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Klaus Robra

Wege zum Sinn

INHALT

Einleitung: Wert, Sinn und Telos (Ziel und Zweck)

ERSTER TEIL: Was sind Werte?

Werten, um den Zielen Sinn zu verleihen? – Bedeutungen des Wortes ‚Wert‘ – Was also sind Werte? – Vielfalt von Messwerten und Zahlenwerten – Wie entstehen Werte im Kindes- und Jugendalter? – Grenzen des Wertens und der Werte?

ZWEITER TEIL: Zur Geschichte der Wert-Begriffe in antiker Philosophie

Platon – Aristoteles, die Tugend und das Glück – Fundierung in der Seelenlehre – Spezielle Werte-Lehre – Epikur, die Stoa und der Skeptizismus – Epikur: Glück durch Maß und Freude – Stoisches Glück: Ataraxia durch Tugend – Skeptizismus: Entwertung der Wertung? – Skeptische Wertungen wider Willen – Fazit

DRITTER TEIL: Religiöse Werte

Christentum – Jesuanische, paulinische und andere frühchristliche Werte (= Sinn?) – Was aber ist das ganz Neue an der Wertlehre Jesu? – Logos, Wert und Sinn – Menschwerdung und Person-Sein – Liebes-Tugenden – Glaube, Liebe, Hoffnung – Zur Bergpredigt – Goldene Regel – Grundlagen des Neuen Bundes der Freiheit vom Gesetz – Das Gewissen: unfehlbarer Kompass der Werte? – Fazit – Kritischer Rück- und Ausblick: weltliche Dimensionen frühchristlicher Wertlehre – Wert-Behauptungen – Wert-Vermutungen – Bewertung der frühchristlichen Werte (Nietzsche, Bloch)

Christliche Werte von der Antike bis zur Gegenwart – Augustinus – „Noli foras ire …“ (Geh‘ nicht hinaus …): Augustinus‘ Weg zur Wahrheit – Gott-Gemeinschaft (Civitas Dei) und „teuflischer“ Erdenstaat – Fundamentalismus mit bösen Folgen? Zur Kritik der Wert-Vorstellungen des Augustinus – Franz von Assisi – Gott, Mensch, Natur und Universum im Ganzen – Zur „Predigt an die Vögel“ – Demut, Armut, Evangelium – Parallelen zu Augustinus? – Thomas von Aquin – Der „Wendepunkt unserer Wertschätzungen“? Von Augustinus zu Meister Eckhart – Meister Eckhart – Kulturverfall trotz (oder wegen?) höchster Werte? – Kritik an Bergmeiers Kritik – Reformatoren – Martin Luther – Luthers Menschenbild und das Gewissen – Christliche Freiheit, aber unfreier Wille; Katechismen mit „Haustafel“ – „Allgemeines Priestertum“, Gewaltenteilung, Pluralisierung

Luther-Kritik – Johannes Calvin – Gott: Schöpfer, Lenker und Bewahrer – Die Genfer „Kirchenzucht“ – Prädestination, Arbeitsethik und Seelentrost (?) – Wirtschaftsethik – Calvin-Kritik – Thomas Müntzer – Thomas Müntzer: eine tragische Symbolgestalt der deutschen Geschichte? – Gegenreformation: Ignatius von Loyola u.a. – Kritik am Jesuitismus

Griechisch-/ russisch-orthodoxes Christentum: eine willkommene Alternative? – Fazit – Christliche Werte seit Beginn der Neuzeit – Zwischenfragen – Fragen zwischen den Zeiten – Ausblick

Werte des Glaubens, der Gnade und der Innerlichkeit – Pascal – Puritanismus – Pietismus – Christliche Sozialwerte – das Christentum und die sozialen Probleme – Christlicher Sozialismus – F. R. de Lamennais – Ch. Blumhardt – Paul Tillich: Lösung der Sinnfrage? – Würdigung – Theologie der Befreiung – Christliche Soziallehren: Katholi-sche Soziallehre und Evangelische Sozialethik – Evangelische Sozialethik

Werte in den nicht-christlichen Religionen – Projekt Weltethos – Stammesreligionen – Judentum – Islam – Islamismus – Sufis und Aleviten – Hinduismus – Buddhismus – Kritische Würdigung: Buddha und der Buddhismus – Daoismus und Konfuzianismus – Konfuzianismus

VIERTER TEIL: Weltliche Werte seit dem Mittelalter

Freiheits- und Emanzipationsbewegungen im Mittelalter – Vom Mittelalter zur Renaissance – Giotto – Petrarca – Zwischen Renaissance und Barock: die Utopisten Morus und Campanella – Campanellas Sonnenstaat – Fazit

Vom Barock zur Aufklärung – Descartes – „ … ich bin ein Wesen, das denkt“ – Freiheit, Wille und Erkenntnis – Zukunftsträchtig: Neue Ideentheorie … – Fazit: Descartes – veraltet und modern zugleich?

Vom (Anti-) Cartesianismus zum Personalismus … – a) Idealisten: Spinoza und Leibniz – Spinoza – Kommentar – Leibniz – b) Materialisten: Gassendi und Hobbes – Gassendi – Descartes‘ Antworten auf Gassendis Kritik – Hobbes – Rückblick auf die Kontroversen mit Descartes

Werte der Klassik? … 17. Jahrhundert – Wert(e) der Aufklärung – Montesquieu … – Voltaire, Diderot und die „Enzyklopädie“ – Materialisten – a) Lamettrie: Sind alle Werte relativ? – Lamettries Ethik – Kritische Würdigung: Lamettrie und die Werte – b) D’Holbach und andere – Rousseau – Fazit – Die Toleranz-Idee bei Voltaire, Lessing, Goethe u.a. – Lessing und Goethe – Fazit und Ausblick

