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AUGUSTIN SCHMIED

SCHLÜSSELWORTE DER CHRISTLICHEN BOTSCHAFT

GRUNDTHEMEN DES GLAUBENS

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Band 6 der Reihe „Spiritualität und Seelsorge“, die von P. Martin Leitgöb und P. Hans Schalk im Auftrag der Ordensgemeinschaft der Redemptoristen herausgegeben wird.

Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

INHALT

VORWORT

EVANGELIUM

Der Heilsakzent in Jesu Botschaft und Wirken

Radikalere Sicht der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen

Soziale Ausrichtung des Evangeliums

Die Gerichtsworte im Rahmen der Heilsbotschaft

Ein Wort zugunsten der „Gerechten“?

„VATER“

Gott und die Götzen

Der Gott und Vater Jesu

Der einzige und heilige Gott

Der Vater – Abba

Die „Abba-Erfahrung“ Jesu

Ambivalenz des „Vater“-Bildes. Gott: Vater und Mutter?

Die Überwindung des zwiespältigen Gottesbildes

Jesu Vater – unser Vater

An den Vater glauben in einer erschreckenden Welt

JESUS CHRISTUS, DER LEBENDE

Ostererfahrungen

Neues, unzerstörbares Leben

Ein ausstrahlendes Leben

Lebend: als unser „Fürsprecher“

Leben aus der Todeshingabe

Lebenszeichen

HEILSZEICHEN KREUZ

Kreuz und Tod Jesu – im Zusammenhang seines gesamten Lebens und Wirkens

Bruder der Leidenden

Leiden und Sterben für uns

Keine ersatzweise Abbüßung einer von Gott verhängten Vergeltungsstrafe

Eine irreführende Linie

Schmerz und Blut im Zusammenhang der Erlösung

Scheinbare Gegenstimmen

Das Kreuz als Zeichen Gottes

HEILIGER GEIST

Der Geist, der Jesus vergegenwärtigt und „ankommen“ lässt

„Pfingsten“ und ähnliche „Schwellen“-Ereignisse

Geisterfahrung

Der Geist und seine Gaben (Charismen)

Heilender Geist

„Vater der Armen“

ZU SEINEM GEDÄCHTNIS

Die Eucharistie als „Gedächtnis“

Das Gedenken Gottes

Das Gedenken der Feiernden

Die Eucharistie als Danksagung und Lobpreis Gottes

Die Danksagung Jesu beim Letzten Abendmahl

Das Dankgebet der Kirche

Die Eucharistie als Opfer

Brot und Kelch – Anteil am Leben des Herrn

Die Eucharistie – ein „Mahl“?

Jesus in den Gaben der Eucharistie

Die Eucharistie als Zusammenkommen und Gemeinschaft

GETAUFT

Tauferinnerung und Tauferfahrung im Spiegel christlicher Zeugnisse

In den neutestamentlichen Schriften

Tauferfahrung in späteren Zeugnissen

Taufbewusstsein im Leben von Christen, die als Kleinkinder getauft wurden

Die einst empfangene Taufe als bleibende Gabe und Zusage

Taufbewusstsein als Erfahrung der Werte des Christseins

„Nachholung“ des Katechumenats?

EWIGES LEBEN

Zukunft in der Gegenwart

„Ewiges Leben“ – schon jetzt

„Diesseitsvertröstung“?

Theozentrische Prägung der christlichen Hoffnung

Unverstellte Begegnung mit Gott

Erfahrungen des Ursprungs und der Quelle

Gottes ewiges Ja zum Menschen

Erfasst vom Geheimnis

Eine neue Form menschlicher Gemeinschaft

Der Tod – kein bloßer Durchgang

Eine kritische Persiflage, über die aber nachgedacht werden kann

Anmerkungen

VORWORT

Zum besonderen Auftrag der Redemptoristen gehört vom Ursprung her die ausdrückliche Verkündigung der christlichen Botschaft, des „Evangeliums“. Diese Ausrichtung und Aufgabe hat sie zu Missionaren gemacht (besonders in der „Volksmission“). Dabei ging es immer auch darum, der Verkündigung die entsprechende Form und Akzentuierung zu geben.

