Manfred Eisner

IM BANN DER BITTEREN BLÄTTER

Roman

Nili Masal ermittelt

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Abbildung „Yungas“ auf dem Titelblatt ist Bestandteil einer Lithographie-Kollektion, die ein geschätzter Familienfreund des Autors, der Münchner Maler und Graphiker Walter Sanden († 1954), während des gemeinsamen Exils in Bolivien unter dem Namen „Bolivia Pintoresca“ – „Malerisches Bolivien“ – herausgab. Es zeigt indigene Erntefrauen beim Einsammeln von Cocablättern in jener subtropischen Region, etwa 80 Straßenkilometer von La Paz entfernt.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

Alle Gründe, die man erfindet, um die Sucht zu entschuldigen,

können sich literarisch sehr gut machen. Konkret ist es eine

Schweinerei. Denn man ruiniert sein Leben damit.

Friedrich Glauser, einer der ersten Kriminalautoren

* 1896, Wien

† 1938, Nervi bei Genua (an den Folgen der eigenen Sucht)

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Vorwort

1. Böses Schicksal

2. Nili

3. Wochenende

4. Vernehmung

5. Strukturreform

6. Aus Nilis Tagebuch

7. Reiseplanung

8. Das Abenteuer beginnt

9. Containerklau

10. Rotterdam

11. Operation „Torpedo“

12. Erste Bilanz

13. Verschnaufpause

14. Die Kanaren

15. Bogotá, Colombia

16. Im Tal des Schneekönigs

17. Paco-Pepe

18. Im peruanischen Wald der Akronyme

19. Heilende Cocablätter – tausendjähriger Fluch

20. Los Yungas

21. Verhängnisvoller Chapare

22. Letzte Zeilen aus Nilis Tagebuch

Kulinarisches

Danksagung

Der Autor

Fußnoten

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

dieser ist ein vom Autor frei erdachter Roman und kein Tatsachenbericht. Allerdings basieren so manche der darin vorkommenden Geschehnisse und Szenarien auf realen Ereignissen, die vorwiegend während dieses Jahrzehnts entweder tatsächlich so oder zumindest sehr ähnlich geschahen. Dennoch mussten sie gelegentlich dem Ablauf unserer Geschichte entsprechend angepasst werden. Vor allem ist es die leidliche und immer wieder neu auflebende Diskussion über die Legalisierung von sogenannten „weichen“ Drogen, die den Autor veranlasste, dieses Leitmotiv für seinen ersten Roman der „Nili Masal“-Serie aufzugreifen. Der Gebrauch von Drogen aller Art ist so alt wie die Menschheit. Schon seit der Steinzeit kannte man die Wirkung mancher Substanzen aus der Natur, die vorwiegend zur Linderung von Leiden und Schmerzen Verwendung fanden. Jedoch haben diese, bei vernünftiger Dosierung und zielgerechtem Einsatz, überhaupt nichts mit dem willkürlichen und später zwangsweisen Überkonsum jener sinnesbetäubenden Gifte zu tun, von denen hier die Rede ist. Eigene Erfahrungen während der überwiegenden Reisen auf den fünf Kontinenten unseres Planeten haben beim Autor die Gewissheit geschaffen, dass es wahnwitzig und unverantwortlich wäre, die bestehenden Beschränkungen aufzuheben. Der Gebrauch von weichen Drogen bedeutet für labile Geschöpfe doch nur den Einstieg in weitaus Schlimmeres. Man argumentiert, dieser verursache eine ungerechte „Kriminalisierung“ jener, die ihnen bedauerlicherweise verfallen sind.

Fälschlicherweise, so glaubt man, werde mit der Legalisierung des Drogenhandels den finsteren Mächten, die dahinterstehen, die Luft aus den Segeln genommen. Weit gefehlt, denn man unterschätzt die enorme kriminelle Energie und die unendliche Geldgier jener, die mit ihrem makabren Tun und immer raffinierteren Vertriebsmethoden für den Verfall der geistigen und leiblichen Gesundheit von Millionen Menschen auf dieser Welt die Verantwortung tragen.

Sämtliche in diesem Roman vorkommende Namen der – „guten“ oder auch „bösen“ – Akteure sind frei erfunden. Etwaige Übereinstimmungen mit real existierenden Personen oder deren Position und Beruf sind nicht beabsichtigt und daher rein zufällig.

Manfred Eisner, im Sommer 2015

1. Böses Schicksal

„Ralph!“

Der angsterfüllte Ruf der Frau Ende dreißig hallt von den Wänden des menschenleeren Großraumbüros wider, was diesem Nachdruck verleiht.

Ungeduldig und von einer schrecklichen Vorahnung gepeinigt, rüttelt Melanie immer heftiger an der Klinke der verschlossenen Tür zur Herrentoilette, hinter der sie ihren Begleiter weiß, während sie wiederholt seinen Namen ruft. „Mensch, Ralph, Junge, mach doch keinen Unsinn und komm endlich da raus! Es ist höchste Zeit, nach Hause zu gehen!“

Verzweifelt trommelt Melanie mit beiden Fäusten an die Tür, während Tränen der Hilflosigkeit aus ihren blauen Augen quellen, an ihren Wangen herunterlaufen und auf dem Make-up bizarre Flussläufe hinterlassen. Das zunehmend wütende Gezerre an der Tür, die ihren Bemühungen scheinbar ungerührt zu trotzen scheint, hat ihr rotblondes, gewelltes Haar arg durcheinandergebracht.

„Ralph, bitte, bitte, um alles, was dir lieb ist, bitte, bitte, tu mir das nicht an und komm raus!“

Melanies recht hübsches und apartes Gesicht ist von der Anstrengung und vor allem von der Angst gezeichnet. Ihr Herz pocht wild in ihrer Brust und ihr Busen hebt und senkt sich rasch, während sie aufgeregt mit ihrem Atem ringt.

Es ist ein schöner und lauer Samstagnachmittag. Auch in diesem Jahr hat sich wieder eine frühlingsähnliche Luft an dem vom Kalender vorgezeichneten Rhythmus vorbeigewagt und beschert gerade an diesem Wochenende den aufgrund der langen, ungemütlichen Wintermonate besonders sonnenhungrig gewordenen Kielern ein herrliches Spazierwetter. Eigentlich würde Melanie Westphal an einem so schönen Tag viel lieber in dem Golf Cabrio nach Laboe fahren, um dort mit ihrem Joker, einem quirligen Jack Russel, spazieren zu gehen. Da ihre Eltern aber für zwei Wochen auf den Bahamas Urlaub machen, hat sie ihnen versprochen, an beiden Wochenenden für ein paar Stunden in deren Steuerberaterbüro zu gehen, um dort nach dem Rechten zu sehen und die eilige Korrespondenz zu erledigen.

Ihr um viele Jahre jüngerer Halbbruder aus der zweiten Ehe ihres Vaters, Ralph, hat sie an diesem Tage begleitet. Sie hat ihn darum gebeten, weil sie sich bei dem Gedanken, sich wieder einmal allein ein paar Stunden lang in diesen menschenleeren Büroräumen aufhalten zu müssen, nicht gerade wohlgefühlt hatte. Am vorangegangenen Wochenende war sie schon einmal hier gewesen und es war ihr unheimlich vorgekommen.

