Das Haus der Albträume

 

 

 

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Band 4

 

Das Haus der Albträume

 

von Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2013

© "Der Henker"

by Uwe Voehl

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

1. Kapitel

 

Ich drückte die Zigarette in dem Aschenbecher aus, um sie überrascht loszulassen, als ich sah, was mit ihr vorging: sie blutete.

Eine Zigarette, die blutete!

Es geht schon wieder los, dachte ich. Nirgendwo konnte ich meinem Schicksal davonlaufen. Ich schien eine magische Anziehungskraft auf ominöse Geschehnisse zu haben.

Ich beugte mich über den Aschenbecher und besah mir die Zigarette genauer. Sie war nur noch ein kurzer Stumpf und von mir arg zerdrückt worden. Aus ihrem Ende floss Blut, das sich in dem Aschenbecher ausbreitete.

Wenn nur Silvia oder Fred da gewesen wären. Silvia war eine nicht untalentierte rothaarige Hexe, die stets eine Erklärung fand. Und Fred, mein glatzköpfiger Gefährte, hätte in seiner direkten Art das Geschehen als Unsinn bezeichnet.

Aber es war kein Unsinn.

Die Zigarette blutete.

Daran gab es keinen Zweifel.

Ich nahm sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt sie hoch, wobei das Blut auf den Tisch tropfte und von dort aus über meine Hose.

Draußen war es dunkel geworden. Von der Wohnung aus hatte ich einen herrlichen Ausblick über das beleuchtete Paris, und von der Gasse drangen die Geräusche der abendlichen Spaziergänger herauf.

Ich legte die Zigarette zurück in den Aschenbecher, der bald überzuquellen drohte. Meine Hand war blutverschmiert. Ich leckte daran, um mich zu überzeugen, dass es tatsächlich keine andere Flüssigkeit war. Aber der Geschmack war unverwechselbar.

Es klingelte.

Vielleicht Bester oder Silvia, dachte ich und ging zur Tür. Draußen auf dem Flur stand ein etwa fünfzigjähriger, vollbärtiger Mann.

»Sie wünschen, Monsieur?«, fragte ich.

Er sah mich einen Augenblick lang irritiert an. Dann sagte er mit blitzenden Augen: »Sagen Sie Ihrem Herrn und Meister, Monsieur, dass er die Wohnung haben kann. Ich kündige, sagen Sie ihm das?«

Er wollte sich umdrehen und wieder gehen, aber ich hielt ihn zurück.

»Moment«, sagte ich. »Ich glaube, Sie haben sich in der Etage geirrt. Wenn Sie Ihre Wohnung kündigen wollen, so ist das natürlich Ihre Sache, aber ich habe damit nichts zu tun.«

Er sah mich überrascht an. »Was machen Sie dann in Bonnards Wohnung?«

»Gehört ihm dieses Haus?«, fragte ich.

»Verdammt will ich sein, wenn es ihm nicht gehört«, schimpfte mein Gegenüber.

Dies war der erste Abend in Paris.

Fred, Silvia und ich waren erst am Nachmittag angekommen. Angeblich gehörte diese Wohnung einem Geschäftspartner von Fred, wenn man diese Leute mit dieser Bezeichnung bedenken durfte, denn die Geschäfte meines Freundes waren, das hatte ich bereits mitgekriegt, eher heimlicher Natur und hatten Unterweltscharakter.

Nach unserem Abenteuer im Strandhotel bedurfte ich einiger Erholung, und so war ich doch noch mit nach Paris gekommen. Ich hatte nicht gewusst, dass Freds Freund nicht nur diese Wohnung, sondern auch dieses Haus gehörte.

»Ist denn irgendetwas passiert?«, fragte ich den Bärtigen, der noch immer vor meiner Tür stand.

»Ob etwas passiert ist?«, regte er sich auf, wie es die Franzosen gern in übertriebener Art tun. »Ich bin ruiniert!«

Plötzlich nahmen seine Augen einen misstrauischen Ausdruck an.

Erst jetzt hatte er das Blut an meinen Händen gesehen. Ich selbst hatte gar nicht mehr daran gedacht.