In diesem Band der Reihe „Spiritualität und Seelsorge“ sollen einige Themen buchstabiert werden, die charakteristische Elemente der christlichen Botschaft darstellen. Die „Schlüsselworte“, von denen die Rede ist, werden vor allem von biblischen Texten her erläutert.

Man wird verstehen, dass hier nur eine Auswahl von Themen und Aspekten behandelt werden konnte. Die leitenden Gesichtspunkte sind nicht die „klassischen“ Aussagen des Credos. Die aufgegriffenen Themen führen jedoch nicht auf Nebenstraßen.

Die theologisch-wissenschaftliche Diskussion wurde berücksichtigt; es ging aber nicht darum, sich in sie näher einzuschalten. Auf entsprechende Literatur ist in den Anmerkungen verwiesen.

Augustin Schmied
Gars am Inn, im Juni 2013

EVANGELIUM

Wenn es um Schlüssel- und Programmworte des Neuen Testaments geht, gehört zu ihnen sicher das Wort Evangelium. Damit wird vor allem die Verkündigung Jesu charakterisiert und zusammengefasst. Jesus „verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,14f). Der Apostel Paulus weiß sich dazu berufen, das „Evangelium Gottes“, das in Jesus Christus sein Zentrum hat, in die Welt zu tragen (Röm 1,1.4), und es ist nach seiner Überzeugung eine „Kraft zum Heil“ (Röm 1,16f). Auch in den späteren „Pastoralbriefen“ dient das Wort „Evangelium“ zur Kennzeichnung der christlichen Botschaft, und wieder in betont positivem Sinne: das „Evangelium“ erschließt Heil und Leben (vgl. 2 Tim 1,10f). Auch wenn das Wort „Gesetz“ weder im Alten Testament noch auch durchgehend im Neuen Testament einen negativen Klang hat (vgl. z. B. Gal 6,2: „Gesetz Christi“), ist nicht „Gesetz“, sondern „Evangelium“ das Kennwort des Christentums geworden. Diese Perspektive darf nicht entkernt und eingeebnet werden. Marc Oraison, ein französischer Benediktinertheologe, berichtet in einem seiner Bücher, ein Bischof habe einmal zu ihm gesagt: „Mein lieber Freund, an dem Tag, wo wir begriffen haben, dass wir dazu da sind, das Evangelium zu verkünden, und nicht, um den Leuten den Marsch zu blasen, sind wir einen großen Schritt vorangekommen.“1

DER HEILSAKZENT IN JESU BOTSCHAFT UND WIRKEN

Jesus hat seine Botschaft gezielt als Heils- und Hoffnungsbotschaft aufgefasst. Er sieht sich nicht in der Nachfolge von Predigern, die das Volk mit ihrer Gerichtsdrohung noch im letzten Moment zur Umkehr zu bringen versuchen. Darin unterscheidet er sich auch von Johannes dem Täufer. Jesus spricht und handelt aus der Zuversicht, dass in ihm Gott in einer neuen Weise auf die Menschen zukommt, nämlich gnadenhaft schenkend und schöpferisch erneuernd. „Nicht das bevorstehende Gericht gibt den Ausschlag, sondern das Glück der Gottesherrschaft.“2

In der Sicht Jesu ist das Heil nicht in der Linie angestrengter religiöser Bemühungen zu erreichen: weder durch einen ordnungsgemäßen und aufwendigen Tempelkult noch durch eine ausgefeilte Genauigkeit in der Beobachtung des „Gesetzes“. Jesus ist der Überzeugung, dass von Gott her etwas angebrochen und in Gang gekommen ist, das die Situation des Menschen grundlegend verändert. Er spricht von der hereindrängenden, schon wirkenden „Herrschaft Gottes“ (Mk 1,14f; Mt 12,28), die Befreiung und Heilung bedeutet (vgl. Mk 1,21–34). Dieses Heil der „Gottesherrschaft“ kann und braucht nicht politisch erobert und auch nicht moralisch „erleistet“ zu werden (vgl. Mk 4,26–29; 10,14f: das „Reich Gottes annehmen wie ein Kind“).3 Die geforderte „Umkehr“ besteht gerade in der Annahme des „Evangeliums“ (Mk 1,15).

