Sommernachtsalbtraum

 

 

 

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Band 82

 

Sommernachtsalbtraum

 

von Christian Schwarz und Michael M. Thurner

 

 

© Zaubermond Verlag 2015

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: Die Autoren-Manufaktur

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte. Ihn kann Dorian schließlich töten.

Nach vielen Irrungen nimmt Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi an. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und letztendlich wird ihre Maskerade Wirklichkeit. Dass Lucinda sich einen Teil Asmodis einverleibt hat, um seine Macht zu erlangen, wird ihr zum Verhängnis. Der in ihr schlummernde Asmodi übernimmt die Kontrolle über ihren Körper und ersteht so tatsächlich wieder auf.

Und die Umstände wollen es, dass ausgerechnet Coco Zamis die neue Schiedsrichterin wird. Das Dämonenkiller-Team droht zu zerfallen, Dorian stirbt. Die Dämonen scheinen gesiegt zu haben.

Aber mit vereinten Kräften gelingt es Dorians Freunden, ihn ins Leben zurückzuholen. Das Team formiert sich neu. Dummerweise sind einige von ihnen während Dorians Abwesenheit auf Abwege geraten. So hat der ehemalige KGB-Agent Kiwibin eine mächtige Dämonin namens Mainica aus ihrem steinzeitlichen Gefängnis befreit. In dem Versuch, sie unschädlich zu machen, ist Dorian auf zwei metallene Särge gestoßen, die als ewiges Gefängnis für einen Dämon dienen können. Doch was zuvor in den Särgen gefangen war, ist eventuell gefährlicher, als er dachte.

 

 

 

 

Erstes Buch: Kaltes Eisen

 

 

Kaltes Eisen

 

von Christian Schwarz

nach einem Exposé von Susanne Wilhelm

 

1. Kapitel

 

Im Jahre des Herrn 1394

Es hat sie wohl schon immer gegeben. Aber niemand weiß, warum sie so plötzlich aus ihren Löchern krochen. Innerhalb kurzer Zeit haben sie sich zu einer tödlichen Gefahr entwickelt. Nun wird es Zeit, dass ihnen jemand die Stirn bietet und sie dahin zurückschickt, wo sie hergekommen sind. Dieser Jemand werde ich sein. Und Hakon, der mir glaubhaft versicherte, dass er die Waffen dafür hat. Mit Gottes Hilfe werden wir es schaffen.

 

Endlich finde ich die Zeit, meine Geschichte niederzuschreiben. Ich muss es tun, denn das, was ich erlebt habe, ist einfach zu verstörend. Vielleicht verarbeite ich es besser, indem ich es diesen Blättern anvertraue.

Heute wanderte ich den ganzen Tag entlang der norwegischen Südküste. Ich benutzte die öffentlichen Pfade, wich aber aus, wenn andere Menschen des Weges kamen. Ich fürchte mich nicht vor ihnen, denn ich bin stark und mutig und ganz sicher ein Meister des Schwerts, das Tag und Nacht an meiner Seite hängt. Aber ich muss vorsichtig sein, denn auf meinen Kopf ist eine hohe Belohnung von sechzig neuen Silbermark ausgesetzt, die König Håkon VI. Magnusson vor über drei Jahrzehnten zum ersten Mal prägen ließ. Håkon war gewiss ein aufrechter Kerl, ein Mann echten norwegischen Geblüts. Aber seit seinem Tod im Jahre des Herrn 1380 regiert seine dänische Gattin, die ungekrönte Margarethe. Ihr Traum ist es, alle nordeuropäischen Staaten unter ihrer Herrschaft zu vereinigen, um damit ein Gegengewicht zur mächtigen norddeutschen Hanse zu schaffen. Damit zog sie sich den Zorn vieler norwegischer Fürsten zu, die dieses nicht gutheißen. Norwegen soll unabhängig bleiben.

Einer dieser Fürsten, Olav von Hårfagres, hatte beschlossen, die Königin aktiv zu bekämpfen, und nach Art der früheren Seekönige ein Drachenschiff ausgerüstet. Zu dessen Mannschaft hatte auch ich gehört. Mehr noch, ich war der engste Vertraute Hårfagres' gewesen und hatte von diesem Lesen und Schreiben gelernt. Bei mehr als zwei Dutzend Raubzügen entlang der norwegischen und dänischen Küste, die wir teilweise zusammen mit den Schiffen von Gödecke Michels' Vitalienbrüdern führten, konnten wir zwei Jahre lang Angst und Schrecken verbreiten und zahlreiche Schiffe der verhassten Königin plündern und versenken. Vor guten zwanzig Tagen jedoch war unsere stolze Windsbraut vor der schwedischen Küste bei Helsingborg in einen Hinterhalt gesegelt und von vier königlichen Schiffen aufgerieben worden. Einige wenige schafften es, an die Küste zu schwimmen und zu entkommen, darunter ich, während Hårfagres ohne öffentliche Gerichtsversammlung, einem Thing, am Mast aufgeknüpft worden war.

Auf meinem Weg nach Norden in meine norwegische Heimat erfuhr ich vor drei Tagen, dass die dänische Hexe hohe Belohnungen auf alle Überlebenden, die einst Olav von Hårfagres folgten, ausgesetzt hatte. Wie auch schon Hårfagres sollte keiner von uns die Möglichkeit erhalten, sich vor einem Thing zu rechtfertigen und schon gar nicht schwören dürfen, dass er zum Mitmachen gezwungen worden war und somit nicht für sein Tun verantwortlich zu machen sei.

