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Der Vulkan
oder
Die Heilige Irene

Dörte Lyssewski

DER VULKAN
ODER
DIE HEILIGE IRENE

Erzählungen

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DER VULKAN ODER DIE HEILIGE IRENE

»Ein fremdes, chaotisches, albtraumhaftes Leben,
gleich einem grauenhaften Traum,
war dabei, sie zu verschlingen …«
Leonid Andrejew

1.

Noch vor zwanzig Jahren hatte es hier Schildkröten und Mantas, die gepanzerten und geflügelten Wächter der Bucht, gegeben. Der Motorenlärm der Boote hatte sie mit der Zeit vertrieben. Nun kamen nur noch von Zeit zu Zeit ein paar wenige, durch einfache Blutblasen angelockte Haie in die Kraterbucht, die von ein paar Freizeitfischern unter feigem Triumphgeheul sogleich getötet wurden. Eine Zeit lang vertrieben noch Schwärme riesenhafter Quallen die Menschen, indem sie ihnen, sobald sie ins Wasser drangen, die Leiber verätzten. Ansonsten war es unter Wasser ruhig geworden.

Der letzte Ausbruch des Vulkans lag ein halbes Jahrhundert zurück. Zuvor war er der Allesbestimmende gewesen, Jahrtausende hindurch eine Macht, Wucht und Dunkelheit verbreitend, dass selbst die fernen Gletscher im Norden ein Trauerflor überzog und die Eichen im irischen Hochmoor ihr Leben angesichts dieses vulkanischen Winters einstellten und aufhörten zu wachsen. Jahrhundertelang blieb die Insel verlassen.

Das Einzige, was jetzt noch zuweilen für ein wenig Unruhe auf dem mehrere hundert Meter tiefen, steil herabfallenden Meeresgrund sorgte, waren gelegentlich untergehende Schiffe, die ein paar Menschen mit sich in die Tiefe rissen, oder ein bei Sturm an den Felsen zerschellendes Fischerboot. Einmal gesellte sich sogar ein großes Passagierschiff dazu, das, wieder und wieder vom Kapitän mit Schwung auf die Felsen gerammt, hinabsank zu den dort bereits Versunkenen und den auf Felsvorsprüngen verborgenen, ausgedienten Bergwerken, die die langsam aus der Fähre schwebend herabsinkenden Passagiere noch mit einem erstaunten Blick streiften, bevor sie die Augen für immer schlossen. Seitdem waren ein Sommer und ein weiterer Winter vergangen und es schien schon wieder vergessen.

Hier konnten keine Menschen leben. Nicht mehr. Es gab nicht einmal ausreichend Trinkwasser. Einige wenige verfügten noch über Hausbrunnen. Der Bauch der Insel, dort, wo sie bewohnt wurde, war von riesigen Zisternen unterhöhlt. Für die eingeschleppte Tausendschaft von noch die Kargheit der Insel plündernden Reisenden wurde jeder Becher Wasser zum Waschen und Trinken mit Schiffen herangeschafft oder mühsam in kleinen Mengen entsalzt. Nicht nur das Wasser musste umständlich herantransportiert werden. Alles Überlebensnotwendige wurde am Hafen ausgeladen: Jeder Apfel, jede Kartoffel, sogar der Marmor, zum Bestatten der Toten und als Weggrund für die Füße der einfallenden Touristen. Jeder Stein, jeder Sack Zement zum Bauen eines Hauses, jeder Topf frischer Farbe. Die Insel war so verwüstet, dass es auf ihr kein Überleben gegeben hätte, würden nicht die Ebenen zersiedelt, Straßen gebaut, damit ein paar Tausend zahlende Reisende für wenige Stunden oder Tage herangefrachtet werden konnten, eine Normalität behauptend, die es so auf der Insel nicht mehr gab. Man baute sogar eigens eine Straße für ein Staatsoberhaupt aus einem fernen Land, das die Insel nur einmal befuhr und zufrieden wieder abreiste. Jetzt erinnerte nur noch ein verblichenes Schild, das vom ersten Stock des ausgedienten Hotels im Wind schwang, an das legendäre Defilee.