In seiner „Antrittspredigt“ in der Synagoge von Nazaret (Lk 4,16–21) sagt Jesus – in Anlehnung an Jesaja, Kapitel 61 –, dass er gesandt sei, „den Armen eine gute Nachricht zu bringen“, ein „Evangelium“ (griechisch: euangelisasthai). Bemerkenswert ist, wie der prophetische Text zitiert wird. Jesus liest aus ihm betont eine Heilsbotschaft heraus. Übergangen wird das Wort vom „Tag der Vergeltung (Rache) unseres Gottes“ (Jes 61,2).

Jesus hat keine verschärfte Bußstimmung verbreitet. Um ihn herum muss eher eine ermutigende und frohmachende Atmosphäre gewesen sein. Darauf verweist unter anderem das Bild von der „Hochzeit“ und den „Hochzeitsgästen“ (Mk 2,19; vgl. Joh 2,1ff). Jesus wollte nicht durch Auslösung eines heilsamen Schreckens zur Bekehrung und zum Glauben bewegen. Der evangelische Theologe Helmut Thielicke erzählt in seiner Autobiographie von einem Pfarrer in Baden, der einmal zwei Gemeindeabende angesetzt hatte, in denen er nacheinander über „Gesetz und Evangelium“ sprach. „Der erste Abend war eine derart donnernde Gerichtspredigt, dass die verängstigten Zuhörer zum Teil am zweiten Abend wegblieben, als er (der Vortragende) die milderen Töne des ‚Evangeliums‘ säuseln ließ. Noch höre ich den immer wiederkehrenden Refrain des Gerichtsabends: ‚Zuerscht muss au dr Heiland den Bruschtkaschte einschmeiße.‘ “4 Erst müsse eine Kanonade abgefeuert werden, bis der Sündenmensch zusammenkartätscht am Boden liegt. Erst müsse richtig eingeheizt werden, dann könne die Salbe des Evangeliums zum Zuge kommen. Das war nicht die Methode Jesu. Seine Predigt ist nicht Froh- und Drohbotschaft zu gleichen Teilen, in prinzipieller Symmetrie.

RADIKALERE SICHT DER ERLÖSUNGSBEDÜRFTIGKEIT DES MENSCHEN

Jesus hat die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen radikaler gesehen als die tonangebenden Kreise im damaligen Judentum. Er wusste, dass auch ein moralisch einwandfreies Verhalten fragwürdig bleibt. Die moralische Leistung kann dazu verführen, sich das fertiggebrachte Gute selbst zuzuschreiben und den Dank an Gott zu vergessen, oder im Bewusstsein der eigenen Gerechtigkeit auf andere herabzusehen (vgl. Lk 18,9–14). Es braucht ein neues Herz, wie schon das Alte Testament weiß; in diesem Herzen muss das Gesetz Gottes verwurzelt sein (vgl. Ps 51,12; 119,32; Ez 36,26f).

Das ist aber nicht durch Drohung mit Liebesentzug zu erreichen. Der Mensch muss in seiner Seele geheilt werden Es braucht Heilung durch Ermutigung, damit der Mensch sich selbst für wert halte, auf sich achte, und die Tendenz überwinde, sich zugrunde zu richten. Jesus hat sein barmherziges Verhalten den „Sündern“ gegenüber damit gerechtfertigt, dass diese einen „Arzt brauchen“ (Mk 2,16f).5 Das Böse ist im Tiefsten Ausdruck einer trostlosen, hoffnungslosen Seele. Wenn diese lähmende Grundstimmung überwunden werden soll, muss die verdüsterte Lebenslandschaft aufgehellt werden. Das geschieht letztlich durch eine verstehende, vertrauende, barmherzige Liebe.