Diese Möglichkeit zog ich ohnehin nicht in Betracht. Wenn mich die Königlichen tatsächlich aufspürten, würde ich nach Art der alten Seekönige, die im Volk heute nur noch verächtlich Wikinger genannt wurden, lieber tapfer sterben. Aber herausfordern wollte ich meinen Tod nicht. Als Lebender konnte ich sicher noch einiges tun, um Norwegens Eigenständigkeit und damit seine Freiheit zu erhalten.

Spätestens morgen um die Mittagszeit werde ich meine Heimatstadt Bergen erreichen, dachte ich und spürte jetzt, da die Sonne sank, die Müdigkeit in mir. Vor mir erstreckte sich ein ausgedehnter Laubwald, in dem ich übernachten würde, um morgen in aller Frühe meinen Weg fortzusetzen. Ich drang also in den dichten Wald vor und ging noch ein gutes Stück, bis ich einen geeigneten Baum fand. Geschickt bestieg ich die uralte Eiche und fand in gut sechs Meter Höhe einen bequemen Platz auf einem mächtigen Ast; er bildete dort, wo er aus dem Stamm herauswuchs, eine ausreichende Kuhle.

Diese Maßnahme war notwendig, um im Schlaf keine leichte Beute von Bären und Wölfe zu werden, die es hier allenthalben gab. Um nicht herunterzufallen, band ich mich mit einem Tau der Windsbraut, das ich mit mir führte, am Stamm fest. Dann schaute ich eine Weile durch die dicht belaubten Kronen, die trotzdem hier und dort etwas Ausblick boten, auf den samtblauen wolkenlosen Nachthimmel, an dem Tausende Sterne funkelten. Nur kurz dachte ich daran, dass ich in Bergen wohl schon neu in Brot und Arbeit kommen würde; ich hatte gute Freunde im Tyske Bryggen, dem Hansekontor. Dort nimmt vor allem der Handel mit Trockenfisch gerade großen Aufschwung und ich konnte sicher als Matrose auf einem der Handelsschiffe unterkommen. Schiffe der Hanse wurden von der dänischen Hexe nicht angetastet. Noch nicht zumindest, denn die politische Einheit der Nordländer stand kurz bevor, so pfiffen es die Spatzen von den Dächern. Was dann passierte, würde man sehen.

Dann waren sie wieder da, die Bilder der Seeschlacht, die schrecklichen Todesschreie, der rollende Kanonendonner, das Krachen und Bersten von Holz nach den Einschlägen, der Pulverdampf, die abgerissenen Glieder, die Ströme von Blut, die Toten, die absaufende Windsbraut

Ich atmete schwer, schlief aber kurz darauf doch ein. Lautes Plappern und Kichern weckte mich. Da ich ohnehin nur den oberflächlichen Schlaf des Gejagten schlief, war ich sofort wach und lauschte mit pochendem Herzen in den nächtlichen Wald hinein.

Das Plappern und Kichern kam näher. Menschliche Stimmen. Allerdings konnte ich nicht verstehen, was sie sagten. Ich konnte auch die Richtung, aus der sie kamen, nicht feststellen. So beschloss ich, ruhig sitzen zu bleiben und erst mal abzuwarten. Meine rechte Hand schloss sich um den Schwertknauf.

Jetzt waren die Stimmen ganz in der Nähe. Ich glaubte, huschende Schatten zwischen den Bäumen zu sehen. Schneller, als ein Mensch sich bewegen konnte. Und nur entfernt von menschlicher Statur. Aber da konnte ich mich täuschen. Trotzdem spürte ich es eiskalt über meinen Rücken laufen.

Die Geräusche entfernten sich. Ich sah die Schatten noch einmal. Dann zuckte ich erschrocken zusammen. Nicht weit entfernt flammte plötzlich ein Feuer auf! Ich konnte die hoch lodernden Flammen zwischen den Bäumen sehen.

Zauberei, schoss es mir durch den Sinn und ich verspürte Furcht. So schnell konnte kein natürliches Feuer entstehen. Im flackernden Schein sah ich nun auch diejenigen, die die Geräusche von sich gaben.

Ich musste mir eingestehen, mich getäuscht zu haben. Das da waren Menschen. Drei große, gut gebaute Männer mit langem Haar und prächtigen Bärten sowie zwei junge, wunderschön aussehende Frauen. Sie trugen Kleidung aus Rentierfell, die Röcke der Frauen reichten bis fast auf den Boden. Einer der Männer trug eine Art Flöte an einem Band um den Hals. Das Feuer brannte auf einer kleinen Lichtung, wie ich zu erkennen glaubte.

Der Mann, der um einiges größer als ich selbst zu sein schien, nahm die Flöte zur Hand und begann darauf zu blasen. Eigentümliche Töne erfüllten den Wald, während die anderen anfingen, lachend und plappernd um das Feuer zu tanzen. Gleichzeitig duftete es verlockend nach gebratenem Rentier. Die Furcht in mir verstärkte sich, denn da war kein Fleisch über dem Feuer.

Bildete ich mir den Duft etwa nur ein, weil ich Hunger hatte?

