Schmutztitel

Maja von Vogel

Titel

Liebes-Chaos

Kosmos

Umschlagillustration Ina Biber, Gilching

Umschlaggestaltung von Friedhelm Steinen-Broo, eSTUDIO CALAMAR

Grundlayout: Doppelpunkt, Stuttgart

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© 2016, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-15108-2

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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Schmetterlinge im Bauch

»Gewonnen!« Prustend schlug Franzi am Beckenrand an und wischte sich das Wasser aus den Augen.

Blake tauchte eine halbe Sekunde später neben ihr auf. »Nicht schlecht.« Er strich sich die nassen, dunklen Haare aus dem Gesicht. »Hast du heimlich trainiert?«

Franzi lachte. »Kein bisschen. Kann es sein, dass deine Fitness etwas nachgelassen hat?«

Blake verzog das Gesicht. »Hör bloß auf, das ist gerade mein wunder Punkt. In letzter Zeit hatte ich so viel für die Schule zu tun, dass ich mein Karatetraining mehrmals ausfallen lassen musste. Zum Basketballspielen und Rudern bin ich auch zu selten gekommen. Das muss sich unbedingt wieder ändern!« Er zog sich mit einer kraftvollen Bewegung aus dem Wasser und setzte sich an den Beckenrand.

Franzi schüttelte grinsend den Kopf. Blake übertrieb maßlos. Weder an seinem muskulösen Oberkörper noch an den durchtrainierten Armen konnte sie ein einziges Gramm Fett erkennen. Blake wirkte so sportlich wie eh und je. »Keine Sorge, noch brauchst du keine Diät«, stellte sie spöttisch fest. »Außerdem fangen in einem Monat die Sommerferien an, dann hast du wieder jede Menge Zeit für Sport.«

»Zum Glück!« Blake löste den schmalen Gurt, der seine Oberschenkel zusammenhielt. Er zog den am Beckenrand bereitstehenden Rollstuhl heran und schwang sich hinein. »Wie wär’s mit einem Eis? Als Verlierer unseres kleinen Wettschwimmens gebe ich einen aus.«

»Prima!« Franzi stieg ebenfalls aus dem Wasser, griff nach ihrem Handtuch und knotete es sich um die Hüften.

Während Franzi neben Blake in Richtung Kiosk schlenderte, drückte sie das Wasser aus ihren roten Zöpfen und genoss die Sommerstimmung. Das Waldschwimmbad war an diesem Julisonntag gut besucht. An der Rutsche hatte sich eine lange Schlange gebildet, im Kinderbecken planschten die Kleinen fröhlich jauchzend unter den wachsamen Blicken ihrer Eltern und die Liegewiese war mit bunten Handtüchern übersät. Der typische Freibadgeruch nach einer Mischung aus Chlor, Sonnencreme und Pommes frites lag in der Luft und die Steinplatten unter Franzis nackten Füßen fühlten sich angenehm warm an. Kein Wunder, schließlich strahlte schon den ganzen Tag die Sonne von einem wolkenlosen Himmel und das Thermometer hatte in den Mittagsstunden die 30-Grad-Marke geknackt.

»Ist der Sommer nicht herrlich?« Blake, der mit schwungvollen Armbewegungen den Rollstuhl vorantrieb, schien wie so oft Franzis Gedanken erraten zu haben. Manchmal hatte sie das Gefühl, er könne in ihr lesen wie in einem offenen Buch. Was wahrscheinlich daran lag, dass sie in den letzten Monaten viel Zeit miteinander verbracht hatten. Franzi hatte Blake auf Anhieb sympathisch gefunden, als sie sich in einem der letzten Sommer hier im Waldschwimmbad kennengelernt hatten. Er hatte einen super Humor, war total sportlich und immer zur Stelle, wenn jemand Hilfe brauchte. In seiner Gegenwart fühlte man sich einfach sofort wohl.

»Ich liebe den Sommer«, bestätigte Franzi. »Er ist meine absolute Lieblingsjahreszeit.«

Auch am Kiosk hatte sich eine lange Schlange gebildet. Franzi und Blake stellten sich hinten an. Ein paar Leute warfen verstohlene Blicke auf Blakes Sportrollstuhl mit den knallroten Vorderrädern. Blake ignorierte sie und schob sich lässig eine große Sonnenbrille auf die Nase. Franzi fiel es schwerer, gelassen zu bleiben. Es machte sie ganz kribbelig, wenn Blake so angestarrt wurde. Manche Menschen benahmen sich, als hätten sie noch nie jemanden im Rollstuhl gesehen.