Revolutionen und Menschenrechte – 1. Die US-amerikanische Revolution – 2. Die Französische Revolution, die Menschenrechte und die Grund-Werte der Demokratie – Marx‘ Kritik an den Menschenrechtserklärungen – Kritik an Marxens Kritik – Ausblick – Immanuel Kant: Gibt es allgemein verbindliche Werte? – Kantische Bedeutungserweiterung – Kantische Bedeutungsverengung – Folgerungen – Hierarchie der Werte? Zum klassischen deutschen Humanitätsideal und zum Deutschen Idealismus – Zur Dialektik – Folgerungen

Romantik – Novalis

Marxismus – von Marx zur Gegenwart oder auch: vom Gebrauchswert zum Wert der Freiheit – Mystifikationen des absoluten Wissens – Resultat: Naturalismus = Humanismus – Vom Gebrauchswert zum Reich der Freiheit – Gebrauchswert, Tauschwert, Mehrwert – Von Marx zur Gegenwart

Vom Positivismus zum Neoliberalismus – via Utilitarismus, Pragmatismus, Kritischen Rationalismus – Utilitarismus – Pragmatismus – Selfmademan – Kritischer Rationalismus – Liberalismus – Neoliberalismus / Globalisierung

Von Nietzsches Lebensphilosophie zur Psychoanalyse – Sinn und Wert des menschlichen Daseins: von Heidegger zu Sartre und Camus – Zum „Sinn von Sein“ – Zeitlichkeit, Verstehen, Sprache – Ereignisdenken – Weltzeit – Kritische Heidegger-Würdigung – Fazit?

Sartres Existenzialismus und Marxismus: Wert-Theorien der besonderen Art – Das An-sich – Das Für-sich – Das Für-Andere-Sein – Liebe und Sexualität – „En-soi-pour-soi“: Synthese im „An-und-für-sich“? – Wert (‚la valeur‘): ein Schlüssel zum Ganzen!? – Freiheit und Verantwortung – Freiheit, Materialismus und Revolution – Zur Kritik der dialektischen Vernunft – Vom Sinn der Dialektik zur Dialektik des Sinns: ein Wert-Problem? – Sinnfrage – Bedürfnis und Knappheit – Die Gruppe – Zu Sartres politischem Engagement – Sartre-Kritik – Kritik an Sartres Freiheits-begriff – Kritik an Sartres „Korrektur des Marxismus“ – Unerkannte Mängel? – Albert Camus: vom Glanz mittelmeerischer Werte – Das Absurde und die Revolte – Mittelmeerisches Denken – Marxismus und Stalinismus: Terror statt Freiheit? – Camus‘ eigenständige Lebensphilosophie – Was Camus und Sartre trotz allem verbindet.

Personalismus: Wert-Philosophie par excellence? – Zum Person-Begriff der Existenzphilosophie – ‚Persona‘ – zur Geschichte des Person-Begriffs – Ganzheitliche Konzepte des Person-Seins – William Stern – Emmanuel Mounier – Würdigung – Fazit zum Personalismus

Nochmals: Globalisierung – Wert und/oder Unwert? – Kulturelle Globalisierung – Die globale digitale Revolution unserer Zeit – Kulturvermischung – Gewinner (?) und Verlierer (?) der Globalisierung? – Politische Konsequenzen?

Werte-Wandel – Zur Kritik – Orientierung durch Werte? Eine vorläufige Zusammenfassung – Werte-Synthesen – Kritik an Ladwigs „Interessen“ - Konzept

FÜNFTER TEIL: Von Zielen und Zwecken

Glanz und Elend der Teleologie – Zur Geschichte der Teleologie – Antike und Mittelalter – Platon – Aristoteles – Mittelalter (Scholastik)

Vom Mittelalter zur Neuzeit – Leibniz – Kant – Natur-Teleologie als „reflektierende Urteilskraft“ – Von höchsten Zwecken – Nachtrag zum Problem der Natur-Teleologie – Kleine Kant-Kritik – Deutscher Idealismus: Fichte, Schelling, Hegel – Fichte – Schelling – Kritik an Schellings Natur-Teleologie – Schellings Verdienste – Hegel – Von Zwecken und Endzwecken der Weltgeschichte – Macht und List der Vernunft – Endzwecke – Hegel-Kritik – Hegels Setzungen – Überprüfung die-ser Setzungen – Fazit

Marx und Engels – Teleologie der Arbeit und der Theorie als Ganzer – a) Teleologie der Arbeit – b) Teleologie der Theorie als Ganzer – Phase I: Entfremdung – Phase II: Mittel und Wege der Emanzipation – Phase III: Endzweck: Ende der Entfremdung, Freiheit des Einzelnen in einer freien Gesellschaft – Vorläufiges Fazit

Evolutionstheorie – Lothar Wendts teleonomische Beschreibung der Evolution – Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche – Utilitarismus und Pragmatismus

Ernst Bloch: Offene Teleologie – Neuer Materiebegriff … – Offene Teleologie als kosmologische Welterklärung – Teleologie von unten, von oben und aus der Mitte – Tendenz und Latenz – Latenz – Vom Nicht zum Alles oder Nichts. Kosmologische und teleologische Deutung – Nahziele und Fernziele, Endziel – Teleologie der Kunst – Ausblick: „Natursubjekt“ ohne Natur-Teleologie? – Natur-Allianztechnik – Nicolai Hartmanns Kritik an der Geschichts-Teleologie: Kritik an Bloch? – Gegenkritik – Zusammenfassung – mit ein paar Folgerungen und Weiterungen

SECHSTER TEIL: Zeit (und Raum)

Was ist das, die Zeit? – Verrückte Zeit (rheinisch: „jecke Zick“)? – Karlheinz A. Geißler: Alles. Gleichzeitig. Und zwar sofort. – Von Uhren und Uhrzeit-Ordnungen – Endlos beschleunigen? Turbo-Zeit – Die Simultanten und ihr Zauberwort: „Vergleichzeitigung“ – Böse Folgen – Gegenmittel – Folgerungen und Perspektiven – Zeittechnik – Fazit – Hypothese zur ursprünglichen Weltzeit

SIEBENTER TEIL: Vom Sinn

Herkunft und Bedeutung des Begriffs ‚Sinn‘ – Nicht-Sinn („Absurdistan“) – Sinnkrisen – Zur Geschichte des Sinnproblems (N. Hartmann) – Kritische Würdigung

Sinn des Lebens? – Kritische Würdigung zu Spät – Würdige Nachfolge N. Hartmanns: Wilhelm Schmids radikaler Subjektivismus – Kritische Würdigung zu W. Schmid – Sinn des Lebens: das Leben selbst? – Sinn des Lebens‘ – zur Begriffs- und Problem-Geschichte – Der Sinn des Lebens – ein Sammelband – Kann man für sich selbst den Sinn des Lebens ermitteln?