Die Frauen und Männer tanzten einzeln und dann wieder zusammen. Dabei jauchzten sie fröhlich, klatschten die Hände gegeneinander und wollten gar nicht mehr aufhören. An und für sich ein harmloser, eher freundlicher Anblick, auch wenn so ein Fest zur nächtlichen Stunde eher ungewöhnlich war. Allerdings gab es etwas, das mich stark irritierte. Eine Zeit lang vermochte ich nicht zu sagen, was es war. Dann begriff ich es schlagartig.

Die Schatten der Tanzenden!

Sie bewegten sich nicht im Gleichklang mit ihnen. Auch wenn sie an den Menschen klebten, bewegten sie sich wie eigenständige Wesen, als böten sie ihren ganz eigenen Tanz dar. Nun, da ich dies erkannte und die Schatten genau beobachtete, gab es keinen Zweifel mehr. Zudem glaubte ich plötzlich, rot glühende Augen in den Schatten zu erkennen. Bösartig und verdorben. Und da, waren das nicht Mäuler, die sie hin und wieder aufrissen und schreckliche Reißzähne präsentierten?

Ich zitterte plötzlich am ganzen Leib und war nicht in der Lage, das Zittern zu stoppen. Zudem merkte ich, wie sich meine Beine im Takt der Musik bewegten. Ich wollte aufhören, konnte es aber nicht. Etwas zwang mich zum Tanzen.

Die Musik!

Mich rettete allein die Tatsache, dass ich mich an den Stamm gebunden hatte. Sonst wäre ich nun hinuntergestiegen, um mit den Fremden zu tanzen. Ich flehte zu Gott, dass die fremde Kraft mich nicht zwang, das Seil zu lösen. Sie tat es nicht.

Ein weiterer Mensch erschien zwischen den Bäumen. Ein noch junger Mann, ein Wanderer wie ich. Die Unheimlichen hörten auf mit dem Tanzen, als er auf die Lichtung trat. Erwartungsvoll sahen sie ihm entgegen.

»Entschuldigt die Störung, werte Frauen und Männer«, sagte der Mann. »Mein Name ist Harald Egdur. Ich bin auf Wanderschaft. Auf dem Weg dort vorne hörte ich plötzlich diese liebliche Musik, die mich wie magisch anzog, und roch den verlockenden Duft gebratenen Rens. Da beschloss ich nachzuschauen und euch zu fragen, ob ich vielleicht ein wenig an eurer Gesellschaft teilhaben kann. Ich habe Hunger und Durst und kann euch bezahlen, wenn ihr das wünscht. Ich führe einige Silbermark, Øre und Halbpfennige bei mir, mit denen ich eure Gastfreundschaft sicher ausgiebig entlohnen könnte.«

Flieh schnell, du Dummkopf!, dachte ich, dessen Drang zu tanzen mit dem Verklingen der Flötentöne schlagartig verschwunden war, panisch. Flieh! Siehst du denn nicht, dass da nichts auf dem Feuer brutzelt?

Harald Egdur floh nicht. Stattdessen tänzelte eine der Frauen näher, blieb vor ihm stehen und lächelte ihn an. Sie hatte dralle wogende Brüste und blondes Haar, das so dicht wie ein Vorhang bis zu ihren Kniekehlen fiel. Ihr Gesicht war so fein geschnitten wie das von adeligen Frauen, ihre Fingernägel mit roter Farbe bemalt. Sie legte dem späten Gast die Hand auf die Wange. »Willkommen in unserer Runde, Harald Egdur. Wir freuen uns, wenn du an unserem Fest teilnimmst. Aber Silbermark und Halbpfennige wollen wir nicht. Es reicht uns völlig, wenn du mit uns tanzt. Danach wollen wir gemeinsam essen. Bist du einverstanden?«

»Natürlich, gerne«, erwiderte Harald Egdur erfreut, während sich die Frau kurz an ihn drückte, seine Hand nahm und ihn hin zum Feuer zog.

Die Flöte klang erneut auf und spuckte ihre verfluchten magischen Laute in den Wald. Meine Beine begannen sich umgehend wieder zu bewegen. Auch die Fremden tanzten und mit ihnen Harald Egdur. Am Anfang jauchzte er, als ihn die beiden Frauen mit ihren Brüsten immer wieder berührten und ihre Haare spielerisch in sein Gesicht fliegen ließen.

Immer schriller, atonaler und ekstatischer wurde das Flötenspiel des Mannes. Er bewegte nun seinen Oberkörper in diesen seltsamen abgehackten ständig wechselnden Rhythmen hin und her, warf den Kopf nach hinten und nach vorne.

»Nun ist es genug für mich!«, rief eine Frau und stieg aus. Die andere folgte, dann die Männer. Nur Harald Egdur tanzte weiter. Ich sah ihn immer wieder zwischen den Bäumen auftauchen.

»Ich … habe auch genug«, keuchte Egdur. »Aber … ich kann nicht aufhören wie … ihr, ich tanze weiter. Was … ist mit mir?«

Die Frauen und Männer kicherten schrill. Es klang böse. Ich glaubte, die seltsamen Schatten nach dem Tanzenden schnappen zu sehen.

