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Buch

Will Gremm ist fünfzehn Jahre alt, als sein Vater ermordet wird. Andere mögen es eine ordentliche Hinrichtung nennen, aber Will weiß, dass sein Vater das Opfer eine skrupellosen Intrige geworden ist. Nun wächst er unter den Ärmsten der Armen auf und muss seine Mutter und seine jüngeren Geschwister beschützen. Doch er versagt auf schreckliche Weise.

Allerdings verspricht Will seiner Mutter vor ihrem Tod, dass er bittere Rache üben wird. Verbissen kämpft er sich rücksichtslos zurück an die Spitze der Gesellschaft. Der Preis, den seine kleine Schwester für seinen Ehrgeiz zahlen muss, ist schrecklich. Aber das ist für Will nur ein weiterer Ansporn, Rache für die Familie Gremm zu üben.

Er ahnt nicht, dass sein Weg nur Schmerz bereithält …

Autor

Torsten Fink, Jahrgang 1965, arbeitete lange als Texter, Journalist und literarischer Kabarettist. Er lebt und schreibt heute in Mainz.

Von Torsten Fink beim Blanvalet-Verlag erschienen

Die Tochter des Magiers bei Blanvalet:

1. Die Diebin ()

2. Die Gefährtin ()

3. Die Erwählte ()

Der Sohn des Sehers bei Blanvalet:

1. Nomade ()

2. Lichtträger ()

3. Renegat ()

Drachensturm ()

Der Prinz der Skorpione bei Blanvalet:

1. Der Prinz der Schatten ()

2. Der Prinz der Klingen ()

3. Der Prinz der Skorpione ()

Der Prinz der Rache ()

Torsten Fink

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Roman

Originalausgabe

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1. Auflage

Originalausgabe Februar 2014 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © 2014 by Torsten Fink

Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft, München

Illustration: © Isabelle Hirtz unter Verwendung

einer Fotografie von Olga Kessler

Karte: © Jürgen Speh

Lektorat: Simone Heller

HK · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-14122-9

www.blanvalet.de

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Zwei Männer zwängten sich durch einen Spalt tief unter der Erde. Sie mussten kriechen, und der Alte, der vorneweg kroch, eine kleine Berglampe in der Hand, hörte seinen Neffen hinter sich ängstlich keuchen. Er fragte sich, ob er auch derart die Hosen voll gehabt hatte, als er zum ersten Mal unter Tage gegangen war. Auch sein Meister hatte ihn hergeführt, obwohl hier schon damals nicht mehr gegraben worden war.

Der Spalt entließ sie in einen niedrigen, kurzen Gang. Weiter ging es nicht. Der alte Steiger wischte sich den Schweiß von der Stirn und wartete auf den Jungen, der schwerfällig angekrochen kam. Er genehmigte sich einen Schluck Wasser und bot dann seinem Neffen die Flasche an. Als er ihm die Flasche wieder abnahm, fragte er: »Hörst du das?«

Sein Begleiter richtete den Blick auf die niedrige Decke. »Was ist das, Onkel?«

»Das Meer, mein Junge, es rauscht über unseren Köpfen. Wir sind tief unter dem Meeresgrund, aber irgendwo in der Nähe muss es eine Spalte, einen natürlichen Kanal bis fast ganz hinauf geben. Deshalb hören wir, wie das Meer gegen die Ufer unserer Insel brandet.«

»Aber, Onkel, ist das nicht sehr gefährlich?«

Der Alte gab keine Antwort. Er schlug die Spitzhacke mit einem kurzen, trockenen Geräusch in den Stein. Er betastete die Wand, dann hielt er die kleine Lampe an die frische Wunde im Fels. »Siehst du das, mein Junge?«

Sein Neffe konnte den Blick jedoch nicht von dem Gestein lösen, das tonnenschwer über ihm hing.

Der Steiger bereute, dass er sich auf diese Geschichte eingelassen hatte, aber der Junge war nun einmal das Kind seiner Schwester. Doch je länger er mit ihm hier unten war, desto stärker wurden seine Zweifel, dass er zum Bergmann taugte.

»Also, siehst du das?«, fragte er und deutete auf die Kerbe.

»Es glänzt«, stellte der Junge fest. Sein Blick wanderte wieder zur Decke.

»Genau, und weißt du vielleicht auch, was da so schön glänzt?«

Der Junge zuckte mit den Schultern. »Silber, Onkel?«

»Silber? Bei allen Himmeln – seit wann finden wir rund um Xelidor Silber?«

»Dann … Stahl?«

»Stahl wird geschmiedet, er wächst nicht in der Erde, Dummkopf!« Worauf hatte er sich da nur eingelassen? »Eisen, mein Junge, bestes Eisenerz, das ist es, was du hier siehst. Wir graben es aus, und dann machen sie oben Schwerter und Rüstungen daraus. Dieses Eisen ist der Sockel, auf dem die goldenen Säulen von Xelidor in den Himmel ragen, wie man so sagt. Und wenn du geschickt und gelehrig bist«, und der Himmel weiß, dass du es nicht bist, dachte der Alte, »dann wirst du auch bald schon hier unten die Hacke schwingen und dem alten Felsen Chelos, auf dem unsere Stadt errichtet ist, das Erz abzwingen. Aber nicht hier, denn das ist der Tote Mann.«

»Der Tote Mann?«

»So nennen wir diese Stelle, denn hier graben wir nicht weiter.« Der Alte hob seine Lampe an. »Siehst du, wie es hier überall glitzert? Es gibt keine Stelle im ganzen Bergwerk, die ergiebiger wäre, aber wir wollen das Schicksal nicht herausfordern. Verstehst du das, mein Junge? Die Sicherheit geht vor!«

Sie lauschten. Von weit unten drang das leise Klicken der Spitzhacken herauf, aber man musste genau hinhören, denn das Meer über ihnen rauschte lauter.