Schlusskapitel: zum Sinn von Sein – Sinn – vom Sein zur Sprache und zurück – Wert- und Sinn-Synthesen

Statt eines Nachworts: Sinn-Bekenntnisse eines Rentners – Und warum weiterleben? – Schizophrenie? – Das Widersacherische, das destruktiv Transpersonale – „No man is an island“ Warum leben wir zusammen? – Die Entelechie (das In-Möglichkeit-Sein) oder auch: Autoadaptionstheorie – Die Katastrophe – Modernes Raubrittertum? – Et kütt, wie et kütt – Positiv und/oder kritisch-rational? – Das Leben, der Tod und die Gesellschaft

Einleitung: Wert, Sinn und Telos (Ziel und Zweck)

Vor mir auf meinem Schreibtisch steht ein Glas Wasser, einfach so. So einfach? Mit Wasser in dessen So-Sein? Nun, bekanntlich besteht jedes Molekül dieser Flüssigkeit aus H2O, je zwei Teilen Wasserstoff und einem Teil Sauerstoff. Und damit basta? Nein, denn keineswegs erschöpft sich in dieser ersten Aussage zu Form und Inhalt mein persönlicher Bezug zu dem „Gegenstand“ Wasser. Dessen Wert besteht ja u.a. darin, dass ich damit ein Grundbedürfnis befriedigen: meinen Durst stillen kann. Darin sehe ich bereits einen eigentümlichen Sinn des Wassers, dieses Ur-Elements allen Lebens: Wasser trinken macht Sinn, erfüllt einen Zweck. – Dies wiegt umso schwerer, als mir bewusst wird, dass ich selbst, d.h. mein Körper, vor allem aus Wasser bestehe, dass ich selbst Teil der Natur bin; in meinem So-Sein.

Darüber hinaus liegen zahlreiche weitere Zweckbestimmungen des Elements Wasser auf der Hand, so in dem eher unernsten Kehrreim:

„Wasser ist zum Waschen da, fallderie und falldera, auch zum Zähneputzen kann man es benutzen. / Wasser säuft das liebe Vieh, falldera und fallderie, und auch die Feuerwehr benötigt Wasser sehr.“

Zweifellos naheliegende, „simple“ Antworten auf Fragen nach dem Wozu? des Wassers. Somit immerhin Ziel- und Zweckbestimmungen, Hinweise zu möglichem Telos.

Ohne deshalb die „Kehrseiten“, d.h. die Zerstörungskräfte des Wassers, zu verkennen. – Und leider auch in Kenntnis der Probleme, die inzwischen – verstärkt durch den Klimawandel – weltweit durch den Raubbau an der knappen Ressource Wasser entstanden sind. (Vgl. Bis zum letzten Tropfen, DER SPIEGEL Nr. 33 / 8.8.2015, S. 8-16.) Das kostbare Nass wird vergeudet; wobei ‚kostbar‘ Wert und Telos zugleich, nämlich sowohl ‚wertvoll‘ als auch ‚verwertbar‘ (‚genießbar‘?) bedeutet.

Sinn, Wert und Telos scheinen jedenfalls eng zusammenzuhängen. Von dieser Grundannahme gehe ich aus; sie bedarf jedoch näherer Überlegung, zumal wei - tere Annahmen zu bedenken sind. So die folgende: Anscheinend beginnt alles mit einem Weltbezug. Die Welt des Big Bangs (des sogenannten „Urknalls“) ist die des entstehenden Universums. Die Welt des Ungeborenen ist der Uterus, oder besser: der Mutterleib, das Ziel („Zielgebiet“?) der Vaterschaft.

Und schon vor der Einnistung der befruchteten Eizelle in der Gebärmutter beginnen die Vorgänge der Reifung der Person, die sich während der gesamten Schwangerschaft fortsetzen, und dies keineswegs nur passiv, sondern in aktiver Auseinandersetzung mit allerlei Umwelteinflüssen. Seit langem ist bekannt, dass Ungeborene vieles trainieren, z.B. Schluckmuskeln und Nieren durch den Genuss von Fruchtwasser, sodann Saugen und Daumenlutschen, später auch immer kräftiger werdende Bewegungen von Händen und Füßen.1

Die Reifung des Individuums beruht nachgewiesenermaßen sowohl auf genetischer Information als auch auf aktivem Objekt-Bezug. Daraus entwickelt sich vielleicht schon vorgeburtlich, auf jeden Fall aber im Kindheits- und Jugendstadium ein Prozess aktiver Wertung. Wir erfahren die Gegenstände der Außenwelt und die unserer Innenwelt (unsere „mentalen Objekte“) nicht bloß passiv, sondern suchen aktiv wertend nach Möglichkeiten, uns diese Gegenstände und Objekte zu Nutze zu machen. Gegenstände ergreifen kann der Säugling nicht zuletzt durch zielgerichtetes Handeln, d.h. adäquate Bewegungen, insbesondere der Hände. Solches Tun macht Sinn, auch wenn es noch weitgehend unbewusst geschieht. Darin liegen offenbar tief verankerte Grundlagen des Nexus, der engen Verbindung von Sinn, Wert, Ziel und Zweck.2

