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Für Anne, Signe, Nelly und Hjalmar



Übersetzung aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel
»Syndafall i Wilmslow« bei Albert Bonniers Förlag


ISBN 978-3-492-97287-1
Januar 2016
© David Lagercrantz, 2009
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Covergestaltung: Cornelia Niere
Covermotiv: Rupert Vandervell
Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen

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Opinion is not worth a rush:
In this altar-piece the knight,
Who grips his long spear so to push
That dragon through the fading light.

W.B. Yeats, Michael Robartes
and the Dancer

1

Wann hatte er sich entschieden?

Er wusste es selbst nicht. Aber als die Zweifel sich legten und nur noch als entfernte Lockrufe zu hören waren, ging die dumpfe Schwere in seinem Körper in eine pochende Unruhe über, die er eigentlich vermisst hatte. Eine Steigerung des Lebensgefühls. Selbst die blauen Eimer in der Hobbywerkstatt bekamen einen neuen, schimmernden Glanz. In jeder Wahrnehmung war eine ganze Welt enthalten, eine ganze Kette von Ereignissen und Gedanken, und allein die Idee, sie zusammenfassen zu wollen, wäre ein eitles Unterfangen, wenn nicht gar verlogen.

Er nahm ein Wirrwarr von inneren und äußeren Bildern wahr, und obwohl seine Atmung schon jetzt so schnell war, dass es ihn schmerzte, vibrierte in seinem Körper ein intensives Gefühl von Gegenwärtigkeit, ein Gefühl, das ans Lustvolle grenzte, gerade so, als hätte der Entschluss zu sterben ihm das Leben zurückgegeben. Vor ihm, auf einem grauen Tisch voller Flecken und kleiner Löcher, die zum Teil Brandspuren, zum Teil etwas anderes waren, befanden sich eine Heizplatte, ein paar Flaschen mit schwarzer Flüssigkeit und dann ein vergoldeter Teelöffel, der eine gewisse Rolle in der Geschichte spielen sollte. Von draußen hörte man den Regen. Er fiel und fiel. Nie hatte sich der Himmel über England an Pfingsten derart weit geöffnet, und vielleicht beeinflusste auch das seinen Entschluss.

Oder vielleicht waren es eher die kleineren Dinge, wie sein Heuschnupfen oder die Tatsache, dass seine Nachbarn, Mr und Mrs Webb, gerade fortgezogen waren nach Styal, die bei ihm das Gefühl ausgelöst hatten, dass das Leben sich entfernte oder sogar anderswo abspielte, an einem Ort, an den er nicht eingeladen war. Es sah ihm nicht ähnlich, sich über so etwas aufzuregen. Anderseits sah es ihm auch nicht unähnlich. Es ist wahr, dass er nicht, wie wir anderen, vom Alltäglichen berührt wurde. Er besaß die großartige Fähigkeit, sich nicht um den Klatsch und Tratsch in seiner Umgebung zu scheren. Aber er wurde auch ohne jeden Anlass von düsteren Stimmungen befallen. Lappalien konnten zu drastischen Beschlüssen oder zu absonderlichen Ideen führen.

Jetzt wollte er die Welt verlassen und sich dabei von einem Kinderfilm über lustige Zwerge inspirieren lassen, was natürlich eine Ironie des Schicksals war. An Ironien und Paradoxen mangelte es nicht in seinem Leben. Er hatte die Dauer eines Krieges verkürzt und tiefer als die meisten Menschen über die Grundlagen der Intelligenz nachgedacht, trotzdem war er für unzurechnungsfähig erklärt und gezwungen worden, eine widerwärtige Medizin einzunehmen. Kürzlich war er von einer Wahrsagerin in Blackpool zu Tode erschrocken worden, und einen ganzen Tag lang war nicht mit ihm zu reden gewesen.

Was tat er jetzt?

Er schloss zwei Leitungen, die von der Decke hingen, an einen Transformator an, der auf dem Tisch stand. Dann stellte er einen Kessel mit schwarzer Schmiere auf die Kochplatte. Anschließend entschied er sich für einen graublauen Pyjama und nahm einen roten Apfel aus einer blauen Fruchtschale neben dem Bücherregal. Äpfel waren seine Lieblingsfrucht, nicht nur wegen des Geschmacks. Äpfel waren auch … egal. Er spaltete den Apfel in zwei Hälften und kehrte in die Hobbywerkstatt zurück, und da, in diesem Moment, kam die Einsicht. Sein ganzes System begriff, und mit blinden Augen blickte er hinaus auf den Garten. Ist das nicht seltsam, dachte er, ohne richtig zu wissen, was er meinte. Dann erinnerte er sich an Ethel.

Ethel war seine Mutter. Ethel wird eines Tages ein Buch über ihn schreiben, ohne eine blasse Ahnung davon zu haben, womit er sich beschäftigt hatte, aber zu ihrer Verteidigung kann man sagen, dass es auch nicht leicht war. Das Leben dieses Mannes bestand aus zu vielen Ziffern und Geheimnissen. Es war anders als andere Leben. Außerdem war er jung, zumindest in den Augen einer Mutter, und obwohl er nie als Schönheit angesehen worden und seine gute Läuferphysis nach einem Gerichtsbeschluss in Knutsford verfallen war, sah er nicht schlecht aus. Seit er als Kind rechts und links nicht hatte unterscheiden können und glaubte, dass Weihnachten in einigen Jahren oft und in anderen selten vorkam, so wie andere schöne Tage, hatte er Gedanken gedacht, die ganz und gar unzeitgemäß waren. Er war ein Mathematiker geworden, der sich etwas so Prosaischem wie der Ingenieurskunst widmete, ein unkonventioneller Denker, der sich vorstellte, dass unsere Intelligenz mechanisch ist und sogar rechnerisch erfassbar als eine lange, gewundene Zahlenreihe.