Ein Gedicht von Detlev Block mit der Überschrift „Ansprache“ passt in diesen Zusammenhang:

„Spring doch mal / über deinen Schatten! / Er wusste, / es ging nicht – / aber dass ihn / einer so anlachte, / löste in ihm / den überraschenden Mut aus, / kleine Schritte / mit dem Schatten zu machen.“6

„Über seinen Schatten springen“ kann man eigentlich nicht. Aber man kann Schritte tun; braucht sich nicht resigniert hängen zu lassen. Solche Schritte werden einem Menschen möglich, wenn ihm wohlwollend und freundlich begegnet wird; wenn ihm etwas zugetraut wird.

Diesen Zusammenhängen entspricht der Heilsakzent der Verkündigung Jesu. Bevor Jesus zum Tun des Guten aufgerufen hat, hat er sich bemüht, in den Menschen die Kräfte freizusetzen, die es braucht, um das Gute wirklich zu wollen und dann auch zu tun. So hat Jesus nach dem Matthäusevangelium seine Weisungen mit den Seligpreisungen begonnen (Mt 5,3–12), das heißt mit einem ermutigenden Zuspruch.

Fulbert Steffensky hat diese Zusammenhänge einmal so charakterisiert: „Kaum jemand (kann) von der Sünde weggeprügelt werden. Wohl kann man zu einem anderen, reicheren Leben verlockt werden. (…) Das pure prophetische Nein macht die Menschen störrisch. Die spätere Rede Jesu7 hat aus dem reinen Nein herausgefunden in das Nein, das nach Ja schmeckt. Das Reich Gottes hing nicht mehr wie eine Drohung über den Menschen. Es war gemalt und beschrieben in seiner Schönheit. (…) Moral folgt den Bildern des Lebensreichtums, die man zur Kenntnis genommen und lieben gelernt hat.“8

SOZIALE AUSRICHTUNG DES EVANGELIUMS

Das von Jesus verkündete und vermittelte Heil von Gott her meint nicht nur innerlich bleibende und auf den Einzelnen beschränkte Vorgänge der Vergebung und Befreiung. Das von Jesus angesagte „Reich Gottes“ (vgl. Mk 1,15; Lk 4,43) ist eine universale Größe, die Heil für den ganzen Menschen bedeutet, mit Auswirkungen bis in den gesellschaftlich-politischen Bereich hinein. Es geht um eine „real erfahrbare Ordnung und Verfasstheit von Leben und Gesellschaft, die menschenfreundlich und lebensfördernd ist und allen, besonders den bisher am Rand Stehenden, zugutekommen soll“.9 Schon der alttestamentliche Hintergrund der Rede vom „Reich bzw. der Herrschaft Gottes“ verweist auf eine gerechte, menschenwürdige gesellschaftliche Ordnung (vgl. Dan 7,1–22; Ps 145, 146). Auch die „Seligpreisungen“ zeigen, dass „Reich Gottes“ Veränderungen in den äußeren Verhältnissen einschließt (Lk 6,20–26; Mt 5,11). Jesus selbst hat der in ihm repräsentierten „Gottesherrschaft“ (vgl. Mt 12,28) ein konkretes Gesicht gegeben: durch sein heilendes Tun an Kranken und „Besessenen“, durch seine Hinwendung zu deklassierten und missliebigen Gruppen, mit dem Ziel, das Volk Israel neu zu „sammeln“.