Blake hatte sich bei einem Reitunfall vor einigen Jahren die Wirbelsäule verletzt und war seitdem querschnittsgelähmt. Doch er ließ sich nicht unterkriegen, sondern hatte beschlossen, das Beste daraus zu machen. Meistens gelang ihm das auch ganz gut, wofür Franzi ihn vorbehaltlos bewunderte.

»Übrigens wollte ich dich noch etwas fragen«, begann Blake, während sie in der Schlange langsam vorrückten.

»Was denn?«

»Ich will mich für einen Chairskating-Workshop anmelden, der demnächst im Schillerpark stattfindet«, erzählte Blake. »Hast du Lust mitzukommen?«

Blake interessierte sich schon länger für Chairskating, eine noch relativ neue Actionsportart für Rollstuhlfahrer, bei der statt eines Skateboards der Rollstuhl benutzt wird. Vor einer Weile hatte er mit Franzi ein paar Skate-Nummern mit Rollstuhl und Inlinern eingeübt und bei einem Aktionstag aufgeführt, um Geld für den Zoo zu sammeln.

»Klingt spannend«, sagte Franzi. »Ich bin dabei.«

»Klasse!« Blake schien sich ehrlich zu freuen und Franzis Herz klopfte ein wenig schneller.

»Wer leitet den Workshop?«, fragte sie möglichst sachlich.

»Ein bekannter Chairskater aus Berlin, der dafür extra in die Stadt kommt. Der Typ ist wirklich wahnsinnig gut.« Blakes Stimme bekam einen schwärmerischen Unterton. »Das ist eine einmalige Chance, Tipps von einem Profi zu bekommen. Ich hab im Internet ein paar Videos von ihm gesehen. Es ist unglaublich, was man mit einem Rollstuhl alles machen kann. Als wären die Gesetze der Schwerkraft nicht mehr gültig.« Er drehte sich blitzschnell einmal um die eigene Achse, was ihm weitere Blicke der Umstehenden eintrug.

»Ist ja auch die perfekte Ergänzung zu deinen vielen anderen Sportarten«, stellte Franzi fest. Blake war mindestens genauso sportbegeistert wie sie selbst. Franzi ritt nicht nur regelmäßig auf ihrem Pony Tinka, sie ging auch joggen, schwimmen und düste auf ihren Inlinern durch die Gegend. Den Skatepark im Schillerpark, wo der Workshop stattfinden sollte, kannte sie darum wie ihre Westentasche.

»Ich bin jedenfalls schon wahnsinnig gespannt.« Blake zog sein Portemonnaie hervor. Gleich waren sie an der Reihe. »Dann melde ich dich mit an, okay?«

»Okay.« Franzi trat in den Schatten des Kiosks. Hier war es etwas kühler als in der sengenden Nachmittagssonne. Sie hatte empfindliche Haut und bekam schnell Sonnenbrand, wenn sie nicht aufpasste.

»Was darf’s denn sein?«, fragte die Kiosk-Besitzerin, eine freundliche Frau, die sich weder vom Besucheransturm an diesem Sommersonntag noch von quengelnden Kindern oder ungeduldigen Erwachsenen aus der Ruhe bringen ließ.

Franzi überflog die Eiskarte. »Drei Kugeln Bananeneis in der Waffel, bitte. Mit Schokostreuseln!«

Blake entschied sich für je eine Kugel Erdbeer-, Zitronen- und Tiramisu-Eis mit Sahne und reichte der Verkäuferin einen Geldschein.

Kurze Zeit später saßen sie an einem der einfachen Holztische neben dem Kiosk im Schatten eines rot-weiß gestreiften Sonnenschirms. Franzi leckte hingebungsvoll die Schokostreusel von ihrem Bananeneis. »Schoko und Banane, das ist die perfekte Kombination«, nuschelte sie. »Vielen Dank übrigens für die Einladung.«

»Gern geschehen!«

Eine Weile herrschte zufriedenes Schweigen. Franzi schloss die Augen. Sie spürte den süßen Geschmack auf der Zunge, das leicht müde Gefühl in Armen und Beinen, das sich immer nach dem Schwimmen einstellte, und die sommerliche Wärme, die sie von Kopf bis Fuß einhüllte wie eine kuschelige Decke. »Am liebsten würde ich die Zeit anhalten«, murmelte sie träge. »Dieser Moment ist einfach perfekt.«

»Das finde ich auch«, bestätigte Blake.