Inwieweit sich aus dieser Feststellung neue Möglichkeiten der Erklärung des Sinn-Problems ableiten lassen, bleibt näher zu untersuchen, und zwar nicht nur in ontogenetischer Perspektive (also im Blick auf die Entwicklung des Individuums, der Einzelperson), sondern auch phylogenetisch, also menschheitsgeschichtlich, und darüber hinaus: in evolutionsgeschichtlicher Sicht. Denn zweifellos finden sich ähnliche Vorgänge wie bei der Menschwerdung bereits in der Tierwelt und sogar in den Informations-Übertragungen, die vor der Entstehung des Lebens bzw. in vorbiotischen Stadien der Evolutionsgeschichte nachweisbar sind.3

Näher zu erklären bleiben die Zusammenhänge zwischen Werten, Zielen, Zwecken und der Sinnfrage. Eine erste Annäherung ermöglicht die folgende Grafik, in der eine ganzheitliche Einordnung des Wert-Begriffs – bis hin zur Lebenswelt und zum „Weltgeschehen insgesamt“ – versucht wird, ohne das „Sein im Ganzen“ zu bemühen. Denn das Sein ist das Ganze, das nicht (mehr) überschaubar ist. Angeblich ist das Sein „überall“ anzutreffen – und es ist doch zugleich „nirgends“, solange es wesensmäßig (als „Sein des Seienden“) nach wie vor unbestimmbar zu sein scheint.

Allerdings ist auch das „Weltgeschehen insgesamt“ keineswegs überschaubar, sondern immer nur in Ausschnitten, in Teilaspekten, darstellbar. Außerdem geht das Weltgeschehen kosmologisch aus etwas Ursprünglichem hervor, das unendliche Dimensionen der Zukunft und der Vergangenheit aufscheinen lässt: aus dem In-Möglichkeit-Sein der Materie. Insofern geht mein eigener Standpunkt weder in Lebensphilosophie noch in Pragmatismus auf. Daher setze ich – abweichend von Hillmann (s.u.) – zuoberst das

(Vgl. Karl-Heinz Hillmann: Wertwandel. Ursachen – Tendenzen – Folgen, S. 389)

In der vorstehenden Grafik habe ich die ursprünglichen, nach oben gerichteten Pfeile durch Sternchen ersetzt, weil zwischen den aufgeführten Begriffen zweifellos Wechselwirkungen bestehen. „Objektive“ Werte verändern unsere persönlichen Wertorientierungen und umgekehrt. Ziel-, Zweck- und Sinn-Elemente richten sich auf die gesamte Lebenswelt und auf die Welt im Ganzen, werden aber auch ständig von letzteren beeinflusst.

Nichtsdestoweniger entspricht Hillmanns Grafik großenteils der Grundidee meiner Arbeit. Dennoch doch gibt es da schwerwiegende Unterschiede, nicht zuletzt hinsichtlich der Begriffs-Inhalte.

Gemäß seiner Forschungsabsicht behandelt Hillmann das Wert-Problem hauptsächlich im Zusammenhang mit den vielfältigen Problemen des Werte-Wandels, während er den Begriff Wert selbst vor allem als Folge individueller Sozialisation interpretiert (a.a.O. S. 53). Philosophie- und religionsgeschichtliche Aspekte berücksichtigt er eher beiläufig.

Werte sind aber zweifellos Produkte nicht nur individueller Geschichte, sondern auch der allgemeinen Menschheitsgeschichte und ihrer unterschiedlichen (kulturellen) Traditionen. Damit aber beschäftigt sich vor allem die Philosophie, insonderheit die Wertphilosophie, aber auch die Religionsphilosophie. Werte werden erst dann voll verständlich, wenn man ihre allgemein- und geistesgeschichtlichen Hintergründe erfährt. Dann erst kann auch Verständnis für fremdkulturelle Werte-Traditionen erwartet werden – eine entscheidend wichtige Voraussetzung für jegliche interkulturelle, Völker und Nationen übergreifende Verständigung über gemeinsame und unterschiedliche Werte – und nicht über vages bzw. unbestimmbares Sein. (Wobei dem ‚métissage culturel‘, der Kulturvermischung, natürlich besondere Bedeutung zukommt.)

Werte bewähren sich im Alltag – in sinnvollen Handlungen und Einrichtungen. Die damit verbundenen „Ziele und Zwecke“ können aber nur dann angemessen untersucht werden, wenn über die Lehre von ihnen, d.h. über unterschiedliche Formen der Teleologie, Aufschluss vermittelt wird. Dies versuche ich – anders als Hillmann –, und zwar im Fünften Teil meiner Arbeit.

Außerdem beziehe ich, ebenfalls über Hillmann hinausgehend, das Problem Zeit im Sechsten Teil ausführlich in die Überlegungen ein. Was natürlich auch das im 7. Teil behandelte Sinn-Problem in anderem Licht erscheinen lässt.

1  Vgl.http://www.dvck-sosleben.denachrichten/news344html 344, S. 1

2  Das griechische ‚telos‘ bedeutet – neben u.a. Zweck, Ziel, Vollendung, Ende – angeblich auch Sinn, kommt jedenfalls in dieser Bedeutung in der Literatur anscheinend nur selten vor.

3  Vgl. Lothar Wendt: Das physikalisch-teleologische Weltbild, Bd. II, Heidelberg 1988; Thomas Görnitz, Brigitte Görnitz: Die Evolution des Geistigen. Quantenphysik – Bewusstsein – Religion, Göttingen 2009

ERSTER TEIL

Was sind Werte?

Werten, um den Zielen Sinn zu verleihen?

