Licht und Dunkelheit

Die Schattenkönigin

Susanna Herrmann

Inhalt

Begegnungen

Geheimnisse

Schottland

Prüfungen

Willkommen zu Hause

Das Schloss - Roberts Geschichte

Vorbehalte

Warten

Stimmen

Die Gartenparty

Zweifel

Das Ritual der ewigen Verbundenheit

Andor

Das Meeresvolk

Die Zentauren

Überschlagene Ereignisse

Nach Hause

Unterwegs nach Süden

Die Schattenkönigin

Verbündete

Auf in den Kampf

Vergangenheit und Zukunft

Begegnungen

„Ella, Elllaaa, dein Bus fährt in zehn Minuten. Sieh zu, dass du aus dem Bett kommst!“ Die verärgerte Stimme meiner Mutter riss mich aus dem Schlaf. Der Blick auf den Wecker verriet, dass ich wieder verschlafen hatte. Verdammt, das war das dritte Mal in dieser Woche. Na ja, heute ist es vermutlich nicht so dramatisch, am letzten Schultag vor den Sommerferien. Im nächsten Jahr würde ich Abitur machen, und dann wollte ich eh das ruhige Studentenleben genießen, irgendwo weit weg. Ich stöhnte. Sommerferien. Das bedeutete lernen, lernen, lernen. Ich würde in einer Woche nach Schottland fliegen, um mich bei Tante Ethna auf die große Hexenprüfung vorzubereiten.

„Ella Morgenstern, nun mach schon!“ Die Ungeduld meiner Mutter war deutlich zu hören. „Ja, ja, ich komme ja schon.“ Der Aufenthalt im Badezimmer war entsprechend kurz, ich schnappte meinen Rucksack und rutschte am Geländer hinunter ins Erdgeschoss. Meine Mutter Cornelia stand genervt mit einem Brötchen in der Hand bereits im Flur. „Für unterwegs“, sagte sie etwas sanfter. „Danke.“ Ich hielt inne. Ich hörte, wie der Bus an der Haltestelle hielt, es waren fünf Minuten zu Fuß in normaler menschlicher Geschwindigkeit, ich würde es nicht schaffen. „Ich nehme das Fahrrad.“ Meine Mutter starrte mich genervt an. „Gut, am besten du fährst durch den Wald, dann bist du schneller. Aber pass auf, dass dich keiner bemerkt. Und deine Haare! Kind, steh einfach früher auf, dann hast du mehr Zeit.“ Sie hob ihre Hände und machte eine Bewegung, als ob sie in der Luft meine roten, in alle Richtungen stehenden Locken glatt kämmen wollte. Sie war eine wirklich gute Hexe, ich merkte, wie sich meine Haare an meinen Kopf legten und locker auf die Schulter fielen. Ich würde vermutlich zur ersten Stunde zu spät kommen, aber Hauptsache, die Haare liegen. In diesem Moment stand völlig geräuschlos Nora hinter mir. „Sie kann mit mir fahren, es wird gleich anfangen zu regnen.“

Nora war schon zweiundzwanzig und studierte bereits in London. Sie hatte gerade Semesterferien und besuchte uns für zwei Wochen. Ich würde nächste Woche mit ihr gemeinsam fliegen, ein paar Tage bei ihr verbringen und dann weiter nach Schottland fahren. Nora konnte sich perfekt durch Zeit und Raum bewegen. Versuchte ich es, erklang immer ein lautes Plopp. Und sie konnte ungefähr zwei Stunden in die Zukunft sehen. Diese Gabe musste sie von unserem Vater, ein meiner Meinung nach durchschnittlicher Zauberer, aber sehr guter Seher, geerbt haben. Jaron, so hieß mein Vater, war ein großer stattlicher Mann mit jugendlichem Aussehen. Er betrieb unten im Dorf eine kleine Kfz-Werkstatt. Er sah die Dinge auf sich zukommen und wusste bereits morgens, ob es ein langer oder kurzer Tag wurde. Heute war er bereits in der Werkstatt, also würde er wohl viel zu tun haben. Meine Mutter Cornelia war eine beliebte Heilpraktikerin. Sie hatte eine kleine Praxis in der naheliegenden Stadt. Ihre Zaubertränke waren heilend, schmeckten aber widerlich. Wir führten ein normales Leben auf dem Land. Eben so normal, wie man als Hexenfamilie sein kann. Unser Haus lag etwas außerhalb am Waldrand, so konnten wir ungestört im Haus hexen, zaubern, Zaubertränke brauen und brauchten uns nicht zu verstellen. Außerdem hatte meine Mutter eine Schutzzone um unser Haus gelegt, sodass wir vor jedem Besucher rechtzeitig gewarnt wurden. Meine besondere Gabe war, ich konnte Gedanken lesen. Es war noch nicht perfekt, ich musste mich in einer Menschenmenge stark konzentrieren, um die richtigen Gedanken zu hören. Normalerweise können wir das nur untereinander, wenn wir es zulassen, aber ich konnte das auch bei Menschen. Sie konnten nicht ihre Gedanken verschließen, sie dachten einfach immer und das sehr laut. Manchmal war es sehr hilfreich, vor allem in der Schule, aber es war auch nervig. Tante Ethna hatte mir schon früh beigebracht, einfach abzuschalten und mein Gehirn vor der Reizüberflutung der Gedanken anderer zu schützen. Mittlerweile beherrschte ich das ganz gut.