»Sie stecken also dahinter!«, rief er und stürzte sich auf mich. Ich war im ersten Augenblick völlig überrascht und musste eine Gerade in den Bauch einstecken.

Der Mann versteht etwas vom Boxen, dachte ich anerkennend, obwohl ich stöhnend zu Boden ging. Als er mich an den Haaren ergriff, fasste ich seinen Arm und wirbelte ihn auf die Erde. Er wollte sich erneut auf mich stürzen, aber ich wich zurück.

»Ich sage Ihnen noch einmal, dass ich mit Ihrer Sache nichts zu tun habe. Ich habe selbst gerade etwas Ungewöhnliches erlebt, daher das Blut an den Händen. Und in dieser Wohnung bin ich nur für einige Tage Gast. Ich kenne den Eigentümer noch nicht einmal.«

»Wie kommt das Blut an Ihre Hände?«, fragte er störrisch.

»Das werden Sie mir nicht glauben.« Ich zeigte zum Aschenbecher, aus dem das Blut lief. »Davon habe ich es.«

Er ging langsam zum Aschenbecher und beschaute sich das Phänomen. Die Zigarette war in dem Blut versunken.

»Das hier ist ein Bluthaus«, sagte er. »Madame Boldini hat es mir gesagt. Aber« – er sah mich mit einem hilflosen Ausdruck in den Augen an, »ich kann doch nicht an übernatürliche Dinge glauben, Monsieur!«

»Nun sagen Sie mal, was passiert ist«, forderte ich ihn auf. »Sie können sich auch setzen. Ich schenke Ihnen erst einmal einen Beruhigungsschluck ein.«

Während sich mein Besucher setzte, begab ich mich zur Bar und wählte einen besonders hochprozentigen Magenspüler zur Beruhigung aus.

»Ich sollte mich wohl erst einmal vorstellen«, sagte er. »Mein Name ist Vollard. Ich bin Kunsthändler.«

»Sind Sie etwa verwandt mit dem Vollard?«

»Ich bin sein Neffe und zehre vom Ruhm meines Vorfahren«, sagte er.

»Ich heiße Berger. Wie Sie an meinem Akzent sicherlich schon bemerkt haben, komme ich aus Deutschland. Ich bin Grafiker. Wie Sie sehen, kommen wir aus der gleichen Branche.«

»Sie müssen mir einmal etwas von Ihnen zeigen.« Das Eis war damit gebrochen.

Er trank sein Glas in einem Zug leer. Dann sagte er: »Ich will gar nicht versuchen, es Ihnen zu erklären. Ich zeige Ihnen lieber, was geschehen ist. Kommen Sie mit!« Er erhob sich und ging zur Tür. »Meine Wohnung ist nur ein Stockwerk höher.«

Ich folgte ihm. Das Treppenhaus war uralt, aber noch wunderbar erhalten. Es wies viele geschwungene Jugendstilornamente auf.

Dann betraten wir Vollards Wohnung. Überall standen Gemälde, lagen Zeichnungen.

»Kommen Sie mit.« Vollard ging voran. »Und nun schauen Sie, Monsieur!«

An der Wand hingen zwei blutüberströmte Bilder. Blut tropfte von ihnen auf die Erde.

»Das linke ist, war ein Selbstbildnis von Cezanne, unersetzbar. Und das andere stellte Monet dar, gemalt von Renoir.«

Beide Bilder waren kaum mehr zu erkennen, da sie von dem Blut fast vollständig übertüncht waren.

»Wie ist es passiert?«, fragte ich.

»Ich hörte etwas aufplatschen, und als ich dem Geräusch nachging, stieß ich auf diese beiden Bilder, aus denen das Blut lief. Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob es nicht irgendein schändlicher Trick ist, um mich endgültig zu vergraulen.«

»Wieso will man Sie vergraulen?«, fragte ich.