Ziel und Zweck kann für den Menschen alles Wirkliche und Mögliche werden, denn in allem steckt, wie mit Bloch anzunehmen ist, die Entelechie, das In-Möglichkeit-Sein der Materie. Nicht weniger belangvoll ist jedoch die Tatsache, dass Menschen sich keineswegs auf alles beziehen, keineswegs alles anstreben können. Zumal sie durchweg das, was sie anstreben, zuvor bewerten, sorgsamer Abwägung unterziehen, z.B. von Vor- und Nachteilen, möglichem Nutzen und möglichem Schaden. Nur selten wählen und entscheiden sie blindlings, stürzen sich in Abenteuer mit unkalkulierbarem Risiko. Dergleichen zu wagen, scheint selten Sinn zu machen.

Außerdem kommt es bekanntlich vor, dass Menschen ihre Zwecke und/oder Ziele nicht erreichen, weil sie trotz allen Abwägens die falschen Mittel gewählt haben oder widrige Umstände das Gelingen einer Handlung verhindern (wie z.B. beim Eintreten einer unvorhersehbaren Naturkatastrophe an einem lang ersehnten Urlaubsziel). Um sich vor solchem Scheitern möglichst zu schützen, bedarf es einer Entscheidungshilfe zwischen Telos und Sinn. Wir wollen verhindern, dass unsere Ziele und Zwecke entwertet bzw. sinnlos werden. Solche Entscheidungshilfen bietet das Werten, das Abwägen auf Grund von Wert-Zumessungen.

Das Werten tritt schon sehr früh auf, vielleicht schon im Mutterleib; jedenfalls lange bevor Heranwachsende sich einen Begriff von dem machen können, was Wert und Sinn tatsächlich bedeuten. Folglich ist zu fragen, worin das Werten besteht, d.h. zunächst, worauf es abzielt: die Werte.

Bedeutungen des Wortes ‚Wert‘

Etymologisch führt Norbert Jung die Herkunft des Adjektivs ‚wert‘ zurück auf „Geltung, Bedeutung habend, angesehen, geschätzt, lieb, teuer“.4 In Meyers Deutsches Wörterbuch (zu: Meyers enzyklopädisches Lexikon, Mannheim 1981) finden sich für ‚Wert‘ folgende sechs Grundbedeutungen: 1. Marktwert beim Kauf, 2. Tauschwert (marxistisch gesehen), 3. positive Bedeutung, Wichtigkeit, dazu auch der Ausdruck ‚auf etwas Wert legen‘, 4. Zahlenwert, 5. Wert einer Briefmarke, 6. Wert statt ‚Wertpapier‘. Schon hier fällt die für das Deutsche typische Häufung von Substantiv-Verbindungen (Marktwert, Tauschwert usw.) ins Auge. Meyers Wörterbuch listet rund 50 (!) solcher Verbindungen auf, von der Wertbeständigkeit u.a. über den Wertgegenstand, den Wertmaßstab, die Wertpapierabteilung und die Werteskala bis hin zum Werturteil, der Wertvorstellung und dem Wertzuwachs – sicherlich ein Hinweis auf die nicht nur quantitative Bedeutsamkeit des Begriffs Wert. Dazu passt die Sprachverwandtschaft des Wortes mit >„drehen, gegen etwas wenden, gegenüber sein“ (lat. versus), „zugewandt“ und „als Äquivalent gegenüberstehend“…<, worauf Norbert Jung ebenfalls hinweist, um danach zu kommentieren: „Menschen können ehren- oder liebenswert, aber auch verabscheuenswert sein, Dinge können wissens-, sehens-, lesenswert sein. Das Substantiv Wert meint: „Preis, Geltung, Wertschätzung“, mittelhochdeutsch auch im Sinne von Kaufpreis, Wertsache, Ware, aber auch Standesehre, Geltung, Ansehen, Würdigkeit, Herrlichkeit. Auf diesen Begriffsinhalt beziehen sich auch unsere Worte von verwerten, gleichwertig, minder-, vollwertig. Die Sprache meint also Dinge, Positionen oder Verhaltensweisen, die man anstrebt.“ (a.a.O. S. 116).

Blickt man über den deutschen Tellerrand hinaus, fällt im romanischen Sprachraum die Bedeutungs-Vielzahl und -Vielfalt von Wörtern wie französisch ‚valeur‘ und italienisch ‚valore‘ auf, die durchweg auf die lateinische Wurzel, das Verb ‚valere‘, zurückgeht. Ähnliches gilt für das englische ‚value‘, mit einer Vielzahl von Ableitungen wie ‚valuable‘ (wertvoll, nützlich u.a.), ‚valued‘ (hochgeschätzt) und ‚valorous‘ (mutig u.a.). Für das lateinische ‚valere‘ lassen sich in einem lateinisch-deutschen Wörterbuch folgende – über die schon genannten hinausgehenden – Bedeutungen auffinden: „kräftig sein; gesund sein, sich wohl befinden … mächtig sein, Einfluß haben, …, vermögen, geeignet, imstande sein …; sich beziehen auf …“ 5 Hier geht es um Realitäten ganz unterschiedlicher Art, angefangen von biologischen Fakten, wie dem Gesundsein, bis hin zu psychologischen, soziologischen und politischen Gegenstands- und Vorstellungsbereichen.

Insgesamt gesehen handelt es sich anscheinend vorwiegend um Objektives bzw. objektiv Feststellbares – wie Marktwert, Tauschwert, Zahlenwert usw. -, weniger häufig um Subjektives wie ‚liebenswert‘, ‚Ansehen‘, ‚auf etwas Wert legen‘ (letzterer Ausdruck in Kombination mit dem eher objektiven ‚etwas‘!). Schon aus diesen Bedeutungsmerkmalen lassen sich wohl Vermutungen ableiten über das, was beim Verstehen des Wert-Begriffs zu beachten ist.

Was also sind Werte?