Franzi öffnete die Augen und begegnete seinem Blick. Er war so intensiv, dass sie augenblicklich knallrot wurde.

»Hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie gern ich mit dir zusammen bin?«, fragte Blake ungewöhnlich ernst.

Franzi schluckte. Ihr Herz klopfte heftig, während sie leicht den Kopf schüttelte.

»Mit dir fühle ich mich einfach total wohl.« Blake räusperte sich. »Ich … du … du und ich …« Ehe er den Satz beenden konnte, rutschte eine Portion Sahne von seiner Eiswaffel und klatschte auf seine dunkelblaue Badehose. »Mist!«

»Warte …« Franzi griff nach dem Serviettenständer, der auf dem Holztisch stand, um eine Papierserviette herauszuziehen. Blake hatte dieselbe Idee und ihre Finger berührten sich. Franzi zog die Hand so schnell zurück, als hätte sie sich verbrannt. Ein Schwarm Schmetterlinge flatterte in ihrem Bauch und ihr ganzer Körper wurde von einem angenehmen Kribbeln erfasst.

»Sorry«, murmelte Blake. Er griff nach einer Serviette und wischte sich die Sahne von der Badehose.

Franzi hätte gerne einen lockeren Spruch gemacht, aber ihr Kopf war wie leer gefegt. Erst jetzt merkte sie, dass das Bananeneis zu schmelzen begonnen hatte und auf die Tischplatte tropfte. Schnell leckte sie über die Eiskugeln. Der süße Geschmack beruhigte sie ein wenig und sie konnte wieder einen klaren Gedanken fassen.

»Was wolltest du eigentlich gerade sagen?« Sie warf Blake einen verstohlenen Blick zu.

Blake zögerte. »Ich … also … ich wollte …« Er knüllte die Papierserviette zusammen und beförderte sie mit einem gezielten Wurf in den nächsten Mülleimer. »Ach, nichts.« Er kratzte sich verlegen im Nacken.

Franzi zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst.« Sie versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Was hatte Blake ihr erzählen wollen? Würde sie es je erfahren? Und wenn ja, würde es ihr gefallen?

Am nächsten Morgen trat Franzi kräftig in die Pedale. Der Fahrtwind pfiff ihr um die Ohren. Eigentlich hatte sie noch genug Zeit bis zur ersten Stunde, aber die Bewegung tat gut und mit etwas Glück würde sie die körperliche Betätigung von ihren Gedanken ablenken, die seit gestern ständig um Blake kreisten. Er ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Franzi hatte weder einen Blick für den herrlich blauen Himmel, der sich über der Stadt wölbte, noch für die Sonnenstrahlen, die allmählich über die Hausdächer krochen und alles in rosafarbenes Morgenlicht tauchten. Es würde wieder ein wunderschöner Sommertag werden, aber das war Franzi in diesem Moment ziemlich egal.

Sie konnte es nicht länger leugnen: Sie war verwirrt. Um nicht zu sagen, ihre Gefühle waren ein einziges Chaos. Bisher hatte sie sich immer einzureden versucht, nichts als reine Freundschaft für Blake zu empfinden. Aber das ging jetzt nicht mehr. Nicht nach dem Blick, mit dem Blake sie gestern beim Eisessen angesehen hatte. Nicht nach den Schmetterlingen in ihrem Bauch, als sich ihre und Blakes Finger zufällig berührt hatten. Nein, es brachte nichts, sich länger etwas vorzumachen. Ihre Gefühle für Blake waren viel mehr als Freundschaft. Sie hatte sich in ihn verliebt, so einfach war das. Und gleichzeitig so kompliziert.

Franzi bog um die Kurve und die Schule kam in Sicht. Sie beschleunigte zu einem letzten Spurt, auch wenn sich ihre Gedanken dadurch leider keineswegs abstellen ließen. In ihrem Kopf schwirrten tausend Fragen herum. Wie sollte sie sich Blake gegenüber in Zukunft verhalten? Würde sie genauso unbefangen mit ihm umgehen können wie bisher? Sollte sie ihm ihre Gefühle gestehen oder lieber weiterhin den guten Kumpel spielen? War sie nach der schmerzhaften Trennung von ihrem Exfreund Felipe überhaupt schon bereit für eine neue Beziehung? Und – die wichtigste und gleichzeitig beängstigendste Frage von allen: Was empfand Blake für sie?