Außerdem ist es ihr wohler, wenn sie Ralph bei sich weiß, denn so kann sie besser auf ihn aufpassen, als wenn er allein zu Hause geblieben wäre. Es schien ihr sicherer, ihren labilen Bruder, der erst im Herbst vorigen Jahres von einer monatelangen und qualvollen Drogen-Entziehungskur wieder heimgekommen war, nicht allzu lange aus den Augen zu lassen. Allem Anschein nach ist Ralph von seiner Sucht endgültig geheilt – also clean, wie man heute zu sagen pflegt. Er hat kurz nach seinem Entzug sein für fast zwei Jahre unterbrochenes Architekturstudium, diesmal jedoch in Lübeck, also so nahe wie möglich an Kiel, wieder aufgenommen.

Ironie des Schicksals – hatten es doch die Eltern mit ihm besonders gut gemeint! Nachdem ans Licht gekommen war, dass Ralph schon während seiner Gymnasialzeit mit der Neigung, Haschisch zu rauchen, seine arge Mühe gehabt hatte, beschlossen sie ihn nach seinem doch noch mit Ach und Krach geschafften Abitur zum Architekturstudium in eine kleinere Stadt zu schicken, wo die Drogengefahr augenscheinlich geringer war. Und gerade dort, in Konstanz am Bodensee, war es dann passiert. Von dem sogenannten „weichen“ Gift war für Ralph, wie für viele andere, der Schritt zum harten Kokain nur ein sehr kleiner gewesen, als ihm die Versuchung dazu eine Gelegenheit bot.

Ralph war von frühem Kindesalter an schon immer ein in sich gekehrter, stiller Junge gewesen. Mit den Jahren hatten sich seine musischen Neigungen – allen voran die für Poesie und Musik – in besonders ausgeprägter Manier ausgebildet, eine Entwicklung übrigens, für die bei dem bodenständigen, praktisch und kaufmännisch veranlagten Vater trotz langwieriger und ausführlich geführter Diskussionen keinerlei Verständnis aufgekommen war.

Ralph beherrschte das Spielen der spanischen Gitarre besonders gut. Bei einem Sommerurlaub im spanischen Torremolinos hatte ihm seine Mutter aufgrund seines nicht enden wollendes Bettelns ein schönes und teures Instrument gekauft. Schon bald fand der damals Zwölfjährige in einer dunklen Bodega einen bereitwilligen Lehrer, der ihm mit Freuden die ersten Grundgriffe beibrachte. Lange Übungsstunden im Hause eines gleichgesinnten Freundes – wobei die beiden sich das meiste gegenseitig beibrachten – und später auch das gelegentliche Musizieren in einer Schülerband ließen Ralphs Musikalität und Fingerfertigkeit zu einer gewissen Spielkunst heranreifen.

All dies geschah hinter dem Rücken des strengen Vaters. Überhaupt, bei Mutter und Schwester hatten seine künstlerischen Bestrebungen weit mehr positiven Widerhall, aber deren Ehrfurcht vor der väterlichen Abneigung gegen alles Musische ließ in ihnen die aufkommende Bewunderung für Ralphs Musizieren gegenüber dem Familienoberhaupt verhehlen. Nach dem Stimmbruch wandelte sich zudem Ralphs piepsiger Kindersopran in eine weiche, harmonische Tenorstimme, mit der er bekannte Lieder und eigene Chansontexte sang. Unter Freunden und Kommilitonen war seine Begabung durchaus gefragt und nicht selten verhalf ihm seine Musik zu einer ansehnlichen Aufbesserung des sonst nicht allzu üppigen Taschengeldes.

Allerdings, und dies scheint wiederum den Kreis des Verderbens um den jungen Mann zu schließen, waren es augenscheinlich gerade jene musische Umgebung und einige jener Menschen, für die er oft spielte und denen er vorsang, die ihn entsprechend beeinflussten. Hier fühlte er sich besonders wohl, da er voll akzeptiert wurde, jedoch war bei diesen Menschen die Schwäche für den Drogenkonsum bereits unterlegt. So war es eine unausweichliche Folge, dass deren Verlangen nach Drogen auch ihn wie eine schleichende und ansteckende Seuche befiel. Und so kam es, wie es kommen musste: Ralph verfiel den süßen Träumen und vernachlässigte allmählich das Studium. Immer seltener besuchte er die Vorlesungen, was dazu führte, dass er die geforderten Leistungsnachweise nicht erbringen konnte.

Mit tiefer Besorgnis nahm der Vater die erschütternde Nachricht entgegen, die ihm die um ihre Mietzahlungen arg vernachlässigte Wirtin über Ralphs traurigen Zustand zukommen ließ. Es muss dem rechtschaffenen und schwer betroffenen Heinz Westphal zugutegehalten werden, dass er dieser bösen und für ihn besonders peinlichen Situation voll gewachsen war: Er setzte sich sofort in den Wagen und fuhr nach Konstanz, um seinem hilflosen Sohn beizustehen. Er begegnete Ralph ohne ein Wort des Vorwurfes oder der Enttäuschung und umarmte ihn, während beide von Weinkrämpfen geschüttelt wurden.

„Du bist erkrankt, mein Sohn, aber das kriegen wir schon wieder hin!“

Eiligst hatte Vater Heinz Westphal noch vor seiner Abreise bei seinem Hausarzt fachlichen Rat eingeholt. Dieser hatte ihm ein Schweizer Sanatorium in der Nähe von Bern genannt, das eine besonders hohe Erfolgsquote bei der Entwöhnung solcher Fälle – und allerdings auch dementsprechend hoch angesetzte Arzthonorare – aufzuweisen hatte. Nachdem Ralphs Koffer gepackt und seine zahlreichen offenen Rechnungen beglichen worden waren, fuhren Vater und Sohn in das besagte Heilinstitut im Berner Oberland, wo sie nach der Anmeldung von Klinikleiter Dr. Reto Buri bereits erwartet wurden. Nach einer durchaus gründlichen, drei Tage andauernden physischen und psychischen Untersuchung des Patienten eröffnete Dr. Buri dem besorgten Vater eine für diesen ziemlich argen Fall etwas ambivalente Prognose: Die beabsichtigte und ungefähr zwei bis drei Monate dauernde Drogenentzugsbehandlung zur Entgiftung, Stabilisierung und sozialen Wiederintegration würde in Form von medizinischen, psychologischen und psychosozialen Behandlungen sowohl in Einzel- als auch in Gruppentherapie erfolgen und mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit zum gewünschten restlosen Entzugserfolg führen. Ein zehnprozentiges Rückfallrisiko, so die Aussage von Dr. Buri, könne er allerdings aufgrund der etwas labilen Psyche Ralphs nicht ausschließen. Diesem Restrisiko sei nur mit konsequenter Begleitung des Patienten durch Familie und wohlgesinnte Freunde zu begegnen; allerdings dürfe man ihm keine für ihn merkbaren Freiheitsbeschränkungen auferlegen, denn diese könnten in unerwünschte Trotzreaktionen entarten.