Wortbedeutungen beziehen sich stets auf (verallgemeinerte) Vorstellungen. Davon aber gibt es dermaßen zahlreiche, vielfältige und unterschiedliche, dass ihre auch nur annähernd „erschöpfende“ Analyse ausgeschlossen erscheint, und zwar erst recht in unserer Zeit der Globalisierung, die sämtliche Weltregionen in den Blickpunkt des Interesses rückt. Gern würde man daher Zuflucht bei prägnanten, griffigen Definitionen des Wert-Begriffs suchen, wobei die Suche ohnehin zunächst auf unseren abendländischen Geschichts- und Kulturkreis beschränkt sein muss, um nicht im Uferlosen zu versinken.

Eine solche „griffige“, gelegentlich anzutreffende Definition lautet, Werte seien Eigenschaften, die Menschen bestimmten Objekten zumessen; was korrekt zu sein scheint, aber wegen seiner Vagheit kaum weiterhilft. Richtig ist zwar, dass Werte keine Eigenschaften von Dingen bzw. Objekten sind, sondern diesen – in dialektischen Subjekt-Objekt-Beziehungen – zuerkannt werden. Unklar bleibt jedoch, welcher Art diese Beziehungen sind und insbesondere, um was für Eigenschaften es sich handelt, die von welchen Subjekten welchen Objekten zuerkannt werden.

Mehr Aufschluss hierüber ist zu erwarten, wenn man ein philosophisches Wörterbuch konsultiert. Darin heißt es z.B. kurz und bündig, Wert sei „ein von den Menschen gefühlsmäßig als übergeordnet Anerkanntes, zu dem man sich anschauend, anerkennend, verehrend, strebend verhalten kann.“6 Eine wahrscheinlich hilfreiche Definition, die aber nicht ausreicht angesichts der Bedeutungsfülle des Begriffs ‚Wert‘.

Norbert Jung hat dieses Problem genau erkannt und versucht, es dadurch zu lösen, dass er interdisziplinär mehrere Wissenschaften zu Rate gezogen hat, und zwar insbesondere die Biologie (nebst Verhaltens- und Neurobiologie), die Psychologie (inklusive Neuropsychiatrie) und die Soziologie, aber auch Systemtheorie und Philosophie. Woraus sich mehrere Möglichkeiten der Unterteilung und Klassifizierung ergeben. (Hierzu auch: Franz von Kutschera: Wert und Wirklichkeit, Paderborn 2010. Der Autor unterscheidet u.a. zwischen subjektiven und objektiven Werten, klassifikatorischen, komparativen und metrischen Wertbegriffen, a.a.O. S. 11 ff. – Die Unterscheidung zwischen „subjektiven und objektiven Werten“ halte ich jedoch für fragwürdig, weil Werte sich stets in dialektischen Subjekt-Objektbeziehungen darstellen, wodurch Subjektives und Objektives ineinander übergehen.)

Dabei fällt auf, dass schon in den Naturwissenschaften zahlreiche teleologische Aspekte und Verstehensmöglichkeiten auftauchen, was meine Grundannahme von der engen Verzahnung von Telos, Wert und Sinn vollauf bestätigt (s.o.).

Als wahrscheinlich umfassendsten naturwissenschaftlichen Erklärungsversuch nennt Norbert Jung einen – auf Erkenntnissen von Laszlo und Karl R. Popper beruhenden –, wonach „alles in der Natur füreinander Wert hat, da alles einander braucht für sein Leben“ (a.a.O. S. 119). Goethe habe sogar von der „wissenden Wirklichkeit der Natur“ gesprochen, ein weiteres Indiz dafür, dass Blochs – teleologisch geprägte – Annahme eines Natursubjekts durchaus nicht abwegig ist (s. u.). Wenn in der Natur „alles einander braucht“, bedeutet dies, dass Lebe-wesen schon um ihrer Selbsterhaltung willen gezwungen sind, Wertungen vorzunehmen, wozu es an Beispielen schon aus dem Tier- und Pflanzenreich nicht mangelt. Jung führt u.a. folgendes an: „Der Balztrieb eines Vogels >weiß<, dass er zu einer möglichst reichen Fortpflanzung führen solle (>Zweck<).“ (ebd. S. 118).

Anzunehmen ist folglich, dass die Wert-Sphäre nicht als rein geistige gelten kann (wie dies u.a. Nicolai Hartmann behauptet hat). Werte sind vielmehr „Merkmale des Lebens“ (Jung a.a.O. ebd.). Unübersehbar ist ihre genetische Verankerung, die einige Wissenschaftler als „teleonomisch“, d.h. gesetzmäßig zielgerichtet, bezeichnen.

Dem entspricht die psychologische Erkenntnis, dass Wertungen nicht rein vernunftmäßig, sondern weitgehend emotional bedingt sind. Unbewusste Triebkräfte, Wünsche und Bedürfnisse erheischen Wertungen und diesen angemessene Problemlösungen. (Was, wie man heute weiß, großenteils sogar – „passivistisch“ –, d.h. vom Unbewussten, in unterhalb der für die Vernunft zuständigen Großhirnrinde gelegenen Regionen des Gehirns, geleistet wird!)

Handlungstheoretisch gelten Werte demgemäß als „Ziele, die der Mensch durch sein Handeln anstrebt.“ (Jung ebd. S. 116). Darüber hinaus sei anzunehmen, dass jegliche Finalität wertbezogen ist. („Nichts, was ein Ziel anstrebt, ist wertfrei.“ ebd.)

Was die Person des Menschen zur Persönlichkeit macht, hängt durchweg von solchen wertgebundenen Entscheidungen und Handlungen ab. Damit verbindet der Mensch seine Identität und sein Selbstbild. Werte und Wertungen bestimmen seine Orientierung, seine Lebensziele und wohl jede Art von Sinngebung, erstrecken sich daher nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf Vergangenheit und Zukunft. Sie prägen jegliches Weltverständnis, jegliche Weltanschauung, wahrscheinlich auch jegliche Moral und Ethik. Soziologisch gelten moralische Werte als „die soziale Grundgrammatik“ (ebd. S. 117).

