborgen. Das Wrack war also zugänglich gewesen, damals, im Oktober 1940. Und vielleicht hatte man die Reste des Wracks dann gesprengt – wenn das Ganze geheim war und geheim bleiben sollte, konnte man sich das schon vorstellen. Danach stocherte ich wieder längere Zeit ergebnislos im Nebel, bis ich draufkam, dass Flugzeuge eigentlich fast immer eindeutige Ziele haben: Flugplätze.

Mit diesem neuen Ansatz bekam ich schnell heraus, dass damals ein kleiner Sportflugplatz bei Ainring in der Nähe von Salzburg ausgebaut worden war, nur etwa zwanzig Kilometer vom Watzmann entfernt. Hitler hatte ein Flugzeug zu seiner Verfügung, mit dem er regelmäßig dort landete, um dann die restlichen paar Kilometer mit dem Wagen zu seiner „Alpenfestung“ zu fahren. Auch die regelmäßigen Kurierflüge von und nach Berlin gingen über diesen Platz.

Hatte die Junkers aus dem Kar also in Ainring landen wollen – oder war sie dort gestartet? Wie auch immer: Der Watzmann lag fast genau südlich dieses Flugfeldes. Die Maschine kam entweder aus dem Süden oder sie flog nach Süden. Also war es keiner der üblichen Flüge von und nach Berlin gewesen.

So weit war ich mit meinen Überlegungen und Rekonstruktionsversuchen, als der Sommer des Jahres 2007 begann.

***

Es war ein heißer Sommer, man glaubte schon an eine Wiederholung des „Jahrhundertsommers“ von 2003 – ganz so schlimm wurde es dann doch nicht. Aber 35 bis 38 Grad im Schatten hatten wir im Juli schon an einigen Tagen. Ich erinnere mich, dass ich ein Weitwinkelobjektiv bei einem Kollegen im Auto liegen ließ, das dann den ganzen Tag in der prallen Sonne stand: Das Stossfett im Schneckengang wurde flüssig, verklebte die Springblende und verschmierte die Linsen von innen.

In der letzten Woche dieses heißen Monats, als es gerade anfing, etwas erträglicher zu werden, wurde ich nach Mombasa geschickt. Als ich nach zehn Tagen zurückfliegen wollte, hatte die Agentur für mich einen Folgeauftrag: in Äthiopien. Auf diese Weise hatte ich es schön warm und verpasste den etwas kühleren August in Deutschland.

Anfang September, als ich zurück war, begann der trockenste und wärmste Herbst seit Beginn der flächendeckenden Wetteraufzeichnungen im Jahr 1901. Mitte Oktober hatte ich die Nase voll von heiß und telefonierte mit meinem Freund Günter, dann machte ich mich auf den Weg nach Österreich. Ab zweitausend Meter war das Ganze um einiges erträglicher.

Drei Tage später überquerte ich die Grenze nach Deutschland mitten im Steinernen Meer und stieg zum Königssee ab, fuhr mit dem Boot von Salet nach St. Bartholomä, aß dort zu Mittag und kletterte nach dem Espresso die achthundert Meter über den Rinnkendlsteig zur Kührointalm hoch. Dort saß Günter auf der Terrasse, mit dem Kletterrucksack neben und einem schönen Weißbier vor sich, und ich beeilte mich, seinen Vorsprung aufzuholen.

Günter ist Sozialpädagoge, arbeitet mit den ganz bösen Jungen und Mädchen, ein freundlicher, ruhiger, sportlicher Typ in meinem Alter. Zu meinem Glück liebt er die Berge, und ein-, zweimal im Jahr schaffen wir es eigentlich immer, zusammen loszuziehen.

Gegen zweiundzwanzig Uhr gingen wir schlafen, der Wecker in der Armbanduhr stand auf fünf in der Früh.

***

Der ganz frühe Morgen in den Bergen – das ist eine magische Zeit. Wir waren bei Sonnenaufgang gerade über der Baumgrenze, unter uns kochte die feuchte Nachtluft aus dem Wald. Im frühen, indirekt einfallenden Licht sah man jeden Riss im Gestein überdeutlich, die Gipfel über uns, die schon direkt von der Sonne beschienen wurden, leuchteten in einem unwirklichen Rotgold. Und das ganze Tal, nein, die ganze restliche Welt unter uns war verschwunden, kauerte unter einer schweren, dicken Frühnebeldecke, die von hier oben so massiv aussah, als ob man darauf herumlaufen könnte.

In der nächsten halben Stunde stiegen wir in die halbrunde Steinarena des Kars. Die letzten Spuren verschwanden. Wir suchten uns den Weg jetzt selbst, dabei hielt ich, so gut das zu machen war in dieser chaotischen Landschaft, auf das obere Ende der Kleinen Ostwand des Watzmanns zu. Gegen acht Uhr kamen wir letztlich am Fuß des vereisten Schuttkegels an, der zum Einstieg in der Wand führte. Hier frühstückten wir erst mal.

