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Titelseite

 

 

 

 

 

 

Für Marion und ihre Männer

Prolog

Darf ich vorstellen? Dies sind drei der erfolgreichsten Gespensterjäger unserer Tage.

Hedwig Kümmelsaft ist schon seit vielen, vielen Jahren eine berühmte Expertin auf dem Gebiet der Gespenstervertreibung, und seit ihrem ersten gemeinsamen Fall, der äußerst gefährlich war, sind Tom Tomsky und Hugo, das MUG (Mittelmäßig Unheimliches Gespenst), Frau Kümmelsafts Assistenten. Kümmelsaft & Co. steht auf ihren Visitenkarten, Gespenstervertreibung aller Art.

Eigentlich gibt es kaum einen Spuk, der diese drei Fachleute noch schrecken könnte, aber der Auftrag, von dem in diesem Buch die Rede ist, war selbst für so spukerprobte Gespensterjäger wie Kümmelsaft & Co. eine äußerst brenzlige Angelegenheit, im wahrsten Sinne des Wortes …

Also, ich hoffe, du sitzt gemütlich in einem möglichst hellen Raum, was Gespenster ja bekanntlich nicht mögen, und trägst irgendwas Rotes, was Gespenster bekanntlich ebenfalls nicht mögen, denn jetzt geht es los …

Nur ein kleiner Ausflug

Es ist immer dasselbe mit den gefährlichen Abenteuern, sie beginnen ganz harmlos.

An einem schönen Herbsttag erhielt die bekannte Gespensterjägerin Hedwig Kümmelsaft einen Brief. Er kam von Alwin Wichtigmann, Direktor eines vornehmen Strandhotels, in dem es anscheinend ein paar unangenehme kleine Probleme gab, die sich nur durch Spukerscheinungen erklären ließen. Direktor Wichtigmann bat deshalb Kümmelsaft & Co. um schnellstmögliche, fachmännische und vor allem diskrete Hilfe.

„Ach, schon wieder so ein langweiliger Routineauftrag!“, seufzte Frau Kümmelsaft. „Aber Strandhotel klingt nicht schlecht. Ein Wochenende am Meer ist immer eine nette Sache.“ In diesem Fall sollte sich das leider als großer Irrtum herausstellen.

Hedwig Kümmelsaft benachrichtigte ihre Assistenten Tom Tomsky und Hugo MUG, packte ihre Grundausrüstung für die Gespensterjagd ein und traf sich mit den beiden am Samstag, dem fünften Oktober, im Zug nach Hummerstrand.

Wie gesagt, es begann alles ganz harmlos.

Frau Kümmelsaft hatte wegen Hugo ein ganzes Abteil reserviert. Schließlich verträgt nicht jeder Reisende den Anblick eines MUGs, obwohl diese Art Gespenster zu den harmlosesten ihrer Gattung zählt. Im Abteil zog Tom erst mal alle Vorhänge zu, weil MUGs helles Tageslicht außerordentlich schlecht vertragen.

„Kannst rauskommen, Hugo“, sagte er und ließ seinen Rucksack auf den Sitz plumpsen.

„Höhööh! Ötwos vorsüchtügör, bittö!“, schimpfte Hugo dumpf, und der Dritte des berühmten Gespensterjägertrios schwabbelte aus dem Rucksack hervor.

„Pfüi Toiföl“, stöhnte er. „Uch hosse Roisön. Roisön üst schoißlüch!“

„Mein lieber Hugo.“ Hedwig Kümmelsaft hob ihren Koffer ins Gepäcknetz und stellte eine Thermoskanne Tee auf das kleine Klapptischchen an ihrem Platz. „Du hättest keinesfalls mitkommen müssen, das habe ich dir bereits am Telefon gesagt. Bei diesem Fall ist deine Hilfe bestimmt nicht erforderlich. Und am Strand liegen willst du doch sicherlich auch nicht, oder?“

„Söhöhör wützüg!“ Hugo nahm seine bläuliche Schmollfarbe an und verschwand oben im Gepäcknetz.