Um dies zu illustrieren und zugleich den (möglichen) Bedeutungsumfang des Wertbegriffs zu berücksichtigen, füge ich eine Aufzählung an, die der Biologe und Philosoph Hans Mohr darbietet, wobei zugleich erkennbar wird, dass Werte hierarchisch, d.h. nach „höheren“ und „niederen“, organisiert sind. Mohr unterscheidet zwischen „instrumentalen“ und „terminalen“ Werten, wobei letztere – als die in stärkerem Maße ziel- und zweckgerichteten – durchweg den ersteren vorgeordnet werden. Im Einzelnen handelt es sich um

„Instrumentale Werte: … Verhaltensweisen, die für gut gehalten werden, wie rationales Verhalten, Fairneß, Fleiß, Altruismus, Ehrlichkeit, Unvoreingenommenheit, Mut, Tapferkeit, Ritterlichkeit, Verzichtbereitschaft, Liebe“, und um „Terminale Werte: … Erstrebenswerte (End-)Zustände oder Ziele, z.B. Freiheit, Frieden, (soziale) Gerechtigkeit …, materielle Sicherung der Familie, Gesundheit, saubere Luft, keine Überbevölkerung, Lebensqualität, Überleben.“ (Jung a.a.O. S. 118).

Außerdem unterteilt Mohr jede dieser beiden Kategorien weiter, und zwar in ideelle und materielle Werte. Als ideelle nennt er u.a. Gerechtigkeit, Weisheit und Nächstenliebe, als materielle u.a. Energie, Geld- und Sachwerte, aber auch „vitale Werte“ wie Gesundheit und Lebensfreude.

N. Jung betont die praktische Bedeutung der teleologisch verstehbaren Werte-Hierarchie für Mensch und Tier: „Werte können momentane Neigungen (oder niedere Werte) unterdrücken, zum Beispiel Bequemlichkeit oder Müdigkeit zugunsten von Verantwortung, Solidarität, sozialer Verpflichtung o.ä. Aktuelle Gefühle etwa von Unlust können zur Erreichung langfristiger Ziele hintangestellt werden … Das ist beim Menschen im Frontalhirn, dem jüngsten Hirnteil, ebenso verankert wie die moralischen Bewertungen etwa von Gut und Böse, hat also mit der Kontrollfunktion der mit dem Verstand verbundenen Regionen zu tun.“ (ebd.)

Erneut sichtbar wird bei der Gestaltung der Werte das vielfältige Wechselspiel – die unterschiedliche wechselseitige Beeinflussung – anscheinend sämtlicher Hirnregionen, d.h. sowohl der für Verstand und Vernunft als auch der für das Unbewusste zuständigen.

Was Norbert Jung nicht berücksichtigt, ist die unüberschaubare Vielzahl und Vielfalt von Messwerten und Zahlenwerten, die im Alltags- und Berufsleben und, darüber hinaus, in großen Teilen des Öffentlichen Lebens, in Wirtschaft und Gesellschaft, Politik, Wissenschaft, Kultur und Sport eine Rolle spielen. Alles mengenmäßig Vorhandene verwandelt sich in Wertgegenstände, sobald es sich als verwertbar, nützlich, dem Leben förderlich erweist. Durch unsere Wertungen werden aus Quantitäten Qualitäten. Beispiele: 1. In der Medizin können Werte über Leben und Tod entscheiden, z.B. bei der Früherkennung und Therapie von Krebs. 2. Unseren Lebensunterhalt bestreiten wir durchweg durch den Erwerb von Waren. Diese haben ihren Preis, ihren Tauschwert. Ihren Gebrauchswert gewinnen sie durch unsere Wertungen; wir bestimmen, welchen materiellen (körperbezogenen) und/oder geistig-seelischen Wert eine Ware für uns haben kann, wobei solche Wertungen von Fall zu Fall bei jedem Einzelnen und vor allem von einem Individuum zum anderen höchst unterschiedlich ausfallen können. 3. Im Alltag begegnen uns bewertbare Zahlen und Mess-Ergebnisse auf Schritt und Tritt, so in Form von Uhrzeiten, Telefon-Nummern, Datumsangaben, Fahrplänen, Sportergebnissen u.a.m. 4. Gerechnet und kalkuliert wird wahrscheinlich in allen Berufssparten; Handwerker, Techniker, Ingenieure, Architekten, Unternehmer, Freiberufler u.a. sind auf den nahezu ständigen Umgang mit Zahlen-Werten angewiesen. 5. Unternehmen, Börsen und Banken schwimmen förmlich in Zahlen, wobei sich diese teilweise zu verselbständigen scheinen und unkontrollierbar zu werden drohen. 6. Im politischen und staatlichen Leben werden laufend Zahlen (Statistiken) ausgewertet. 7. Schule und Wissenschaft sind ohne Messen, Zählen und Berechnen undenkbar. Kant behauptete sogar, in jeder Wissenschaft sei nur so viel gültig, wie in ihr Mathematik enthalten sei. – Last not least: In jedem Computer („Rechner“) wird mit Kombinationen der Ziffern 1 und 0 gearbeitet.

Insgesamt gesehen fällt auf, dass Werte überaus häufig in Form von Tugenden erscheinen, was umfangreiche (philosophie-)geschichtliche Analysen nahelegt (s.u.). Als Richtschnur und Faustregel schlage ich für diesen Fragenkomplex schon jetzt vor: Alle Tugenden sind Werte, aber nicht alle Werte sind Tugenden. Und was sind Werte? Als vorläufige Kurz-Definition schlage ich vor: Werte sind als positiv empfundene und/oder als solche zugemessene Eigenschaften und/oder Merkmale von Personen und Sachen (bzw. Sachverhalten).

Wie entstehen Werte im Kindes-und Jugendalter?