»Ich habe gehört, dass man bald gar nicht mehr gräbt, Onkel«, erwiderte der Junge.

»Wer erzählt dir so einen Unsinn?«

»Bif, der Sohn vom Schuster. Er sagt, dass die Scholaren ein Pulver haben, das viel besser gräbt, als ein Mann es kann.«

»Na, der Sohn eines Schusters muss es ja wissen«, höhnte der alte Steiger. Es gab so viel über das Bergmannshandwerk zu wissen, und das Einzige, was der Junge gehört hatte, war dieser Unsinn, den die Scholaren in der Stadt in Umlauf gebracht hatten?

»So gibt es dieses Pulver gar nicht, Onkel?«

Anlügen wollte er den Knaben nun auch nicht. Er seufzte. »Doch, das gibt es. Es ist irgendeine Teufelei, die sie in der Fremde gefunden haben. Hast du schon einmal die großen Bombarden gesehen, die oben an der Festung stehen?«

Der Junge nickte eifrig.

»Die werden mit einem schwarzen Pulver geladen, das mit einem großen Knall explodiert und dann die Kugel aus der Bombarde weit hinaus aufs Meer schleudern kann.«

»Wie weit, Onkel?«

»Weit, sehr weit, mein Junge. Ein ganz ähnliches Pulver wollen die Scholaren nun auch unter Tage verwenden. Es explodiert nicht oder eigentlich doch, nur langsamer.« Er bemerkte, dass er sich verhedderte, weil er selbst nicht genau wusste, wie diese Sache funktionierte, doch er überspielte seine Unwissenheit: »Es brennt sich in den Stein, schneller als eine Hacke, das gebe ich gerne zu. Doch wird es niemals einen guten Steiger oder Hauer ersetzen. Und es ist gefährlich.«

Der Junge sah ihn mit großen Augen an.

Wunderbar, jetzt hat er wirklich Angst, dachte der Alte. Dann hat er hier unten auch nichts verloren.

»Komm, wir gehen zurück, mein Junge. Ich will dir unseren Tempel zeigen.« Der Junge schien sich für Tempel allerdings nicht sehr zu interessieren.

»Er ist sehr alt, weißt du, in einem anderen toten Gang. Manchmal versammeln wir uns dort und beten, dass die Himmel uns auch hier unten beschützen mögen. Verstehst du?«

Der Junge glotzte ihn stumpf an. Hatte er ihm überhaupt zugehört?

Eine Erschütterung lief durch den Stein.

»Was war das, Onkel?«

Noch eine Erschütterung, und dann noch eine. Das Lager!, durchfuhr es ihn. Sie hatten fassweise das Pulver der Scholaren in einer abgelegenen Kammer ganz in der Nähe eingelagert, weil hier nicht mehr gegraben wurde. Es sei dort sicher, hatten die Scholaren gesagt. Aber wenn sie sich irrten? Er hörte ein Knirschen und begriff, dass es aus dem Stein kam. Sein Blick ging zur Decke, die schwer und drückend über ihnen hing. Er konnte es fühlen, in seinen Knochen, der Fels riss auf.

»Was ist das nur, Onkel?«

Wieder eine Erschütterung, und jetzt hörten sie auch den Donner der Explosionen.

Der Steiger sah entsetzt, dass Gestein von der Decke platzte. Scharfe Splitter flogen ihnen um die Ohren. Er hob mit zitternder Hand die Lampe. Bildete er sich das nur ein, oder spaltete sich über ihnen der Fels? Er schloss die Augen. Irgendwo, gar nicht fern, stürzte ein Gang ein. Das schwere Gepolter war unverkennbar. Und dann war da noch etwas.

»Das Meer, Onkel, es rauscht so laut!«

»Es tut mir leid, mein Junge.«

Stein brach, und schon kam die Urgewalt des Wassers durch eine neue Kluft im Fels herangebraust. Der Alte nahm den Jungen in den Arm, dann riss das Wasser des Meeres sie fort, zermalmte sie und spülte sie durch den engen Spalt in einen anderen Gang, an dessen Ende die Bergleute vor langer Zeit einen Himmelstempel errichtet hatten.

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Das Haus glänzte, Vil konnte es nicht anders beschreiben. Der steinerne Boden schimmerte, das silberne Geschirr blitzte vom großen Esstisch, und die Hausmagd begann gerade damit, zusätzlich zu den vielen schon brennenden Kerzen noch weitere Leuchter aufzustellen. Nur er selbst, er glänzte nicht im Mindesten, ganz im Gegenteil: Der Hemdkragen war zerrissen, er hatte Blut auf dem Ärmel, und mit der Zunge konnte er die aufgeplatzte Lippe erspüren.