»Du bist noch nicht fertig mit Tanzen, Harald Egdur!«, schrie eine der Frauen. »Noch lange nicht. Tanze zu unser aller Vergnügen, damit wir dann in beschwingter Laune essen können. Tanz weiter, immer weiter.«

Mit weit aufgerissenen Augen sah ich zu, wie Egdur in diesem wahnsinnigen Rhythmus noch viele Minuten weitertanzen musste. Er stöhnte und keuchte, was die Unheimlichen zu immer schrilleren Freudenschreien animierte. Schließlich fielen sie übereinander her, rissen sich die Kleider vom Leib und begannen vor Egdurs Augen, es miteinander zu treiben. Die Laute, die sie dabei von sich gaben, erinnerten an die von Tieren.

Mich schauderte es. Ich dankte Gott, dass nicht ich anstelle des bedauernswerten Tänzers dort unten sein musste.

Während sie sich begatteten, beobachteten die Unheimlichen den Tanzenden weiter. Auch jetzt wieder führten ihre Schatten ein Eigenleben und schienen sich tunlichst vom Treiben ihrer Träger zu distanzieren, soweit ich das sehen konnte. Ganz genau sah ich hingegen, wie sich der gurgelnde Egdur ans Herz fasste und auf die Knie fiel. Dabei verdrehte er die Augen.

Sofort waren die Nackten bei ihm, rissen ihn hoch und stellten ihn erneut auf die Beine. Dann fetzten sie ihm ebenfalls die Kleider vom Leib. Nackt musste Egdur weitertanzen und die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, während seine Peiniger begeistert im Rhythmus klatschten. Zum Schluss taumelte er nur noch. Mit einem letzten grässlichen Stöhnen brach der junge Mann zusammen und blieb reglos liegen.

Die Flöte verstummte, auch meine Beine wurden wieder ruhig. Ich spürte, wie sie zitterten und zu verkrampfen drohten, während die Fremden neben dem Reglosen auf die Knie gingen und lauthals lachten. Die Männer wälzten ihn auf den Rücken. Die Blonde setzte sich auf sein Gesicht und urinierte darüber, während die anderen plötzlich Messer in den Händen hielten. Ich sah nicht, wo diese hergekommen waren.

»So, jetzt ist das Fleisch schön mürbe und gut gewürzt«, sagte der Flötist und alle lachten laut. Nun offenbarten sie mir plötzlich auch ihre wahre Gestalt. Ich hatte mich vorhin also nicht getäuscht. Die wunderschönen menschlichen Körper waren nichts als dämonische Gaukelei gewesen. Ich schauderte und musste meine ganze Willenskraft aufbieten, um das Zusammenklappern meiner Zähne zu verhindern.

Die Männer schnitten große Stücke Fleisch aus Egdurs totem Körper, wobei sie mit seinem Geschlecht begannen, und hielten sie ins Feuer. Dann fraßen sie sie schmatzend, während die Frauen die Gedärme aus der Leiche zogen und sie über verschiedene Äste hängten, um daran zu schaukeln, bis sie rissen. Währenddessen schienen sich auch die Schatten an der Leiche zu bedienen und vor allem das Blut aufzusaugen.

Der schreckliche Geruch dieses grausamen Schlachtfestes drang bis zu mir. Ich wusste, was mir blühte, wenn sie mich entdeckten. Das also hatten die Schrecklichen mit dem gemeinsamen Essen gemeint. Ich wollte nicht ebenfalls gefressen werden. Bis vor Kurzem hatte ich gedacht, dass es kein schlimmeres Schicksal geben könnte, als in den Kerkern der dänischen Hexe zu landen und gefoltert zu werden.

Es gab ein schlimmeres Schicksal.

Aber ich kam davon. Nachdem die Dämonischen den Toten förmlich in Stücke gerissen und seinen Kopf auf einen Ast gespießt hatten, erlosch das magische Feuer. Dann zogen sie weiter. Erst mit dem Aufgang der Sonne wagte ich mich von meinem Baum herunter. Ich übergab mich und torkelte wie im Rausch weiter.

 

In Bergen traf ich einen Mann namens Hakon. Zufällig kamen wir in der Wirtschaft Zum Seeungeheuer, das zum Hansekontor Tyske Bryggen gehört, am selben Tisch zu sitzen und tauschten uns aus. Als die Rede anderer Gäste auf die Unheimlichen kam und Hakon sich ebenfalls daran beteiligte, wurde ich plötzlich weiß wie Segeltuch im Gesicht. Nachdem Hakon von seiner Begegnung mit ihnen erzählt hatte, gestand auch ich schließlich, was ich mit ihnen erlebt hatte. Ich schwöre, dass ich meine Geschichte so wortgetreu niedergeschrieben habe, wie sie mir im Gedächtnis geblieben ist. Nachdem Hakon kundgetan hatte, dass er die Unheimlichen fortan jagen und töten werde, weil er die Waffen dazu besitze, schloss ich mich ihm an und schwor ihm die Gefolgschaft, denn ich hatte gleich großes Vertrauen zu ihm.

»Ich weiß nun, dass nicht die dänische Hexe die wahre Geißel Norwegens ist«, murmelte ich und zitterte dabei. »Diese sind es. Wir müssen sie mit Stumpf und Stil ausrotten. Sei dir meiner Treue allzeit sicher, Hakon. So wahr ich Fargrim Snorrison heiße.«

 

 

2. Kapitel

 

Gegenwart

»Scheiß Hexe«, fluchte ich erbittert und schlug mit der Faust auf das Lenkrad.