Aber vor allem, und das zu verstehen fällt Müttern immer schwer, vermochte er an diesem Tag im Juni nicht länger zu leben, und er setzte deshalb seine Vorbereitungen fort, die im Nachhinein seltsam ausgeklügelt erscheinen würden. Nur dass er in seiner Konzentration gestört wurde. Er hörte etwas, Schritte unten an der Haustür, so glaubte er zumindest, das Knirschen von Kies, und ihm kam der absurde Gedanke: Jemand kommt mit guten Nachrichten, vielleicht von weit her, aus Indien oder aus einer anderen Zeit. Er lachte auf oder schluchzte, schwer zu sagen, was von beidem. Dann setzte er sich in Bewegung, und auch wenn nichts mehr zu hören war, nichts anderes als die Regentropfen auf dem Dach, blieb er an dem Gedanken hängen: Dort draußen ist jemand. Ein Freund, wert, dass man ihn anhört, und als er am Schreibtisch vorbeiging, dachte er: Ich will, ich will nicht, wie ein Kind, das Blütenblätter von einer Blume reißt. Er erfasste jede Einzelheit im Flur mit einer solch vibrierenden Exaktheit, dass es ihn an einem besseren Tag fasziniert hätte. Wie ein Schlafwandler trat er ins Schlafzimmer und sah den Observer auf dem Nachttisch und die Armbanduhr mit dem schwarzen Lederarmband, und genau daneben legte er den halben Apfel. Er dachte an den Mond, der hinter dem Schulhaus in Sherborne leuchtete, und er legte sich auf den Rücken aufs Bett. Er sah gefasst aus.

2

Es regnete auch am darauffolgenden Tag, als der junge Kriminalassistent Leonard Corell die Adlington Road entlangging. Auf der Höhe von Brown’s Lane nahm er den Trilby ab, denn trotz des Regens war ihm warm. Er dachte an sein Bett, nicht an das elende Bett in seiner Wohnung, sondern an das, welches bei seiner Tante in Knutsford wartete, und während er dies dachte, sank ihm der Kopf auf die Schulter, als wäre er im Begriff einzuschlafen.

Er mochte seinen Beruf nicht. Er mochte das Gehalt nicht, nicht die langen Fußwege, nicht die Schreibtischarbeit, er mochte das ganze verdammte Wilmslow nicht, in dem nie etwas passierte. Es war so weit gekommen, dass er selbst jetzt nur Leere fühlte. Obwohl die Haushälterin, die ihn angerufen hatte, von weißem Schaum um den Mund des Toten und einem Giftgeruch im Hause gesprochen hatte. In früheren Jahren hätte eine solche Nachricht seine Lebensgeister erweckt. Jetzt trottete er missmutig zwischen den Wasserpfützen und den Büschen der Gärten vor sich hin. Dahinter lagen die Felder und die Eisenbahn. Es war Dienstag, der 8. Juni 1954, und er blickte auf die Namensschilder der Häuser.

Als er die Adresse Hollymeade fand, bog er links ein und stand vor einer großen Weide, die wie ein alter Besen aussah, und ohne dass es nötig gewesen wäre, blieb er stehen und band sich die Schuhe. Ein Gang aus Ziegelplatten erstreckte sich durch den Vorgarten, endete jedoch abrupt auf halbem Wege, und er dachte: Was hier wohl passiert sein mag? Auch wenn er natürlich einsah, dass es, was immer es sein mochte, nichts mit dem Ziegelgang zu tun hatte. Drüben an der linken Haustür stand eine ältere Frau.

»Sind Sie die Haushälterin?«, fragte er, und sie nickte. Sie war eine farblose kleine Alte mit traurigen Augen. Früher hätte Corell sicher freundlich gelächelt und ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. Jetzt sah er grimmig zu Boden und folgte ihr ins Haus, eine steile Treppe hinauf, was kein Spaziergang war, der ihm Spaß machte. Es lag keine Spannung darin, keine polizeiliche Neugier, kaum ein Schauer, der ihm über den Rücken lief, nur die immer gleiche Frage: »Warum mache ich eigentlich weiter?«

Schon im Flur spürte er eine ungewöhnliche Präsenz, eine Dichte in der Luft, und als er das Zimmer betrat, schloss er die Augen und hatte, obwohl es sich in Anbetracht der Umstände vermutlich merkwürdig ausnahm, den einen und anderen unpassenden Gedanken sexueller Natur, was an dieser Stelle der Geschichte nicht weiter wichtig ist, es sei denn insofern, als auch ihm diese Gedanken absurd erschienen. Als er die Augen öffnete, blieben seine Assoziationen noch wie eine surreale Hülle über dem Raum hängen, lösten sich dann jedoch auf, als er das Bett entdeckte, das schmale Junggesellenbett, und darauf den toten Mann, der auf dem Rücken lag.