»Weil Bonnard aus diesem Haus ein Hotel machen will. Aber dazu muss er uns Restmieter erst vertreiben. Er hat es schon mit den wildesten Drohungen versucht, aber bisher kein Glück gehabt.«

»Ich glaube nicht, dass er dahintersteckt«, sagte ich. Ich erzählte Vollard, was mit meiner Zigarette passiert war. »Und ich kann mir nicht vorstellen«, endete ich, »warum er mich schocken sollte. Aber Sie erwähnten vorhin, dies sei ein Bluthaus. Was meinten Sie damit? Ist schon einmal etwas Ähnliches geschehen?«

»In meiner Wohnung das erste Mal«, sagte Vollard. »Aber vielleicht sollten wir Madame Boldini einmal aufsuchen. Kommen Sie mit?«

Natürlich kam ich mit, und kurz darauf standen wir vor der Wohnungstür von Madame.

Vollard läutete. Hinter den Glasscheiben brannte Licht, aber es rührte sich nichts.

Vollard pochte an die Tür. »Ihr wird doch nichts passiert sein.«

Mir fiel das Rauschen auf, das aus der Wohnung kam. Ich machte Vollard darauf aufmerksam.

»Das ist die Dusche«, sagte er. »Bestimmt steht sie darunter. Aber sehen Sie!«

Unter der Tür floss Blut hervor.

»Das muss nichts Schlimmes bedeuten«, sagte ich. »Denken Sie an meine Zigarette und an Ihre Bilder.«

Vollard pochte abermals an die Tür. »Madame Boldini!«, rief er, aber noch immer rührte sich nichts in der Wohnung.

Die Blutlache war größer geworden, aber sie war fast rosa und dünnflüssig.

»Es ist mit Wasser vermischt«, sagte ich. Wir sahen uns an.

»Natürlich braucht es nichts zu bedeuten«, sagte Vollard.

»Natürlich nicht«, pflichtete ich ihm bei.

»Und es wäre auch nicht sehr schicklich, die Wohnungstür einer Dame zu demolieren, die gerade unter der Dusche steht.«

»Auch da haben sie recht.«

»Trotzdem sollten wir vielleicht mal nach dem Rechten sehen«, sagte er.

Ich grinste. »Sollten wir, ja.«

Vollard zog seine Strickjacke aus und wickelte sie sich um den Arm.

»Lassen Sie mich das machen«, bat ich, aber da hatte er schon zugeschlagen, und die Scheibe ging klirrend zu Bruch. Ich griff hindurch, löste die Sicherheitskette und drückte auf die Klinke.

»Dort ist das Badezimmer«, sagte Vollard. Unter der Tür kam das Blut hervor, das bis in den Hausflur geflossen war.

Ich klopfte an die Tür. »Madame Boldini?«, rief ich fragend. »Sind Sie dort drin?«

Wieder sahen Vollard und ich uns an.

»Vielleicht sollten Sie reingehen«, sagte ich. »Sie kennt sie.«

»Gehen wir lieber zusammen«, sagte Vollard und öffnete die Tür. »Mon Dieu!«, rief er aus.

Der Boden des Badezimmers war mit Blut bedeckt, und mitten darin lag ein nackter Frauenkörper. Aus der Dusche lief nach wie vor das Wasser. Es hatte aus dem Duschbecken überlaufen können, da die Frau offensichtlich auf dem Abfluss lag. Beide beugten wir uns über sie, und Vollard fühlte ihren Puls.

»Sie lebt«, sagte er dann.

»Ich kann auch keine Verletzung feststellen«, ergänzte ich. Ich sah mich im Badezimmer um und entdeckte einen Bademantel.

»Heben Sie sie hoch«, sagte ich, und nachdem Vollard meiner Aufforderung nachgekommen war, legte ich der Frau den Bademantel um die Schultern. Dann drehte ich die Dusche ab.

Gemeinsam trugen wir Madame Boldini durch den Korridor in das angrenzende Wohnzimmer und legten sie dort auf eine Ottomane.

»Da sind wir gerade rechtzeitig gekommen«, sagte Vollard. »Sie hätte ja ertrinken können. Wie ist es nur passiert?«

»Das müssen wir sie wohl selbst fragen.«

»Jetzt könnten wir einen Muntermacher gebrauchen.« Vollard sah sich in dem Zimmer um. »Ah, da ist ja ihr Barschrank.«

Er begab sich dorthin und holte eine Flasche Malt heraus. Madame schien einem guten Tropfen nicht abgeneigt zu sein.