„Ich hab ihm auch gesagt, wir brauchen ihn nicht“, seufzte Tom und ließ sich auf einen Sitz fallen. „Aber er wollte unbedingt mit.“

„Typisch“, sagte Hedwig Kümmelsaft. „Alle MUGs sind unerträglich neugierig!“

Sie holte zwei rote Becher aus ihrer Handtasche, ein Päckchen Würfelzucker und einen zerknitterten Brief. Den Brief und den Würfelzucker gab sie Tom. „Da, junger Freund“, sagte sie und schenkte den Tee ein.

Neugierig beugte Hugo sich vom Gepäcknetz herunter. „Nimm deine Schimmelfüße von meinem Kopf runter“, brummte Tom und versuchte, in dem Dämmerlicht den Brief zu entziffern. Das MUG kitzelte ihn mit seinen Eisfingern im Nacken.

„Hugo, verflixt noch mal, lass das!“, rief Tom. Ärgerlich nahm er die Brille ab und putzte sie. „Verzieh dich! Von deinem blöden Moderatem beschlagen die Gläser!“

„Modörotöm? Modörotöm?“ Hugo schwabbelte unter die Decke und blieb dort beleidigt hängen. „Oiör obschoilichör Töö üst schuld!“

Tom schüttelte nur den Kopf, setzte die Brille wieder auf und las vor: „,Sehr geehrter Herr Kümmelsaft!‘ Wieso ,Herr‘?“, fragte Tom.

„Das ist doch wieder mal typisch!“, sagte Frau Kümmelsaft. „Unter einem Gespensterexperten stellen sich die meisten natürlich sofort einen Mann vor. Dumm, aber leider typisch!“

„,Sehr geehrter Herr Kümmelsaft‘“, las Tom noch mal, „,seit einigen Tagen ereignen sich in unserem Hotel rätselhafte Vorfälle, die mit gesundem Menschenverstand leider nicht zu erklären sind. Aus den Wasserhähnen kommt des Öfteren ganz unvermittelt heißes Wasser, und unsere Klimaanlage spielt immer häufiger verrückt. Außerdem sind nachts äußerst lästige und unangenehme Geräusche zu vernehmen, und einige Angestellte haben seltsame Beobachtungen gemacht. Da Ihre Fachkenntnisse auf dem Gebiet der Spukbekämpfung weithin den besten Ruf genießen, möchte ich Sie bitten, uns baldmöglichst von diesen lästigen Störungen zu befreien. Allerdings muss ich, mit Rücksicht auf den guten Ruf unseres Hotels, um äußerste Diskretion bitten. Mit freundlichen Grüßen, gezeichnet Alwin Wichtigmann!‘ Hört sich nach einem kleinen Feuergeist an!“ Tom warf vier Stücke Würfelzucker in seinen Becher, rührte um und trank einen Schluck. „Zwei Stunden Arbeit, schätze ich!“

„Das ist auch meine Einschätzung“, sagte Frau Kümmelsaft. „Und danach werden wir uns noch ein paar schöne Stunden am Strand machen. Was hältst du davon? Unser lieber Freund Hugo kann ja solange im Hotelkeller bleiben!“

„Foiörgoistör sünd löchörlüche Dummköpfö!“, schimpfte Hugo von der Decke herab. „Üch wördö düsön …“

„Still!“, zischte Frau Kümmelsaft. Auf dem Flur kamen Schritte näher. Die Abteiltür ging auf, und der Schaffner steckte seinen Kopf durch den zugezogenen Vorhang.

„Die Fahrkarten bitte!“

Mit einem freundlichen Lächeln reichte Frau Kümmelsaft ihm ihre Fahrscheine. Tom warf einen besorgten Blick zur Decke, aber Hugo war hinter dem Koffer verschwunden.

Der Schaffner stempelte die Karten ab, gab sie Frau Kümmelsaft mit einem Kopfnicken zurück und wollte das Abteil gerade wieder verlassen, als etwas nach seiner Mütze griff. Etwas schwabblig Kaltes, Schimmelgrünes. Erschrocken guckte er nach oben, sah die Mütze zehn Zentimeter über seinem Kopf schweben und darüber ein Gespenst mit flatterndem Geisterhaar und giftgrünen Augen, das bösartig auf ihn herabgrinste.

„Hoooooolllooooooooooohhhh!“, sagte Hugo dumpf und winkte. Dann ließ er die Mütze zurück auf den Schaffnerkopf fallen, blies dem Ärmsten seinen stinkig kalten Atem ins Gesicht und verschwand im Koffer.