Der Mann war dunkelhaarig und vermutlich gut dreißig Jahre alt. Aus dem Mundwinkel war Schaum über seine Wange gelaufen und zu einem weißen Puder getrocknet. Die Augen waren halb offen und lagen tief unter einer vorstehenden, gewölbten Stirn. Obwohl das Gesicht kaum Frieden ausstrahlte, ließen die Gesichtszüge eine gewisse Resignation erahnen, und Corell hätte mit Gleichmut reagieren sollen. Der Tod war ihm nicht unbekannt, und dies hier war kein schrecklicher Tod. Trotzdem war ihm übel, und er begriff noch nicht, dass es der Geruch war, der Gestank von Bittermandel, der im Raum lag; er sah aus dem Fenster auf den Garten und versuchte, zu den unpassenden Gedanken zurückzukehren, was ihm jedoch nicht gelang. Stattdessen bemerkte er einen halben Apfel auf dem Nachttisch. Corell dachte, was ihn verwunderte, dass er Obst hasste.

Er hatte nie etwas gegen Äpfel gehabt. Wer hatte schon etwas gegen einen Apfel? Er zog seinen Notizblock aus der Brusttasche. Der Mann liegt in nahezu normaler Körperhaltung, schrieb er und fragte sich, ob die Formulierung gut war, war sie wohl nicht, anderseits war sie auch nicht übermäßig schlecht. Vom Gesicht abgesehen, könnte der Mann ebenso gut schlafen. Nachdem er noch ein paar hastige Zeilen hingeworfen hatte – mit denen er ebenfalls unzufrieden war –, untersuchte er den Körper. Der Tote war mager, ziemlich gut trainiert, aber mit einer ungewöhnlich weichen, beinahe weiblichen Brust, und auch wenn Corell nicht übertrieben gewissenhaft vorging, fand er keine Zeichen von Gewalteinwirkung, keine Kratzspuren oder blauen Stellen. Nur ein wenig schwarze Farbe an den Fingerspitzen und natürlich den Schaum im Mundwinkel. Er roch daran und verstand, warum ihm so schlecht war. Der Gestank von Bittermandel drang in sein Bewusstsein, und er kehrte wieder in den Flur zurück.

Ganz am Ende des Ganges entdeckte er etwas Sonderbares. In einer Ecke mit einer Fensternische zum Garten hingen zwei Kabel von der Decke, und auf einem Tisch blubberte ein Kessel. Er näherte sich der Szene nur langsam – konnte es riskant sein? Unsinn! Der Raum war eine Art Experimentierwerkstatt. Es gab einen Transformator und Klemmen für die Kabel und daneben Flaschen, Einmachgläser und Krüge. Bestimmt nichts, wovor man sich fürchten musste. Doch der Gestank kroch ihm unter die Haut; nur widerwillig beugte er sich über den Topf. An dessen Boden blubberte eine widerliche Masse, und plötzlich erinnerte er sich an einen Nachtzug, der dahinbrauste, weit entfernt in seiner Kindheit, und er stieß sich schwer atmend vom Tisch ab. Er eilte hinaus und öffnete im angrenzenden Zimmer ein Fenster. Es regnete. Verrückt, wie es regnete. Aber Corell fluchte ausnahmsweise nicht darüber. Er freute sich, dass der Gestank und die schlechten Erinnerungen mit dem Wind und dem Wasser verschwanden. Dann war er wieder einigermaßen ruhig geworden und sah sich im Haus um.

Die Wohnung hatte etwas Bohemehaftes. Die Möbel waren fein, aber achtlos hingestellt; offenbar gab es keine Familie, auf jeden Fall keine Kinder. Corell nahm einen Notizblock von der Fensterbank. Er enthielt mathematische Gleichungen, von denen Corell vor langer Zeit vielleicht etwas verstanden hätte. Jetzt begriff er nichts, sicher auch deshalb, weil die Handschrift schwer lesbar und mit Tintenklecksen durchsetzt war, und er reagierte gereizt, vielleicht war er neidisch. Mürrisch durchsuchte er eine Vitrine rechts vom Fenster und fand Weingläser, Silberbesteck, einen kleinen Porzellanvogel und eine Flasche mit schwarzem Inhalt. Sie erinnerte an die Behälter in der Experimentierwerkstatt, aber im Unterschied zu diesen war sie mit einem aufgeklebten Zettel versehen, auf dem das Wort »Kaliumzyanid« stand.

»Das hätte ich mir denken sollen«, murmelte er, eilte ins Schlafzimmer und roch an dem Apfel. Er stank wie die Flasche und der Kessel.

»Hallo«, rief er. »Hallo!«

Er erhielt keine Antwort. Er rief noch einmal, dann waren Schritte zu hören, ein paar dicke Waden überquerten die Türschwelle. Er starrte auffordernd in das graue Gesicht mit den verschwindend schmalen Lippen.

»Was sagten Sie, wie der Herr hieß?«

»Doktor Alan Turing.«

Auf seinem Block notierte Corell, dass der Apfel nach Bittermandel roch und dass der Name ihm bekannt vorkam oder zumindest, wie so vieles andere in der Wohnung, dunkle Erinnerungen in ihm weckte.

»Hat er etwas hinterlassen?«

»Was meinen Sie?«

»Einen Brief oder etwas anderes, das eine Erklärung für seinen Tod liefern könnte.«

»Meinen Sie, er hätte …«

»Ich meine gar nichts. Ich habe nur eine Frage gestellt«, sagte er viel zu streng, und als die arme Frau erschrocken den Kopf schüttelte, versuchte er, freundlicher zu klingen.

