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Titelseite

JANUAR

ADIL

Sie stiegen in den Regionalexpress nach Düsseldorf, und sie waren zu zweit. Älter und kräftiger als ich, und einer hatte einen White-Pride-Aufnäher an der Jacke.

Bloß keinen Ärger jetzt. Andere Tür nehmen, anderen Waggon.

Der Doppeldecker war voll. Sie würden mich nicht sehen, und selbst wenn, sie würden schon nichts machen. Ich setzte mich auf die Stufen zur oberen Ebene und schob die Schultasche unter meine Beine. Versuchte an die Zwei zu denken, die ich heute in Deutsch zurückbekommen hatte.

Die Ohrstöpsel klemmten in meinen Ohren, damit ich die knappe halbe Stunde, die der Zug bis Düsseldorf brauchte, verbringen konnte wie alle, die pendeln müssen: vor mich hin stierend, von der Musik auf Abstand gebracht zu den Menschenbeinen, die auf der Treppe um mich herumstanden und das Ruckeln über der Hohenzollern-Brücke ausbalancierten.

In Deutz stiegen noch mehr Leute ein, in Köln-Mülheim noch mal welche. Um mich herum ein Wald aus behosten Beinen. Was machte ich mir eigentlich so ins Hemd? Ich kannte das ja, und doch, noch bevor ich mich umdrehte, wusste ich, dass sie hinter mir standen und auf mich herunterblickten. Jetzt bloß nicht hochgucken. Weiter Musik hören.

Einer, der Dünnere, tat so, als hätte er mich nicht gesehen, und trat auf meine Jacke.

„Hier ist kein Sitzplatz!“, sagte der Dicke. Am Hals hatte er eine Tätowierung, irgendwas in altdeutscher Schrift.

Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört. Auf den Boden starren.

„Alle stehen hier!“ Er zog mich am Arm. „Los! Alle müssen stehen!“

Ich war jetzt auf den Beinen, meine Füße suchten Halt, nirgendwo konnte ich mich festhalten.

„Hältst dich wohl für wen, he?“, sagte der mit dem tätowierten Hals. Bierfahne. „Aber du stehst hier mal schön wie alle anderen.“

Er hielt mich immer noch fest.

„Oder du nimmst nächstes Mal dein Kamel“, sagte der Dünnere, und der andere lachte.

„Hast du ein eigenes Kamel? Oder bumst du das von deinem Vater?“ Das fanden sie beide ganz schrecklich lustig.

Obwohl der Zug knallvoll war, hatten die beiden jetzt ganz schön viel Platz. Der eine schubste mich gegen den anderen.

„Willst du frech werden?“, fragte der Tätowierte. „Ich geb dir gleich frech!“

„He? Der will frech werden?“, fragte der Dünnere.

Im oberen Bereich des Zuges bewegte sich etwas auf uns zu, ein Stück Körper, ein Winterstiefel. Und er traf den Tätowierten voll ins Gesicht. Ein richtig dumpfer Aufprall war das. Ich musste über das Blut lachen, das plötzlich aus der Nase rann, obwohl mir gar nicht zum Lachen war. Am liebsten hätte ich um Hilfe geschrien, aber der Einzige, der mir geholfen hatte, starrte auf die dunkelroten Tropfen, als könne er es selbst nicht glauben.

Das Blut befleckte nun den mit grauem Plastik bezogenen Boden des Zuges, und meine Jeans.

„Was bist du denn für einer?“, fragte der Dünnere. „Du kleiner Verräter.“

Der mit der blutenden Nase fragte nicht lange, sondern schlug seine Faust in meinen Magen. Ich lachte immer noch, lautlos, denn mir blieb die Luft weg. Ich sank japsend auf die Treppenstufen zurück und legte die Arme um meinen Kopf. Sein Stiefel traf meinen Ellenbogen, und im schützenden Viereck meiner Arme hörte ich, wie ich schnaufend Luft holte und auf den nächsten Tritt wartete. Auch mein Helfer schien etwas abzubekommen, ich hörte ein dumpfes Geräusch und einen unterdrückten Schmerzenslaut.

Einer der Pendler telefonierte inzwischen hektisch, dann tauchte der Schaffner auf. Um irgendwas zu tun, packte er mich, und drückte mein Gesicht gegen die Wand des Zuges. Ich hörte, wie sich alle gegenseitig lauthals beschuldigten, mehrere Pendler mischten sich ein, sagten, ich habe nicht aufstehen wollen, obwohl der Zug doch völlig überfüllt sei.