Nach dem Ende der Untersuchung und wider die zwiespältige ärztliche Voraussage berieten Vater und Sohn ausführlich darüber. Natürlich ließ dabei Heinz Westphal jegliche Erwähnung des möglichen Rückfallrisikos beflissen aus. „Mein lieber Junge, du siehst einer wochenlangen, ziemlich schwierigen und äußerst unangenehmen – und sehr wahrscheinlich sogar schmerzhaften – Behandlungszeit entgegen. Lass dir aber sagen, es ist diesmal wirklich deine letzte Chance, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Ich weiß, es ist schwierig für dich, mir ein Versprechen zu geben, dass du nach dieser Behandlung nie wieder irgendwelche Drogen, in welcher Form auch immer, zu dir nehmen wirst. Trotzdem bitte ich dich jetzt, dich dazu zu äußern. Es ist nicht nur der enorme finanzielle Aufwand, der damit einhergeht, es ist vor allem die Verzweiflung deiner Mutter und Schwester, die so sehr darunter leiden. Möchtest du mir irgendetwas dazu sagen?“

Ralph blickte zunächst still auf den Fußboden. Dann, ohne den Kopf zu erheben, antwortete er: „Vater, ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. In meinem Kopf schwirrt es, als ob tausend Wespen sich darin befänden. Ich habe einen Aal, der sich in meinem Bauch windet, und mir ist furchtbar schlecht, ich glaube, ich muss mich gleich wieder übergeben!“ Dann warf er abrupt die Bettdecke zur Seite, sprang aus dem Bett und rannte würgend ins Badezimmer, in das er sich sogleich einsperrte. Nach einigen Minuten kam er wieder zurück, noch blasser als zuvor und mit stark geröteten Augen. Obwohl er sich sofort wieder hinlegte und ganz zudeckte, schüttelt es ihn heftig. „Entschuldige bitte, Vater!“, stieß er reumütig hervor.

„Ist schon in Ordnung, Ralph. Soll ich den Arzt rufen?“

„Nein, lass nur. Das geht schon so, seit ich hier bin. Man gibt mir regelmäßig Tabletten zur Beruhigung, aber diese Anfälle kommen alle paar Stunden wieder. Sie machen einen ganz kaputt. Für dich muss es unfassbar sein, aber Attacken wie diese wurden zunehmend schlimmer und deswegen brauchte ich jedes Mal eine größere Menge Kokain, um mich einigermaßen zu fühlen. Es ist nicht so, dass ich euch nicht liebe, dich, die Mami und Melanie. Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen, dass ich euch das angetan habe, aber ich kann doch nicht anders, es ist stärker als ich!“ Ralph brach in bitteren Tränen aus. Heinz Westphal beugte sich über das Bett, umarmte seinen Sohn, um ihn zu wärmen, und versuchte ihn mit sanften Worten zu beruhigen. Dann drückte er auf die Klingel, um Hilfe herbeizurufen. Nachdem die Krankenschwester Ralph eine Beruhigungsspritze verabreicht hatte, murmelte er, bevor er in einen Schlummer versank: „Ich verspreche es dir, Vater, ich gebe mir alle Mühe.“

Zweieinhalb Monate später holte Heinz Westphal seinen Sohn aus dem Sanatorium ab. Dr. Buri meinte, der junge Mann sei gründlich geheilt und wieder voll integrationsfähig, zumindest ließen alle seine abschließenden Tests ein solches Resultat erwarten. Als Vademekum gab er Ralph ermunternde Ratschläge mit auf dem Weg, vor allem aber die ernste Ermahnung, jeden Drogenkonsum und vor allem den Umgang mit der entsprechenden Szene unbedingt streng zu meiden. Ralph war offensichtlich ruhig und gelassen und verhielt sich während der ersten Wochen in Kiel absolut unauffällig. Es gelang Heinz Westphal dank seiner guten Beziehungen, ihn an der Fachhochschule Lübeck bereits für den nächsten Lehrgang unterzubringen. Gemeinsam besichtigten sie den Campus der Fachhochschule und waren von diesem Besuch sehr beeindruckt. Erleichtert vernahmen Ralphs Eltern danach seinen Wunsch, zunächst einmal zu Hause wohnen zu bleiben und tagtäglich nach Lübeck und zurück zu pendeln. So könne er auch die etwas mehr als eine Stunde dauernde Bahnfahrt zum Lernen nutzen.

Zum Semesterbeginn machte sich also Ralph an den Wochentagen sehr früh am Morgen auf den Weg zum Bahnhof. Er hatte bei seiner ersten Fahrt sein Fahrrad mit nach Lübeck gebracht, das ihn jetzt am dortigen Bahnhof erwartete und mit dem er anschließend die Weiterfahrt zu seinem Studienplatz unternahm. Von seinen früher geleisteten – oder besser gesagt eher nicht geleisteten – vier Semestern in Konstanz waren ihm lediglich die beiden ersten vollständig testiert worden, sodass er an der hiesigen Fachhochschule den Neueinstieg in das dritte Semester mit gutem Gewissen angehen konnte. Zunächst lief auch alles anstandslos. Ralph hörte aufmerksam alle ihm vorgeschriebenen Vorlesungen und machte die wichtigsten Kurznotizen auf seinem Laptop. Später, meistens schon während der Bahnfahrt nach Kiel, arbeitete er diese in entsprechende Kollegdateien ein. Die ersten Prüfungen bestand er mit guten, manche sogar mit sehr guten Noten. Von seinen Dozenten und Kommilitonen wurde er durchaus geschätzt, auch wenn er dieses Mal, entgegen seiner früheren Konstanzepisode, auf jegliche Auftritte mit Gitarre und Gesang von vornherein verzichtete. Er mied jeden Kontakt zu seinen früheren Mitschülern aus der Gymnasialzeit und widmete sich konsequent seinem Studium. Seine wenigen freien Stunden verbrachte er meist zu Hause im Kreise der Familie. Gemeinsam mit der Mutter und gelegentlich auch mit Schwester Melanie besuchte er Theater- und Konzertveranstaltungen, manches Mal wurden es auch gemeinsame Kinoabende.