»Wie alt bist du, Viltor?«

»Fünfzehn, Mutter.«

»So? Und was habe ich dir über den heutigen Abend gesagt?«, fragte seine Mutter streng.

»Dass er sehr wichtig ist«, murmelte er.

»Und ich habe dich gebeten, dich dementsprechend zu verhalten – oder nicht?«

»Ja, Mutter.« Er riskierte einen Blick. Ihre graugrünen Augen ruhten mit unnachgiebiger Strenge auf ihm. »Tut mir leid«, murmelte er.

»Du bist wirklich alt genug, um es besser zu wissen. Darf ich erfahren, wie es dazu kommen konnte?«

Vil zuckte mit den Achseln.

»Aha, es ist also ohne besonderen Grund geschehen?«

Wieder antwortete er mit einem Schulterzucken. Er konnte ihr doch schlecht erzählen, dass er sich wegen der Dinge, die sie über seinen Vater sagten, mit seinen Freunden geprügelt hatte. »Schön. Wenn du es mir nicht verraten willst, dann vielleicht deinem Vater. Ich bin schon sehr gespannt, was er dazu sagen wird, wenn er heimkommt. Doch jetzt geh nach oben und mach dich für den Abend bereit. Und versuch bitte, uns nicht noch weiter zu beschämen. Du bist ein Merson und ein Gremm – verhalte dich entsprechend, Viltor!«

»Ja, Mutter.«

Er stieg rasch die Treppe hinauf. Dass sie am Abend Gäste erwarteten, hatte unbestreitbar sein Gutes – seine Mutter würde ihn nicht ohne Abendessen ins Bett schicken können, wie sie es sonst nach solchen Vorfällen tat.

»Wie viele waren es?«, fragte Tiuri, seine jüngere Schwester, als er sich über der Waschschüssel das Blut abwusch.

»Hundert«, gab er schlecht gelaunt zurück.

»Gar nicht wahr«, rief sie lachend.

Er seufzte. »Es waren zwei.«

»Tut es sehr weh?«, fragte Faras, sein kleiner Bruder.

»Überhaupt nicht«, erklärte er grimmig und blickte in den silbernen Spiegel. Das Silber warf nur ein verzerrtes Bild zurück, und das sah übel aus.

»Warte, ich helfe dir.« Vorsichtig tupfte Tiuri ihm mit einem Tuch das Blut von der Lippe.

Er bewunderte sie für den heiligen Ernst, den sie bei solchen Dingen an den Tag legte. Sie wirkte dann viel älter als die zehn Jahre, die sie gerade zählte.

»Pass auf, dass dir nichts aufs Kleid tropft«, murmelte er.

»Mutter, Vil macht Tiri das Kleid schmutzig«, rief Faras vor der Tür.

»Und du machst dir in die Hosen, wenn du Blut siehst«, gab Vil wütend zurück.

Eigentlich erwartete er, dass gleich seine Mutter in die Kammer rauschen würde, aber Rohana Merson kam nicht. Offenbar nahmen die Vorbereitungen für den Abend sie zu sehr in Anspruch.

Faras streckte Vil die Zunge heraus und rannte dann davon.

»Er kann froh sein, dass wir heute Gäste haben«, murmelte Vil.

»Ich bin auch froh«, sagte Tiuri. »Und es ist doch auch schön – all diese wichtigen Menschen sind vornehm gekleidet und höflich und reden über bedeutende Dinge, über die sonst nie einer mit uns redet.« Sie betrachtete ihr Werk zufrieden aus den dunklen Augen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte.

Er fuhr sich mit der Zunge prüfend über die Lippe. Sie hatte aufgehört zu bluten. »Lehrreich vielleicht, vor allem aber langweilig«, widersprach er.

»Finde ich nicht. Aber beeil dich jetzt besser. Es ist schon spät.«

Als Vil die Treppe hinunterstieg, hatte die Magd die letzten Kerzen bereits entzündet. Sie stand an der Tür, unterdrückte ein Gähnen und wartete auf die Gäste.

Vils Vater sah ihn kommen, runzelte die Stirn und bedachte ihn mit einem Unheil kündenden Blick.

Vil schluckte. Aber dann, als seine Mutter nicht hinsah, zwinkerte ihm sein Vater aufmunternd zu.

»Nehmt Aufstellung, Kinder, und bitte, benehmt euch wie die Kinder von Edelleuten – und nicht wie die von Raufbolden.«

Vils Platz war an der Seite seines Vaters.

»Hast du wenigstens gewonnen?«, fragte der leise.

»Unentschieden«, erwiderte Vil flüsternd. »Aber es ging auch zwei gegen einen.«

»Dann ist unentschieden ein gutes Ergebnis, mein Sohn.«

»Ermutige ihn nicht auch noch, Aretor«, sagte Rohana Merson kühl, die sie gehört hatte.

Dennoch, Vil hatte sich vor dem Urteil seines Vaters gefürchtet, und er war froh, dass es milde auszufallen schien.

Sie warteten, aber die Gäste verspäteten sich offenbar. Vil blickte zum Tisch. Beinahe zwanzig Männer und Frauen würden gleich dort sitzen, sich den Bauch vollschlagen und über Politik, Preise für Tee, kostbare Stoffe und Tragödien in der Verwandtschaft reden.