»Kannten Sie den Toten gut?«

»Ja, oder nein. Er war immer sehr freundlich zu mir.«

»War er krank?«

»Jetzt im Frühling litt er unter Heuschnupfen.«

»Wussten Sie, dass er mit Giften hantierte?«

»Nein, nein, um Gottes willen. Aber er war Wissenschaftler. Beschäftigen die sich nicht …«

»Das kommt ganz darauf an«, unterbrach er sie.

»Er hat sich für vieles interessiert.«

»Alan Turing«, fuhr er fort, als dächte er laut. »War er für etwas Besonderes bekannt?«

»Er hat an der Universität gearbeitet.«

»Was hat er da gemacht?«

»Er hat Mathematik studiert.«

»Was für eine Art von Mathematik?«

»So etwas dürfen Sie mich nicht fragen.«

»Nein, natürlich«, murmelte er.

Alan Turing. Etwas war mit dem Namen, er wusste nur nicht, was, außer dass er in seinem Kopf keinen guten Klang hatte. Vermutlich hatte der Kerl etwas Dummes angestellt. Die Chancen dafür standen ja nicht schlecht, falls Corell bei seiner Arbeit schon einmal auf den Namen gestoßen war. Immer nervöser ging er im Haus umher. Zerstreut und verärgert zugleich sammelte er Beweismaterial ein – oder vielleicht war »Beweismaterial« auch zu viel gesagt, zumindest aber waren es Materialien, die Giftflasche aus der Vitrine und Glasbehälter aus der Experimentierwerkstatt, ein paar Schreibblöcke mit Berechnungen und dann noch drei Bücher mit der handgeschriebenen Überschrift Träume.

Im Erdgeschoss zupfte er an einer nicht gestimmten Geige und las die einleitenden Zeilen von Anna Karenina, eines der wenigen Bücher im Haus, die er kannte, neben einigen von Forster, Orville, Butler und Trollope, und wie so oft flüchteten seine Gedanken in Landschaften, in denen sie nichts verloren hatten.

Es klingelte an der Tür. Alec Block, sein Kollege. Er kannte Alec bemerkenswert schlecht, wenn man bedachte, wie eng sie zusammenarbeiteten, und wenn er ihn hätte beschreiben sollen, wäre er auf nicht viel mehr gekommen, als dass er schüchtern und ängstlich war und von den meisten auf dem Revier schäbig behandelt wurde, und vor allem wäre ihm eingefallen, dass Alec Sommersprossen hatte und rothaarig war, unerhört rothaarig.

»Der Mann scheint in dem Topf dahinten Gift gekocht, einen Apfel in die Soße getunkt und ein paarmal davon abgebissen zu haben«, erklärte Corell.

»Selbstmord?«

»Sieht so aus. Mir ist schlecht von diesem verdammten Gestank. Kannst du nachsehen, ob du einen Abschiedsbrief findest?«

Als der Kollege verschwand, dachte Corell noch einmal an den dahinbrausenden Nachtzug, wovon seine Stimmung nicht besser wurde. Zu der Haushälterin, mit der er im Flur zusammenstieß, sagte er:

»Ich muss noch ausführlich mit Ihnen sprechen. Aber ich möchte, dass Sie draußen auf mich warten. Wir sperren das Haus ab.« In einem Anflug von Freundlichkeit griff er im Hauseingang nach einem Schirm, und als sie protestierte und sagte, das sei doch Doktor Turings Schirm, schnaubte er insgeheim; war das nicht ein bisschen zu viel der Ehrfurcht? Den Schirm würde sie sich wohl ausleihen können. Nachdem sie doch noch eingewilligt hatte und in den Garten hinausgegangen war, machte er eine weitere Runde durchs Haus. Oben bei dem Toten fand er ein Exemplar des Observer vom 7. Juni, was darauf schließen ließ, dass der Mann gestern noch gelebt hatte. Er notierte das und noch einige weitere Beobachtungen. Als er ein neues Heft mit mathematischen Berechnungen durchsah, überkam ihn die eigentümliche Lust, ein paar Ziffern hinzuzufügen, welche die Gleichungen des Mannes hätten vervollständigen sollen. Er war kein übermäßig zielorientierter Polizist, was bei Block natürlich anders aussah.

Er tauchte auf mit einer Miene, als habe er etwas äußerst Interessantes gefunden. Was natürlich nicht der Fall war; einen Abschiedsbrief zumindest hatte er nicht. Immerhin hatte er etwas gefunden, das in eine andere Richtung zu führen schien: zwei Theaterkarten für die kommende Woche sowie eine Einladung zu einer Sitzung der Wissenschaftsakademie am 24. Juni, für die der Mann zugesagt, diese Zusage jedoch nicht abgeschickt hatte, und obwohl Block einsah, dass dies keine großartigen Funde waren, so hoffte er anscheinend, eine Spur aufgetan zu haben. Mit Morden waren sie in Wilmslow wahrlich nicht verwöhnt, aber Corell verwarf den Gedanken sogleich.

»Das hat nichts zu bedeuten.«

»Warum denn nicht?«

»Weil wir alle komplizierte Vögel sind«, sagte Corell.