Nora fuhr mich mit dem kleinen Lupo, den ihr unser Vater zum Abschluss geschenkt hatte, in die Schule. Ich hoffte, dass ich ihn in einem halben Jahr, wenn ich endlich achtzehn werden würde und meinen Führerschein bestanden hätte, fahren durfte. Wir verstanden uns gut, so wie sich Schwestern eben verstehen. Wir ergänzten uns. Obwohl sie so weit weg war, waren wir doch eng miteinander verbunden.

Sie lächelte mich an. „Viel Spaß heute, nach der zweiten Stunde habt ihr Schluss. Und denk daran, es regnet nachher, also verpasse nicht wieder den Bus.“

Tatsächlich, in der ersten Stunde bekamen wir unsere Zeugnisse, in der zweiten Stunde sahen wir uns ein Musikvideo an, und dann konnten wir gehen. Meine Freunde wollten noch ins Café in die Stadt und zum Abschluss des Schuljahres ein Eis essen. Unsere Clique bestand aus drei Mädels und mir. Da war zum einen Nadine, ich fand sie wunderschön, sie hatte lange blonde Haare, war schlank und hatte immer ein Strahlen im Gesicht. Ich hatte sie noch nie traurig oder böse gesehen. Sie hatte bereits einen Freund, Marcel. Er war nett, groß, schlank und sportlich. Er hatte gerade sein Abitur gemacht und wollte nun ein soziales Jahr in einem gemeinnützigen Verein beginnen. Sarah war klein, brünett und etwas kräftig gebaut, aber lustig und mütterlich. Sie war Single genau wie ich. Sie war ziemlich altmodisch und wartete noch immer auf den Richtigen, die eine wahre Liebe. Ich bezweifelte, ob es sie je gab. Tja, und Susanne, sie war unsere Draufgängerin. Sie hatte drei Brüder und war die Jüngste zu Hause. Sie bastelte an Motorrädern und fuhr mit ihrer Crossmaschine heimlich nachts über die Felder. Sie war ein Adrenalin-Junkie. Ich bewunderte sie dafür. Mir selbst würde vermutlich schlecht werden.

Wenn ich an die ganzen Hexengeschichten dachte … Hexen, die auf einem Besen durch die Luft fliegen, was für eine absurde Vorstellung. Wir saßen draußen unter der Markise des Cafés und bestellten uns Eiskaffee. Nadine wollte in den Ferien mit Marcel zu ihrer Tante nach München fahren, Sarah fuhr mit ihren Eltern an die Ostsee, und Susanne wurde ins Ferienlager nach Polen geschickt. Sie hatte überhaupt keine Lust, aber es blieb ihr nichts anderes übrig. Ihr großer Bruder Florian leitete dieses Ferienlager, und ihre Eltern dachten, es kann nicht schaden, wenn sie unter Beobachtung war. Die Polizei hatte sie erst vor zwei Monaten beim Schwarzfahren erwischt, und das gab mächtig Ärger. Tja, alle hatten Pläne, ich würde bald nach Schottland fahren. Der Magen drehte sich mir um. Es war dort so einsam. Weite Felder, Hügel und mittendrin das Schloss, in dem Tante Ethna seit vielleicht hundert Jahren lebte. Hexen wurden ungefähr dreimal so alt wie Menschen. Ich glaube, die älteste Hexe ist dreihundert Jahre alt geworden, eh sie die Kräfte verlassen haben. Sobald die Magie verschwunden ist, werden wir menschlich und sterben. Das ist auch der Grund, weshalb es kaum Mischehen zwischen Hexen und Menschen gibt. Wir leben länger. Außerdem fühlen wir uns nur zu unseresgleichen hingezogen. Das behauptet zumindest meine Mutter. „Du wirst ihn finden, wenn die Zeit gekommen ist“, sagt sie immer.