Selbst die Friedhöfe wirkten verwaist. Es gab nicht viele, die hier starben. Oft waren die Friedhöfe tagelang ohne einen einzigen Besucher. Selten sah man eine Frau oder einen dunkel gewandeten Mann ein neues Grab schmücken. Das waren die einzig frischen Blumen, die man dort fand, denen nur ein paar, durch den Wind angesiedelte Wildblumen beigesellt waren. Sonst gab es nur Kunstblumen in zylinderförmigen Marmorvasen oder künstliche Kränze, die um Kreuze oder um kleine Vitrinen geschlungen waren. Trotzdem herrschte keine Stille auf dem Friedhof. Die Toten schienen sich fortwährend zu regen. Ihre Ruhestätten waren am Kopfende mit kleinen Marmorkästen versehen, die mit einer Schiebeglasscheibe, durch die das Licht fallen konnte, verschlossen waren. Die Glasscheiben gaben den Gräbern das Aussehen von Schaufensterauslagen. Das Klappern der leicht im Wind hin und her schwankenden Glasscheiben in der Marmorrinne war das einzige Geräusch, das das unaufhörliche und immerwährende Sausen und Rauschen des Windes in Höhen und Tiefen begleitete. Jedes Grab machte Lärm. Es gab jeweils zwei dieser Kästen. Der eine befand sich mit der Rückseite zum Betrachter für den Ölvorrat, für Feuerzeuge und Streichhölzer und zum Beherbergen der Korkendochte. Im anderen, dem Hauptschrein, standen Fotos der Verstorbenen, umgeben von Heiligenfiguren, Ikonen, sowie einer beigefügten, figurierten Todesursache und der das Leben des Verstorbenen prägenden Lieblingsbeschäftigung, beide oft ein unfreiwilliges, tödliches Paar. Man konnte einen kleinen Fischkutter neben kleinen roten Blechspielzeugautos finden, die wie die Steckenpferde von kleinen Jungen wirkten. Mal waren da kleine, in einer Plastikschachtel untergebrachte Knöchelchen, nicht einmal so groß wie von Hand oder Fuß eines Kindes, mäuseknochenklein. Einmal ein Becher, mit silberner Alufolie kelchgleich umwickelt, auf dem dekorativ eine Zigarette lag. Das Gesicht auf dem nebenstehenden Foto vergnügt auf den nicht angezündeten Glimmstängel herablächelnd. Nur die in die Höhe gebauten Grüfte der reicheren Inselbewohner blieben verschlossen. Durch ein schmales Sichtgitter am Eingang sah man die in die marmorne Wand eingelassenen Klappen, in denen die Toten wie in Wandschränken ruhten, unter ein paar sorgsam und achtlos zugleich abgestellten Kisten, grellfarbenen Plastikeimern und Besen zum Säubern. In einigen aufgesprungenen, verwahrlosten und zerbrochenen Marmorgräbern fanden sich leere Flaschen, ausgeblichene Fetzten alter Kunstblumenkränze oder wüst herumliegender Marmorbruch alter Gräber und Kreuze.

Jeder, der auf der Insel geboren wurde, kehrte irgendwann zurück. Die Knochen von vielen, die die Insel verlassen hatten und ihr Leben, abgesehen von den hohen Feiertagen in der Osterzeit, in der Ferne verbracht hatten, wurden dem Brauch nach drei Jahre nach ihrem Tod zuletzt doch zurückgebracht und auf den weiß ummauerten Friedhöfen bestattet. Die Insel hatte sie zurück.

Nur wenige wurden hier alt. Die meisten holten der Krebs, das Herz und noch immer viele das Meer. Charons Barke war der immer wieder in den Kästen auftauchende Kutter. Zwischen den Gräbern standen und lagen lehnenlose, verrostete Eisenstühle, auf denen niemand, weder Lebender noch Toter, je sitzen würde.

An der Rückseite vieler Friedhöfe rankte wilder Wein, dessen reife Trauben bis auf die Erde hingen. Wurzeltiefe, schattenspendende Eukalyptusbäume mit ihren dichten Blätterfransen schmiegten ihre Stämme an die gekalkten Mauern, zu deren Füßen sich von Plastikflaschen und Autoreifen umgebene Wildfeigen, die niemand aberntete, gesellten, wilde Margeriten, Pistazien-und Kapernsträucher, und flinke Echsen, die, vom Schritt eines Besuchers erschreckt, ins Papyrusgras oder die dichten Distelgewächse flüchteten.