»Wie meinst du das?«

»Auch jemand, der sterben will, kann für die Zukunft planen. Außerdem kann ihm die Idee im letzten Moment gekommen sein.«

»Er scheint ziemlich gelehrt gewesen zu sein.«

»Das mag wohl sein.«

»Ich habe noch nie so viele Bücher gesehen.«

»Ich schon. Aber da ist noch etwas«, fuhr Corell fort.

»Was denn?«

»Ich komme nicht darauf. Ich weiß nur, dass irgendwas mit ihm nicht stimmt. Hast du die Heizplatte da oben ausgestellt?«

Alec Block nickte. Es sah so aus, als wollte er noch ein paar Worte hinzufügen, wüsste aber nicht, ob er sich trauen sollte.

»Hat er nicht reichlich viel Gift im Haus?«, sagte er schließlich.

»Doch«, antwortete Corell.

Es war genug Gift, um eine ganze Kompanie zu töten. Sie diskutierten eine Weile darüber, kamen aber zu keinem Ergebnis.

»Kommt mir ein bisschen so vor, als hätte er sich als Alchemist versucht. Oder zumindest als Goldschmied«, sagte Block.

»Wie kommst du darauf?«

Block erklärte, dass er in der Experimentierwerkstatt einen vergoldeten Löffel gefunden habe.

»Ein ziemlich schöner Löffel. Aber man sieht trotzdem, dass er ihn selbst gemacht hat. Du kannst ihn dir da oben ansehen.«

»Ach, tatsächlich«, sagte Corell mit gespieltem Interesse.

Er war wieder in Gedanken versunken.

3

Seit den Kriegsjahren hatte Corell die Vorstellung, dass man Irrsinn schon aus der Entfernung erahnen konnte, als eine Verdichtung in der Luft oder sogar als einen Geruch, wenn auch nicht gerade als den Gestank von Bittermandel, aber als er in den Regen hinaustrat, war er tatsächlich überzeugt, dass das, was er dadrinnen gespürt hatte, ein verkappter Wahnsinn sein musste. Das Gefühl, mit etwas Ungesundem in Berührung gekommen zu sein, verließ ihn nicht einmal, als die Sanitäter um zwanzig vor sieben den Leichnam forttrugen. Ein wärmerer Wind wehte inzwischen aus Osten, der Regen fiel nur noch leicht. Er sah zu der Haushälterin hinüber, die mit ihrem geliehenen Schirm im Licht unter der Laterne saß und so sonderbar klein wirkte wie ein sehr altes Kind, und, vorsichtig jetzt, begann er sie zu vernehmen.

Sie hieß Eliza Clayton und wohnte nicht weit entfernt am Mount Pleasant Lacey Green. Vier Tage in der Woche habe sie Doktor Turing geholfen, und es habe nie ein Problem gegeben, sagte sie, nur dass sie nicht immer gewusst habe, wohin mit all den Papieren und Büchern. Heute Nachmittag war sie mit ihrem eigenen Schlüssel hineingegangen. Im Schlafzimmer war Licht gewesen. Weder die Milchflaschen noch die Zeitung waren hereingeholt worden, und in der Küche lagen die Reste einer Portion Lammkoteletts. Doktor Turings Schuhe standen vor der Toilette, was sie seltsam gefunden habe, und im Schlafzimmer habe er genau so gelegen, »wie der Herr Inspektor es gesehen hat«, die Decke bis zur Brust hochgezogen. Sie habe seine Hände angefasst. Sie seien kalt gewesen, und sie habe sicher geschrien. »Es war ein solcher Schock, ein so furchtbarer Schock«, und weil Doktor Turing kein Telefon habe, habe sie von der Nachbarin Mrs Gibson aus angerufen, »und dann sind Sie gekommen, das ist alles, was ich weiß.«

»Das ist nicht so sicher.«

»Nicht?«

»Die Zeit davor ist interessant«, sagte er, und da nickte sie und erzählte, dass Alan Turing am vorherigen Wochenende Besuch von seinem Freund Doktor Gandy erhalten habe und dass sie es »sehr schön« gehabt hätten und »viel Spaß«, und am Dienstag habe er die Nachbarn Mr und Mrs Webb, die dann am Mittwoch oder Donnerstag umgezogen seien, zum Essen eingeladen, auch das sei »sehr gelungen« gewesen.

»Doktor Turing war in guter Laune. Er war fröhlich. Er hat mit mir gescherzt.«

Er widersprach nicht und machte sich nicht die Mühe zu fragen, was für Scherze Turing gemacht habe. Er ließ sie reden und machte sich sporadisch Notizen. Es klang mehr nach einer Verteidigungsrede als nach einer Zeugenaussage, und er verstand das sehr gut. Selbstmord war eine Straftat, und sicher fühlte sie eine gewisse Verantwortung. Sie war die Haushälterin. Eine andere Frau schien es im Haushalt nicht gegeben zu haben. Mehrmals erwähnte sie seine Mutter Ethel.

»Oh mein Gott, was soll ich ihr sagen?«

»Im Moment nichts. Wir nehmen mit den Angehörigen Kontakt auf. Haben Sie selbst jemanden, mit dem Sie reden können?«

»Ich bin Witwe, aber ich komme schon zurecht«, sagte sie, und nach einigen weiteren Fragen verabschiedete er sich. Er wanderte an den dicht belaubten Gartendickichten des Viertels vorbei zum Polizeirevier in der Green Lane, und bald danach hörte es auf zu regnen.