Unauffällig beobachtete während der Bahnfahrten ein ungleiches Pärchen die Mitreisenden. Vor allem die zahlreichen Jugendlichen, Schüler und Studenten, die alltäglich auf der Strecke zwischen Kiel und Lübeck pendelten, waren das ausgemachte, jedoch verkappte Ziel ihrer besonderen Aufmerksamkeit. Habiba Massud war ein bildhübsches, noch nicht ganz achtzehnjähriges junges Mädchen, versteckte jedoch ihre besonders aparten orientalischen Züge unter einem derben Parka mit meist über den Kopf gestülpter Kapuze und kaschierte geschickt ihre betont weiblichen Rundungen mit einer für sie unvorteilhaften, massigen Kleidung. Sie verhielt sich sehr unauffällig und trug eine mittelgroße lederne Umhängetasche, sodass man durchaus meinen könnte, sie sei eine der pendelnden Studentinnen. Ihr Begleiter, ein Mittdreißiger, der stets bemüht war, so zu tun, als gehöre er nicht zu Habiba, war ein kahlköpfiger und magerer, in Lederjacke und Jeans gekleideter, äußerst unsympathisch wirkender Geselle namens Mathias Lohse, in seinen Kreisen als Matti bekannt. Mit wachem Auge und geübtem Blick taxierte er seine zukünftigen Opfer und sonderte jene heraus, von denen er sich am ehesten einen Erfolg versprach. Bedeutungsvolle Blicke wanderten dann zu seiner Komplizin, um Habiba zu signalisieren, wen er als ahnungsloses Opfer ausgewählt hatte. Sobald Habiba die Person ebenfalls anvisiert hatte und dann zu Matti zurückschaute, nickte dieser fast unmerklich und verschwand daraufhin verstohlen in dem nächsten Waggon. Während der folgenden Tage gingen die Jäger auf die Pirsch und beobachteten abwechselnd das Tagesverhalten der anvisierten, fast ausschließlich männlichen Personen. Derart erhielten sie Aufschluss über deren alltägliche Ziele und Gewohnheiten. Gelegentlich gesellte sich ein dunkelhäutiger Afrikaner zu den Spähern. Mustafa Mbili tarnte sich meist als Sonnenbrillen- und Billigschmuckverkäufer, womit er von seinem eigentlichen Vorhaben erfolgreich ablenkte.

Eines Tages bemerkte Ralph das attraktive Mädchen, das ihm anscheinend zufällig, aber zunehmend öfter hier und dort begegnete, manches Mal auf seinem Radweg zum und zurück vom Unterricht, gelegentlich am Lübecker Bahnhof oder auch in der Mensa. Irgendwann begannen sie sich im Vorbeigehen zu grüßen. Eines Tages, beim Mittagessen, trat Habiba an Ralphs Tisch und fragte mit einem verführerischen Lächeln: „Ist hier noch frei?“ Sie kamen ins Gespräch, trafen sich bald häufiger, gingen zusammen aus, wurden vertrauter im Umgang miteinander. Und schließlich verführte Habiba den ahnungslosen Ralph zunächst sexuell, aber kurz darauf auch zum erneuten Kokainkonsum.

***

Vollkommen entnervt und geschockt, weil der Bruder weder auf ihre verzweifelten Rufe noch auf das laute Trommeln an der Toilettentür reagiert, versucht Melanie zunächst, den Hausmeister herbeizurufen. Dieser ist aber offensichtlich nicht in seiner Wohnung. Dann wählt sie hektisch die 112 und alarmiert die Feuerwehr.

„Hier Melanie Westphal. Ich benötige dringend Hilfe. Mein Bruder hat sich im Büro in der Toilette eingeschlossen und antwortet nicht. Ich habe Angst, dass er sich etwas angetan hat. Bitte kommen Sie sofort, bitte, bitte!“ Auf Rückfrage der Stimme am Nottelefon nennt sie die Anschrift. Keine fünf Minuten später kündigt sich mit lautem Martinshorn der Rettungsdienst an. Melanie blickt aus dem Fenster und beobachtet mit Erleichterung die Feuerwehrleute und das Notarztteam, die jetzt zum Gebäudeeingang eilen. Als sie ihnen die Tür zum Büroraum öffnet, kommen sie bereits die Treppe hoch. Wortlos deutet sie dem ersten Feuerwehrmann die Richtung zur Herrentoilette. Da das erneute Rufen und Klopfen ebenfalls wirkungslos ist, setzt einer der Männer eine kleine Ramme an das Türschloss und stößt zu. Mit lautem Krachen spaltet sich das Holz. Als man danach versucht, die Tür zu öffnen, hindert sie ein schwerer Gegenstand, der nur mit vereintem Kräfteaufwand beiseitegeschoben werden kann.

Einer der Sanitäter stützt die verzweifelt schluchzende Melanie und führt sie weg, um ihr den Anblick des leblosen Körpers ihres Bruders zu ersparen. Langsam bringt er sie zu einem der entfernteren Schreibtische und schiebt ihr gerade noch rechtzeitig einen Stuhl unter, bevor sie kraftlos zusammensackt. Die sofort eingeleiteten Reanimierungsversuche sind vergebens. Traurig schüttelt der Notarzt nach einigen Minuten den Kopf. „Exitus. Wir sind leider zu spät gekommen!“ Einsatzleiter Meno Hansen telefoniert mit der Kriminalpolizei und berichtet kurz über das Vorgefallene.

„Wir haben einen Toten!“, verkündet Kriminalhauptkommissar Harald Sierck, leitender Beamter der Kieler Bezirkskriminalinspektion Blumenstraße, seinen beiden Mitarbeitern, Oberkommissar Sascha Breiholz und Oberkommissarin Steffi Hink. Er überreicht ihnen einen Zettel mit der Anschrift des Tatorts. „Seht euch dort bitte um. Oberbrandmeister Meno Hansen rief soeben an und meldete den Fall. Es scheint sich um einen ‚goldenen Schuss‘ zu handeln, aber man weiß ja nie …“

„Wer fährt?“, fragt Oberkommissar Breiholz seine Kollegin.

„Darf ich?“, erwidert Oberkommissarin Hink mit einem Lächeln. Geschickt fängt sie den Autoschlüssel, den Oberkommissar Breiholz ihr über das Dach des VW Passat Kombi zuwirft, auf und setzt sich ans Steuer. „Ich weiß, wo es ist“, sagt sie, während sie den Motor startet und das Blaulicht einschaltet. Gelegentlich lässt sie auch kurz das Martinshorn ertönen, denn es ist schon fast Mittag und der Wochenendverkehr ist dichter geworden.

Als sie wenig später die Treppe des Bürogebäudes emporsteigen, begegnen ihnen die Sargträger, die Ralphs Leichnam hinunterbringen. Oben empfängt sie der Chef des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Kiel, Prof. Dr. Christoff Klamm. Da der Pathologe gerade an einer Studie für die Landesregierung über den Drogenkonsum und seine Folgen arbeitet, hat er es sich nicht nehmen lassen, persönlich am Tatort zu erscheinen, um den Fall zu untersuchen.

„Guten Tag, Herr Professor. Können Sie uns schon etwas sagen?“

„Hallo, Frau Oberkommissarin, lange nicht gesehen, und auch Ihnen guten Tag, Breiholz. Ja, offensichtlicher Tod durch eine Überdosis Kokain. Allerdings ziemlich unübliche Umstände, behauptet doch die Schwester des Toten, dieser sei nach einer längeren Entwöhnungskur in der Schweiz clean gewesen und habe sich anschließend, so auch während der ganzen letzten Zeit, absolut unauffällig verhalten. Sie kann sich dieses Malheur überhaupt nicht erklären. Ich werde also den Fall näher untersuchen. Sobald ich den Leichnam seziert habe, gebe ich Ihnen Bescheid.“

Sascha Breiholz unterhält sich zunächst mit Feuerwehr-Einsatzleiter Hansen und lässt sich alles genau berichten. Steffi Hink geht an den Schreibtisch zu Melanie Westphal, die vollkommen apathisch ins Leere blickt. Der Notarzt hat ihr eine Beruhigungstablette verabreicht. „Guten Tag, Frau Westphal, ich bin Oberkommissarin Steffi Hink, Bezirkskriminalinspektion Kiel. Das da vorn ist mein Kollege, Oberkommissar Breiholz.“ Sie deutet auf Sascha, der inzwischen hinzugekommen ist. „Gemeinsam ermitteln wir im Todesfall Ihres Bruders – Ralph, nicht wahr? Zunächst unser allerherzlichstes Beileid zu diesem tragischen Vorfall.“

Professor Klamm, die Feuerwehr und der Notarztwagen sind inzwischen abgefahren. Stattdessen sind die hinzugerufenen Mitarbeiter der Spurensicherung und zwei Streifenpolizisten anwesend.