Jetzt, in der Hitze des Sommers vernahm man kaum Hundegebell, noch seltener Eselsgeschrei, so wie im kühleren Frühling, in dem die Tiere die Kraft hatten, ihre Stimme zu erheben. Die Hunde lagen erschöpft, ermattet, wie tot, in Mauerschatten oder flohen kurz, wie gejagt, zum nächsten Haus. Andere schleppten sich von Schattenplatz zu Schattenplatz und warteten müde auf den Herbst.

Früher wuchsen hier Wein und Tomaten, auch Weizen und Gerste hatte es gegeben, womit die Menschen ihr Brot buken. Nur die zahlreichen verwaisten Mühlen allerorts zeugten noch davon. Ebenso die runden, erhöht liegenden, steinernen Stätten auf den Feldern in der Nähe der alten Häuser. Mythisch anmutende, stillgelegte Dreschplätze, auf denen die Esel mit ihren weichen Hufen nebeneinander im Kreis gezogen waren und der Wind ihnen die Spreu von den Körnern getrennt hatte. Auch gab es Lilien und Lianen.

Nachdem all das verschwunden war, blieb nur der karge Körper der Insel mit seinem Zeugnis gebenden, mannigfaltigen Gestein nutzlos liegen. Da nahm man ihm auch dieses.

Ein kluger Mann, ein Ausländer, kam daher und stellte fest, dass ein bestimmter Stein, den der Vulkan aus dem Inneren der Erde emporgeschleudert hatte, sich als besonders wasserfest erwies. Die Folge war, dass ganze Landstriche und Küstenblöcke abgetragen wurden und seitdem der Insel ein ganzes Stück fehlte. Der Gerissene schaffte Millionen Tonnen des Materials mit Schiffen auf einen fernen und heißen Kontinent. Auch dort musste wieder jeder Becher Wasser, mit dem die Arbeiter ihren Durst löschen wollten, aufwendig herbeigeschafft werden. Der Mann ließ das Gestein zu dem Bett eines künstlichen Wasserweges verarbeiten, der zwei Meere miteinander verbinden sollte und dessen Bau die Kraft von Millionen Menschen und Tausenden von Kamelen verschlang, Tausende in die Flucht trieb, Hunderttausende hinwegraffte und auch ihn, den Eindringling strafte. Noch vor der feierlichen Eröffnung ereilte ihn ein plötzlicher Tod. Man einigte sich auf ein Nierenleiden, auch wenn er selbst in seinen schmerzerfüllten und durchwachten Nächten von etwas anderem, Unheimlicherem gesprochen hatte, dem niemand hatte Glauben schenken wollen.

2.

Die blasse, fast weiße, von einem zarten Aderngeflecht durchzogene Haut des mageren Mädchens zog sich zusammen. Kälteschauder durchzuckten die Kleine. Sie steckte in einer ausgewaschenen rosa Badehose, die kleine Schwimmerin. Aus ihren Ohren ragten weiße Plastikstöpsel, und wenn sie mit ihrem fast zahnlosen, von Lücken geschwärzten Mund lachte, sah sie mit ihren tropfenden Haaren und dem schwarzen Loch in der Mitte ihres Gesichts seltsam verzerrt aus, wie eine traurige, aus dem Wasser gefischte Puppe. Die rot geränderten Augen zeugten von der vergangenen Nacht, in der sie neben ihrem Teller und über zahllosen Zeichnungen eingeschlafen war. Das Mädchen hatte erst am vorigen Tag in der Tiefe des nierenförmigen Pools des Hotels schwimmen gelernt und wollte nun das Wasser nicht mehr verlassen. Auf den hölzernen Liegen, die das Becken säumten, machte sie zuweilen eine Pause, nagte an etwas Gebäck und erwartete fortan eine Sensation, die ihr das Hochgefühl der Eroberung des vergangenen Tages wiederholen sollte.

Am Mittag war es dann soweit. Eine Freundin ihrer Eltern kam zu Besuch in das Hotel, dessen Zimmer aus kleinen, terrassenförmig angelegten Höhlen bestanden und dessen Pool die Kleine von nun an zu ihrem Aufenthalt bestimmt hatte. Die Frau wurde von dem Mädchen aufmerksam beobachtet und, ohne eine mögliche Ablehnung der Frau zu erwägen, als neue Freundin in Betracht gezogen und als diese bestimmt.