Es fing an zu regnen. Ich musste lächeln. Auf Noras Vorhersagen konnte man sich verlassen. Trotzdem blieben wir draußen sitzen. Es war nicht kalt, und Susanne hatte sich von ihrem Bruder Jacob das Rauchen abgeschaut. Und so blieben wir sitzen, Susanne rauchte, Sarah schimpfte, und Nadine lächelte. So unterschiedlich wir vier doch waren, so verband uns doch eine enge Freundschaft seit dem Kindergarten.

Im Augenwinkel sah ich einen Jungen, nein, keinen Jungen, er war älter, vielleicht zwanzig. Er stand auf der anderen Straßenseite, hielt inne und schien zu uns herüberzuschauen. Ich musste meinen Kopf drehen, um ihn genau sehen zu können. Es war nur so ein Gefühl, ein vertrautes Gefühl, kannte ich ihn? Ich wollte ihn nicht anstarren, also versuchte ich, mich auf ihn zu konzentrieren. Vielleicht konnte ich ja seine Gedanken hören. Nein, nichts, ich musste ihn ansehen. Ich drehte meinen Kopf, er war weg. Da stand niemand. „Habt ihr jemanden gegenüber stehen sehen?“ Alle drei drehten ihre Köpfe. „Nein. Wen meinst du, wie sah er aus, es war doch ein Er?“ Sarah schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht, ich hab mich sicher geirrt.“ Wir wandten uns wieder den wichtigen Dingen in unserem Teenagerdasein zu. Wer mit wem, wann, warum und wieso.

Dieser Blick. Er beschäftigte mich noch auf dem Heimweg. Hätte ich mich doch nur umgedreht, um ihn genau anzuschauen. Mich hatten noch nie Jungs interessiert, hin und wieder hat mich mal einer angesprochen, aber ich konnte mich immer herauswinden. Ich mochte die Jungs in meinem Alter und an meiner Schule nicht besonders. Sie benahmen sich so albern, ihre Gedanken drehten sich nur um Mädchen flachlegen, Autos und Alkohol. In Marcels Gedanken konnte ich das erste Mal wahre Gefühle für Nadine erkennen, daher freute ich mich für die beiden. Aber er schien die Ausnahme zu sein.

Es hatte aufgehört zu regnen, als ich zu Hause war. Meine Eltern waren noch nicht zu Hause, und Nora lag auf ihrem Bett und hörte Musik. Sie war verliebt, das konnte ich deutlich spüren, und sie brannte darauf, zurück nach London zu fliegen. Sie wusste, dass ich es wusste. Wir verstanden uns ohne Worte. Es war noch eine Liebe in den Anfängen, sie würde es unseren Eltern sagen, wenn es was Ernstes wurde. Ich schnappte mir mein Lieblingsbuch „Bis(s) zum Abendrot“, meinen Rucksack mit einer Decke und marschierte los in Richtung Wald. Mitten im Wald auf der Bergkuppe standen keine Bäume. Es war eine große breite Lichtung mit einem einzigen Baum in der Mitte. Das war mein Baum. Hierher kam ich, wenn ich allein sein wollte. Auf der einen Seite der Wald, aus dem ich kam, auf der anderen Seite Felder. Weit entfernt stand ein altes Schloss mit einem grünen Kupferdach. Ich konnte es sehen. Es stand ganz verlassen mitten in den Feldern, nur ein paar alte Eichen standen davor. Es schien unbewohnt zu sein. Ich hatte mir um das Fleckchen Erde im Wald rund um den Baum einen Schutzzauber gelegt, damit ich vor ungebetenen Besuchern und vor der Glaskugel meiner Mutter sicher war. Ich würde hoffentlich auch eine bekommen, wenn ich die Prüfung zur Junghexe erfolgreich bestanden hätte. Gedankenlesen war schon toll, aber in die Ferne sehen, sehen, was auf anderen Kontinenten passiert, war bestimmt noch cooler. Meine Mutter nutzte die Kugel vorrangig, um mit ihrer Freundin in Afrika zu kommunizieren. Es war viel besser als ein Bildtelefon.