Der Geruch von Braten wehte aus der Küche heran, und Vil hörte den Koch fluchen, wie immer, wenn er eines seiner Meisterwerke vorbereitete. Vielleicht fluchte er aber auch, weil die Gäste sich verspäteten.

»Warum ist denn noch niemand da?«, fragte Tiuri leise. Sie wippte ungeduldig auf den Fersen.

»Es ist vermutlich wegen der Unruhen in der Stadt«, meinte Aretor Merson.

»Unruhen?«, fragte Faras ängstlich.

»Nur im Grubenviertel, auf der anderen Seite der Stadt, mein Sohn. Kein Grund zur Sorge. Die Wache wird das schnell in den Griff bekommen.«

Sein Vater hatte mit Vil über die Unruhen geredet. Sie waren ausgebrochen, nachdem das Meer in die größte Mine der Stadt eingedrungen war und viele Männer getötet hatte. Es war eine Mine, an deren Einnahmen sein Vater beteiligt war, und offenbar bedeutete es einen schweren Verlust für das Familienvermögen.

Aber es war auch das schlimmste Unglück seit Menschengedenken, und die Bergleute behaupteten nun, die Minen seien unsicher und schlecht geführt, vor allem aber gaben sie den Scholaren und ihrem schwarzen Pulver die Schuld. Mitglieder dieses Ordens sollten auf offener Straße angegriffen worden sein. Und nun musste die Wache mit eiserner Hand wieder für Ruhe sorgen.

»Aber wenn es auf der anderen Seite der Stadt ist, warum kommen dann deswegen diese Leute zu spät?«, fragte Tiuri.

»Tiuri, bitte, zu viele Fragen stehen einer Dame nicht gut zu Gesicht«, sagte die Mutter mit mild tadelndem Blick.

Also warteten sie weiter, doch niemand kam.

»Gut. Wir fangen an«, sagte Aretor Merson schließlich.

Vil fand, dass er blass aussah.

Zu fünft saßen sie an einer Tafel, die für zwanzig gedeckt war, und sie aßen schweigend. Rohana Merson setzte ein- oder zweimal dazu an, ihrem Mann etwas zuzuflüstern, aber er wehrte es ungehalten ab. »Bitte, Rohana, versuche nicht, es zu beschönigen. Es ist doch offensichtlich, was das bedeutet.«

»Es ist nur die Unruhe, Aretor. Du wirst sehen, das geht vorüber«, entgegnete sie mit einem gezwungen wirkenden Lächeln.

Vil aß, aber er aß ohne Appetit, und er hätte seinem kleinen Bruder gerne eine Ohrfeige verpasst, weil er die ganze Zeit mit seiner Gabel auf dem Teller herumkratzte, ein Misston, der die Stille am Tisch nur noch unerträglicher machte.

»Sie streiten sich«, flüsterte Faras, als sie im Bett lagen.

»Nein, sie unterhalten sich nur«, versuchte Vil ihn zu beruhigen.

»Für mich klingt es aber wie Streit«, meinte Faras trotzig.

»Ruhe jetzt«, mahnte Vil und schlich zur Tür.

»Wir dürfen nicht lauschen«, rief Faras leise.

»Halt die Klappe«, zischte Vil und schlüpfte in den Flur.

Auf der anderen Seite des Ganges stand seine Schwester in ihrer Tür. Sie lauschte also ebenfalls.

Vil konnte seine Eltern hören, die gedämpften Stimmen aber nicht verstehen, denn gerade jetzt räumten Koch und Magd dort unten geräuschvoll die Tafel ab.

»Worum geht es?«, fragte er leise.

»Ich glaube, Vater will, dass wir die Stadt verlassen.«

»Er will weg aus Xelidor?«

»Leise doch«, flüsterte Tiuri.

»Und Mutter?«

»Sagt, dass eine Gremm nie davonläuft. Irgendwas davon, dass unsere Familie an den Fundamenten der Stadt mitgebaut hat.«

Vil seufzte. Den Vortrag kannte er, er bekam ihn meist dann zu hören, wenn seine Lehrer seine Mutter darüber informierten, dass seine Leistungen zu wünschen übrig ließen.

»Und was sagt Vater dazu?«

»Er sagt, er sei kein Gremm und will immer noch weg.«

Vil verstand, was er meinte. Aretor Merson war aus der Fremde nach Xelidor gekommen, aus Cifat, einer Stadt am fernen Goldenen Meer. Dennoch war er in sehr kurzer Zeit ein sehr wichtiger Mann geworden, weshalb er in Vils Augen eigentlich besondere Achtung verdiente.

Die Söhne der anderen vornehmen Familien in diesem Viertel sahen das nicht so, und wenn sie in der Überzahl waren, sangen sie Spottlieder auf den abergläubischen Fremden und seinen Sohn. Vil gab sich gleichmütig, wenn sie sangen. Er hatte gelernt, darauf zu warten, dass er sie irgendwo allein antraf. Dann überzeugte er sie mit seinen Fäusten davon, solche Lieder in Zukunft nicht mehr zu singen. Er hatte nicht viele Freunde unter den anderen Ritter- und Kauffahrersöhnen, und seit heute waren es noch zwei weniger.

Unten war es unterdessen ruhig geworden. Der Tisch schien abgedeckt, und die Stimmen ihrer Eltern waren verstummt.

Tiuri sah ihn fragend an.