Die ersten Tage verbrachte die Neuankömmlingin nur in Gesellschaft einer Katze, die des nachts um ihr Höhlenfenster schlich, und einer alten Hündin mit herabhängenden Zitzen, die tagsüber unter ihrer Holzliege vertrauensvoll Schatten und Schutz suchte und bei ihr einschlief. Die beiden Wächter blieben jedoch nur so lange, bis die Frau grüßend das Wort an einen der Gäste richtete. Dann verschwanden sie, spurlos.

Die stillschweigende Verabredung in den künstlichen Höhlen waren Ruhe, Besonnenheit und nichtssagende Gespräche. Selbst die vielen, in den Höhlen untergebrachten jungen Paare, die scharenweise auf der Insel einfielen, hielten sich an dieses Einverständnis. Die wilde Schönheit der Bucht und der Dörfer als begehrter Ort glücklicher Heiratswilliger, hatte sie angelockt, was groteske Bilder am Rande des Inselkraters hervorbrachte. Dort standen dann die Paare am Beginn ihrer Liebe, auf dem Höhepunkt ihres Glückes bereits am Abgrund, aus dessen Untiefen es immer noch schwefelte und an dem sie sich lächelnd fotografieren ließen und, über diesen Abgrund hinweggrinsend, den Schwefel wie Weihrauch einsogen.

Die Paare in den Höhlen liebten sich so still, dass niemand die entfesselte Lust mitbekam, die sich den ganzen Tag aufgestaut hatte im Anblick der nackten Körper an Pool und Strand, ihrer eigenen und der der anderen, denn jeder Ort der Insel schien einzuladen zu einem zwanghaften Genuss, der allein durch Blicke, gehen und speisen nicht zu befriedigen war und sich erst des nachts entlud. Man fiel übereinander her, als wäre die Insel eine Verpflichtung zum Glück. Dem Erleben des Glücks vor der nahenden Katastrophe. In der Nacht, zwischen den Umarmungen, inmitten der Küsse, hielten die sich liebenden Paare oft inne und lauschten dem fast unmerklichen Grollen und Brummen, das in unregelmäßigen Abständen zu vernehmen war, nicht wissend, ob es sich um Störungen der Klimaanlage handelte oder doch die hinterlistige, wie schon ausklingende, schwache Ankündigung eines nahenden Bebens war, und die versunkene Liebkosung, die Stöße der Körper, der Schweiß, das Salz auf der Zunge, ein letzter Geschmack, ein letzter Eindruck, die letzte Empfindung wären, die sie lebendig mitbekämen.

Nichts von diesem Innehalten, dieser Angst war jedoch zu hören oder ihnen anzumerken, wenn sie morgens beim Frühstück auf dem Dach der größten Höhle aßen und schwiegen. Manche wirkten wie versteinert, einige scheinbar ausgesperrt, verstimmt, manche sich zurückziehend, doch all dies geschah fast ohne Ton und wenn, dann nur begleitet von einem hervorgepressten, plätschernden oder zischenden Flüstern. Diese regelmäßig Verstimmten, Zerstrittenen oder Verlassenen zeugten von etwas, dass in und trotz dieser Stille geschah oder vielleicht sogar seine Ursache war. Unmerklich. Die Stille des ganzen Hauses wurde, so schien es, durch nichts gestört. Selbst die Hunde und Katzen, die von Zeit zu Zeit das Grundstück zurückhaltend durchquerten, dienten eher einer pittoresken Ergänzung des Gesamtbildes als einer Störung. Einzig das feine Brummen der den Himmel mit Zweier- und Viererlinien quer durchziehenden Stromleitungen, die von einem roh beschlagenen Strommast, gleich einem Wegweiser, zusammengehalten wurden, waren zu hören. Allein zwei Paare hoben sich durch ihr Verhalten heraus. Ein älteres Paar, das mit seiner erwachsenen Tochter angereist war, wirkte stets freundlich, besonnen, unerschütterlich friedlich und liebevoll, immer von scherzender Leichtigkeit. Und das junge, blutjunge Paar. Der schlanke und muskulöse Mann und seine walroßgleiche Frau, deren Ausmaße alles Benennbare kraftlos erscheinen ließen, verschwanden alle Stunde hinter den weißen, gedrungenen Türen ihrer Höhle, um sich heftig zu lieben. Es waren einfache Gemüter, die beiden. Sie interessierten sich für nichts, sondern verbrachten die Intervalle der liebesfreien Zeit ausschließlich mit ausruhen und essen. Ein glänzender, großer, roter Plastikball genügte, um sie mit kindlichen Spielen zu vergnügen.