„Hugo!“, rief Tom wütend.

Der Schaffner stand schlotternd da und klapperte so laut mit den Zähnen, dass es im Nachbarabteil zu hören war.

„Ist irgendetwas mit den Karten nicht in Ordnung, Herr Schaffner?“, fragte Hedwig Kümmelsaft mit ihrer beruhigend tiefen Stimme.

Der arme Schaffner zitterte immer noch. Ängstlich sah er sich im ganzen Abteil um, aber von Hugo war nicht das klitzekleinste schimmelgrüne Eckchen zu sehen.

„Suchen Sie etwas?“ Tom versuchte, so unschuldig wie möglich dreinzugucken.

Der Schaffner strich sich über die Stirn und murmelte: „Nächster Halt Hummerstrand!“ Dann stolperte er, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen, aus dem Abteil und knallte die Tür hinter sich zu.

„Oh, dieses alberne MUG!“, schimpfte Frau Kümmelsaft. „Hugo, ist dir denn jetzt auch noch dein letztes bisschen Gespensterverstand abhanden gekommen? Dies ist keine Vergnügungsreise!“

„Lass dich bloß so schnell nicht wieder blicken!“, rief Tom zum Gepäcknetz hinauf. „Nichts als Ärger hat man mit dir!“

„Ühr gönnt oinöm ormön Göspönst obör ouch gor nüchts!“, kam es beleidigt aus dem Koffer. „Koinön Spoß vörstöht ühr! Koin büsschen Spoohoß!“

Hedwig Kümmelsaft schüttelte nur den Kopf. „Das kommt davon, wenn man mit einem Gespenst verreist. Wahrscheinlich werden wir mit diesem albernen MUG mehr Schwierigkeiten haben als mit Herrn Wichtigmanns Feuergeist!“

Das war wieder ein gewaltiger Irrtum. Aber woher sollte Frau Kümmelsaft wissen, dass Direktor Wichtigmann ihr einiges verschwiegen hatte und dass sie Hugos Hilfe noch bitter brauchen würden?

Eindeutig spukgeschädigt

Kümmelsaft & Co. nahmen sich ein Taxi zum Hotel. Hugo steckte wieder in Toms Rucksack, und zum Glück blieb er dort auch. Nur einmal kam sein langer weißer Arm herausgeschwebt und kniff den Taxifahrer ins Ohr. Aber der Verdacht fiel natürlich auf Tom.

Das Hotel Strandperle stand wirklich direkt am Meer. Von der Küstenstraße trennte es ein großer, wunderschöner Park, und hinten stieg man von einer großen Veranda ein paar Holzstufen zum Privatstrand hinunter, wo überall Schilder verkündeten: Nur für Gäste der Strandperle.

Tom war noch nie in einem Hotel gewesen, schon gar nicht in so einem. Das Einzige, was den idyllischen Eindruck störte, war der große, schwarze Fleck auf dem Dach. Hedwig Kümmelsaft gefiel der Anblick gar nicht.

„Merkwürdig!“, murmelte sie. „Sehr merkwürdig!“

Das Taxi setzte sie vor dem Eingangsportal der Strandperle ab, und ein Page kam sofort die riesige Treppe herunter, um ihr Gepäck zu tragen, was Frau Kümmelsaft freundlich ablehnte.

„Mann, ist das ein Riesenkasten!“, sagte Tom, als sie die Stufen hinaufgingen.

„Üch wüll dos ouch söhön“, brummte Hugo aus dem Rucksack.

„Du bleibst vorerst da drin“, zischte Frau Kümmelsaft. „Dein Späßchen im Zug hat mir gereicht. Außerdem ist es sowieso viel zu hell!“

Sie ging mit Tom durch die elegante Eingangshalle auf die Rezeption zu. Vor einem großen Kamin saßen ein paar Gäste, aber die Gespensterjäger fielen niemandem besonders auf.

„Für die Nebensaison ganz schön viel Betrieb“, stellte Tom fest.

Neugierig sah er sich um. Hinter der Rezeption stand ein kleiner, dicker Mann und verteilte gerade die Post in die Zimmerfächer.