„Die haben doch voll provoziert!“, sagte der, der mir geholfen hatte. „Das ging doch nicht darum, dass er nicht aufstehen wollte!“

Als der Zug in Leverkusen hielt, war das Gleis schon voller Polizei, fast wie vor einem Fußballspiel. Der mit der altdeutschen Schrift am Hals wollte tatsächlich Anzeige erstatten.

„So eine feige Sau!“, sagte der Junge, der mir gerade geholfen hatte.

Jetzt erst wurde mir klar, dass ich ihn kannte, zumindest vom Sehen. Er ging in dieselbe Schule wie ich, sonst ein stiller Typ, der in den Pausen meistens allein in der Nähe vom Süßigkeiten-Automaten herum stand.

Sie nahmen uns mit auf ihre Wache, mich und auch Max, meinen Mitschüler. Wir machten unsere Aussagen, er erklärte, dass er dem Nazi nicht absichtlich die Nase gebrochen habe. Jetzt lachte ich nicht mehr, ich war ernst, und er beteuerte mehrmals, dass er doch nur helfen wollte, verdammt, was war das für ein Land, in dem man nicht mal mit dem Zug fahren konnte, ohne von Rechtsradikalen belästigt zu werden? Wieso nahmen sie die anderen nicht fest?

„Du kannst genauso Anzeige erstatten!“, sagte einer von der Polizei. „Wenn du willst …“

„Nein“, sagte ich sofort und dachte dabei an meine Mutter. Sie würde ausflippen, wenn sie von dieser Sache erfuhr.

Es ging noch ein bisschen hin und her, doch dann ließen sie uns schließlich gehen, und auf dem Weg zurück zum Bahnhof Leverkusen Mitte tauschten Max und ich unsere Nummern.

MAX

Als ich ein kleiner Junge war, wohnten wir in einer Mietwohnung an der Corneliusstraße, und abends lag ich lange wach und sah auf die Zimmerdecke.

Die Nacht spannte ihre dunkle Kuppel über Düsseldorf, und alles war richtig und an seinem Platz, und das ließ mich an Gott glauben, an einen richtigen großväterlichen Gott, der die ganze Welt erschaffen hatte, indem er Wasser und festes Land trennte, indem er die Pflanzen und Tiere machte und dann die Menschen.

Ich war dankbar, dass ich ein kleiner Junge war und hier leben durfte, dass ich eine Mutter und einen Vater hatte und dazu eine kleine süße Schwester. Dass ich am nächsten Tag in die Schule gehen und dort für meinen Aufsatz gelobt werden würde. In den Pausen waren wir eine Bande Jungs, die lärmend über den Schulhof zogen, und auch das war richtig. Und dann ging’s durch den warmen Abend nach Hause, wo der Tisch schon gedeckt war. Es gab Bratkartoffeln, oder Brot mit Fleischwurst, und im Sommer machte mein Vater oft Tomatensalat mit kleinen Zwiebelringen, den ich so gerne mochte. Ein Tag war wie der andere, und jeder Tag war richtig.

Aber dann ging Gott fort, oder wie man das nennen will, was dann passierte.

Meine Mutter blieb immer öfter tagsüber im Bett, zuerst weinend, und später im Jahr, als es kälter wurde und man in der Innenstadt die Hütten für den Weihnachtsmarkt aufbaute, lag sie nur noch still da.

„Wir gehen Bratwürste essen!“, rief mein Vater in das dunkle Schlafzimmer. Es war ein Sonntag, und draußen war es klirrend kalt. Mein Vater zog mir die Strickmütze bis über die Ohren.

„Und Zuckerwatte!“ Meine Stimme war schrill und unnatürlich fröhlich.

„Wir gehen jetzt!“, rief mein Vater ganz unnötig, denn wir standen weiter an der Garderobe herum und warteten auf eine Antwort.

Paula, meine kleine Schwester, öffnete dann die Wohnungstür und trat ins Treppenhaus.

Ich schwitzte in meiner dicken Daunenjacke, trotzdem blieb ich im Flur stehen. War aus dem Zimmer meiner Mutter wirklich nichts zu hören, nicht mal das irgendwie wolkige Geräusch, das eine Bettdecke macht, wenn sie zurückgeschlagen wird? Das konnte doch nicht sein.

„Na komm schon, Max!“, sagte mein Vater.