Nur der selten stattfindende Scherbentanz im Schuppen nebenan war mit maßlosem Lärm verbunden, denn ein Jeder durfte sich beim Eintreten eine gewisse Menge an Porzellan kaufen, die er dann tanzend zerbrach. Der Höhepunkt war die Wahl der geschicktesten Tänzer. Da dies jedoch abseits des Hauses und nur zu Neumond geschah, vergaß man es während der übrigen Tage ganz und gab sich ausschließlich der Ruhe hin.

Es begann alles mit einem Sprung. Die Frau ermunterte die Kleine in ihren Schwimmbemühungen und begann zaghaft, ohne die Ruhe der Hotelanlage zu stören, sie zu kleinen, kunstvollen Übungen zu verführen. Der von einem braunen Band gehaltene Flechtzopf der Frau wirbelte durch die Luft und klatschte zusammen mit ihr aufs Wasser. Wie ein Delphin, der sich in der Luft drehte und dann mit Wonne auf dem Rücken aufschlug, drehte sich die Frau, stieß sich vom Ballen rückwärts ab, hoch in die Luft, bewegte die Arme im Bogen nach hinten, als wolle sie im Fall noch etwas Verlorenes greifen oder festhalten. Mit den Fingerspitzen berührte sie das Wasser und schloss für einen Moment, in dem die Zeit stillstand, kurz vor dem Eintauchen, die Augen. Das Eintauchen dauerte nur eine Zehntelsekunde, doch diese schien, als spränge sie schon lang, sehr lang. Ein ewiger Sprung zwischen die Zeiten: Die Erde verlassend, die Luft durchstreifend, noch nicht im Wasser, noch nicht in der Tiefe, aus der sie sich sicher in wenigen Augenblicken, einer jähen Entscheidung folgend, vom Boden des Beckens abstoßend, Luftbläschen ausstoßend, emporheben, die Zwischenwelt verlassen und wieder in der bekannten Welt auftauchen würde, indem sie die brennenden Augen öffnen, sich die am Kopf haftenden Haare aus dem Gesicht streichen würde, und nur das von ihr abperlende Wasser der letzte Zeuge einer Zeitreise zwischen den Elementen gewesen wäre.

Der Stelenzahnmund des Mädchens lachte ihr beim Auftauchen fasziniert, mit Unverständnis dem Geschehenen gegenüber, entgegen, so, als hätte die Springerin gerade einen schmutzigen Witz gemacht, über den sie verunsichert und demonstrativ lachte, weil sie ihn nicht verstand. Die umherliegenden Gäste des Hotels lagen unbewegt da. Sie lasen versunken ihre Bücher, schrieben Ansichtskarten oder hatten Stöpsel in den Ohren, jedoch nicht zum Schutz vor eindringendem Wasser, sondern als Quelle unablässiger, in die Ohren eindringender Musik. Alle wirkten betäubt von der Sonne, der Erholung, der Schönheit des angrenzenden Meeres, dem letzten Mahl und der erdrückenden Verpflichtung der drohenden Abreise. Die Absauganlage des Pools und das unentwegte eintönige Dröhnen der Klimaanlagen, die draußen vor den Höhlenzimmern hingen, waren nach dem Sprung das einzig wahrzunehmende Geräusch, unterbrochen nur vom an der höher gelegenen Straße vorbeifahrenden fliegenden Händler, der über eine Lautsprecheranlage im Befehlston seine Waren feilbot.

Es hatte begonnen.

Einige der Gäste blickten beim ersten Rauschen und Spritzen des Wassers nicht einmal von ihren Büchern auf oder wurden aus ihren Tagträumen gerissen. Beim zweiten Sprung, der mehr Wasser aufwirbelte, einen größeren Knall auslöste und der das kleine Mädchen noch lauter auflachen ließ, immer befreiter und begeisterter seine Angst vor dem Unbekannten verlierend, hielten die Gäste inne und stutzten, als hätte es in der Ferne irgendein seltsames, nicht benennbares Geräusch gegeben. Ein Signal, dem sie, ohne seine Bedeutung zu kennen, folgen würden. Ein Signal, das sie aufhorchen ließ.