Sascha fragt: „Ich weiß, es muss furchtbar für Sie sein, aber wären Sie dennoch in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?“

Melanie nickt.

„Würden Sie uns bitte erzählen, was geschehen ist?“, sagt Steffi.

Melanie berichtet ausführlich über die Vorgeschichte. „Ich kann mir einfach nicht erklären, wie es plötzlich zu diesem bösen Rückfall gekommen ist. Ralph hat sich doch absolut unauffällig verhalten, und ich bin sicher, ich hätte es bemerkt.“

Lars Kruse, ein Mitarbeiter der Spurensicherungsmannschaft, erscheint in seiner weißen Montur mit einem kleinen Plastikbeutel in der Hand. „Kokain, kein Zweifel, anscheinend sehr rein. Geht ins Labor, okay?“

Sascha nickt. „Haben Sie eine Ahnung, wo Ihr Bruder sich das Kokain beschafft haben könnte?“, fragt er Melanie.

„Ich weiß es nicht, aber ich vermute, es kann nur in Lübeck gewesen sein, und zwar an der Fachhochschule. Dorthin ist Ralph täglich gefahren. Wer weiß, wem er dort alles begegnet ist.“

Die beiden Oberkommissare sehen sich vielsagend an. „Wir müssen Waldi informieren“, sagt Steffi. Dann klärt sie Melanie auf: „Kommissar Walter Mohr ist unser Spezialist von der Drogenfahndung. Er wird sich um alles Weitere kümmern. Dürfen wir Sie jetzt nach Hause bringen?“

„Vielen Dank, aber ich habe meinen Wagen in der Tiefgarage stehen.“

„Sie sollten jetzt nicht selbst fahren, da Sie die Beruhigungstabletten genommen haben. Kommen Sie bitte mit.“ Saschas Tonfall lässt keine Widerrede zu. „Ach, mein Gott, ich muss ja noch die Eltern anrufen. Wie soll ich ihnen nur das Furchtbare erklären?“ Melanie verfällt wieder in Panik.

Steffi versucht sie zu beruhigen: „Wann wollten sie denn zurückreisen?“

„Am Mittwoch gegen Mittag. Ich soll sie am Hamburger Flughafen abholen. Oh Gott, oh Gott, was mache ich nur?“

„Also, wenn Sie meine Meinung hören möchten“, sagt Sascha, „ist es wenig sinnvoll, Ihre Eltern schon jetzt mit der Todesnachricht Ihres Bruders in Aufruhr und Trauer zu versetzen. Es sind ja nur vier Tage bis zu ihrer geplanten Rückkehr. Viel früher könnten sie sowieso nicht zurückkommen, und damit wäre auch nichts gewonnen. Haben Sie eine gute Freundin oder einen Freund, der Sie zum Flughafen begleiten könnte? Allein sollten Sie keineswegs dorthin fahren.“

Melanie denkt nach. „Ja, ich habe eine sehr gute Freundin aus meiner Hamburger Gymnasialzeit, die Nili. Mit ihr treffe ich mich sehr oft. Übrigens eine Ihrer Kolleginnen, sie ist Oberkommissarin in Oldenmoor.“

„Dürfen wir bitte den Büroschlüssel haben?“ Sascha nimmt den Schlüssel entgegen und übergibt ihn an einen der Streifenpolizisten. „Wenn die Spusi hier fertig ist, verschließen Sie bitte das Büro und versiegeln die Tür.“

Dann gehen Sascha und Melanie gemeinsam in die Tiefgarage. Sascha lenkt Melanies Cabrio, gefolgt von Steffi im schwarzen Kombi. Sie bringen die immer noch von Weinkrämpfen geschüttelte junge Frau nach Hause.

Als die beiden Oberkommissare gemeinsam auf dem Weg zurück in die Bezirksinspektion sind, verkündet Steffi: „Ich werde sofort Waldi anrufen, er muss diesem Fall auf die Spur kommen. Die arme Frau Westphal tut mir so leid!“

Sascha pflichtet ihr bei: „Eine bodenlose Gemeinheit! Wenn schon mal einer von der Sucht loskommt – und dann das! Manches Mal verzweifle ich an unserer Justiz. Man ist viel zu nachlässig mit der Bestrafung dieser gewissenlosen Kanaille. Die Erpresser, Entführer und Drogenhändler gehören doch alle …“

„Genug, Sascha!“, unterbricht ihn Steffi. „Ich weiß, was du fühlst, und manches Mal bin auch ich geneigt, aus Frust über unsere Ohnmacht gegenüber diesen Verbrechern alles hinzuwerfen. Wir geben uns die beste Mühe, sie ausfindig und dingfest zu machen, damit sie ihre gerechte Strafe erhalten. Und dann schaffen es oftmals die gewieften Herren Verteidiger, unter Ausnutzung sämtlicher Gesetzeslücken und Tricks, diesen miesen Übeltätern zu milden Urteilen oder sogar zu einem Freispruch zu verhelfen. Trotzdem, ich bin froh, in einem Staat zu leben und diesem zu dienen, in dem das Gesetz regiert und nicht die Willkür. Und das solltest auch du, lieber Herr Kollege Oberkommissar!“

2. Nili

Kriminaloberkommissarin Nili Masal legt betroffen den Telefonhörer auf. Sie ist erschüttert über das, was sie soeben von ihrer Freundin Melanie erfahren hat. Sie kennen sich seit ihren gemeinsamen Pennezeiten am Heilweg-Gymnasium in Hamburg, wo sie beide ihr Abitur bestanden haben. Auch in den Jahren danach ist ihr Kontakt nicht abgebrochen. Während Nili – so hatten ihre Eltern sie genannt, zu Ehren jener jüdischen NILI1-Untergrundorganisation, die schon während der türkischen Besatzungszeit bestrebt war, im Heiligen Land wieder einen eigenständigen Verbleib für Juden zu gestalten – ihre sechs Semester an der Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung in Altenhof bei Eckernförde sowie danach das Praktikum an der Polizeischule in Eutin absolvierte, trafen sie sich regelmäßig. Melanie machte zwischenzeitlich ihre Ausbildung als Finanzwirtin beim Finanzamt Kiel-Nord. Deswegen verbrachten die beiden Freundinnen die gemeinsamen Stunden meistens in Kiel, wo Nili auch gelegentlich im Hause der Westphals übernachtete und dabei die Bekanntschaft mit Melanies Halbbruder Ralph machte. Sie mochte den verträumten, netten jungen Mann und war auch ab und zu bei seinen gelegentlichen musikalischen Auftritten zugegen. Melanie hatte ihr später von der Entziehungskur berichtet und ebenso, äußerst erleichtert und froh, von Ralphs Wiederaufnahme des Studiums in Lübeck. Und jetzt diese furchtbare Nachricht!