Julian, den ich auf der Rückbank gefangen hielt, zuckte erschrocken zusammen. Ich sah es im Rückspiegel und musste unwillkürlich grinsen.

Der französische Vampir fixierte mich aus rot unterlaufenen Augen. Dabei schob er ganz kurz seine Bluthauer über die Unterlippe. Auch er wurde zunehmend nervöser, hauptsächlich aber deswegen, weil er seit zwei Tagen kein Blut mehr bekommen hatte. Julian ärgerte sich sichtlich über die Schwäche, die er gerade gezeigt hatte, was wiederum mir eine diebische Freude bereitete. Wenigstens ein kleines Highlight auf dieser eintönigen Fahrt.

»Ob Mainica wohl noch existiert?«, fragte Julian schließlich.

Sofort stieg Ärger in mir hoch. Am liebsten hätte ich ihn am Kragen gepackt. »Was soll die blöde Frage, hm? Willst du mich verarschen? Du weißt doch, dass das sibirische Miststück noch lebt. Schließlich warst du dabei, als sie abgehauen ist. Ich … ah, Moment, jetzt verstehe ich.«

Julian beugte sich ein wenig nach vorne. »Was verstehst du?«

»Als Mainica mit dem Wesen aus dem Metallsarg gekämpft hat, sah es so aus, als würde die Hexe siegen und die Kräfte dieses Wesens in sich aufnehmen. Aber war das wirklich so? Oder war's vielleicht genau umgekehrt? Hat dieses geheimnisvolle Wesen gesiegt und Mainica übernommen?« Ich nickte zweimal und kniff die Augen leicht zusammen. Dabei trommelte ich mit den Fingern auf dem Lenkrad. »Darauf hat deine Frage abgezielt, stimmt's? Du weißt genau, was das für ein Wesen im Metallsarg war. Du weißt, was es für Kräfte hat. Wahrscheinlich noch weitaus größere als Mainica, wenn du deren Weiterexistenz infrage stellst.«

»Du irrst dich.«

»Ja? In welcher Beziehung? Sag, was du weißt. Es wäre sicher besser für uns alle, wenn du endlich mit der Sprache herausrückst. Ich verstehe nicht, warum du so verbohrt bist.«

»Bin ich doch gar nicht.«

»Ach, leck mich«, erwiderte ich angefressen.

»Beißen wäre mir deutlich lieber.«

»Du würdest dir den Magen verderben, glaub mir, Freundchen. Ich bin absolut ungenießbar. Vor allem im Moment.«

Julian schwieg. Seine Blicke streiften kurz die drei Dämonenbanner im Fond, die ihm ein Entkommen unmöglich machten. Dann schaute er nach draußen. Viel mehr als eine wirbelnde weiße Wand sah er nicht. Die Schneeflocken fielen seit Stunden so dicht, dass die orangenen Lichter der Räumfahrzeuge nur noch als verwaschen zuckende Schemen durchdrangen. Selbst die Rücklichter meines Vordermanns konnte ich nur undeutlich erkennen.

Stop and Go, Stop and Go, seit Stunden ging das nun schon so. Gefühlt hatten wir seit dem frühen Morgen zwei oder drei Kilometer gemacht. Natürlich waren es deutlich mehr, fast sechzig auf der mittlerweile chronisch verstopften A4 und zweimal auf Ausweichstrecken; vorbei an ineinander gekrachten Autos, an quer stehenden oder von der Straße gerutschten Lastwagen, an zuckenden Blaulichtern, Kranken- und Abschleppwagen, an Schneepflügen, die die herunterkommenden Schneemassen kaum noch bewältigen konnten. Dreimal waren wir nur um Haaresbreite einem Unfall entgangen.

Die nicht abreißende Blechlawine, die sich innerhalb der grauweißen Welt nach Frankfurt hineinschob, sorgte immerhin dafür, dass die Fahrspur erhalten blieb. Gerade so. Mir wurde angst und bange, als ich die Schneemassen neben der Fahrspur taxierte. Sie türmten sich bereits über zwei Meter hoch auf. Eigentlich hätte ich froh sein sollen, dass es mal wieder mehr als zwanzig Meter am Stück vorwärts ging. Aber meine Laune war zwischenzeitlich derart im Keller, dass mich nichts mehr gnädig stimmen konnte. Außer, wir erreichten endlich unser Ziel. Oder Julian machte endlich das Maul auf.

Ich knirschte mit den Zähnen. Wenn ich mir wenigstens eine Players hätte anzünden können, das hätte zumindest ein bisschen geholfen. Dummerweise waren sie mir ausgegangen und auf der letzten Autobahnraststätte hatten sie keine mehr gehabt. Der Lieferwagen war im Schnee stecken geblieben. Manchmal kam eben alles zusammen.

Der Verkehr stoppte wieder mal. Fluchend bremste ich.