Der dritte Sprung war so lustvoll ausgeführt, dass das Mädchen begeistert in die Hände klatschte und nach noch mehr Darbietungen verlangte, was die Springerin jedoch ablehnte. Sie schämte sich ob der von ihr erzeugten Unruhe. Sie ermunterte aber die Kleine, weiter zu üben, in Aussicht auf den Genuss solcher Flüge durch die Elemente. Sie stützten sich mit ihren Unterarmen auf den Beckenrand und lachten über das Geschehene, wohl wissend, dass sie nun das Wasserbecken würden verlassen müssen, da die anderen auf sie aufmerksam wurden. Verlegen beschlossen sie, so schnell wie möglich zu gehen. In ihren Zimmern wollten sie jeder für sich einen Moment ausruhen, einen kurzen Augenblick nur. Sie verließen den Pool.

Plötzlich zerriss ein gewaltiger Schlag die Stille. Es klang wie eine Explosion. Waren die Ahnungen der Nächte doch Täuschungen gewesen, die genossenen Augenblicke doch die letzten? Die Augen der Liegenden suchten nach dem Ursprung des Lärms und fanden ihn im Wasser. Dort bewegte sich etwas Massiges, das sich nach dem Auftauchen als eine Touristin erwies, die robbenhaft gewandt das Becken durchstreifte. Diese Behändigkeit hatte etwas Unmögliches. Keiner der Anwesenden hätte ihr das zugetraut. Ihre Füße elegant wie zu einer Schwanzflosse zusammengehalten, wedelte sie geschickt mit ihrem runden Körper, der sich auf dem Festland immer in kreiselnden Bewegungen und mit nach innen gekehrten Füßen, nur beschwerlich fortbewegt hatte. Auf festem Grund kam ihr Fleisch nicht mehr an sich vorbei, und so rollten und rieben denn die Glieder aneinander, drehend, schwankend und kreisend. Nun aber schien das Wasserbecken zu klein. In ihrer Bewegungsfreude stieß sie immer wieder an den Rand, drückte sich ab, trudelte, drehte sich unter Wasser auf den Rücken, wellte mit dem ganzen Körper, sprang und wurde zunehmend unruhiger, hektischer. Ihre Bewegungen wurden panischer. Immer heftiger stieß sie gegen den Beckenrand.

Ein tosender Aufschlag unterbrach ihren Zug. Ein Schmerbäuchiger in knapper Badehose war mit schmatzenden, quietschenden Schritten in Richtung Beckenrand gewatschelt. Er nahm unvermittelt Anlauf, wie ein Amokläufer oder Selbstmörder, der sich in wilder Entschlossenheit und letzter Sekunde auf die Gleise wirft, und stürzte sich mit einem missglückten Köpfer in das von der Robbenfrau aufgewirbelte Wasser. Er ruderte wild mit den Armen, prustete wie ein Ertrinkender und lachte irre. Wie ein Böcklin’scher Meeresgott warf er die Wasser auf, gurgelte und versuchte vergeblich, wie ein Verzweifelter, sich vom zu tiefen Boden abzustoßen, um wieder in die Höhe zu gelangen. Ein Gluckern, Schmatzen und Rülpsen des Abflusses mischte sich in das Stöhnen und Schnappen der beiden Schwimmer.

Mittlerweile schäumte das Wasser. Die Schwimmer peitschten es auf wie eingekesselte Thunfische kurz vor dem Abschlachten. Ihre Haut, die hie und da aufschien, glänzte. Gliedmaßen wirbelten herum, verschwanden in der Tiefe. Eine ältliche, von der Sonne verbrannte, teilweise vernarbte, ununterbrochen rauchende, blondierte Frau mit einem Hängebauch und breitem, fleischigem Gesäß in einem Badeanzug, der ihr das Aussehen einer Raubkatze verleihen sollte, ließ ihre Zigarette fallen, wirbelte schraubengleich aus dem Stand empor und klatschte mit ihrem verbrannten Rücken auf das aufgewühlte Wasser. Die unbändige Freude, die aus den Dreien herausbrach, glich einer Wut, einem dionysischen Taumel, dessen Anlass, Ursprung und Ende nicht zu erahnen waren. Immer mehr Gäste legten ihre Radios, Zeitungen und Bücher beiseite und stürzten sich, Lemmingen gleich, in das übervolle, spritzende Becken, dessen Wasser hier und da von rötlichen Blutschlieren getrübt wurde. Die Körper, die Köpfe stießen aneinander, fielen übereinander her, drückten sich unter Wasser, quetschten sich ein und fingen an, aus Lust oder Rache, sich zu beißen. Der Kampf um den Platz, um die Bewegungsfreiheit hatte begonnen. Bald waren es ganze Stücke, die sich die Tosenden gegenseitig herausrissen, was immer leichter gelang, denn Haut und Fleisch waren vom Wasser aufgeweicht und begannen, sich schon fast von allein von den Knochen zu lösen.