Nili geht in den Toilettenraum der kleinen Polizeidienststelle in Oldenmoor, um sich die Tränen abzuwischen und das Gesicht zu waschen. Das Bild, das ihr oberhalb des Waschbeckens aus dem Spiegel entgegenblickt, ist das noch recht jugendliche, faltenlose Gesicht einer hübschen Enddreißigerin mit kurz gestylten, brünetten Haaren, freundlich blickenden dunkelbraunen Augen und einem sehr schön geformtem Mund. Der eng sitzende Rollkragenpulli verrät einen wohlproportionierten Busen, die blaue Uniformhose vermag es nicht vollständig, ihre weiblichen Rundungen zu kaschieren. Trotz der offensichtlich seelischen Belastung wegen des soeben Erfahrenen eine aparte und sympathische junge Frau. Ein wenig erholt von dem Schreck kehrt sie wenig später an ihren Arbeitsplatz zurück.

Ihrem wohlbeleibten Vorgesetzten, Hauptkommissar Boie Hansen, Leiter der Polizeidienststelle Oldenmoor, ist die Aufruhr, die das Telefonat bei seiner tüchtigen Mitarbeiterin verursacht hat, nicht entgangen. In seiner ihm eigenen, stets kurz gehaltenen Ausdrucksweise fragt er sie: „Nun vertell, mien Deern, wat hesst du op’m Haarten?“ Der umfangreiche Kahlkopf grient sie freundlich an. Auch der Kollege, Oberkommissar Hauke Steffens, hebt neugierig den Kopf.

Nili berichtet kurz von dem, was sie soeben erfahren hat. Dabei muss sie sich zusammenreißen, damit nicht wieder Tränen fließen.

„Ist wohl kein Einzelfall“, kommentiert Hauke Steffens. „Ich traf neulich durch Zufall auf Waldi Mohr, den Kieler Drogenfahnder. Er erzählte mir, es gäbe da neuerdings eine gemeine Bande, die es besonders auf jüngere Schüler und Studenten, die mit der Bahn zwischen Kiel und Lübeck pendeln, abgesehen hat.“

Nili reagiert spontan: „Könnte passen. Der Tote wohnte in Kiel und fuhr täglich mit der Bahn nach Lübeck. Melanie, seine Schwester, hat mir soeben erzählt, dass er vom Bahnhof aus immer mit seinem Fahrrad zur Hochschule fuhr.“ Sie überlegt einen Augenblick. „Er verstarb aber im elterlichen Steuerbüro in Kiel. Demnach müsste sein Drahtesel noch am Lübecker Bahnhof sein, oder?“

Boie Hansen greift zum Telefonhörer. „Dann wollen wir doch mal sehen, ob wir diesem Waldi einen nützlichen Tipp geben können. Ich rufe das Kieler Drogendezernat an.“

„Ach, Chef, ich muss Sie um einen Gefallen bitten. Dürfte ich mir den Mittwoch freinehmen? Melanie bat mich, sie zu begleiten, um ihre Eltern vom Hamburger Flughafen abzuholen. Sie kommen an dem Tag aus dem Urlaub zurück und wissen noch gar nichts von dem Unglück.“

Boie Hansen grient abermals: „Dann fier man een paar Överstundn af, geiht in Ordnung!“ Anschließend spricht er in den Hörer: „Hier Hauptkommissar Boie Hansen, Polizeidienststelle Oldenmoor. Kann ich bitte Ihren – wie heißt der Waldi wirklich? –, also Ihren Kommissar Walter Mohr sprechen? Habe einen wichtigen Hinweis für ihn.“

Polizeimeister Willi Seifert betritt das Büro. Seine Ledermontur ist völlig durchnässt und an der linken Seite mit dem dunklen Schlamm der Marscherde verschmiert. „So’n Shiet aber ok!“ Wütend wirft er seinen Motorradhelm auf den Stuhl. „Beinahe hätte ich die Golfdiebe erwischt, da kommt mir doch so ein blödes Rehkitz in die Quere! Ich musste so stark bremsen, dass ich auf der nassen Fahrbahn mit meinem Krad inne Grippe geschliddert bin. Hatte noch Glück im Unglück, ist nichts Schlimmes passiert, aber die Kerle sind mir durch die Lappen gegangen. Ich habe die Kollegen in Wilster, Sankt Margarethen und Glückstadt per Funk alarmiert, aber ich glaube nicht, dass wir sie kriegen. Ganz schön dreiste Hunde! Brechen doch heute in aller Früh im Autohaus Scholz ein, holen sich den Schlüssel aus dem Laden und klauen einen nagelneuen schwarzen VW Golf GTI vom Hof!“

„Ja, wir haben Ihren Funkruf gehört, Seifert. Na, wir werden die Kerle schon fassen – früher oder später. Jetzt gehen Sie man erst mal nach Hause und ziehen sich um, in so einer Aufmachung können Sie ja hier keinen Staat machen.“ Diese Worte sind Boie Hansens Art, Trost zu spenden. „Dann bringen Sie Ihr Motorrad sicherheitshalber zur Inspektion nach Heiligenstedten, dort soll man sicherstellen, dass alles okay ist. Am besten, Sie fahren mit dem Transporter gleich mit, Seifert, und bringen ihn dann wieder her.“

Nili wirft ein: „Und auf der Rückfahrt fahrt ihr bitte beim Autohaus Scholz vorbei und holt euch die Bänder von der Überwachungskamera ab, ja? Wir sehen uns genau an, wer da alles in den letzten Tagen in den Geschäftsräumen war und den Laden ausbaldowert haben könnte. Sagen Sie mal, Seifert, Sie waren doch ziemlich nah dran am Golf. Wie haben Sie überhaupt bemerkt, dass es sich um den gestohlenen Wagen handelt?“

„Ich kam gerade von der Streifenfahrt zurück, da bemerkte ich im Rückspiegel, wie der schwarze VW plötzlich aus der Ausfahrt vom Jammertalweg kam. Ich wendete und nahm die Verfolgung auf. Die Typen gaben Gas und versuchten, in Richtung Brokdorf davonzujagen. Muss ein verdammt geübter Fahrer sein, er nahm die engen Kurven mit mindestens 120 Sachen, obwohl sie ja nur für 70 Stundenkilometer zugelassen sind. Beim Überholen eines Pkws drängten sie sogar einen entgegenkommenden Lieferwagen von der Straße, einen Sprinter. Ich hielt kurz an. Der Fahrer war okay und machte mir deutliche Zeichen, ich solle weiterfahren. Ich gab wieder Vollgas und kam allmählich ziemlich nahe ran, sie hatten ein Lübecker Kennzeichen, KS 727, am Heck. Irgendwann kam eine Kurve, ich musste runter vom Gas, und dann schoss plötzlich das verdammte Rehkitz quer auf die Fahrbahn.“

„Das Nummernschild ist ganz sicher gestohlen, aber wir checken es trotzdem.“ Nili greift nach dem Telefonhörer. „Und nun ab mit euch!“

***

Nili wartet schon vor ihrer Haustür, als Melanie in dem Mercedes Kombi ihres Vaters in die Theodor-Heuss-Straße einbiegt und neben ihr anhält. Sobald sie eingestiegen ist, fahren sie los.