Dieser erste Aufstieg in der Wand war fünfzig Grad steil, eine Mischung aus zusammengefrorenem Schutt und mit Staub paniertem, altem Eis. Es wäre sicher auch ohne Steigeisen zu machen gewesen, aber dann hätten wir mit dem Eispickel Stufen schlagen müssen. Die Steigeisen waren hier die bessere Wahl – auch wenn wir sie nach zehn Minuten schon wieder wegpacken konnten und sie auch den Rest des Tages nicht mehr brauchen würden.

Oben am Einstieg in die senkrechte Rinne knobelten wir um das „heiße Ende“ des Seils, dann richtete Günter die Sicherung ein und ich ging die erste Seillänge an.

Fünfundvierzig Meter weiter oben, auf der Spitze eines Felsturms, fand ich zwei Ringhaken, alt, aber so weit noch ganz vertrauenserweckend. Ich klickte den HMS-Karabiner in eine Seilschlinge, die durch die Hakenringe lief, legte das Seil in einem Halbmastwurf ein und rief nach unten: „Nachkommen!“

Von meinem Sicherungsplatz aus gesehen lag das Toteis fast senkrecht unter mir. Die Oberfläche des Eises sah aus wie der Wasserspiegel eines Gletschersees – ein helles Grau-Blau, überzogen mit einer Glasur aus glitzerndem Schmelzwasser. Die Hitze dieses Sommers hatte den ganzen Altschnee weggebrannt und die Eisoberfläche wirkte wie poliert. Während ich das Sicherungsseil nachzog, suchte ich mit den Augen das Toteis ab. Ja, dort war das Abflussloch – wie es schien, noch um einiges größer als im vergangenen Herbst.

Da die Wand an dieser Stelle klettertechnisch einfach genug war und Günter die Sicherung eigentlich gar nicht nötig hatte, leistete ich mir eine kleine Nachlässigkeit und kramte mit der linken Hand mein Fernglas aus dem Köcher, richtete es auf den Abflusstrichter des Eisfeldes unter mir: ja, mindestens doppelt so groß wie im vergangenen Herbst – aber das war ja zu erwarten gewesen, nach dem Verlauf der Temperaturkurve in diesem Sommer.

Als ich das Glas um den Trichter herumführte, sah ich es zum ersten Mal – ein Schatten glitt durchs Bild, der merkwürdig symmetrisch geformt war. Ich ging zurück, zum Loch, erkannte die Torpedo-ähnliche Form – mit der stumpfen Spitze dicht am Loch, hinten seltsam ausgefranst und je eine Störung der Linie rechts und links, nahe bei der Spitze. Das war ein Flugzeug, ein Flugzeugrumpf im Eis, das konnte gar nichts anderes sein. Mit abgerissenen Flügeln, zerfetztem Leitwerk – selbst wenn ich nicht gewusst hätte, dass da unten irgendwo die Überreste eines Flugzeugs sein müssten, hätte ich sofort darauf getippt: ein Flugzeugrumpf, was anderes kam von der Form und den Proportionen her gar nicht in Frage. Und da unten lag es, eingebettet im Eis, wie die alten Flaschenverschlüsse und zerbrochenen Steigeisen, die ich vor einem Jahr dort aufgelesen hatte. Mir blieb einfach die Luft weg, ich war sprachlos.

Ich hatte fast vergessen, wo ich hier war, was ich hier machte – als ein Ruf von unten mich zurückholte. Günter hatte Probleme mit dem Seil, es hatte sich irgendwo über ihm verfangen und hing bei ihm durch. Ich legte das Fernglas weg, zog zwei Meter Seil durch den Karabiner und schlug es ein paar Mal zur Seite hin, sodass eine Welle an ihm runterlief – sofort war es wieder frei. Ich holte das Schlappseil ein, Günter kletterte weiter und ich griff noch mal nach dem Glas. Aber genau in diesem Moment verschwand die Sonne hinter einer Wolke – wie immer im Hochgebirge war der Effekt überraschend stark, die Temperatur fällt in einer einzigen Sekunde um gefühlte zehn Grad und es scheint beinahe Nacht zu werden, eine Dämmerung in Lichtgeschwindigkeit, bis die Iris sich angepasst hat. Als ich dann das Glas an den Augen hatte, sah ich nichts mehr von diesem Schatten im Eis, auch die Oberfläche sah völlig anders aus: matter, stumpfer, schmutziger. Es war das genau im richtigen Winkel einfallende, direkte Sonnenlicht gewesen, das mir diesen Einblick tief ins wasserpolierte Eis gewährt hatte. Jetzt wirkte die Wolke vor der Sonne wie ein Diffusor, das Licht durchdrang das Eis nicht mehr, es wurde an der Oberfläche reflektiert.