Franzi sauste auf den Schulhof. Nur undeutlich nahm sie eine Gestalt aus den Augenwinkeln wahr, die in letzter Sekunde zur Seite sprang. Franzi legte eine Vollbremsung hin und kam keuchend direkt vor den Fahrradständern zum Stehen.

»Sag mal, spinnst du?«, schimpfte eine Stimme hinter ihr. »Du hättest mich fast über den Haufen gefahren! Wir sind hier doch nicht bei der Tour de France

Franzi stieg vom Rad und drehte sich um. Vor ihr stand ihre Freundin Kim Jülich. Sie hatte die Hände in die Hüften gestützt und funkelte Franzi ärgerlich an.

»Tut mir leid«, murmelte Franzi. »Ich war mit den Gedanken ganz woanders.«

»Das hab ich gemerkt.« Kim fuhr sich durch ihre kurzen, dunklen Haare und warf Franzi einen prüfenden Blick zu. »Ist was passiert?«

»Nein, nein«, beteuerte Franzi schnell. Ihre Gefühle für Blake waren noch viel zu verwirrend, um darüber zu sprechen. Vorläufig wollte sie sie lieber für sich behalten. »Alles in Ordnung.«

Sie schob ihr Rad in einen freien Ständer, schloss es ab und griff nach ihrem Schulrucksack, der heute wegen der Sportsachen besonders schwer war.

»Wenn du meinst …« Kim wirkte nicht richtig überzeugt. Sie war eine aufmerksame Beobachterin und ließ sich nicht so leicht etwas vormachen. Aber schließlich zuckte sie mit den Schultern und fügte hinzu: »Hauptsache, du denkst an das Detektivclubtreffen heute Nachmittag. Um drei Uhr bei mir. Du hast es doch nicht vergessen, oder?«

»Natürlich nicht!«, behauptete Franzi im Brustton der Überzeugung. Dabei hatte sie vor lauter Blake-Grübeleien tatsächlich nicht mehr an die Verabredung gedacht.

»Wir haben zwar gerade keinen neuen Fall, aber wir könnten ja Pläne für die Sommerferien machen«, sagte Kim gut gelaunt. »Nur noch knapp vier Wochen bis zum letzten Schultag, ist das nicht toll?«

»Klar …«, murmelte Franzi zerstreut.

Sie und ihre Freundinnen Kim und Marie gingen nicht nur gemeinsam durch dick und dünn, sie waren auch erfolgreiche Detektivinnen. Mit ihrem Detektivclub Die drei !!! hatten sie schon über fünfzig Fälle gelöst. Leider war der letzte Fall, bei dem sie mysteriöse Vorkommnisse um ein geisterhaftes Parfüm aufgedeckt hatten, schon eine Weile her.

»Was hast du in der ersten Stunde?«, erkundigte sich Kim.

»Sport.« Franzi nickte zu einem hochgewachsenen Mann mit dunkelblonden Haaren und Dreitagebart hinüber, der gerade vom Lehrerparkplatz kam und auf die Sporthalle zuging. Er war ungefähr Mitte vierzig und trug eine blaue Sporttasche. »Bei Herrn Carstens.«

Der Lehrer winkte ihr zu und Franzi grüßte zurück.

»Der ist ganz nett, oder?«, fragte Kim.

»Ja, meistens schon.« Franzi schulterte ihren Rucksack. »Ist ein ziemlich lockerer Typ. Ich mag ihn, aber bei manchen Schülern kann er sich nicht so richtig durchsetzen. Felix und Cedric zum Beispiel machen bei ihm, was sie wollen.«

Henning Carstens unterrichtete Franzis Klasse, die 7f, in Sport und Mathe. Er war erst seit einem halben Jahr an der Georg-Lichtenberg-Gesamtschule und vertrat den bisherigen Sportlehrer Herrn Müller, der sich nach einer Herz-OP einer längeren Reha unterziehen musste. Kim besuchte die Parallelklasse.