„Vielen Dank, liebe Nili, dass du mich bei meiner so schweren Mission begleitest“, sagt Melanie und drückt ihrer Freundin fest die Hand.

„Ist doch selbstverständlich, wozu sonst hat man denn Freunde? Nochmals mein allerherzlichstes Beileid.“ Nili blickt auf ihre ganz in Schwarz gekleidete ehemalige Schulkameradin, die nur wortlos nicken kann. Sie selbst hat einen grauen Pulli und eine schwarze Hose angezogen.

„Wie geht es deiner Mutter?“, fragt Melanie etwas später.

„Ach, eigentlich wieder ganz gut!“ Nach einer kurzen Pause setzt Nili fort: „Seit sie auf dem Eulenhof der Familie Carstens ihre freilaufenden Hühner betreut, ist sie wieder ganz in ihrem Element.“

Danach schweigen sie. Während sie entlang der Bundesstraße in Richtung Autobahn und dann weiter nach Hamburg fahren, versinkt jede in ihren eigenen Gedanken.

Nachdem Nilis Großeltern, Heiko und Clarissa Keller, Anfang der fünfziger Jahre aus dem langjährigen Exil in Bolivien nach Oldenmoor zurückgekehrt waren, hatte ihre Mutter, Elisabeth Keller, damals noch Teenager, ihre beiden letzten Jahre bis zum Abitur in Hamburg verbracht. Danach machte sie aber ihren bereits in Bolivien gefassten Entschluss wahr, nach Israel auszuwandern. Eigentlich meinte Lissy, wie sie von allen genannt wurde, sie sei ja gewissermaßen nur „eine vierteljüdische Deutsche“, jedoch hatten sie die schwerwiegenden Begleiterscheinungen der argen nationalsozialistischen Ära, die sie, ihren Bruder Oliver und ihre Eltern zur Auswanderung genötigt hatten, derart geprägt, dass sie sich innerlich uneingeschränkt ihrem Judentum verbunden fühlte. Dies allerdings in einer absolut konfessionslosen Manier, denn ebenso wie ihr Vater und auch ihr Bruder hielt sie absolut nichts von irgendeinem Glauben und dessen Religionsausübung.2

In Israel eingetroffen, trat Lissy in den Kibutz Halonim in Galiläa ein, am Fuße der Golanhöhen ganz in der Nähe der damaligen Grenze zu Syrien gelegen, und gesellte sich dort zu den vielen Vereinskameraden ihrer vormaligen La Pazer jüdischen Jugendbewegung. Schon während der Kindheit war sie betont naturverbunden gewesen. In den zumeist auf der Hacienda ihrer Nennonkel und -tante verbrachten Schulferien hatte sie sich immer schon besonders für die Aufzucht und Hege von Federvieh interessiert. Diese Vorliebe brachte sie auch bald dazu, hauptsächlich im großen Hühnerstall des Kibutz, dem Lul, beschäftigt zu werden. In der La Pazer Jüdischen Primärschule, die sie sechs Jahre lang besuchte, hatte sie im einschlägigen Religionsunterricht eine solide Grundlage der alttestamentarischen hebräischen Sprache mitbekommen, die es ihr jetzt ziemlich erleichterte, sich rasch der neujüdischen Sprache, dem Iwrith, zu bemächtigen. Es dauerte dann auch nicht lange, bis sie bei der Kibutzleitung den Antrag stellte, Geflügelzucht wissenschaftlich zu studieren, wie ihre „Tante“ Frauke ihr in deren Nachlassbrief ans Herz gelegt hatte. Der Kibutz war erst kurz vor der Staatsgründung Israels von den aus mehreren südamerikanischen Ländern eingewanderten jungen Chalutzim3 gegründet worden und deshalb auch noch nicht besonders wohlhabend. Wegen seiner risikoreichen Grenzlage wurde er zudem von der syrischen Seite aus häufiger von marodierenden Eindringlingen heimgesucht und man stand deswegen stets in angespannter Wachsamkeit bereit. Dennoch rechnete man sich gute Zugewinnmöglichkeiten durch eine Erweiterung der Eier- und Geflügelwirtschaft aus und beschloss, neben Lissy auch ihren Mitarbeiter Iakov an eine spezialisierte Ausbildungsstelle zu entsenden und die dadurch entstehenden Kosten zu tragen. Mit ihrem Freund Ruben Masal, den Lissy noch aus ihrer La Pazer Zeit so gut kannte, weil er in der Bäckerei ihres Vaters gelernt und danach dort als tüchtiger Geselle gearbeitet hatte, war sie erst vor einigen Wochen eine engere Beziehung eingegangen. Ruben war deshalb auch überhaupt nicht begeistert von ihrer ganzwöchentlichen Abwesenheit im Internat, die sich voraussichtlich über die nächsten zwei Jahre erstrecken würde. Sie konnten sich ab jetzt nur an den Wochenenden sehen. Mit großem Eifer widmeten sich alsdann die beiden Ausgewählten ihrem Studium an der Landwirtschaftlichen Ruppin-Akademie in Hefer nordöstlich von Netanya, zwischen Tel Aviv und Haifa gelegen. Lissy war natürlich durch ihr Abitur im Vorteil und konnte ihrem Kollegen in den Fächern Mathematik, Chemie, Physik, Biologie und Englisch erfolgreich unter die Arme greifen. Bei der besonderen Ernährungslehre und den im zweiten Studienjahr schwerpunktmäßig gelehrten Fächern Tierheilkunde und Anatomie sowie Futterlehre traf sie aber ebenso auf Neuland wie Iakov. Dieser revanchierte sich jedoch, indem er anfänglich manche bei Lissy noch vorhandene Sprachlücke überbrückte, denn das Studium stellte nicht alltägliche Forderungen an die Eleven.

Liliths – wie Lissys neuer hebräischer Name in Israel lautete – Liebesbeziehung zu Ruben blieb nicht lange ohne Folgen und so brachte sie ihren Sohn fast gleichzeitig mit der erfolgreichen Beendigung des Studiums zur Welt. Beide hatten anlässlich der Anwesenheit eines Rabbi im Kibutz noch vor der Geburt geheiratet und durften nun gemeinsam mit dem Neugeborenen von den bisherigen Junggesellen-Schlafgemächern in ihren bescheidenen Shikun – eine kleine Behausung für Ehepaare – umziehen.