Wie schön es sich anfühlte ohne Niederschlag. Er konnte sich nicht erinnern, je einen solchen Regen erlebt zu haben, tagein und tagaus, ständig trat er in Wasserpfützen. Aus einem Fenster hörte er Doris Day: So I told a friendly star. The way that dreamers often do. Das Lied hatte im Frühjahr ganz oben auf den Hitlisten gestanden, und er summte mit – er hatte den Film Calamity Jane, aus dem das Lied stammte, gesehen. Während er weiterging, verklang die Musik, und er schaute zum Himmel auf; graue Schwaden zogen dahin. In Gedanken ging er noch einmal durch, was er im Haus gesehen hatte, und fragte sich, was abgesehen vom Fehlen eines Abschiedsbriefs darauf hindeutete, dass es sich nicht um Selbstmord handelte. Er fand nicht viel. Allerdings blieb er nicht besonders lange konzentriert. Er verirrte sich auf Nebengleise, und schon bald war von dem ganzen Fall in seinen Gedanken nichts weiter übrig als ein dunkles Gefühl von Unbehagen. Obwohl der Fall ihn ein wenig bei der Arbeit hätte stimulieren sollen, entglitt er ihm, verlor sich in einer diffusen Tristesse, lediglich die mathematischen Berechnungen flackerten in seinem Bewusstsein auf, wie irrlichternde Bilder aus einer besseren Welt.

Leonard Corell war achtundzwanzig Jahre alt, jung genug, um gerade eben dem Krieg entgangen zu sein, schon alt genug, um das Gefühl zu haben, dass das Leben an ihm vorbeilief. Ungewöhnlich früh hatte er die Uniform ablegen können und war zur Kriminalabteilung in Wilmslow versetzt worden, ein ziemlich schneller Aufstieg für einen Polizisten, trotzdem war es nicht das, was er von der Welt erwartet hatte, nicht allein wegen der Gesellschaftsschicht, in die er hineingeboren und aus der er herausgefallen war, sondern wegen seines klugen Kopfes. Auch er war ein Junge gewesen, dem die Zahlen leichtgefallen waren.

Er war im Londoner West End geboren. Doch schon die Weltwirtschaftskrise 1929 versetzte der Familie den ersten fatalen Stoß. Der Vater, ein Intellektueller, der der Bloomsburygruppe nahestand, hielt lange den Schein des Wohlstands aufrecht und bewirkte dadurch einen doppelten Schaden. Nicht nur, dass das Geld noch rascher aus dem Haus floss, weil der Vater die Katastrophe nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Mit seiner Beredsamkeit und der grandiosen Fassade gelang es ihm außerdem, seinen Sohn davon zu überzeugen, dass die Familie zu etwas Besonderem auserwählt sei und Leonard werden könne, was immer er wolle. Aber das waren eitle Versprechen. Die Welt und die Möglichkeiten schrumpften, und das Einzige, was am Ende zurückblieb, war das Gefühl, getäuscht worden zu sein. Manchmal sah Corell seine Jugend als ein Land, das ihm Stück für Stück genommen worden war. Seine Kindheit erschien ihm wie eine Reise in die Einsamkeit: Die Dienstboten mussten gehen, einer nach dem anderen, und als sie schließlich nach Southport zogen, waren nur noch er und seine Eltern übrig. Aber auch der Vater und die Mutter sollten verschwinden, jeder auf seine Weise. Alles wurde ihm entrissen. Natürlich wäre es eine Vereinfachung, die Schuld für seine gesamte Situation bei den äußeren Umständen zu suchen. Das wäre gerade die Art von Romantisierung, der er sich viel zu oft hingab, die allzu sentimentale und selbstmitleidige Sicht auf ein Leben, in dem es trotz allem viele Chancen gegeben hatte. Es stimmte aber wohl, dass die Welt ihm seinen Anteil an Schlägen und Tragödien beschert hatte und ein Teil seiner Persönlichkeit, wie er meinte, mit den Jahren im Keim erstickt oder verkümmert war. Wenn er sein Leben wie aus der Distanz betrachtete, dann bekam er es nicht zusammen mit der Vorstellung, die er noch von sich selbst hatte. Zuweilen konnte er nicht verstehen, dass die Person, die in den Straßen von Wilmslow umherging, wirklich er selbst war.

Die Eile in der Ermittlung verwunderte ihn. Jemand in der Polizeiführung in Chester entschied, dass noch am gleichen Abend eine vorläufige Obduktion vorgenommen werden und Corell dabei anwesend sein sollte. Hinterher hatte er nur diffuse Erinnerungen daran. Er verabscheute Obduktionen; die meiste Zeit hielt er den Blick abgewandt. Was leider nicht viel half. Das Geräusch des Skalpells, die Dämmerung draußen und der Gestank von Bittermandel, der auch aus den Eingeweiden aufstieg, waren deutlich genug. Mein Gott, was für eine grässliche Arbeit! Doktor Charles Bird murmelte: »Vergiftung, ganz klar Vergiftung«, und Corell träumte von Farbe, von schöner blauer Farbe, mit der er die blanke Angst dadrinnen übermalen wollte. Er hörte kaum noch auf die Fragen des Gerichtsmediziners, er antwortete Ja oder Nein, wo ausführliche Erklärungen am Platz gewesen wären, und vielleicht war das der Grund dafür, dass der Obduzent sich das Haus mit eigenen Augen ansehen wollte. Corell sollte ihm als Führer dienen, und zuerst dachte er: Nein, nie im Leben, von dem Ort habe ich genug gesehen. Dann änderte er seine Meinung. Er mochte Bird nicht. Der Arzt war ein hochnäsiger Typ. Er betrieb zwar auf liebenswürdige Weise Konversation, doch mit leisen Untertönen und bedeutungsvollen Seitenblicken signalisierte er, dass er derjenige war, der über Bildung und Status verfügte. Er sah abstoßend aus. Über seinen Pupillen lag eine Art Dunstschleier oder Schmutz. Corell wäre jede andere Gesellschaft lieber gewesen. Anderseits hatte er keine Lust, zu sich nach Hause zu gehen, und es war bestimmt gut, das Haus noch einmal zu sehen, so viele Dämonen es auch wachrief. Und so wanderte er erneut über den schmalen Bürgersteig zu dem Haus in der Adlington Road. Der Doktor redete die ganze Zeit, als hätte es seine Lebensgeister erfrischt, in seiner freien Zeit noch eine weitere Leiche obduzieren zu können.