Ich legte mich auf die ausgebreitete Decke und begann zu lesen. Ich liebte diese Liebesgeschichte zwischen Bella und Edward. Vampire … was für faszinierende Wesen, dachte ich. Ich war mir sicher, dass es sie irgendwo gab, schließlich gab es mich auch, aber ich werde wohl nie einem begegnen. Als kleines Mädchen liebte ich, sehr zum Missfallen meiner Mutter, die Geschichten vom kleinen Vampir. Er hatte einen Jungen als Freund und lebte mit seiner Familie in einer Gruft. Er war ein guter Vampir, so wie Edward. Ich fragte meine Mutter damals, ob es wirklich Vampire gibt, und ich bekam eine heftige Reaktion zu spüren. „Nein!“, sagte sie bestimmt. „Für uns nicht!“ Mehr habe ich nie erfahren. Aber Tante Ethna hatte Bücher, viele Bücher. Auch Bücher über die Geschichte der Hexen. Leider fand ich nie die Zeit, um das richtige Buch zu suchen. Während meiner Aufenthalte in Schottland war ich mit Gedankentraining, Zaubertränke brauen und Zaubersprüche laut und in Gedanken formulieren beschäftigt. Ich hatte keine Zeit für mich. Der Gedanke schmerzte in meinem Kopf. Vier lange Wochen erwarteten mich. Am Ende stand die Prüfung.

Ich versank in meinem Buch und saugte jedes Wort ein. In meinem Kopf pochte es. Ich konnte von jemandem die Gedanken hören. Ich sah mich um. Der Schutzzauber konnte doch nicht seine Wirkung verloren haben? Normalerweise wurden die Gedanken der Menschen, die sich diesem Ort näherten, unterbrochen, und ihnen fiel auf der Stelle etwas Wichtiges ein, was sie unbedingt erledigen mussten. Keiner konnte mich hier bemerken, ausgeschlossen, selbst die Tiere machten einen Bogen um meinen Baum. Aber die Gedanken, die ich hörte, sie drehten sich um mich.

Da ist es wieder, das rothaarige Mädchen aus der Stadt. Ihre Haare, sie leuchten in der Abendsonne, wie Feuer funkeln die Locken. Sie sieht hübsch aus. Diese Magie, die sie umgibt. Es ist lange her, dass ich sie das letzte Mal gesehen habe. Es war in Schottland vor fünf Jahren. Sie besuchte ihre Tante im Schloss. Eine Hexe. Grrr. Hexen. Wir mochten Hexen nicht besonders, deshalb sind wir auch ziemlich schnell weitergezogen. Aber diese kleine Junghexe, sie hatte mich irgendwie angezogen. Aber sie war zu jung. Viel zu jung. Was für ein Zufall, sie wiederzusehen. Sie sieht so reif aus. Wie alt sie wohl ist, siebzehn oder achtzehn?

Der Duft ihrer Haare, ich konnte sie riechen, der Wind stand günstig. Eine Mischung aus Vanille und Kokos. Und ihre grünen Augen. Nie habe ich diese grünen klaren Augen vergessen. Was liest sie da? Ach „Bis(s) zum Abendrot“, wie passend. Ja, die Cullens. Ich musste innerlich lachen. Die Fantasie der Menschen war erstaunlich. Eine Eigenschaft, die ich vermisste. Wobei ich mir nicht sicher war, vielleicht kannte die Autorin tatsächlich einen Vampir, die Beschreibung kam uns doch schon sehr nahe, wenn auch nicht ganz richtig. Das Mädchen, es bewegt sich. Wieso schaut sie sich um? Da ist niemand. Ich kann keinen sehen. Sie schaut zu mir, ob sie mich hört? Ich meine, ich habe schon Außergewöhnliches gelesen über Hexen, aber kann das sein? Kann sie aus dieser Entfernung meine Gedanken hören?