Ein paar Minuten später tauchte Günter aus der Tiefe auf, schwer atmend und glücklich grinsend.

Erst viel später wurde mir klar, dass ich an diesem Tag, in diesem Moment meinen „point of no return“ hinter mir gelassen hatte – da oben in der Ostwand, als ich das ins Eis gebettete Wrack sah. Danach bekam ich diese Geschichte nicht mehr aus dem Kopf. Es hatte etwas von den Abenteuergeschichten meiner Kindheit: der Inka-Schatz, den man nur finden konnte, wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, wenn die aufgehende Sonne mit dem Schatten einer Felsnadel auf den Eingang des verborgenen Canyons zeigt … Das alles war, mit einem Wort gesagt: unwiderstehlich.

***

Die Idee, in den Abfluss einzusteigen, hatte ich am nächsten Morgen, beim Aufwachen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich davon geträumt habe – vielleicht war es so. Ich wachte auf und wusste nur, dass man das machen müsste, aber nicht warum. Erst beim Frühstück, als das Koffein die Nachtschwere vertrieben hatte, wusste ich es: wegen dem, was ich gesehen hatte – weil der Rumpf mit seinem vorderen Ende fast schon in den Schacht gestoßen war. Zwar hatte ich keine Ahnung, wie tief das Wrack im Eis lag, aber der Abflussschacht ging auf jeden Fall runter bis zum Fels. Also war das eine sehr gute Idee … so betrachtet auf jeden Fall.

Wir hatten gestern ganze Arbeit geleistet. Gegen zwölf Uhr dreißig waren wir auf dem Gipfel, der Mittelspitze, angekommen. Der weitere Weg durch die Wand nach der ersten Seillänge war einfach gewesen, das meiste stiegen wir zusammen und ohne Sicherung. Eine steile Rampe führte nach rechts, dann ein paar Meter nach oben, auf einem kurzen Band wieder etwas nach unten, und schon waren wir auf dem ersten, dem großen Band. Das wurde nach kurzem Anstieg richtig breit, zwanzig Meter an einigen Stellen, immer schräg nach oben und zur Seite geneigt – ein grandioser Ort. Nach einer Engstelle am Ende dieses breiten Bandes folgte der Umstieg auf ein weiteres, das steiler und schmäler war, und von diesem gelangten wir über einen einfachen, aber ausgesetzten steilen Grat zum Gipfel: 2713 Meter.

Anschließend ging es auf dem Gipfelgrat zum Hocheck, dann über die breite Schulter des Berges runter zum Watzmannhaus. Herrliches Wetter, die ganze Zeit. Eine Radler-Halbe auf der Terrasse und gegen halb fünf weiter über die Falzwand zur Kührointalm. Duschen, ein Weißbier, ein gutes Abendessen und Kräuterenzian hinterher – alles genau wie ein Jahr zuvor geplant.

Für die steile Treppe zu den Zimmern hoch hätte ich dann am liebsten meinen Pickel zu Hilfe genommen, aber es waren ja auch noch andere Leute da. Günter ging es wohl ähnlich, er murmelte was von einem „Fixseil“ in seinen Bart. Wir schliefen dann auch nicht ein – wir wurden bewusstlos.

***

Um halb acht war ich am nächsten Morgen mit dem Frühstück fertig, von Günter war noch nichts zu sehen. Also ging ich über die Alm zur Archenkanzel rüber, um einen Blick auf den See zu werfen. Wenn Sie je in die Gegend kommen, lassen Sie sich das nicht entgehen: ein wunderbarer Blick über den Königssee, den Obersee und den ganzen gegenüberliegenden Gebirgsstock. Hinten links konnte ich sogar das Matras-Haus auf dem Hochkönig sehen, wo ich vor einem knappen Jahr übernachtet hatte, und die weiß spiegelnde Fläche der Übergossenen Alm rechts daneben.

***

Die Kletterei in den Eisschacht würde nicht einfach werden, vor allem alleine. Ich würde Eisschrauben brauchen, und meine lagen natürlich zu Hause. Sonst, überlegte ich, hatte ich alles dabei, was nötig wäre: Seil, Steigeisen, Eispickel, Stirnlampe, ein paar Meter Reepschnur – aber ohne die Eisschrauben war es nicht zu machen …

Da hatte ich also ganz kostenlos eine prima Ausrede, es nicht zu tun – falls ich eine brauchen sollte. Tja …

Aber es ist doch so: Man drückt sich viel zu oft im Leben um die Dinge, die man machen könnte, sollte, müsste. Und ich hatte irgendwie das Gefühl, dass es mir leid tun würde, wenn ich es nicht wenigstens versuchte. Genau, das war es: Ich würde es „versuchen“. Und es lassen, wenn es sich als zu gefährlich, zu schwierig – oder auch nur als zu unheimlich – herausstellen sollte. Da hatte ich mein Hintertürchen.