»Habe ich erzählt, dass mein Sohn ein Medizinstudium beginnen wird?«

»Nein.«

»Sie scheinen heute nicht sehr gesprächig zu sein.«

»Schon möglich.«

»Aber Sie interessieren sich für Himmelsphänomene, nicht wahr? Sie haben sicher gehört, dass eine totale Sonnenfinsternis bevorsteht?«

»Ich glaube schon.«

»Das wird richtig spannend, oder?«

»Ich weiß nicht genau. Geht so eine Finsternis nicht schnell vorüber?«

»Der Orgasmus geht auch schnell vorüber, aber die Menschheit scheint ihn dennoch zu schätzen«, sagte der Arzt und gab ein grässliches Lachen von sich, das Corell ignorierte; er zog sich in sich selbst zurück, während der Arzt eine Art Theorie über die Sonnenfinsternis und das menschliche Auge darlegte und anschließend auf die Rationierung zu sprechen kam, die im Sommer enden würde:

»Endlich kann man sich wieder der Völlerei hingeben.«

Schon die Vorstellung, wie Charles Bird das Essen in sich hineinstopfte, weckte Corells Ekel, und er blickte schweigend vor sich auf den Bürgersteig, aber möglicherweise stammelte er dennoch irgendetwas, denn der Doktor konterte mit einem unbegreiflichen »Man wird schon sehen!«. Vor ihnen ragte die Weide auf. Als Richtmarke erfüllte sie ihren Zweck. Die Häuser in der Adlington Road hatten keine Nummern, nur individuelle Namen, und als Corell durch das Gartentor mit dem nachlässig gemalten Schild »Hollymeade« trat, sah er neugierig zu dem unfertigen Ziegelgang hin, als erwartete er, dass dieser auf seiner Reise zur Haustür ein Stück weitergekommen wäre, doch der Gang lag immer noch da wie ein Gleis, das sich im Nichts verlor. Nachdenklich öffnete er mit dem Schüssel, den er von der Haushälterin erhalten hatte, die Haustür. Im Eingangsflur schnüffelte er vorsichtig. Etwas war verändert. Er begriff nicht gleich, was es war, dann fiel ihm auf, dass der Gestank nicht mehr so intensiv war.

»Zyanid, eindeutig Zyanid«, murmelte der Doktor wie ein stolzer Connaisseur, bevor er mit eiligen Schritten die Treppe hinaufstieg.

Corell blieb unten stehen und wollte nichts lieber als wieder umkehren. Das Haus verursachte ihm weiterhin Unbehagen, und er versuchte, sich in die gleichen unpassenden Gedanken zu flüchten wie zuvor, aber nichts half. Unter dem Hemd brach ihm der Schweiß aus. Dennoch ging er nach oben, natürlich, und als er ins Schlafzimmer kam, entspannte er sich sogar. Der Raum schien verwandelt und sah in seinem lässigen Durcheinander nun beinahe unschuldig aus. Das Laken und die Bettdecke lagen lässig zerknüllt auf der Matratze, als wäre jemand ganz unspektakulär aufgestanden und hätte lediglich vergessen, anschließend das Bett zu machen.

»Und dies hier ist der Apfel, von dem Sie gesprochen haben?«

Der Arzt beugte sich über die Frucht und stocherte mit einem Streichholz an einer der braunen Bissstellen herum.

»Der Apfel sollte vermutlich den bitteren Geschmack abmildern«, fuhr er fort.

»Mr Turing war wohl nicht gerade auf ein Geschmackserlebnis aus«, sagte Corell.

»Der Mensch versucht immer, sein Leiden zu mildern.«

»Warum dann gerade ein Apfel?«

Corell wusste selbst nicht recht, worauf er hinauswollte, er verspürte nur die unbändige Lust, zu widersprechen.