Erschrocken wich ich zurück. Ich traute mich nicht, noch einmal ans Fenster zu gehen. Die Abendsonne verschwand langsam. Es wurde dämmrig. Arthur und Helen würden sich bald aufmachen. Arthur war ein Physiker und gab Abendkurse an der Uni. Helen war Nachtschwester im Krankenhaus. Sie waren so etwas wie meine Eltern. Sie haben mich erzogen, mich trainiert, mir ein besseres Leben gezeigt. Wir sind erst vor zwei Wochen hierhergezogen. Arthurs letzter lebender Großonkel war verstorben, und so konnte Arthur als verschollener Großneffe den einstigen Familiensitz übernehmen. Niemand forschte nach, dass Arthur eigentlich seit zweihundert Jahren als verschollen galt. Helen hingegen stammte aus Polen. Sie musste ihre Heimat verlassen, fühlte sich aber in Deutschland sehr wohl. Ich glaube, sie sind meinetwegen hierher zurückgekehrt. Auch ich bin ein Deutscher. Ich ging in die große Bibliothek, um mir ein neues Buch zu suchen. Ich liebte es, nachts in den Bäumen zu sitzen und zu lesen. Wie gesagt, ich beneidete die Menschen um ihre Fantasie.

Es wurde dunkel. Es war still. Die Stimme war weg aus meinem Kopf. Vielleicht hatte ich sie mir nur eingebildet. Vielleicht lag es an der Geschichte. Die Stimme kam aus Richtung Schloss. Aber, und da war ich mir sicher, selbst wenn dort jemand war, so war er doch viel zu weit weg, als dass ich seine Gedanken hätte hören können. Und doch war der Klang der Stimme so vertraut, als ob ich sie schon mal gehört hätte. Ach was, Ella. Sei nicht albern. Die Aufregung und der Stress der letzten Wochen spielten mir einen Streich. Hier war niemand weit und breit. Es wurde zu dunkel zum Weiterlesen. Ich stand auf und marschierte nach Hause. Ich lief langsam. Der Wald, er hörte sich anders an, wenn es dunkel war. Beruhigend, das Rauschen der Bäume, der Wind, er war frisch, die Luft so klar und sauber. Ich war ein Naturfreak. Schon als kleines Kind nahm mich meine Mutter immer mit in den Wald, wenn sie ihre Kräuter zusammensuchte. Es war der schönste Ort, den es für mich gab auf der Welt. Die Nacht war ruhig und traumlos wie immer. Hexen träumten nicht, und das war auch gut so. Wenn ich mir vorstellte, im Traum vielleicht einen Zauber auszusprechen. Was hätte das für verheerende Folgen. Aber Hexen hatten im Zeitpunkt des Aufwachens immer einen ersten Gedanken. In den letzten Wochen war der erste Gedanke immer der gleiche gewesen. Prüfung. Ich stöhnte. Ich erinnerte mich noch gut an Noras Prüfung. Oder besser gesagt, wie es war, als sie zurückkam. Blass, teilnahmslos und geschockt. Sie brauchte eine Woche, um sich davon zu erholen, und nie hat sie darüber gesprochen. Auch meine Mutter verstummte, wenn ich versuchte, ihr irgendetwas zu entlocken. „Sei du selbst und beachte immer die wichtigste aller Regeln. Offenbare dich niemandem. Unsere Existenz muss verborgen bleiben!“ Toll. Was soll ich damit anfangen?

Das Frühstück verlief ruhig. Niemand sagte etwas. Mein Vater war noch da, also würde es ein ruhiger Tag in der Werkstatt werden. Wenn ich mit ihm darüber sprechen könnte, vielleicht würde ich von ihm etwas herausbekommen, was mich erwarten würde. Ich werde ihn wohl in der Werkstatt besuchen. „Liebes, das brauchst du nicht. Ich kann dir dazu nichts sagen. Meine Kräfte sind eher bescheiden im Vergleich zu den euren. Wir männlichen Hexen“, und jetzt grinste er, „wir können sehen und die Geschicke der Menschen leicht begünstigen, aber wir spielen nicht im Ansatz eine solche Rolle wie ihr. Meine Prüfung bestand lediglich in Geschichte der Zauberei und ein paar Wettervorhersagen. Ich bin kein Harry Potter.“ Und jetzt musste er lachen. Offensichtlich hatte er gesehen, was ich vorhatte. „Lenk dich ein bisschen ab, Kind. Alles wird gut gehen. Du bist ein Naturtalent.“

Meine Mutter bemühte sich, aber doch konnte ich ihr nicht richtig glauben. Sie ließ mich nicht ihre Gedanken lesen. Ich wusste nicht, was sie tatsächlich dachte. Auch Nora hatte den Blick starr auf ihrem Teller. Also gut. Ich stand auf, räumte den Tisch ab und verzog mich in mein Zimmer. Meine Freunde waren alle bereits in den Ferien, und was sollte ich machen?