Aber ich trat ans Bett meiner Mutter. Sie lag da wie aufgebahrt.

„Mama!“, sagte ich. „Soll ich dir gebrannte Mandeln mitbringen?“ Die hatte sie immer gemocht.

Sie gab keine Antwort. Ihre Augenlider flackerten nicht mal, obwohl sie spüren musste, dass ich sie anstarrte.

„Gebrannte Mandeln. Ich bringe dir welche!“, flüsterte ich. „Das mache ich gern.“

Ich erinnere mich, wie später die kegelförmige Papiertüte vom Nussstand des Weihnachtsmarktes tagelang auf der Anrichte lag. Sie hat die Mandeln nie gegessen.

Aber damit fing es an. Monatelang brachte ich ihr jeden Tag kleine Dinge mit, die ich selbst gebastelt hatte (und in der Grundschule bastelten wir eine Menge Zeug), oder ich setzte mich zu ihr und erzählte von der Schule und von Jonas, Tobias und Torben, meinen Freunden. Ich erfand Abenteuer, die wir erlebten, ich log das Blaue vom Himmel, damit ich immer noch der kleine glückliche Junge war, den sie mal geliebt hatte. An einem Abend, mein Mund war schon ganz trocken von einer langatmigen Lügengeschichte über Torbens geklautes Fahrrad, von der ich selbst nicht wusste, wie ich sie enden lassen sollte, setzte meine Mutter sich auf.

„Hör auf!“, fauchte sie mich an. „Hör endlich auf damit!“

„… und dann hat Torben …“, machte ich einfach weiter.

„Geh! Raus!“, zischte meine Mutter mich an.

Das machte mich ängstlich und wütend zugleich, und Gott, der die ganze Welt erschaffen hatte, indem er Wasser und festes Land trennte und das alles, den kümmerte es einen Scheiß, als später – an einem merkwürdig warmen Tag im Februar – der Krankenwagen kam und meine Mutter eingesperrt wurde. Geschlossene Psychiatrie. Zu ihrer eigenen Sicherheit.

Mein Vater lächelte hilflos, und statt Bratkartoffeln und Tomatensalat gab’s immer öfter Tiefkühlpizza vom Aldi.

Das war lange her, meine Mutter kam irgendwann zurück, und inzwischen verdienten meine Eltern wieder Geld, und ich selbst war wohl das, was meine letzte Lehrerin wohlstandsverwahrlost nannte, bevor sie mir den Tipp gab, es an dieser Schule in Köln zu versuchen, hier in Düsseldorf würde mich keine Schule mehr wollen, und tatsächlich hatte man in der Nachbarstadt ein großes Herz, und – nachdem mein Vater dem Förderverein der Schule ein bisschen gespendet hatte – durfte ich mich in die letzte Reihe setzen und versuchen, doch noch einen Abschluss zu bekommen.

Ich schloss die Tür unseres neuen Hauses auf.

„Hallo, mein Großer“, begrüßte meine Mutter mich und raufte meine Haare. Am liebsten hätte ich ihre verlogene Hand weggeschlagen.

KEMPER

Ich war erst im Jahr zuvor vom Landesamt für Verfassungsschutz in Düsseldorf zur Bundeszentrale nach Köln versetzt worden. Als Auswerter mit leitender Funktion, mit Aussicht auf eine baldige weitere Beförderung. Ich war gut, richtig gut, ich verstand es nicht nur, Daten zu sammeln, sondern auch die wichtigen Details von den unwichtigen zu unterscheiden und die wichtigen in Beziehung zu setzen. Sie waren wie ein großes Puzzle, und ich nahm die einzelnen Teile in die Hand und fügte sie zueinander. Manchmal war ich ein Genie. Zumindest galt ich als der fähigste Mann der Abteilung, und ich hatte mich so erfolgreich gefühlt, so männlich.

Nach der Beförderung zur Zentrale war ich nach Hause gefahren, um mit Uta in einem schönen Restaurant zu feiern. Uta sah so hinreißend schön aus, als sie an der Haustür auf mich wartete, und wir setzten uns ins Auto, fuhren ins Schlosshotel nach Bensberg und speisten dort im Restaurant, angeblich dem besten von ganz Deutschland, drei Michelin-Sterne. Ich war mir so meiner Stärken bewusst, dass ich eines Tages – gut ein halbes Jahr, bevor es so weit war – fünfhundert Euro abhob und in meine Brieftasche steckte, für diesen Abend im Bensberger Hotel. Den Tisch hatte ich schon bestellt, als ich das mit meiner Beförderung noch gar nicht sicher wusste, sondern nur hoffen konnte, aber ich war so von mir überzeugt, so selbstsicher, früher, in meinem ersten Leben, dem Leben mit Uta.