In der schon erwähnten von Lukas geschilderten ersten Predigt Jesu (in Nazaret) erklärt sich Jesus dazu gesandt, „den Armen eine gute Nachricht zu bringen, Gefangenen die Entlassung zu verkünden, die Zerschlagenen in Freiheit zu setzen, und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen“ (Lk 4,18f). Im Blick auf die hier zitierten alttestamentlichen Bezugsstellen kommt den Worten Jesu eine klare soziale Komponente zu; es geht auch um Menschen in wirtschaftlicher Notlage.10 Das lässt auch die Rede vom „Gnadenjahr Gottes“ erkennen. Es wird hier erinnert an das von Mose für Israel vorgeschriebene „Jobeljahr“ bzw. „Erlassjahr“ (Lev 25,8–55). In jedem 50. Jahr sollten alle, die in Schuldknechtschaft, in Sklaverei geraten waren, weil sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten, freigelassen werden. Grundbesitz, der sich im Lauf der Zeit bei wenigen angesammelt hatte, sollte an die ursprüngliche Eigentümerfamilie zurückfallen. Das war eine Vision, ein Ideal, das noch nie verwirklicht worden war. Aber es war ein bedeutsames und kritisches Zukunftsbild. Als der messianische Prophet proklamiert Jesus das große „Gnadenjahr“. Es eröffnet eine neue Verbindung mit Gott, die Bewegung auch in die Beziehungen der Menschen untereinander bringt. Nicht zufällig spielt der Abschnitt Lk 4,18f eine besondere Rolle in der „Theologie der Befreiung“.11

DIE GERICHTSWORTE IM RAHMEN DER HEILSBOTSCHAFT

Jesus musste mit der Zeit immer mehr erleben, dass seiner Botschaft Gleichgültigkeit und Ablehnung entgegengebracht wurden. In dieser Situation hat Jesus mit deutlichen Gerichtsdrohungen geantwortet (vgl. Mk 8,38; Lk 12,8; 11,31f; Mt 11,20–24 „Weherufe“; 22,7–10). Diese Reaktion Jesu darf nicht ausgeblendet werden. Aber auch die Gerichtsworte müssen im Ganzen der Heilsbotschaft gesehen werden. Sie unterstreichen, besonders gegenüber den religiösen Gegnern Jesu, dass gerade seine Verkündigung vom erbarmenden und gütigen Gott gehört und ernst genommen werden muss; dass niemand zu gut ist, um sagen zu können, dass er dieses zuvorkommende Erbarmen Gottes nicht brauche. Wenn Jesus seine Botschaft und das darin enthaltene Heilsangebot ernst nahm, musste er ja vor der Ablehnung seiner Botschaft warnen; zu dieser Warnung gehörte der deutliche Hinweis auf die unheilvollen Konsequenzen einer Ablehnung, das heißt der Hinweis auf ein Gericht von Gott her.

Jesus hat aber auch aus diesen warnenden und drohenden Aussagen kein endgültig verurteilendes Verdikt gemacht. Er hat sein Heilsangebot an (ganz) Israel „nicht aufgehoben, solange er wirkt“12. Er hat nicht zufrieden oder gar triumphierend einem kommenden Strafgericht entgegengesehen (vgl. Mt 23,37f; Lk 13,34f). Nach der Darstellung des Lukasevangeliums weint Jesus im Blick auf das der Stadt Jerusalem drohende Unheil (Lk 19,41–44).13 Dass Jesus sein Volk nicht dem Verderben ausliefern wollte, zeigen schließlich die „Abendmahlsworte“ (vgl. Mt 26,26–29, und Parallelen).14 Er ist in einer niemand ausschließenden Liebe und Hoffnung in den Tod gegangen. Seinem Aufruf zur Feindesliebe (vgl. Mt 5,43–48; Lk 6,27–36) hat er offenbar auch selbst entsprochen. Der Evangelist Lukas betont diesen Punkt, indem er vermerkt, dass Jesus am Kreuz für seine Gegner gebetet habe (Lk 23,34; vgl. 23,40–43). Vielleicht hat Jesus in dieser Sache eine gewisse Entwicklung durchgemacht.