Nora und ich würden erst in fünf Tagen nach London fliegen. Ich beschloss, ein paar Bücher einzupacken und den Tag an meinem Lieblingsort zu verbringen. Es war schon fast Mittag, als ich ankam. Der Wald hörte sich anders an, und auch an meinem Baum war etwas anders. Da war etwas in der Baumkrone. Ich konnte es deutlich sehen. Es war ein bedeckter Tag, die Luft roch feucht. Wie konnte das sein? Ich hatte nachgelesen, gestern, bevor ich eingeschlafen war. Einen Schutzzauber konnte nur die Hexe aufheben, die ihn gesprochen hatte. Aber da war jemand. Ich konnte wieder diese Stimme hören.

Oh, sie kommt. Ich hatte gehofft, dass ich ihr heute begegnen würde. Die Magie an diesem Ort brennt auf meiner Haut, aber es ist nicht unangenehm. Die ganze Nacht hatte ich darüber nachgedacht und dann doch beschlossen, ich muss sie wiedersehen, ich muss sie kennenlernen. Sie zögert. Warum zögert sie? Soll ich auf sie zugehen? Es war bewölkt. „Du brauchst nicht zu zögern. Ich möchte mich dir vorstellen.“ Ich sprach laut und deutlich. Auf ihrer Stirn standen noch immer Fragezeichen. „Du kannst mir vertrauen. Wir kennen uns. Ich bin Robert.“ Ich versuchte zu lächeln. Jetzt kam sie näher. Vorsichtig, aber doch bestimmt. „Wie kommt es, dass du hier an diesem Ort bist? Und woher kenne ich dich? Wie ist das möglich?“ Sie stand jetzt vor mir. Die Augen so grün, so klar. Sie ist es, nach der ich gesucht hatte. Sie musste es sein. Alles war so vertraut. Die Nähe, der Geruch. Wie damals, als sie noch ein Mädchen war. Aber jetzt ist sie eine Frau, eine so schöne Frau.

Ich sah ihn an. Robert also. Er sah anders aus als die Jungs, die ich kannte. Und er kam mir tatsächlich bekannt vor. Er stand vor mir. Groß, schlank, seine Haut war zartrosa, sein Brustkorb bewegte sich langsam auf und ab. Seine blonden Locken fielen ein bisschen ins Gesicht. Ich verspürte den Drang, sie ihm aus dem Gesicht zu streichen, um in seine tiefblauen Augen zu blicken. Konnte das sein? War er es, nach dem ich mich sehnte? Ich hatte einmal gelesen, dass nur die einzige wahre Liebe die Magie einer Hexe durchbrechen konnte. Märchen, dachte ich. Wie soll das gehen? Aber da stand er vor mir, hier an diesem geschützten Ort, den nicht einmal meine Mutter durchbrechen konnte. Ich versuchte langsam einzuatmen, es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Robert fing mich auf. Er sah mich an. Es war ein neugieriger Blick, und zugleich war es so vertraut. „Vor fünf Jahren, weißt du noch? In Schottland im Sommer. Es war auch so ein bewölkter Tag wie heute. Die Luft, sie war so schwer. Du bist in den Wald geritten, weißt du noch? Wir sind uns begegnet am Bach. Du warst noch so jung. Ich wusste, eines Tages wärst du alt genug, und dann würde ich dich wiedersehen.“ Ja, es stimmt. Als er es aussprach, kehrte die Erinnerung zurück. Es stimmte. Deshalb bin ich bei jedem Besuch bei Tante Ethna in den Wald geritten. Deshalb führte mein Weg immer wieder zu diesem Bach. Ich hatte ihn gesucht. Wieder und wieder hatte ich gehofft, auf etwas zu stoßen, jemanden zu finden. Er war es. Ihn hatte ich gesucht. Ich hatte ihn nur gesehen. Wir hatten uns vielleicht eine Minute angeschaut. Ich war gerade dreizehn, eine pubertierende Junghexe, und er war schon so alt. Für mich damals zu alt. Vielleicht zwanzig. Aber jetzt sah er noch genauso aus wie damals. Er hatte sich nicht verändert. Ich mich schon. Ich war schließlich fast achtzehn. Mit Bestehen der Hexenprüfung verlangsamt sich unser Alterungsprozess, weil wir dann die Endstufe der Magie erreicht haben. Erst im Laufe der Jahre, wenn die Magie nach und nach verschwindet, würden wir altern. Deshalb sah meine Mutter mit immerhin schon einhundertzwanzig Jahren noch aus wie fünfunddreißig. Und mein Vater hatte sich ein paar graue Schläfen zugelegt, um älter als vierzig zu wirken. In Wirklichkeit war er einhundertachtzig.