Jetzt wusste ich immer noch nicht, was ich mit ihren ganzen Sachen machen sollte, obwohl sie schon über ein Jahr tot war. War sie noch weiter weg, wenn ich die Gerichte, die sie gekocht und eingefroren hatte, wegwarf? Sie trugen Aufschriften von ihrer Hand wie „Rotes Kokos-Curry“, „Tagliatelle mit Lachs“ oder „Johannisbeeren (rot)“ und waren im Tiefkühler für die Tage gestapelt, an denen sie zu ihren Seminaren fuhr. Sollte ich sie aufessen, weil sie nicht zu Hause war, so wie sie es erwartet hatte, als sie diese Gerichte für mich kochte und abfüllte? Kochen war ihr Hobby. Würde das noch etwas ändern?

Ich wusste es nicht, und für mich, dessen größte Leidenschaft es gewesen war, Informationen und Quellen von Informationen zu sammeln, zu bewerten und zusammenzufügen, gab es den Trost nicht mehr, der dem leidenschaftlichen Willen zum Wissen entsprang.

Warum? Das fragte ich mich immer wieder. Warum musste Uta sterben?

Natürlich stellte ich diese Frage nicht laut, weder im Freundeskreis, wobei ich keine nahen Freunde hatte, noch im Büro. Und abends am Telefon, wenn meine Schwester anrief, schon gar nicht.

Ich hatte eine Abteilung zu leiten, Mitarbeiter blätterten für mich in Protokollen, Aussagen und Berichten. Ihre Aufgabe war – Himmel, eigentlich war es auch meine Aufgabe –, Informationen zu sammeln und Informationsquellen, und genau das zu verhindern, was dann doch passieren würde: den Tod. Wir schützten die innere Sicherheit des Landes. Wir schützten die Verfassung. Dafür hörten wir Telefone ab, werteten E-Mails aus, warben V-Leute an und schrieben Protokolle, immer in der Hoffnung, nichts zu finden und – vor allem – nichts zu übersehen. Anschläge, Attentate und Terrorismus waren unser täglich Brot, zumindest unsere täglichen Gedanken, und ich sah mir meine Mitarbeiter und Kollegen an, mit denen ich Tote verhindern sollte, und ich konnte nur an meine tote Frau denken.

Jeden Morgen fuhr ich umständlich mit der S-Bahn nach Leverkusen und dann mit dem Regionalexpress nach Köln, weil es mir nach dem Unfall unmöglich geworden war, ein Auto zu lenken. Ich kam immer sehr früh ins Büro, und dann legte ich meine Stirn auf die graue Schreibtischplatte, roch das Putzmittel, das die Reinigungskraft am Abend davor daraufgesprüht hatte, und spürte die Kühle, die von dieser Platte ausging.

Wir hatten endlich die Erlaubnis bekommen, diverse Wohnungen verdächtiger Personen abzuhören, und vor mir lagen die ersten Protokolle geführter Telefongespräche und anderer Kleinkram, nichts von Bedeutung, wie ich hoffte, und ich konnte mich minutenlang nicht dazu aufraffen, einen der Ordner zu öffnen, zu lesen, Zusammenhänge herzustellen, Quellen zu prüfen und so unser Wissen zu vermehren. Entscheidungen zu treffen.

Ich legte einfach nur meine Schläfe und meine linke Wange auf die Schreibtischplatte und betrachtete die sorgfältig beschrifteten Rücken der Ordner. Ich las nicht einmal die Buchstaben, die zweifelsohne irgendeinen Sinn ergaben, die Zeichen, mit denen wir Vorgänge kennzeichneten, die Codes der Abteilung, die ich mitentwickelt hatte.