»Felix und Cedric?«, hakte Kim nach. »Die beiden Chaoten aus deiner Klasse?«

Franzi nickte. »Sie machen zwar auch bei anderen Lehrern gerne Quatsch, aber auf Herrn Carstens haben sie es in letzter Zeit besonders abgesehen.«

Das Klingeln zur ersten Stunde beendete das Gespräch. »Ich muss los.« Kim winkte Franzi zu. »Wir sehen uns später.«

Kim eilte über den Schulhof zum Haupteingang und Franzi marschierte etwas langsamer in Richtung Sporthalle. Wie gut, dass die neue Woche wenigstens mit ihrem Lieblingsfach begann. Das machte den Montagmorgen ein wenig erträglicher. Bevor sie die Halle betrat, atmete sie noch einmal tief die frische Morgenluft ein. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie während der Unterhaltung mit Kim kaum an Blake gedacht hatte. Franzi lächelte in sich hinein. Das war doch immerhin ein kleiner Fortschritt!

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Ärger in der 7f

»Heute stehen Passübungen und Korbleger auf dem Programm«, verkündete Herr Carstens. »Aber erst machen wir uns mit einem Dauerlauf warm. Auf geht’s!« Ein Pfiff aus seiner Trillerpfeife übertönte das allgemeine Stöhnen. Mehr oder weniger motiviert trabten die Schüler los.

Auch Franzi setzte sich in Bewegung. Der Schwingboden der Sporthalle vibrierte unter zwei Dutzend Turnschuhpaaren. Die erste Runde lief Franzi langsam und kontrolliert, bis sie spürte, wie ihre Muskeln warm wurden und sich lockerten. Dann steigerte sie das Tempo und ließ ihre Schritte größer und weiter werden. Sie überholte ein paar Mitschüler, die sich wie Mehlsäcke dahinschleppten. Im Gegensatz zu ihnen genoss Franzi das perfekte Zusammenspiel ihrer Muskeln. Unglaublich, dass es Menschen gab, die Sport nichts abgewinnen konnten! Für Franzi war Bewegung wie eine Wellnesseinheit für Körper, Geist und Seele. Beim Laufen funktionierten ihre Beine nach einer Weile ganz von allein. Sobald sie ihren Rhythmus gefunden hatten, begann Franzis Kopf, sich zu leeren. Alle störenden Gedanken lösten sich in Luft auf, der Stress des Alltags fiel von ihr ab und sie kam innerlich vollkommen zur Ruhe. Herrlich …

Ein durchdringender Pfiff riss sie aus diesem angenehmen Zustand.

»Felix und Cedric, würdet ihr bitte auch mitmachen?«, rief Herr Carstens. Er sah mit gerunzelter Stirn zum Geräteraum, in dem es sich die beiden Jungs auf dem Mattenwagen bequem gemacht hatten. Felix, ein bulliger Typ mit rundem Gesicht und blonden Stoppelhaaren, lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf der obersten Matte und ließ die Beine baumeln. Cedric war einen Kopf größer als sein Kumpel und eher drahtig. Seine dunklen, halblangen Haare fielen ihm in die Stirn und verdeckten seine Augen.

»Geht nicht, ich hab meine Tage«, rief Cedric zurück.

Felix prustete los. Ein paar andere Mitschüler lachten ebenfalls.

Herr Carstens schien die Situation weniger witzig zu finden. »Macht euch jetzt endlich warm, sonst holt ihr euch gleich beim Basketball eine Zerrung.«

Provozierend langsam erhoben sich die Jungs und schlenderten in die Halle. Franzi verdrehte die Augen. Diese Idioten! Immer mussten sie Ärger machen. Sie lief in gemäßigtem Tempo weiter, fand aber nicht mehr in den richtigen Rhythmus hinein. Fünf Minuten später pfiff Herr Carstens sowieso zum Beginn des Trainings und die Schüler versammelten sich in der Mitte der Halle.

»Wir beginnen mit Passübungen in Kleingruppen«, verkündete der Lehrer. »Tut euch zu viert zusammen. Ihr steht einander gegenüber und passt euch den Ball zu. Nach jedem Wurf stellt ihr euch hinter der anderen Gruppe wieder auf. Alles klar?«

Die Schüler wuselten durcheinander. Es dauerte eine Weile, bis sich alle zusammengefunden hatten. Franzi hatte das Pech, ausgerechnet mit Felix und Cedric in einer Gruppe zu landen. Außerdem war noch Anna dabei, eine sehr nette, aber ziemlich ruhige Mitschülerin.