Ich empfand es als kleines Wunder, dass wir überhaupt bis hierher gekommen waren. Und dass die Heizung in dieser Mistkarre immer noch funktionierte. Aber so langsam war ich mit den Nerven am Ende. Ich schwitzte und stank, aber Julians Geruch war noch wesentlich übler. Manchmal ertrug ich ihn kaum. Dabei erforderte das Fahren auf den fast durchgängig schnee- und eisglatten Straßen auch so schon höchste Konzentration. Keine Sekunde durfte man nachlassen. Und das seit drei Tagen. Aber es war nicht anders machbar. Der europäische Luftraum war im Moment fast vollkommen gesperrt, nur noch wenige Flüge gingen. Bei den Zugstrecken sah es nicht viel anders aus. Alles in allem ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagte. Und schon gar nicht durch halb Europa reiste. Es sei denn, man musste dringend die Magische Bruderschaft in Frankfurt aufsuchen, um den Geist eines toten Alchimisten zu beschwören. So wie ich …

Es war bereits dunkel, als ich mein Ziel doch noch erreichte. Der Tempel der Magischen Bruderschaft, eine schöne alte Villa, lag direkt am Frankfurter Stadtwald. Mit Erstaunen registrierte ich den schmiedeeisernen Zaun, der das kleine Grundstück jetzt umgab. Er war sicher eine direkte Reaktion auf den verheerenden Angriff des Hexers Edwin Jong, der mit seinen Monstern den halben Tempel in Schutt und Asche gelegt hatte.

Wie die ganze Umgebung verschwand die Villa fast unter den Schneemassen. Zwei Männer waren im trüben Schein einer doppelten Lampenreihe damit beschäftigt, mit motorisierten Schneefräsen die Zufahrt freizuräumen, während es immer noch munter weiterschneite. Als ich auf das offene Eingangstor zufuhr, traten zwei Männer und eine Frau auf die Straße. Sie trugen Mützen und Mäntel. Eine Handfläche reckte sich mir entgegen. Ich stoppte und stieg aus.

Es war empfindlich kalt. Ich zog den Mantelkragen vor dem Kinn fest. Die drei kamen näher.

»Dorian Hunter?«, fragte mich die Frau, eine farblos aussehende Mittvierzigerin, die ich ebenso wenig wie die beiden Männer kannte. Eine mächtige Atemfahne bildete sich vor ihrem Mund.

Ich nickte. Die Frau stellte sich als Mary und ihre Begleiter als Gregor und Ivan vor. »Der Großmeister hat uns abgeordnet«, sagte Mary in gutem Deutsch mit deutlich britischem Akzent. »Wir werden uns um den Vampir kümmern.«

Ich lächelte. »Du bist neu in der Magischen Bruderschaft?«

Mary lächelte zurück. Kurz und knapp. »Nein, Dorian. Ich bin schon ein paar Jährchen dabei, bisher allerdings im Londoner Tempel. Nach dem bedauerlichen Aderlass unserer Bruderschaft hier in Frankfurt hat der Großmeister einige Umbesetzungen vorgenommen. Falls deine Frage darauf abzielen sollte: Wir drei sind alle Meister des dritten Grades und somit durchaus in der Lage, einen Vampir gebührend zu behandeln.«

»Natürlich. Sonst hätte Thomas euch ja wohl kaum für diese Aufgabe eingeteilt. Gut. Holt euch den Blutsauger. Er sitzt im Fond. Wo werdet ihr ihn unterbringen?«

»In einem Privathaus ganz in der Nähe.«

»Behandelt ihn gut, wir brauchen ihn noch. Aber zu gut auch wieder nicht.«

Mary lächelte. »Klar. Wir haben ihm sogar einige Blutkonserven besorgt. Einer unserer Brüder ist Chefarzt im Universitätsklinikum. Kein Problem also …«

Die Schwester und die beiden Brüder zückten silberne Kreuze und einige Dämonenbanner. Julian folgte ihrer Aufforderung und stieg aus. Dabei fauchte er das Trio an, musste sich aber der Macht der weißen Magie beugen. Dumpf heulte ein Motor auf. Gleich darauf fuhr ein großes Auto vor. Gregor stieß den Vampir unsanft auf den Rücksitz. »Das werdet ihr mir büßen!«, brüllte Julian.

»Du mich auch«, gab Gregor ungerührt zurück.

Dann entfernte sich die Limousine.

Einer vom Räumkommando winkte mich durch das offen stehende Eingangstor. Ich fuhr auf das Grundstück. Das Tor schloss sich elektronisch hinter mir. Gleich darauf stand mein Mietwagen in der Garage neben Thomas Beckers grünem Jaguar. Der Großmeister erwartete mich in der Eingangshalle, deren Renovierung noch nicht vollständig abgeschlossen war. Raschen Schrittes ging ich auf Thomas zu, umarmte ihn und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich dachte schon, ich schaff's nicht mehr hierher«, sagte ich. »Da draußen scheint gerade eine neue Eiszeit anzubrechen. Aber jetzt ist alles gut. Wie geht's dir?«

Thomas schob mich von sich und lächelte mich an. »Das erzähle ich dir alles, Dorian. Aber zuerst mal solltest du eine heiße Dusche nehmen. Die hast du mehr als nötig. Gut riechen geht anders.«

Ich grinste breit. »Jawohl, Herr Professor. Aber bevor ich ins Wasser gehe, muss ich erst mal eine Players bei dir schnorren. Ich geh sonst ein.«

»Kein Problem. Du weißt, dass wir hier immer einen kleinen Vorrat für dich aufbewahren.«

»Na Gott sei Dank. Meine größte Horrorvorstellung auf der Fahrt war, dass du vergessen hast, den Vorrat nach dem Angriff Jongs wieder aufzufüllen.«

Das Licht begann zu flackern. Becker schaute besorgt zur Decke. »Ich hoffe nur, dass diese Schneemassen nicht auch hier zu Stromausfällen führen. Im Frankfurter Süden liegen bereits zwei komplette Stadtviertel lahm.«

Ich nickte. »Ja, wir müssen der Hexe jetzt mal so richtig ans Schienbein pinkeln. So, dass sie umfällt und am besten nicht wieder aufsteht. Deswegen bin ich ja hier.« Ich rauchte und ging dann duschen, machte aber keinen Wellness-Urlaub daraus. Mir war nicht danach.