Robert sah mich an: „Was denkst du? Sag mir deinen Namen, bitte“, bat er. „Ella!“ Mein Mund war trocken. Ich war noch immer überwältigt von diesem Augenblick. „Wie konntest du mich finden?“ „Ich bin ein Vampir, ich folgte deiner Spur, nicht bewusst, aber irgendwie doch.“ „Wieso sagst du das? Ein Vampir, aber ich dachte, nein, das ist falsch, ich weiß, dass es euch gibt. Aber ich kann es nicht glauben.“ Er lachte. „Nun, ich denke, es ist nur fair, dir gleich zu sagen, was und wer ich bin, ich weiß schließlich auch, dass du eine Hexe bist. Es ist die Magie, die dich umgibt. Ich spüre sie mit jeder Sehne meines Körpers. Es sollte mich abschrecken, aber ich fühle mich, seit ich dich das erste Mal sah, zu dir hingezogen.“

Mittlerweile saßen wir im Schatten des Baumes. Ein paar Sonnenstrahlen kamen hervor. „Die Sonne, macht sie dir nichts aus? Ich meine …“ Ich sah auf mein Buch. Ich wusste nichts über Vampire. Wie gesagt, das Thema wurde bei uns zu Hause nie aufgegriffen, alles, was ich glaubte zu wissen, stand in diesen von Menschen geschriebenen Büchern. Mir war klar, dass es sich hierbei um Fantasygeschichten handelte, aber doch hatte ich immer gehofft, dass sie einen wahren Hintergrund hatten. Ähnlich wie es bei den Hexengeschichten war. Meine Mutter nannte es Imagepflege, damit die Menschen keine Angst vor uns hatten, aber dennoch den nötigen Abstand beibehielten. Es war so was wie eine Gehirnwäsche für Menschen. Keiner würde uns auf der Straße erkennen. Wir entsprachen nicht den Hexen in den Geschichten, es war nur ein gewisses Maß an Wahrheit verflochten, nicht zu viel, aber doch genug. Ich sah ihn lächeln. „Na ja, es fühlt sich ein bisschen so an wie Sonnenbrand. Wir halten uns lieber im Schatten auf. Ich muss gehen.“ Blitzartig erhob er sich und starrte in Richtung Schloss. „Wohnst du dort? Hast du jemanden gehört? Eigentlich kann mich hier niemand finden. Wie hast du das gemacht? Wie konntest du meinen Schutzzauber umgehen?“ Die Fragen brannten mir im Kopf. Er war im Begriff zu verschwinden. „Warte, Robert. Wann sehe ich dich wieder?“ Jetzt drehte er sich um und sah mir tief in die Augen. Seine blauen Augen sahen aus wie das Meer, wild und unzähmbar, dann wurden sie weicher, hellblau würde ich sagen, wie ein klarer ruhiger See. Es waren seine Gedanken, die in meinem Kopf widerhallten. Jetzt, da ich dich endlich gefunden habe, werde ich dich so schnell nicht wieder gehen lassen. Bis bald, Ella. Ich blinzelte nur eine Sekunde, die Sonnenstrahlen trafen auf mein Gesicht. Weg war er. Ich ließ mich in das weiche Gras fallen. Ein Tagtraum? Ich versuchte, seinen Gedanken zu folgen. Vergebens, er war weg. Ich blieb bis zum Abend, aber er kam nicht wieder. Ich spürte es, er musste es sein, mein Seelenverwandter, meine zweite Hälfte, das fehlende Stück. Aber konnte das sein? Ich starrte auf mein Buch. Als er mich vorhin berührte, nur eine Sekunde lang, er war nicht so kalt, wie ich es erwartet hätte, er war auch nicht hart wie Stein. Nein, er war anders, er war wie ich, menschlich.