»Los geht’s!« Franzi passte den Ball zu Felix.

»Hilfe, ich bin getroffen!« Felix ließ den Ball absichtlich gegen seine Brust prallen und fiel hintenüber. Er wälzte sich auf dem Boden, als hätte er unerträgliche Schmerzen. »Lasst mich hier zurück und bringt euch in Sicherheit«, stöhnte er. »Ihr dürft nicht in die Hände der Angreifer geraten …«

Franzi musste unwillkürlich grinsen. »Du hast wohl zu viele Actionfilme gesehen, was?«

»Man kann gar nicht zu viele Actionfilme sehen«, behauptete Cedric und half seinem Freund auf. Die Jungs klatschten sich ab und begannen, mit dem Ball durch die Halle zu dribbeln.

»Was soll das denn jetzt?« Franzi stemmte die Hände in die Hüften, aber Cedric und Felix ignorierten sie. Unter lautem Gelächter versuchten sie, einander den Ball abzujagen. Franzi merkte, wie sie wütend wurde. Sport gehörte zu den wenigen Fächern, die ihr richtig Spaß machten, und sie hatte keine Lust, sich die Stunde von Felix und Cedric vermiesen zu lassen. »Hört endlich auf mit dem albernen Kinderkram«, schimpfte sie. »Das nervt!«

»Hey, halt den Ball flach«, gab Felix zurück und lachte über sein Wortspiel. »Du hast uns gar nichts zu sagen.«

Franzi warf einen Blick zu Herrn Carstens hinüber, aber der Lehrer zeigte gerade einer Gruppe am anderen Ende der Halle, wie man direkte Druckpässe ausführte, und bekam von dem Streit nichts mit. Oder tat er nur so? Franzi wollte ihn gerade rufen, da griff Anna nach ihrem Arm.

»Lass doch«, sagte sie leise. »Es lohnt nicht, sich über die beiden aufzuregen.«

Franzi zögerte. Schließlich zuckte sie mit den Schultern. Eigentlich hatte Anna recht. »Dann trainieren wir eben zu zweit.« Sie holte rasch noch einen Ball aus dem Geräteraum und stellte sich Anna gegenüber. »Bereit?«

Anna nickte. »Bereit!«

Bald war Franzi so ins Training vertieft, dass sie alles um sich herum vergaß.

Nach dem Sportunterricht stand eine Doppelstunde Mathe auf dem Stundenplan. Ohne große Begeisterung betrat Franzi den Klassenraum, stellte den Rucksack neben ihren Platz und kramte die Mathesachen hervor. Ihre Haare waren noch feucht vom Duschen. Nach der Sportstunde fühlte sie sich erfrischt und ausgeglichen. Leider würde dieser Zustand vermutlich nicht allzu lange anhalten. Mathe gehörte nicht gerade zu ihren Lieblingsfächern.

Viel zu schnell klingelte es und Herr Carstens kam herein.

»Heute gehen wir den Stoff für die Mathearbeit durch«, verkündete er statt einer Begrüßung. »Wie ihr wisst, ist es die letzte Arbeit vor den Sommerferien und somit die letzte Chance, eure Zeugnisnote zu verbessern …«

Ein Stöhnen ging durch die Klasse. Auch Franzi seufzte. Für die Arbeit würde sie noch jede Menge lernen müssen.

Ehe Herr Carstens weitersprechen konnte, öffnete sich die Tür und Felix und Cedric schlenderten herein.

»Hat die Stunde schon angefangen?«, fragte Felix, als ob er das nicht genau wüsste.

»Allerdings«, antwortete Herr Carstens.

»Oh nein, hoffentlich haben wir nichts Wichtiges verpasst.« Cedric verzog in gespielter Sorge das Gesicht. »Die Zeit zum Duschen war einfach zu knapp …«

»Setzt euch hin und seid still.« Herr Carstens klopfte mit seinem Kugelschreiber auf die Tischplatte. »Ich möchte jetzt weitermachen, wenn’s den Herren recht ist.«

»Aber natürlich.« Felix ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Wir können es kaum erwarten. Mathe ist ja sooo spannend!« Seine Stimme triefte vor Ironie.

»Genau.« Cedric nickte eifrig. Er setzte sich neben Felix und lehnte sich zurück. »Jetzt legen Sie schon los. Wir wollen doch nicht noch mehr kostbare Zeit verschwenden, oder?«