»Geh ins Bett«, meinte er. »Morgen früh sieht die Welt ganz anders aus.«

»Vil, steh auf.«

Er schlug die Augen auf. Es musste mitten in der Nacht sein. Seine Mutter stand an seinem Bett, eine Kerze in der Hand. Bleich und aufgewühlt sah sie aus. Vil erfasste sofort, dass etwas nicht stimmte.

»Zieh dich an und kümmere dich darum, dass auch dein kleiner Bruder sich ordentlich anzieht.«

Vil blickte zum Fenster. Durch die Schlitze in den hölzernen Läden meinte er, das erste Grau des Tages zu erkennen.

»Was ist denn, Mutter?«, fragte er beunruhigt.

»Es wird alles in Ordnung kommen, mein Sohn. Jetzt kümmere dich um deine Geschwister. Zieht euch warm an. Wir werden vielleicht einige Tage nicht wiederkommen.«

»Einige Tage?«, fragte Vil, aber seine Mutter stellte die Kerze ab, ein einsam flackerndes Licht, und verließ das Zimmer.

Vil sprang auf, öffnete die Butzenscheibe und riss den Holzladen auf. Kalt und grau sickerte der Wintertag in die Kammer. Möwen schrien vom Meer her, aber er konnte sie im dichten Nebel nicht sehen.

Tiuri stand plötzlich in der Tür. »Es sind Fremde im Haus, Vil.«

»Fremde?« Er öffnete seine Truhe und nahm seinen Dolch.

»Junger Herr, nicht doch!«, stammelte die Magd, die blass und verstört hinter Tiuri aufgetaucht war.

»Wer ist da im Haus, Ena?«, fragte er und zog die Klinge aus der Scheide.

»Die Gespenster, Herr, die Gespenster.«

Faras hatte sie gehört. Er klammerte sich an seine Bettdecke und wollte um keinen Preis aufstehen. »Hilf ihm, Ena, er soll sich gefälligst anziehen«, befahl Vil, erleichtert, wenigstens die Verantwortung für den ewig quengelnden Faras los zu sein. Aber auch Tiuri sah ihn nun ängstlich an.

»Es sind nicht wirklich Gespenster«, versuchte er sie zu beruhigen. »Es ist die Geheime Wacht, du hast sie schon gesehen, Tiuri.«

»Die grauen Männer?«, fragte sie und sah nun noch verstörter aus.

Er nickte, und dann wurde ihm klar, dass richtige Gespenster vielleicht das kleinere Übel gewesen wären. Er schlich zur Treppe.

»Geht nicht hinunter, junger Herr, sonst nehmen sie Euch auch noch mit!«, rief die Magd.

Er hörte Stimmen. Sein Vater, dessen Stimme sich überschlug, dann andere, ruhigere Männerstimmen und dazwischen, schneidend wie ein Schwert, die durchdringende Stimme seiner Mutter.

»Mitnehmen?«, fragte Vil, der erst jetzt verstand. Seine Hand verkrampfte sich um den Dolchgriff.

»Vil, nicht«, sagte Tiuri leise. Sie berührte ihn am Arm. Er sah in ihre großen, ängstlichen Augen. Ich werde sie beschützen, dachte er und blieb am Kopf der Treppe stehen.

Die Schritte schwerer Stiefel und fremde, raue Stimmen klangen durchs Haus. Es zog bitterkalt von unten herauf, die Haustür musste offen stehen.

Der Koch, leichenblass und verstört auch er, tauchte auf. »Die Doma bittet den jungen Herrn und seine Geschwister, nach unten zu kommen«, stieß er hervor.

Faras wollte nicht, aber Tiuri nahm ihn an der Hand. Vil holte tief Luft und ging dann vor ihnen die Treppe hinab.

Sie betraten die kleine Halle, in der am vorigen Abend dieses unwirkliche Festmahl ausgerichtet worden war. Irgendjemand hatte all die Kerzen wieder entzündet, so dass der Saal in sinnloser Pracht erstrahlte. Der kalte Wind, der durch die offene Tür hereinzog, ließ die vielen kleinen Flammen flackern.

Ihre Mutter war dort, die Arme verschränkt, und sie blickte stolz und mit unübersehbarer Verachtung auf den Mann, der ihr gegenüberstand und über andere Männer in Grau zu gebieten schien.

Die Graue Wacht, dachte Vil, und jetzt, da er sie leibhaftig sah, machte sie auch ihm Angst.

»Noch einmal, ich verlange Euren Namen zu wissen, Menher«, zischte Rohana Merson.

»Ich bin ein Hauptmann der Grauen Wacht, mehr müsst Ihr nicht wissen, Doma Merson. Ah, die Kinder!«

Der Hauptmann wandte sich ihnen zu und versuchte sich an einem Lächeln, aber seine Augen wirkten kalt und drohend.

Die Mutter winkte sie heran, und Vil war froh, als er ihre unmittelbare Nähe spürte. Sie schien keine Angst zu haben.

»Wo ist Vater?«, fragte Tiuri flüsternd.

»Er ist bereits abgeführt worden, junge Doma«, sagte der Hauptmann.