Es gab kaum noch Wasser im Becken. Auf der blassroten Oberfläche trieben bereits die ersten Körper, verdreht, einigen fehlte ein Stück der Arme, der Ohren, anderen klaffte der Bauch offen, einige wenige hielten sich an der Oberfläche, den Kopf bis zu den Augen oder dem halb offenen Mund krokodilsgleich untergetaucht. Das Wasser wurde in kleinen Wellen aus ihren Mündern ein- und ausgespült, wie aus dunklen verwunschenen Grotten. Die Haare der Frauen trieben, zusammenklebend oder ausgebreitet an der sämigen Oberfläche wie eine Algenpest. Ab und zu stiegen noch ein paar Luftblasen empor, bis nichts mehr sich regte.

3.

Es war ihr erster Tag in der Bucht. Die Familie hatte beschlossen, die Frau für einige Tage an die verschiedenen Strände mitzunehmen und mit dem schwarzen Strand zu beginnen. Sie zahlten einen angemieteten Sonnenschirm aus Plastikfransen, der sie vor dem vollständigen Verbrennen schützen sollte. Die Abende wollten sie dann gemeinsam im Lieblingsrestaurant der Familie verbringen.

Der Tag war heiß und windig. Die Füße der Frau ertasteten sich ihren ungewohnten Weg über schwarze und graue, runde und geschmeidige Steine. Das Erste, was sie bei ihrem Spaziergang am Strand fand, war eine tote Muräne mit frisch aufgeschlitztem Bauch und gelbem Fischergarn zwischen den Zähnen des offen stehenden Mauls, der aber nichts an Innereien fehlte. Das Garn glich dem blauen Nylonfaden, den sie einige Tage vor ihrer Abreise ihrem Neffen, nach Zusammenwachsen seiner Kopfwunde, die ihm vom Sturz von einem alten Kirschbaum blieb, aus der Haut gezogen hatte. Die Muräne musste erst kurz zuvor angespült worden sein. Ihr fettes Fleisch glänzte noch. Ihre Augen waren von den Möwen noch nicht herausgepickt.

Der Strand begann bereits, sich zu leeren. Im Wasser waren nur noch wenige Schwimmer, die meisten unter ihnen Kinder. Auf einer von Blechstangen und Plastik notdürftig zusammengehaltenen Liege wagte eine Opernsängerin in knappem Bikini ihre Koloratur, die der Wind aber sofort zur Unhörbarkeit zerfetzte. Sie sang das Meer an. Was herbeisingend? Wen lockend? Zwei in tiefen Liegestühlen versackte Männer, jeder einen ausgedienten Pappbecher in der Hand, versuchten, kleine weiße Steinchen aus Bims, die aussahen wie poröse Knöchelchen, in den gegnerischen Becher zu werfen. Auf beider Brust hing jeweils ein an einem schlichten Lederband befestigtes Kreuz, das, wenn sich die beiden Körper vorbeugten zum Werfen, aufblitzte. Neben ihnen türmten ihre beiden Söhne Dämme aus schwarzem Sand und spielten alle Möglichkeiten von Bedrohung und Zerstörung durch. Einer der beiden war der Wächter der Dämme, der andere der Täter, der Zerstörer. Letzterer stürmte mit Gebrüll als aus dem Meer kommendes Schlangenungeheuer auf den sich laokoonhaft schützenden Zweiten, fing jedoch mit vornübergebeugtem Körper die Wucht seiner eigenen Bewegung kurz vor dem Wall ab und löste Gefahr und Spiel auf, indem er lauthals lachte. Das wiederholten die beiden wieder und wieder. Diese spielerische Katastrophe wurde begleitet vom ruhigen Pendeln der Brüste einer jungen Mutter, die ein Stück weiter am Strand ihrer Tochter beim Wasserschöpfen mit einem kleinen Eimer zur Hand ging. Ansonsten war der Strand, diese Saat des habbaren und handhabbaren Fleisches, friedlich.