Aber ich musste mich aufrichten, noch bevor Littkens, einer meiner Kollegen, an meinem Büro vorbeiging, langsamer werdend, sodass ich ihn hereinrufen und mit ihm irgendwelche Dinge besprechen konnte, von denen ich inzwischen fürchtete, weniger Ahnung zu haben als er. Er war Wissenschaftler, promoviert, sprach immer leise, zitierte leise, wusste die richtige Quelle, das richtige Wort, die ungefähre Übersetzung und Exegese. Er ließ sich Zeit beim Sprechen, musterte meine Miene und wurde dabei unmerklich langsamer, so als müsse er sich meiner Zustimmung versichern, und sprach dann in normalem Tempo weiter. Ich hatte ihn früher gemocht, sehr sogar, bevor meine Frau und ich diesen Autounfall hatten, aber jetzt gingen mir seine langsame, leise Art und sein ganzes Fachwissen auf die Nerven.

Was denkst du? Das hätte ich ihn gerne einmal gefragt. Was soll das alles? Warum sind wir hier?

Doch vielleicht hätte er nur wortlos mein Gesicht abgesucht und dann erkannt, dass ich es todernst meinte.

PAULA

Wahrscheinlich war der alte, abgewetzte Kieffer-Springsattel von Molly der Platz auf der Welt, der für mich am ehesten ein Zuhause bedeutete. Der Sattel und der Reitstall und die Turniere. Nichts war mir wichtiger als die Arbeit mit den Pferden. Jungs waren für mich kein Thema, und wahrscheinlich wäre es besser gewesen, ich wäre dabei geblieben.

Molly war die große Schimmelstute meines Reitlehrers, mit der ich in der letzten Saison viel gewonnen hatte, und diese Saison hatte genauso gut angefangen.

Die Hallentür öffnete sich jetzt, alle sieben Reiter des A-Springens sollten zur Siegerehrung einreiten. Ich bekam mit Molly die goldene Schleife, die erste in diesem Jahr, und ich nahm es als gutes Omen für die nächste Saison. Wir ritten die Ehrenrunde, und danach verluden wir die Pferde.

Simon fragte, ob ich am Abend Zeit hätte, schließlich war noch keine richtige Saison, morgen kein Turnier, und er sei auf eine nette Party eingeladen, und seine Bekannte habe ihm abgesagt, aber das sei nur eine Bekannte, und er würde sich sehr freuen, wenn ich … Er verhaspelte sich in seiner kleinen Rede, und ich musste lachen.

„Klar, ich komm mit“, sagte ich und verstaute meine Reitstiefel im Kofferraum.

„Dann … ja, dann, bis heute Abend. Ich hole dich ab.“

Simon stand mir im Weg, und als ich an ihm vorbeiging, streifte ich ihn mit der Schulter. Er streckte den Arm aus und drückte mich unbeholfen an sich.

„Den hat’s ja ganz schön erwischt“, meinte Bernd, als wir im Auto zum Stall fuhren. Tonka, seine alte Hündin, saß im Fußraum und legte ihren Kopf zwischen meine Knie.

„Vielleicht“, sagte ich und kraulte das lange schwarze Fell von Tonka hinter den Ohren.

Bernd lachte und schwieg dann eine Weile.

„Röder hat nach dir gefragt, du weißt schon …“

„Nein, ich weiß nicht!“ Aber ich wurde aufgeregt. Röder, das war der bekannteste Springausbilder im ganzen Umkreis. Ich kannte ihn von vielen Turnieren, wo er und auch seine Frau immer meinen sauberen Springstil und meinen Ehrgeiz lobten.

„Was wollte er denn? Ging es um das Kerlchen?“ Das Kerlchen war ein Nachwuchspferd von Bernd.

„Nein, er sucht eine Auszubildende.“ Seine Frau hatte mir schon mehrmals gesagt, dass sie mich sofort einstellen würde.

„Hm“, sagte ich.

Ich wurde rot. Meine Eltern erwarteten von mir, dass ich Abitur machte. Vielleicht weil Max das immer noch nicht zustande gebracht hatte. Ich wollte eigentlich nur reiten, jeden Tag, immer. Alles andere war Nebensache, auch die Schule.

„Im Juni werde ich achtzehn“, sagte ich. Mein Griff in Tonkas Fell wurde unwillkürlich fester.

„Du kannst es dir zumindest mal überlegen.“

„Da muss ich nicht überlegen. Wenn Röder mich nimmt, bin ich sofort dabei.“

Am Abend hüpfte ich mit Simon auf einer voll gedrängten Tanzfläche herum. Wir tanzten ziemlich eng, und später ließ ich zu, dass er mich küsste, und drückte mich an ihn. Doch als er mich fester packen wollte, schob ich ihn freundlich – so hoffte ich – weg.