Abgeführt? Vil wurde es flau im Magen. Man hatte seinen Vater verhaftet? Er sammelte all seinen Mut, räusperte sich und fragte: »Was wird meinem Vater vorgeworfen?«

»Ah, der Erbe des Hauses Gremm, wie? Euer Vater ist des Verrats angeklagt und des heimtückischen Mordes an einhundert Männern, die in diesem Bergwerk so jämmerlich ertranken.«

»Lügen!«, rief Vil, der nicht glauben konnte, was er da hörte. Verräter? Das war wie ein Schlag in die Magengrube.

»Nun, das ist die Anklage. Ob es die Wahrheit ist, wird sich bald zeigen. Das Geheime Gericht ist bereits berufen.«

»Und das Urteil soll noch offen sein, Hauptmann?«, rief Rohana Merson höhnisch.

Der Mann zuckte mit den Achseln. »Es steht mir nicht an, an der Weisheit des Gerichtes zu zweifeln, Doma, und Euch auch nicht. Ganz im Gegenteil, es ist unklug, denn vielleicht seid Ihr noch auf die Gnade dieser Männer angewiesen. Wenn ich Euch nun bitten dürfte? Leutnant, sagt den Leuten, sie können jetzt beginnen.«

Der Leutnant salutierte und gab den Männern Befehle für die Durchsuchung des Hauses.

Rohana Merson straffte sich. »Kommt, Kinder.«

Vil verstand nicht, was vorging. Drei der Graugekleideten hatten offenbar die Absicht, sie aus dem Haus zu geleiten. Waren sie etwa auch verhaftet?

»Was geschieht hier, Mutter?«, fragte er leise, als er neben ihr durch den Flur schritt, verzweifelt bemüht, seine Angst nicht zu zeigen. Er hörte Faras hinter sich leise schluchzen.

»Unrecht, mein Sohn, hier geschieht großes Unrecht. Aber schon bald werden diese Männer es bedauern. Ihr werdet sehen, Kinder, wir sind bald zurück in unserem Haus.«

Auf der Straße drehte sich Vil noch einmal um. Das ganze Haus war hell erleuchtet, vermutlich, damit die Gespenster es besser durchsuchen konnten. Der Koch und die Magd standen mit ängstlichen Mienen auf der Treppe vor der Tür. Wachen waren bei ihnen. Würde man sie auch festnehmen?

Der Marsch durch die Stadt kam Vil später wie ein böser Traum vor. Sie marschierten stumm durch den Nebel, hinauf auf den Tempelberg, über den Obermarkt und an den großen Häusern des Perlenviertels vorbei. Die Wächter führten sie durch die Kaisergärten hinüber zur Festung. Als sich die mächtigen Torflügel hinter ihnen schlossen, begriff er allmählich, wie ernst die Lage war.

Sie wurden Männern übergeben, die die rotbraune Uniform der Stadtwache trugen. Diese führten sie über viele Treppen hinab und schließlich in einen schmucklosen, kalten Raum, wo sie von einem Mann erwartet wurden, der nicht zur Wache gehörte.

Vil kannte ihn von den Empfängen. Der Mann war jung und dennoch schon Kammerherr der Stadt. Sein Vater hatte geschäftlich viel mit ihm zu tun, allerdings wusste Vil nicht genau, welcher Art diese Geschäfte waren. Solche Dinge hatten ihn bisher nie interessiert. Es hatte mit den Minen zu tun, das wusste er immerhin.

»Menher Ajeler, seid Ihr hier, um diese Posse zu beenden?«, fragte Vils Mutter mit viel Bitterkeit in der Stimme.

Der Kammerherr schüttelte düster den Kopf. »Ich bedaure zutiefst, was hier geschieht, Doma Rohana, aber ich fürchte, ich kann nur wenig tun.«

»So? Sprecht Ihr da in jenem Geiste fester Freundschaft, den Ihr erst vor wenigen Wochen an unserem Tisch beschworen habt?«

»Ich wäre nicht hier, wenn es nicht so wäre«, sagte Ajeler, »denn eigentlich ist es mir verboten, mit Euch zu sprechen. Schließlich handelte Euer Mann auch in meinem Namen, und die Anklage gegen ihn hätte auch mich treffen können.«

»Wie praktisch, dass er vor Euch steht und den Bannstrahl des Geheimen Gerichtes abfängt«, zischte Rohana Merson.

»Ich verstehe Euren Zorn, Doma. Ich bin hier, um Euch einen Rat zu geben. Man wird Euch vermutlich ein Schiff anbieten – nehmt es!«

»Die Stadt verlassen? Um auf irgendeiner Insel im Süden dahinzuvegetieren? Niemals! Eine Gremm verlässt Xelidor nicht.«

Der Kammerherr seufzte. »Ich habe mir schon gedacht, dass Ihr es so seht, Doma Rohana. Nun, Ihr habt wohl ein paar Tage Zeit, es zu überdenken. Tut das, ich bitte Euch. Die Alternative wäre weitaus schrecklicher.«

Als er verschwunden war, ohne dass Vils Mutter ihn einer Antwort gewürdigt hätte, öffneten die Wachen eine niedrige Pforte.

»Was ist das?«, fragte Faras ängstlich, als er in die kahle Kammer mit ihren winzigen, vergitterten Fensterlöchern blickte.

»Euer neues Zuhause, edler Herr«, spottete die Wache.