Gottfried Bachl hat in seinem Buch „Der beneidete Engel“ einen Abschnitt mit der Überschrift „Protest aus Kafarnaum“. Es geht darin um die Weherufe Jesu über die Orte Chorazin, Bethsaida und Kafarnaum (Mt 11,20–24), weil man dort seine Predigt nicht angenommen hatte. Bachl schildert, wie ein gewisser Tischler Tobija aus Kafarnaum Jesus einen Protestbrief schickt und Aufklärung erbittet. Jesus könne doch wohl nicht eine ganze Stadt mit „Kind und Kegel“ in die Hölle verdammen. Er schreibt, er hätte schon Lust gehabt, Jesus selbst einen Fluch nachzusenden, aber seine Frau Hanna habe ihn zurückgehalten.

In dem Brief, den der genannte Tobija an Jesus schreibt, heißt es: „Es geht um Deinen Fluch über unser Kafarnaum. Auch die Nachbarschaft, Chorazin und Bethsaida, sollen davon getroffen sein. Rabbi, ich habe es nicht selbst gehört. Die Leute sind aber so aufgeregt und voll Angst, dass es auch mich gepackt hat. Meine Frau heißt Hanna. Wir haben fünf Kinder. Wenn uns die Gehenna holt, sollen sie mitgezogen werden und die vielen anderen Kinder bei uns. Ich sage nichts von den Kranken, die Dich gar nie haben sehen und hören können. – Komm zurück und hole Dein Höllenwort ab. Weißt Du überhaupt, wer hier lebt? Kennst Du die Namen unserer Kinder? Ist es Dir gleichgültig, ob Dich einer kennt oder nicht? – Man sagt hier, Deine Mutter lebe noch und sei einige Male auf dem Markt gesehen worden. Nimm sie mit auf Deine Reise, lass sie hören, was Du sagst! Dann hast Du wohl einen Menschen dabei, der ein Gespür hat für uns, die kleinen, langsamen Leute. Komm also, hole Deinen Fluch zurück!“ –

Auf diesen Brief hin lässt Jesus dem Tischler Tobija mündlich Folgendes mitteilen: „Mein Zorn hat mich weiter gerissen, als ich weiß. Die Stummheit der Gegenden gegenüber meinen Worten, das Getöse eurer Märkte, während ich rede, sollte das einen Israeliten nicht reizen? Kennst du nicht Amos und Jeremia und Jesaja? Ich bin kein Sandalenverkäufer, kein Händler mit Weinschläuchen. Es brennt etwas in mir, es muss heraus unter die Leute. – Aber Gnade meinem Zorn, dass er Hannas Antwort hervorgerufen hat! Ich habe nicht nur mein Wort, ich brauche auch das Echo. Und im Echo, das du mir geschickt hast, spricht der Vater. Du wirst es noch erleben, dass ich nicht ein neues Stecheisen bin. Ich werde eher mich erledigen lassen, als dass ich eins von den Kleinen zerstöre. Mein Zorn wird nur mich verbrennen.“15

Es gibt noch andere Gründe, warum Jesus nicht eine kollektive Verurteilung der genannten Städte im Sinn haben konnte. Es wird ja ausdrücklich von Leuten dieser Orte berichtet, die die Botschaft Jesu angenommen haben. „Nach Joh 1,44 stammen sogar so prominente Jünger wie Petrus, Andreas und Philippus aus Betsaida. Nach Mk 1,29 parr wohnt das Brüderpaar Simon (Petrus) und Andreas in Kapharnaum, was dort wohl auch für die Zebedäussöhne Johannes und Jakobus angenommen ist.“16

EIN WORT ZUGUNSTEN DER „GERECHTEN“?

Würde Jesus heute positiver über die „Gerechten“ sprechen?

Mit der Akzentuierung der Botschaft Jesu als Botschaft vom gütigen und barmherzigen Gott sollte dem Bemühen