Während ich ihr den Kopf hochhielt, flößte ihr Vollard etwas von dem Alkohol ein. Sie hustete, schluckte aber automatisch.

»Das reicht«, meinte ich. »Sonst ist sie nachher noch betrunken.«

Er stellte die Flasche auf den Tisch, und beide warteten wir darauf, dass Madame Boldini wieder zu sich kam.

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass sie eine äußerst attraktive Frau war. Sie war vielleicht vierzig, in einem Alter, in dem eine Frau ohnehin erst richtig erblüht, wie Fred mir einmal fachmännisch mitgeteilt hatte. Der Bademantel verbarg nun ihre üppige, aber dennoch nicht rundliche Figur. Zu ihren sinnlichen Gesichtszügen hätten keine anderen als ihre blonden Haare gepasst.

Sie streckte sich, und dann schlug sie die Augen auf, die von einem dunklen Grün waren. Offensichtlich war sie verwirrt und sah uns überrascht an. Besonders mich, da ich ihr fremd war.

»Monsieur Vollard ... Wie, was ist passiert?«

»Das sollten wir Sie fragen«, sagte Vollard. »Wir befürchteten schon das Schlimmste, aber Sie scheinen nur ohnmächtig geworden zu sein, Madame.«

»Und wer sind Sie?« Sie sah mich an und zog den Bademantel fester um sich.

»Wissen Sie, es ist folgendermaßen ...« Ich erzählte ihr, unterstützt von Vollard, was geschehen war.

»Ich bin Ihnen wohl sehr zu Dank verpflichtet, Messieurs«, sagte Madame Boldini, nachdem sie unseren Bericht gehört hatte. »Ich muss in Ohnmacht gefallen sein. Aber nicht, weil plötzlich Blut aus der Dusche kam. Monsieur Vollard weiß, dass ich sehr sensitiv veranlagt bin. Ich fühlte plötzlich eine unheimlich böse Energie, die mich umgab und meine Sinne – ›erdrückte‹ ist vielleicht das richtige Wort.«

»Wenn Sie jetzt allein sein wollen ...«, begann ich, aber Madame Boldini unterbrach mich.

»Nichts weniger als das«, sagte sie. »Sie fassen es hoffentlich nicht falsch auf, wenn ich Sie bitte, heute Nacht bei mir zu bleiben.«

»Sie könnten es sich hier auf der Ottomane bequem machen«, sagte Vollard zu mir. »Und ich habe oben noch eine Liege stehen, die ich hier aufstellen könnte.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte Madame Boldini erleichtert. »Ich hätte nicht den Mut gehabt, heute Nacht allein zu bleiben. Gleich morgen früh werde ich ausziehen, und bis ich eine neue Wohnung gefunden habe, werde ich bei einer Freundin unterkommen können, hoffe ich.«

»Wohnt eigentlich noch jemand in diesem Haus?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete Vollard. »Niemand mehr. Es ist eine Schande, dass dieses große, herrliche Haus fast unbewohnt ist. Madame Boldini und ich sind die einzigen Mieter, die Bonnard noch nicht hat vertreiben können.«

»Ob Bonnard hinter diesem ganzen Spuk steckt?«, fragte Vollard nun auch Madame Boldini. Sie schüttelte den Kopf.

»Dann hätte ich dieses Gefühl des Bösen nicht gehabt«, sagte sie. »Unser Vermieter ist nur ein großer Gauner. Mit übernatürlichen Mächten hat er nichts zu tun, da bin ich mir sicher.«

»Übernatürliche Mächte?«, fragte Vollard. »Glauben Sie im Ernst daran?«

»Ja«, sagte Madame Boldini. »Wie wollen Sie die Geschehnisse denn sonst erklären?«

Vollard schwieg und kraulte seinen Bart.