Becker erwartete mich rauchend im Wohnzimmer, das im Biedermeier-Stil eingerichtet war. Der hagere Mittfünfziger mit dem schütteren Haar saß in einem bequemen Ohrensessel und trug Hemd und Pullover zur teuren Freizeithose. Er hatte Bourbon für uns beide eingeschenkt. Ich ließ mich in den Sessel fallen, zündete mir eine weitere Zigarette an, leerte den Bourbon und seufzte behaglich. Die ganze Anspannung der letzten Tage fiel fast komplett von mir ab. Jetzt fühlte ich mich endgültig wieder als ganzer Mensch. »Hast du immer noch deinen Lehrstuhl für Soziologie und Psychologie in Frankfurt?«, fragte ich, weil mir gerade nichts Besseres einfiel.

»Ja. Ein paar Jährchen werde ich das noch machen, bevor ich mich dann als Rentner hauptberuflich in den Kampf gegen die Schwarze Familie stürze. Für irgendwas muss sich der Mensch ja engagieren.«

Ich lachte. »Hoffentlich bekomme ich schon heute Nacht hundert Prozent Einsatz von dir.«

»Darauf kannst du wetten. Aber zuerst sollten wir uns gegenseitig auf den neuesten Stand bringen. Ich weiß nur grob, was in den letzten Wochen und Monaten passiert ist.«

Ich schenkte mir Bourbon nach. »Also gut, dann fange ich mal an. Was willst du wissen?«

»Diese Mainica, handelt es sich bei ihr tatsächlich um eine Steinzeitdämonin?«

Ich überlegte einige Augenblicke und blies dabei Rauchkringel in Richtung Decke. »Ja, die Hexe ist uralt, älter als jeder andere Dämon, den ich kenne. Wir wissen, dass sie einst von einer Steinzeitschamanin gebannt und unter einem Hügelgrab in Sibirien eingesperrt wurde.«

»Man kann sie wohl nicht so ohne Weiteres umbringen, hm?«

»Richtig. Aber unmöglich wird's wohl nicht sein. Alles, was lebt, lässt sich auch töten. Man muss nur wissen, wie. Die Schamanin schaffte es immerhin, den kompletten Körper Mainicas mit Dämonenbannern zu überziehen. Die haben die Hexe so stark geschwächt, dass sie viele Jahrtausende im Grab eingesperrt war und nichts unternehmen konnte.«

Thomas nickte nachdenklich. »Und dann?«

»Die Dämonenbanner verblassten im Laufe der Zeit. Frag mich nicht, wie das passieren konnte. Da drin war es garantiert dunkler als in einem Kuharsch.« Ich grinste schräg und streichelte meinen Schnurrbart. »Aber es ist passiert. Ungefähr Ende achtzehntes Jahrhundert war die Hexe wieder so fit, dass sie Lockrufe aussenden konnte, um Menschen aus der näheren Umgebung zu ihrem Grab zu locken. Es traf eine Expedition, die vom sibirischen Dorf Chatanga aufgebrochen war. Salamanda gehörte auch dazu.«

»Davon habe ich gehört, ja. War das Zufall?«

»Ja, Thomas, war es wohl. Salamanda befand sich seinerzeit auf der Flucht vor Asmodi, weil sie nicht der Schwarzen Familie beitreten wollte.« Ich grinste erneut. »Gutes Kind. In Chatanga wäre sie fast von einem Agenten Asmodis gefasst worden, konnte aber entkommen und schloss sich dieser Expedition an, weil sie glaubte, in der Einsamkeit sicher zu sein. Zudem bemerkte sie im Norden eine mächtige dämonische Präsenz und wurde neugierig.«

»Salamanda hat dann das Grab geöffnet, richtig?«

»Nein. Dämonen hätten das nicht geschafft, die außen angebrachten Banner waren zu stark. Sonst hätte Mainica das Grab ja auch selbst öffnen können.«

»Auch wieder richtig.«

»Eben. Deswegen brauchte sie ja Menschen. Zumindest einen, der das Grab freiwillig öffnet. Anders ging es wohl nicht. Die Expeditionsteilnehmer öffneten also das Grab. Sie kamen dabei alle um, während sich Mainica und Salamanda anfreundeten und zusammen durch die Welt zogen. Weil Mainica aber anscheinend noch nie was von Gleichberechtigung gehört hat und die Vampirin zunehmend unterdrückte und beherrschen wollte, lockte Salamanda sie zu ihrem Grab zurück und sperrte sie erneut ein.«

»Hm. Anscheinend ist ihr das aber nicht so gründlich gelungen wie der Schamanin, wenn Mainica jetzt schon wieder Alarm macht. Wie kommst du nun ins Spiel?«