Es war ein Loch, kalt und finster. Es gab weder Betten noch Stühle oder wenigstens einen Hocker, in einer Ecke gab es einen Abtritt für die dringenden menschlichen Bedürfnisse. Und in der anderen Ecke muffiges Stroh, auf dem sie schlafen sollten.

Vil stand unschlüssig in der Kammer und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, und er sah, dass auch seine Mutter, die sonst nie in Verlegenheit geriet, für den Moment ratlos war. »Was sollen wir jetzt tun, Mutter?«, fragte er schließlich.

»Setzt euch erst einmal, Kinder. Und dann werden wir uns in Geduld fassen, bis dieses böse Spiel vorüber ist.«

»Aber was ist das für ein Spiel?«, fragte Tiuri.

»Politik, Kinder, aber das versteht ihr noch nicht.«

Vil war der Meinung, dass er es sehr wohl verstehen würde, und er bat seine Mutter später, als seine Geschwister eingeschlafen waren, noch einmal leise um eine Erklärung.

»Dein Vater hat sich Feinde gemacht, Viltor, Männer, die ihm, dem Fremden, seinen Aufstieg nicht gönnen. Nun denken sie, dass sie ihn vernichten können, aber sie irren sich. Sie irren sich sehr. Diese ganze Geschichte wird auf sie zurückfallen.«

»Aber worum geht es denn, Mutter?«, wiederholte er seine Frage.

»Du weißt, dass dein Vater Minenlizenzen gepachtet hat?«

Vil nickte, auch wenn ihm nicht klar war, was das genau bedeutete.

»Es war eine seiner Minen, in der das Unglück geschah. Es gab viele Tote, Bergleute, die ertrunken sind, als das Meerwasser in die Stollen eindrang. Du hast von den Unruhen gehört, Viltor. Es sind andere Bergleute, die nun keine Arbeit mehr finden, und jene in den kleineren Minen, die Angst haben und nicht mehr in die Stollen hinabwollen. Und auch daran gibt man deinem Vater wohl die Schuld. Er ist ein Fremder. Es ist immer leicht, einen Fremden zu beschuldigen.«

Ein Fremder? Vil kannte das Gefühl. Er lebte schon immer in Xelidor, und doch nannten ihn die anderen Jungs den Fremden. »Aber wer beschuldigt Vater?«, fragte Vil.

»Viele, Viltor. Und es sind viele, die das bedauern werden, so wahr ich eine Gremm bin. Noch haben wir Freunde in der Stadt, mächtige Familien. Du wirst es sehen, Viltor.«

Vil dachte an das gespenstische Fest zurück, als sie allein an der Tafel gesessen hatten. Nein, viele Freunde konnten sie in dieser Stadt nicht mehr haben.

Später am Tag brachten die Wachen ihnen Essen, Suppe, Brot und Decken für die Nacht, mehr geschah am ersten Tag nicht. Am zweiten Tag verlangte Rohana Merson ein Gespräch mit den Anklägern, dann mit einem Hohen Rat, einem Richter und später mit dem Befehlshaber der Festung, sie verlangte ihre sofortige Freilassung und Auskunft über das Schicksal ihres Mannes, doch keiner dieser Bitten wurde entsprochen.

Am dritten und vierten Tag war es nicht anders. Sie lagen im Stroh, warteten, aßen und redeten nicht viel. Vil versuchte noch einmal, mit seiner Mutter über den Vater zu sprechen, und darüber, was wohl mit ihm und mit ihnen geschehen würde, aber sie gab ihm keine Antwort. Er erkannte jedoch, dass sich unter ihrer harten Unnachgiebigkeit allmählich auch Sorgen in sie hineinfraßen.

Vil übernahm es, sich um Faras und Tiuri zu kümmern, aber das war nicht schwer. Sie zankten nicht einmal mehr miteinander. Worum auch? Das Essen war so furchtbar, dass es sich nicht lohnte, darum zu streiten. Es gab nichts zu tun, und Vil versuchte, die Zeit zu verdösen.

Am achten Tag wurde Rohana Merson von einem Wächter der Grauen Wacht abgeholt.

»Wo bringt Ihr uns hin, Hauptmann?«, fragte sie und stellte sich schützend vor ihre Kinder.

»Die Kinder? Nirgends, Doma. Es ist das Gericht. Es will Eure Aussage hören.«

»Das Gericht?«

»Es wird nicht lange dauern. Ihr seid bald wieder hier.«

»Werde ich meinen Mann sehen?«

»Vielleicht, Doma, ich weiß es nicht.«

»Aber ich kehre hierher zurück?«

Der Hauptmann zuckte mit den Schultern. »Nach allem, was ich weiß, ja, Doma, doch ich weiß nicht, was das Gericht entscheiden wird.«

Vil und seine Geschwister verbrachten bange Stunden allein in ihrem Kerker, und Faras, der in den vergangenen Tagen erstaunlich tapfer gewesen war, weinte nun doch wieder.

»Memme«, murmelte Vil wütend, vor allem auf sich selbst, weil ihm auch zum Heulen zumute war, und er war froh, dass Tiuri seinen kleinen Bruder tröstete.

Dann kehrte die Mutter zurück. Sie wollte nichts über das Gericht sagen, aber sie hatte gerötete Augen, als hätte auch sie geweint, etwas, das Vil sich bis zu diesem Tag nicht hatte vorstellen können. Er sah ihr an, dass ihr im Gericht etwas Schreckliches widerfahren sein musste, noch schrecklicher als all das, was in den letzten Tagen geschehen war.