Also: Wie sollte ich das anpacken? Wenn ich nicht patschnass dabei werden wollte, gab es, was den Zeitpunkt dieser Aktion anging, schon mal keine Alternative. Morgens Früh um fünf Uhr ist normalerweise der kälteste Punkt der Nacht. Zu diesem Zeitpunkt würde nur noch wenig Wasser fließen – oder gar keines mehr, mit etwas Glück. Das setzte aber voraus, dass ich im Kar biwakieren müsste, was im Nationalpark eigentlich nicht erlaubt ist – außer in einem Notfall. Aber das war lediglich eine Frage des Protokolls: Ich erklärte die Aktion zum „alpinen Notfall“.

Ich würde also Günter, der heute noch zurückfahren musste, nach unten begleiten und in Schönau oder Berchtesgaden zwei Eisschrauben kaufen. Dann zurück auf die Alm, weiter ins Kar und morgen Früh, gegen fünf … oder auch nicht …je nachdem.

***

Die Szene hätte in einen Science-Fiction-Film gepasst. Ein blasser Sichelmond stand über der Watzmannfrau, inmitten einer nicht fassbaren Menge kalt glitzernder Sterne. Über dem Toteis lag ein fahles, leicht blaues Leuchten, es schien aus dem Eis zu kommen und setzte graue Dunstschlieren, die über der kalten Oberfläche trieben, in ein unheimliches Licht. Ein alter Jupitermond, ein Asteroid, weit draußen im All – „Alien“ und „Space Odyssey“. Drumherum, wie die Zuschauerränge in einer Arena, einem Kolosseum der Natur, Kränze aus mächtigen, dunkel-kantig-schroffen Felsschichten: Die Bühne war bereit, der Gladiator war ich. Und es war nicht still. Überall rieselte Wasser, knackte Eis, kullerten Steinchen …

Hätte ich gestern gewusst, wie es bei Nacht hier sein würde, ich wäre jetzt dreihundert Kilometer weiter westlich und läge in einem weichen, warmen Bett. Ich musste mich wirklich schwer zusammenreißen, um nicht einfach abzuhauen.

Es war eiskalt, aber das war gut so. Als ich das morsche Oberflächeneis mit der Pickelhaue wegschlug, war es kurz vor fünf. Es floss kaum noch Wasser in den Schacht, der ganz oben weit über zwei Meter im Durchmesser maß, sich aber schnell auf einen Meter fünfzig verengte. Er wand sich in die Tiefe wie die Eingeweide eines riesigen prähistorischen Tieres, ein eiskalter Brunnen, die Wände waren spiegelglatt, verzweigten sich, bildeten glattpolierte Stege und führten wieder zusammen. Weil das noch nicht unheimlich genug war, gab es am Einstieg grelle, blutigrote Flecken im Eis – blühende Schneealge – sonst war es weiß-milchig und grau und blau. Ein schwacher, muffig-dumpfer Brandgeruch stieg aus dem Loch, erinnerte irgendwie an regennasses Schmierfett und alten Rost. Ein Schrottplatzgeruch, etwas widerwärtig – bis ich begriff, dass ich diesen Geruch als gutes Zeichen sehen konnte, wenn man davon ausging, weshalb ich hier war.

Die neuen Eisschrauben bissen gut und bei der Qualität dieses steinalten Eises hätte eine völlig genügt. Aber natürlich hatte ich zwei gekauft, zu einem recht unverschämten Preis – aber so ist das nun mal in überlaufenen Touristenregionen. Also setzte ich auch beide, einen Meter vom Schacht entfernt, etwa dreißig Zentimeter auseinander, hängte mit Ankerstichen zwei Seilschlingen in die Ösen – ich hatte nur zwei Karabiner dabei. Dann ging ich mit dem Seilende durch die Schlingen und schlug es mit einem gesteckten Sackstich an. Das Seil war bereit. Die Steigeisen hatte ich an den Stiefeln, die Lampe am Helm, der Abseilachter war in den Klettergurt geklickt und die Prusik-Schlinge zur Selbstsicherung ums Seil gewunden. Und damit waren mir die Ausreden ausgegangen – jetzt musste ich los. Abwärts.

***

Als ich eine gute Stunde später wieder an die Oberfläche kam – nassgeschwitzt, aber gleichzeitig zitternd vor Kälte, mit angefrorenen Fingerkuppen, außer Atem und überhaupt fix und fertig –, war es Tag geworden. Ich riss mir die Ausrüstung vom Leib, baute die Sicherung ab, stopfte alles in den Rucksack und ganz oben drauf: den Lohn der ganzen Angst und Mühe.

Dann ging es schnurstracks zum nächsten erreichbaren Frühstück.