»Mehr oder weniger Zufall. Wir waren auf der Suche nach Kiwibin und konnten ihn in Nordsibirien lokalisieren. Schließlich haben wir ihn direkt beim Hügelgrab gefunden. Er war es schlussendlich, der die Hexe erneut befreite. Wir konnten nichts dagegen tun. Kiwibin hat irgendeine Beziehung zu ihr, die wir bisher aber noch nicht herausfinden konnten. Immer wieder erreichen ihn Visionen von ihr.«

»Weiter.«

»Seither ist die Eishexe frei und zieht durch die Welt. Wir hatten ein paar Auseinandersetzungen mit ihr, allerdings hat sie uns jedes Mal eins aufs Maul gegeben. Es ist ein Wunder, dass wir noch leben. Nur wegen Reenas Wahnsinn hat sich Mainica zurückgezogen. Allerdings …«

»Ja?«

»Allerdings hatte ich bei der ganzen Sache ständig das Gefühl, dass ich eine Lösung kenne, um Mainica doch wieder schachmatt zu setzen. Schließlich erinnerte ich mich an eines meiner früheren Leben als Hugo Bassarak zu Zeiten der Französischen Revolution. Ich hatte damals eine schwere Auseinandersetzung mit einer Vampir-Clique. Die wollte an zwei Metallsärge heran, die unter der Bastille vergraben waren. Darin hatte man zwei mächtige Wesen eingesperrt. Aber einer der Särge war schon damals leer. Und genau das war der unterschwellige Gedanke, der mich die ganze Zeit plagte: In diesen leeren Sarg muss Mainica rein. Deckel zu, Hexe wieder gebannt.«

»Gute Idee. Eins mit Sternchen.«

»Nun, wir haben nach den Särgen gefahndet und konnten sie tatsächlich in Versailles auftreiben. Die Vampirsippe hatte sie all die Jahre in ihrem Besitz, ohne sie öffnen zu können. Das ist erst jetzt passiert.«

Thomas nickte.

»Mir kam der Gedanke, das Wesen im Sarg auf Mainica zu hetzen. Es gelang uns, die Hexe zu dem Zeitpunkt ins Sargversteck zu locken, als er geöffnet wurde.« Ich zog die Schultern hoch. »Allerdings weiß ich bis jetzt nicht, wer oder was darin gefangen war. Na ja, es kam tatsächlich zum Kampf zwischen Mainica und diesem geheimnisvollen Wesen. So weit, so gut.«

»Ergebnis?«

Ich stand auf und tigerte ein paar Schritte durch den Raum. »Die Lage ist nicht ganz klar, Thomas. Es hat definitiv eine Verschmelzung der beiden stattgefunden. Hat aber nun Mainica das fremde Wesen assimiliert oder ist es umgekehrt? Einerseits haben sich die Dämonenbanner auf Mainicas Haut ganz plötzlich in fremde schwarzmagische Symbole verwandelt, bevor sie abgehauen ist. So was habe ich noch nie gesehen.«

»Andererseits: Schnee und Eis sind eher Mainicas Spezialität«, vollendete Thomas meinen Gedankengang.

»Eben. Nachdem sie aus dem Hügelgrab freigekommen war, konnte Mainica lokal begrenzte Schneestürme entfachen. Jetzt schneit es meines Wissens fast auf der ganzen Welt …«

»So ungefähr, ja.«

»Das heißt dann also wohl, dass sie durch das fremde Wesen ihre Kräfte vervielfacht hat und vielleicht wieder so stark wie zu Urzeiten ist.«

»Wie meinst du das?«

»In einer Vision konnte ich mit der Steinzeitschamanin sprechen. Sie sagte mir, dass Mainica die damalige Eiszeit verursacht hat. Und die war weltumspannend.«

Becker stieß die Luft aus den Backen. »Puh, das ist ja starker Tobak.«

»Ist es. Und die Erstarkung der Hexe hat einen weiteren Nachteil …«

»Sag schon.«

»Bisher konnte man ihren Aufenthaltsort anhand der regional begrenzten Schneestürme ziemlich präzise lokalisieren, da sie dieses Phänomen trotz ihrer Stärke nicht beeinflussen kann. Das geht nun nicht mehr, weil sie's auf der ganzen Welt schneien und frieren lässt. Sie kann überall sein. Wir müssen sie aber unbedingt finden. Deswegen bin ich auf die Idee verfallen, unseren genialen Doktor Faustus zu befragen. Wenn mir einer weiterhelfen kann, dann er.«

Der Großmeister nickte. »Wir werden das Ritual in den frühen Morgenstunden durchführen, da ist die astrologische Konstellation am günstigsten.«

»Von mir aus, wenn du meinst.« Ich setzte mich wieder. »Und was gibt es bei der Magischen Bruderschaft so Neues?«

Becker erzählte mir, dass der Tempel nun noch stärker magisch abgesichert und praktisch zu einer uneinnehmbaren Festung für die Schwarze Familie geworden war. Der Angriff Jongs hatte überdeutlich einige Schwächen aufgezeigt, die nun behoben waren.

»Fast wünschte ich mir, dass Mainica hier auftaucht und uns angreift. Dann könnten wir die neuen Sperren gleich mal unter Echtbedingungen testen. Gegen den stärkst möglichen Gegner, den ich mir im Moment vorstellen kann.« Becker kicherte. »Das wäre doch mal eine Nagelprobe. Auch wenn die letzten Arbeiten noch nicht abgeschlossen sind.«