Kurz entschlossen ging er zur niedrigen Pforte und rief nach der Wache.

»Was wollt Ihr?«, wurde er mürrisch gefragt.

»Ich will wissen, wann wir endlich hier herauskommen!«

Die Wache schüttelte den Kopf. »Früher, als Euch lieb sein wird, junger Herr.«

Und dann, und das machte ihm noch mehr Angst, kam die böse Ahnung, dass dieses Furchtbare, das seine Mutter so erschüttert hatte, erst noch geschehen würde. Und nur ein Wunder würde sie noch retten.

Esrahil Gremm schrieb einen Brief. Das hieß, eigentlich starrte er nur auf die Schreibfeder in seiner Hand. Sie hatte sich seit Minuten nicht bewegt, und das Pergament, das sie beschreiben sollte, war noch beinahe leer. Die Anrede, er war über die Anrede nicht hinausgekommen!

Er stöhnte. Die Anspannung drückte ihm die Luft ab. Schließlich hielt er es nicht mehr aus: Er legte die Feder aus der Hand, stand auf, verließ die enge Schreibstube, lief durch den kurzen Flur zur Vordertür und trat hinaus, um Atem zu schöpfen.

Der Stundenturm des Viertels ließ seine blecherne Glocke erklingen.

Gremm hätte ihn nicht gebraucht, um zu wissen, was die Stunde geschlagen hatte. Die frische Frühlingsbrise, die vom Meer den Silbersteig heraufzog, half nicht. Die schweren Wolken, die über seinem Gemüt hingen, konnte kein Wind der Welt vertreiben.

Sein Blick glitt gedankenverloren durch die Gasse. Sie war beinahe menschenleer, ungewöhnlich für diese Tageszeit, aber er kannte den Grund nur zu gut. Er lauschte. Nein, der Wind war gnädig, er kam von der See und ließ Gremm den Lärm nicht hören, der ganz gewiss über der Arena aufstieg.

Stattdessen hörte er jetzt die hastigen Schritte von Abar Brasus, die den Silbersteig heraufeilten. Er war Kauffahrer, so wie Gremm, und sein Haus lag nur einen Steinwurf entfernt.

Gremm zog in Erwägung, ins Haus zurückzukehren, denn er verspürte wenig Lust, diesem stets fahrigen und zerstreuten Mann gerade jetzt zu begegnen. Doch Brasus hatte ihn schon erspäht und winkte aufgeregt.

Gremm zwang sich zu einem Lächeln und rief: »Euer Tuch, Menher Brasus, Ihr habt Euer Tuch verloren!«

Der Kauffahrer hielt inne, drehte sich um und bemerkte erst jetzt das leichte Stück Stoff, das der Wind die Gasse hinauftrieb, so dass es ihm fast wie ein Hund zu folgen schien. Er bückte sich behände, hob es auf und steckte es in seine zerbeulte Jackentasche, wobei er beinahe einige der Papiere verloren hätte, die er sich unter den linken Arm geklemmt hatte.

»Ich danke Euch, Menher Gremm«, rief er und hielt völlig außer Atem an. »Ich habe wirklich über die Arbeit die Zeit vergessen. Wisst Ihr, die Ladelisten, Ihr kennt das ja, nie werden sie fertig, immer gibt es noch etwas zu ändern oder zu ergänzen«, fuhr er fort und deutete auf die Pergamente unter seinem Arm.

Gremm nickte beiläufig und wünschte sich, der Mann würde einfach weitergehen.

»Kommt Ihr nicht mit?«, fragte Brasus freundlich.

»Mitkommen?«

»Die Arena. Wenn wir uns beeilen, sind wir vielleicht noch rechtzeitig zur Hinrichtung dort. Ich muss nur vorher «

»Menher Brasus!«, unterbrach ihn Gremm schroff und einigermaßen fassungslos. »Seid Ihr toll? Wisst Ihr denn nicht, dass es mein Schwager ist, der dort heute hingerichtet wird? Glaubt Ihr etwa wirklich, ich wollte dabei zusehen?«

Brasus starrte ihn entsetzt an. »Bei den Himmeln, Gremm, wo habe ich nur meine Gedanken! Oh, es tut mir leid, es tut mir schrecklich leid. Ich hatte vergessen, ich « Der Kauffahrer verstummte, verbeugte sich fahrig zum Abschied und hastete davon.

»Menher Brasus, Eure Papiere!«, rief ihm Gremm hinterher. Aber er sah nicht mehr zu, wie der andere den Pergamenten hinterherjagte, die er bei seinem überstürzten Aufbruch verloren hatte und die der Wind nun durch die Gasse trieb.

Es war ein Fehler gewesen, vor die Tür zu treten. Mit hängenden Schultern kehrte Gremm zurück in die Schreibstube. Die Schreibfeder lag immer noch da, wo er sie abgelegt hatte, sie hatte ihm nicht den Gefallen getan, die Arbeit, die er nicht zu bewältigen wusste, für ihn zu erledigen.

Esrahil Gremm setzte sich, wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und nahm die Feder zur Hand. Für seinen unglücklichen Schwager konnte er nichts mehr tun, aber vielleicht konnte er seine Schwester und ihre Kinder retten.