Zur Erinnerung an Lissys so sehr verehrten Großvater Hans-Peter von Steinberg gaben sie dem Jungen den Namen Hanan-Peres, damit wenigstens die Anfangsbuchstaben übereinstimmten. Kurz nach der Geburt und dem Einzug in ihr neues Zuhause konnten sich beide Eltern wieder ihren Aufgaben – Ruben in der Bäckerei, Lilith mit ihren Hühnern – voll widmen. Ebenso wie alle anderen Neugeborenen im Kibutz umsorgten tagsüber geschulte Kleinkinderbetreuerinnen ihren Sprössling im Hort. Gemeinsam mit ihrem Fachkollegen Iakov und einigen weiteren Kameraden machte Lilith den Ausbau des Luls zu ihrer Lebensaufgabe. Die Stallungen wurden erweitert und den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst. Allerdings hatte man sich gleich zu Beginn für eine artgerechte Bodenhaltung der Tiere entschieden, anstatt sie in jene engen Legebatterien zu pferchen, die gerade damals überall als State of the Art in Mode gekommen waren. Lilith sah ihre Schützlinge immer noch eher als Geschöpfe und nicht nur als nackte Brathändelspießkost oder Eierlegemaschinen an. Dennoch war ihre Arbeit und die des Teams erfolgreich, und schon bald konnte das landwirtschaftliche Gemeinschaftsunternehmen einen guten Gewinn aus der Hühnerzucht und der Eierproduktion erwirtschaften.

Alles wäre so schön gewesen, wäre da nicht immer wieder zwischendurch die grausame Gegenwärtigkeit des Krieges aufgetaucht. Seit der Staatsgründung war Israel der Bedrohung durch die umliegenden feindlichen Nachbarn ausgesetzt, zu der sich nun auch der Terror der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO unter Jassir Arafat summierte. Die während des Befreiungskrieges teils geflüchteten, teils verjagten Araber hatten zwar in den umliegenden Ländern ungeliebte Zuflucht, aber keinerlei Integration oder gar eine neue Heimat gefunden. Sie wurden von deren Regierenden wohlweislich in elenden Flüchtlingscamps zusammengedrängt und lebten dort unter sehr prekären Bedingungen – eine probate Methode, um ihren Hass auf Israel zu wahren und weiter zu schüren. Neben den immer wieder vorkommenden militärischen Kriegsscharmützel, die meist von der israelischen Armee erfolgreich abgewehrt werden konnten, waren es die oft vorkommenden Kommandoaktionen von PLO-Attentätern, die alle Grenz-Kibutzim und -städte zur kontinuierlichen und erhöhten Wachsamkeit zwangen. Auch Halonim befand sich in einer dieser unmittelbaren Gefahrenzonen und blieb nicht von solchen hinterhältigen Attacken verschont, die von meist im Schutz der Dunkelheit heranrobbenden, mordlüsternen Tätern durchgeführt wurden.

Ständig waren deswegen Wachen an den strategisch relevanten Posten aufgestellt und inspizierten aufmerksam das umliegende Gelände. Dennoch geschah es eines Tages, dass es einem dieser Täter gelang, sich während der sengenden Mittagshitze unbemerkt bis in die Nähe des Kinderhorts heranzuschleichen und zwei Handgranaten durch ein Fenster auf die wehrlosen Kleinen zu werfen. Eine der Betreuerinnen schaffte es noch, sich zu opfern, indem sie versuchte, mit ihrem Körper die Granatenexplosion von den Kindern abzuschirmen, die andere Granate explodierte jedoch ungehindert im Raum und verursachte ein Massaker: Sieben Kinder, darunter auch der gerade einjährige Hanan-Peres Masal, waren auf der Stelle tot, vierzehn andere teils schwer verwundet. Leider eine halbe Minute zu spät entdeckte man den Attentäter vom Wachturm aus und tötete ihn mit gezielten Schüssen. Der Schock traf die ganze Gemeinschaft zutiefst. Mit einem Schlag hatte der Mörder fast zwei Drittel der Kibutz-Nachkommenschaft vernichtet oder schwer verletzt. Untröstlich die Eltern der Getöteten, schwer traumatisiert jene der Verletzten. Verständliche Rachegefühle wurden geweckt. Während eines nächtlichen bewaffneten Überfalls auf ein unweit gelegenes syrisches Dorf auf dem Golan, in dem sich auch ein PLO-Stützpunkt versteckte, gelang es, fünf weitere dieser Terroristen unschädlich zu machen. Aber auch dies konnte das junge verblutete Leben nicht wiederbringen. Lilith musste drei Monate in einem Nervensanatorium verbringen, um über ihre schwere Depression hinwegzukommen. Als begleitende Therapie begann sie wieder mit dem Flötenspielen, das ihr schon damals in Bolivien und danach auch in ihrer Hamburger Gymnasialzeit so viel Freude bereitet hatte. Das geliebte Instrument hatte sie zwar während ihrer Auswanderung nach Israel begleitet, doch sie war seitdem nicht dazu gekommen, ihr vormals so geschätztes Hobby weiter zu betreiben.

Erst allmählich schwand der tiefe Schmerz beider Eltern über den grausamen Verlust und es stellte sich mit dem Ablauf der Jahre wieder ein gewissermaßen normaler Alltag ein. Als dann 1972 Lilith schon fast 38 Jahre alt war, schenkte sie Ruben eine Tochter, die sie Nili nannten. Bald danach schlug bei den Masals abermals und unerbittlich das grausame Schicksal zu: Israel war nach den vergangenen, für sie erfolgreich beendeten Kriegen bedauerlicherweise gegenüber den Arabern zu hochmütig geworden und wog sich in einer fatalen, falschen Sicherheit. Während des Jom-Kippur-Krieges im Herbst 1973, der den Staat für einen Moment an den Rand des Untergangs brachte, fiel Ruben bei einem der schweren Artillerie-Angriffe der Syrer, die danach trachteten, ihre im Sechstagekrieg von 1967 eingebüßten Golanhöhen zurückzuerobern. Der simultan ausgeführte ägyptisch-syrische Überfall, der gerade am heiligsten jüdischen Feiertag begann, wurde nach tagelangen Kämpfen im Sinai und am Golan mit äußerst hohem und bitterem Blutzoll zurückgeschlagen und endete dann allerdings abermals mit der militärischen Niederlage der hinterlistigen Angreifer. Der Kibutz Halonim jedoch wurde schwer getroffen, Liliths langjähriges Aufbauwerk, ihre Hühnerstallungen im Lul, Opfer der feindlichen Granateneinschläge. Ihr Bruder Oliver holte kurz danach seine abermals traumatisierte und nun verwitwete Schwester samt der gerade einjährigen Nili zu sich nach Oldenmoor, wo sie von da an verblieben.

***

Abrupt werden Nilis Reminiszenzen bei der Einfahrt des Mercedes in die Ankunft-Parkgarage am Fuhlsbütteler Flughafen unterbrochen. Da die Ankunftstafel eine zwanzigminütige Verspätung der Lufthansamaschine aus Frankfurt meldet, lädt Melanie Nili zu einer Tasse Kaffee an der kleinen Bar in der Ankunftshalle ein.

„Wie soll ich es ihnen nur beibringen?“ Melanie bricht verzweifelt in Tränen aus.