Dass Werte in Gefühlen und, darüber hinaus, in der genetischen Grundausstattung des Menschen verankert sind, weiß man nicht nur aus der Hirnforschung, sondern auch aus der Erforschung des vorgeburtlichen menschlichen Lebens. Seit langem ist bekannt, dass ein Fötus Beschallungen unter-schiedlicher Art – durch Alltagsklänge und andere Geräusche, Musik, Mutter- oder Fremdsprache – wahrnimmt, verarbeitet und nach der Geburt erinnern kann. Neueste Forschungen bestätigen dies. Der Heidelberger Psychotherapeut Ludwig Janus schließt daraus: „Wir sind schon im Mutterleib erlebende, fühlende Wesen und fähig, Sinnesreize aus unserer Umgebung aufzunehmen und zu verarbeiten.“ 7 Was die Mutter erlebt, erlebt das Ungeborene in abgewandelter Form mit, so auch Empfindungen und Gefühle wie Angst und Wut, aber auch Freude und Zufriedenheit. – Gefühle dieser Art gelten aber als Grundlagen jeglicher Wertung und jeglicher Be-Wertung von „gut“ und „schlecht“. So dass auch die Kategorie Bedeutung bereits relevant wird. (Vgl. Andreas Weber: Auf der Kippe, DIE ZEIT No. 14 vom 1.4.2015, S. 31.)

Zur weiteren Entwicklung im Kindes- und Jugendalter liegen ebenfalls umfang- und aufschlussreiche wissenschaftliche Ergebnisse vor. Säuglinge entwickeln früh wertende Gefühle wie Mitgefühl, Gerechtigkeitssinn und Hilfsbereitschaft.8 „Gegenseitigkeit ist … dem Kind schon etwas wert, ohne dass ihm jemand das beigebracht hätte.“ (ebd.) Mit anderen Worten: Noch ehe Kinder in der Lage sind, einen Wert begrifflich zu erfassen, vollziehen sie werthaltige Handlungen. Diese Fähigkeiten verstärken sich im späteren Leben umso mehr, wenn Werte durch Vorbilder vorgelebt werden und genügend Erfahrungen mit anderen Menschen, anderen Lebewesen und allgemein mit der Natur gesammelt werden. Sozialität kann gelingen, wenn die dazu vorhandenen natürlichen Anlagen gefördert werden, wozu entscheidend die Familie mit ihren Bezugspersonen beitragen kann. Dies gilt auch für das moralische Bewerten von Verhalten und ethisches Differenzieren, z.B. von Gut und Böse.

Als besonders wirksam für die Praxis gilt die Naturverbundenheit, die ihrerseits von den entsprechenden Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen abhängt. „Werte fallen … nicht vom Himmel, sondern wachsen erdverbunden aus der praktischen Erfahrung.“ (ebd. S. 131) Erziehungsziele und –praktiken sollten darauf ausgerichtet sein, nicht zuletzt im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung, für die eine entsprechende Umwelterziehung – eine nachhaltige Förderung von Umwelt-Bewusstsein – als Voraussetzung gilt. Bedauerlicher-weise gibt es für diese Ziele in der gegenwärtigen Politik – außer Absichtserklärungen – kaum Handlungsbereitschaft, wie Norbert Jung wohl zu Recht bemängelt (ebd. S. 132).

Grenzen des Wertens und der Werte?

Eine Grenze des Wertens beim wissenschaftlichen Arbeiten hat Max Weber (1864-1920) gezogen, und zwar in seinem Aufsatz Der Sinn der >Wertfreiheit< der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917). Darin fordert er eine klare Trennung von Fakten-Analyse und Wertung. Werte zu beschreiben, gehöre zwar zu den Aufgaben der Wissenschaft, nicht jedoch die Vermischung von subjektiver Stellungnahme und möglichst objektiver Beschreibung der Tatsachen.

Meine vorliegende Arbeit betreffen diese Forderungen nur indirekt, weil es in ihr nicht darum geht, Unterschiede zwischen Tatsachen und Wertungen festzustellen, sondern Werte und ihre Horizonte zu verstehen und verständlich zu machen.

Wobei sich folgende Fragen stellen:

1. Worin besteht der Wert? 2. In welchen historischen Zusammenhang gehört der Wert? a) in einen religiösen (bzw. theologischen)? b) in einen philosophischen? c) in einen ideologischen Kontext (falls der Wert vornehmlich dazu dient, untragbare Zustände zu verschleiern)?

Unberührt von diesen Fragen bleiben der in Folge von Max Webers Forderungen entstandene „Werturteilsstreit“ und der „Positivismusstreit“ der 1960er und -70er Jahre. – Für bemerkenswert halte ich nichtsdestoweniger die These, dass Wertungen auch in jede „objektive“ Fakten-Analyse einfließen, zumal jegliche Analyse theoriegeleitet ist.

1  Vgl.http://www.dvck-sosleben.denachrichten/news344html 344, S. 1

2  Das griechische ‚telos‘ bedeutet – neben u.a. Zweck, Ziel, Vollendung, Ende – angeblich auch Sinn, kommt jedenfalls in dieser Bedeutung in der Literatur anscheinend nur selten vor.

3  Vgl. Lothar Wendt: Das physikalisch-teleologische Weltbild, Bd. II, Heidelberg 1988; Thomas Görnitz, Brigitte Görnitz: Die Evolution des Geistigen. Quantenphysik – Bewusstsein – Religion, Göttingen 2009

4  In: Jung, Norbert (u.a. Hrsg.): Auf dem Weg zu gutem Leben. Die Bedeutung der Natur für seelische Gesundheit und Werteentwicklung, Opladen 2012, S. 115

5  Langenscheidts Taschenwörterbuch Lateinisch-Deutsch, Erster Teil, Berlin 1956, S. 369

6  P. Menzer, in: Schmidt/Schischkoff: Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 1961, S. 621

7  In: http://www.kath.net/news/44820‚S.1

8  Norbert Jung: Natur und Entstehung von Werten, in: Jung, N. (u.a. Hrsg.): Auf dem Weg zum guten Leben, a.a.O. S. 128