»Was wollen Sie mir sagen?«

»Dass der Apfel vielleicht eine Bedeutung hat.«

»Eine symbolische Bedeutung?«

»Vielleicht sogar das.«

»Etwas Biblisches? Eine Art Sündenfall.«

Ohne richtig zu wissen, was er meinte, murmelte Corell:

»Paradise Lost

»Ah, Sie spielen auf Milton an«, parierte der Arzt mit seiner gewohnten Überheblichkeit, und Corell dachte: »Fahr zur Hölle.«

Er sagte jedoch nichts, sondern ging wortlos hinaus in den Flur und hinüber in das Zimmer zur Linken, wo er die Zyankaliflasche gefunden hatte. Am Fenster stand ein Mahagonischreibtisch, dessen Platte mit grünem Samt bezogen war. Es war ein schönes Stück. Schöne Schreibtische weckten immer eine Sehnsucht in ihm; er strich mit der Hand über die goldfarbenen Beschläge der Schlüssellöcher. Als er den Schreibblock in die Hand nahm, den er schon vorher eingesehen hatte, schienen die Zahlen mit ihm zu sprechen. »Komm, löse mich«, flüsterte die Gleichung. Er erinnerte sich an etwas, das ein Lehrer am Marlborough College einmal zu ihm gesagt hatte:

»Du begreifst schnell, Leonard. Rechnest du überhaupt?«

»Nein, Sir, ich sehe.«

Früher einmal hatte er gesehen. Jetzt gelang es ihm nur, das erste Glied der Gleichung nachzuverfolgen, und das ärgerte ihn. Mit verwirrter Miene blickte er sich im Zimmer um. Eigentlich war nichts übertrieben seltsam oder anders als bei seinem ersten Besuch, aber in diesem Moment erschien ihm das Haus wie ein Rätsel, das es zu lösen galt, und auch wenn er einsah, dass die meisten Details lediglich blinde Spuren abgaben, interessant für einen Biografen oder einen Psychologen, aber unwichtig für die polizeiliche Ermittlung, fesselte ihn etwas am Gesamtbild als solchem.

Überall schienen Dinge in Gang gewesen zu sein, Experimente, Aufzeichnungen, Berechnungen, als wäre das Leben mitten in der Bewegung abgebrochen worden. Der Mann, der hier gewohnt hatte, war vielleicht des Lebens müde, gleichzeitig aber noch tief darin involviert gewesen. Das war an sich wohl nicht so außergewöhnlich, wir müssen ja alle leben, bis wir sterben. Aber wenn es sich nun um Selbstmord handelte, war dann die Vorgehensweise nicht seltsam umständlich? Wenn der Mann sich das Leben hatte nehmen wollen, warum hatte er nicht einfach aus einer der Giftflaschen getrunken und war umgesunken? Stattdessen hatte er eine komplizierte Prozedur mit einem blubbernden Kessel, Stromkabeln von der Decke und einem halben Apfel inszeniert. Es war doch nicht unmöglich, dass er damit etwas hatte sagen wollen! Der verfluchte Bird konnte sich zum Teufel scheren. Plötzlich neugierig, durchsuchte Corell die Schreibtischschubladen.

Es gehörte zwar zu seiner Arbeit, doch er fühlte sich nicht wohl dabei, schon gar nicht, als draußen die Schritte des Arztes zu hören waren und er in der untersten linken Schublade etwas fand, was der Besitzer anscheinend hatte verbergen wollen. Es war eine Medaille, ein silbernes Kreuz mit einem Ring aus roter Emaille in der Mitte, das auf einer Samtunterlage ruhte. Das Motto lautete »Für Gott und das Empire«. Wofür hatte Mr Turing die bekommen? Es war keine Sportmedaille, nichts in der Art. Diese war feiner, vielleicht eine Kriegsauszeichnung. Einen Augenblick wog Corell die Medaille in der Hand und stellte sich vor, dass er selbst sie für eine außerordentliche Leistung erhalten hätte, aber obwohl er normalerweise im Handumdrehen Heldentaten erfinden konnte, fiel ihm diesmal nichts ein, und beschämt legte er die Medaille an ihren Platz zurück. Er suchte weiter. In allen Schubläden lagen Dokumente und Gegenstände, einige sandfarbene Steine, ein Winkelmesser, Rechenstäbe und ein braunes Taschenmesser. Ganz oben rechts unter einem Umschlag von Walton Athletic Club fand er ein paar handgeschriebene Papiere, einen Brief an einen Mann namens Robin, und ohne selbst zu verstehen, warum, steckte er die Seiten heimlich in die Innentasche und ging hinaus in den Flur. Er begegnete Doktor Bird, der krank und zugleich feierlich aussah. Der Arzt hielt eine kleine Flasche mit Gift in der Hand.

»Zyanidvergiftung aus eigenem Antrieb. Das ist meine vorläufige Schlussfolgerung, aber das haben Sie sich wohl schon selbst ausgerechnet«, sagte er.

»Ich habe mir nichts ausgerechnet. Ich versuche, keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen«, erwiderte Corell.

»Das ehrt Sie natürlich. Wobei Langsamkeit nicht immer eine Tugend ist. Aber gehen wir, ich brauche jetzt unbedingt ein Glas Sherry«, sagte der Doktor, und so stiegen sie die Treppe hinunter und traten draußen in den schwachen Schein der Straßenlaterne.

Am Gartentor, neben dem Farn und der Brombeerhecke, verabschiedeten sie sich, und Corell ging davon in der Hoffnung, auf Block zu stoßen, den er beauftragt hatte, in der Nachbarschaft Erkundigungen einzuziehen. Aber es war viel zu spät. Niemand war mehr unterwegs. Nur der Regen und das Winseln eines Hundes waren zu hören. Er ging immer eiliger, und oben am Wilmslow Park begann er zu laufen, als könnte er nicht schnell genug nach Hause kommen.