»Monsieur Vollard hat mir verraten, dass Sie dieses Haus als Bluthaus bezeichnet haben, Madame«, schaltete ich mich ein. »Ist hier schon einmal etwas Ähnliches geschehen?«

Sie zögerte, bevor sie sagte: »Ich glaube, ja. Nennen Sie es eine Vision, die ich hatte: Als ich eines Abends spät nach Hause kam und mich im Treppenhaus umschaute, weil ich das Gefühl hatte, es würde mich jemand beobachten ... Nun, ich sah ein junges Mädchen durch den Flur huschen, und kurz danach färbten sich die Wände plötzlich rot. Blutrot, verstehen Sie. Es war ein faszinierendes Erlebnis für mich, und seitdem bezeichne ich dieses Gebäude als Bluthaus.«

»Was war das für ein Mädchen?«, fragte ich. »Es war Ihnen unbekannt?«

»Ja, ich hatte es zuvor noch nie gesehen. Auch im Treppenhaus konnte ich nicht mehr als einen flüchtigen Blick auf sie erhaschen. Aber ...«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, Madame Boldini«, schaltete sich Vollard ein. »Wenn Sie erlauben, werde ich weitererzählen. Nun, als Madame Boldini einmal bei mir oben zu Besuch war, fiel ihr Blick auf ein Gemälde von Renoir, und sie erkannte darauf das Mädchen wieder, das sie im Hausflur gesehen hatte.«

»Eine seltsame Verbindung«, sagte ich. »Ich würde das Bild gern einmal sehen.«

»Gehen Sie nur hoch«, sagte Madame Boldini. »Ich werde hier Ordnung schaffen, und danach werde ich uns einen Abendimbiss zubereiten. Sie haben doch noch nicht zu Abend gegessen, oder?«

Wir verneinten.

»Können wir Sie wirklich allein lassen, Madame?«, fragte Vollard.

»Sie können dann gleich Ihre Liege mitbringen«, sagte sie. »Wenn Sie es sich nicht anders überlegt haben ...«

»Aber nein, wir bleiben über Nacht, nicht wahr, mein Freund?«

Ich nickte.

»Lassen Sie die Wohnungstür offen«, bat Madame Boldini, als wir uns aus dem Zimmer begaben. »Ich kann dann rufen, falls wieder etwas geschehen sollte.«

 

Das Ölgemälde von Renoir zeigte einen Halbakt: eine Frau, die dem Betrachter den Rücken zuwandte und auf einem Sofa saß.

»Wissen Sie, was für eine Frau das sein könnte?«

»Genau die gleiche Frage hat mir auch Madame Boldini gestellt«, sagte Vollard. »Zweifellos handelt es sich um eine gewisse Gabrielle, die den alten Renoir zu vielen schwelgerischen Aktbildern inspirierte.«

»Seltsam«, sagte ich, »dass Madame Boldini sie im Treppenhaus gesehen zu haben glaubt. Hat sie dieses Bild vielleicht schon vorher einmal gesehen?«

»Nein, sie war vorher noch nie in dieser Wohnung, und es existierten bis vor Kurzem auch keine Drucke oder Fotografien von diesem Gemälde.«

»Dann stand es immer nur in dieser Wohnung?«

»Ja, Monsieur Berger. Sie müssen wissen, dass mein Onkel damals in diesem Haus gewohnt hat. Es hat sogar lange Zeit ihm gehört, und hier gaben sich spätere berühmte Maler wie Picasso, Chagall, Rouault und Bonnard die Hand.«

»Bonnard?«, fragte ich. »Der jetzige Besitzer des Hauses heißt doch auch Bonnard, nicht wahr?«

»In der Tat ein Nachfahre jenes Malers.«

»Man müsste in die Vergangenheit reisen können«, dachte ich laut. »Vielleicht ist hier damals irgendetwas geschehen, was mit den heutigen Ereignissen zu tun hat.«

»Glauben Sie an ein Verbrechen?«, fragte Vollard.

»Das wäre ein Motiv, wie es in jedem zweiten Schauerroman vorkommt«, erwiderte ich. »Stellen Sie sich vor, jedes Opfer eines Verbrechens würde sich aus dem Jenseits rächen. Unsere ganze Welt würde eine einzige Ungereimtheit darstellen.«

»Aber vielleicht geschah damals ein besonderes Verbrechen«, sagte Vollard.

In diesem Augenblick gellte ein Schrei durch das Haus.