© privat

Bernhard Emunds ist Leiter des Nell-Breuning-Instituts der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main und Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie. Seit seinem Studium der Katholischen Theologie und VWL fragt er nach der Lebenssituation Benachteiligter: Was nimmt Menschen die Luft zum Leben? Welche Rolle spielen dabei die Arbeitsverhältnisse? Was können wir daran ändern? Bernhard Emunds ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Bernhard Emunds

DAMIT ES OMA
GUTGEHT

Pflege-Ausbeutung in den
eigenen vier Wänden

eBook Edition

Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-630-9
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2016
Umschlaggestaltung: pleasant_net, Büro für strategische Beeinflussung
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

Einleitung

I. Warum kommt es zur »24-Stunden-Pflege«?
Persönliche Motive und gesellschaftliche Gründe

II. Von Geschäftemachern und verständnisvollen Helfern
Die Vermittlung

III. »24-Stunden-Pflege« durch eine Pflegekraft?
Warum es oft nicht legal ist und Rechtsfragen in jedem Fall offen bleiben

IV. Arbeiten und Leben in der Wohnung eines anderen
Von Abhängigkeiten und Beziehungen

V. Verkannte Pflegearbeit
Warum behandelt die deutsche Gesellschaft die Pflegenden so schlecht?

VI. Ungerechte Arbeit, ausbeuterisches Zeitregime
Zur Sozialethik der Pflegearbeit von Live-Ins

VII. Ein langer Weg raus aus der Schmuddelecke
Die Erwerbsarbeit in den
Pflegehaushalten muss reguliert und gefördert werden

VIII. Hinweise zur »24-Stunden-Pflege« für Angehörige

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

Das Manuskript des vorliegenden Buches ist – für meine Verhältnisse – in kurzer Zeit entstanden. Aber das Thema beschäftigt mich schon lange.

Vor beinahe zehn Jahren machte mich die Gerontologin Kerstin Klein auf die Praxis der »24-Stunden-Pflege« aufmerksam. Dass sich in Deutschland ein solcher Typ von Beschäftigungsverhältnissen ausbreitete, konnte ich damals gar nicht glauben. Die Diagnose dieses Entwicklungstrends der Erwerbsarbeit führte am Nell-Breuning-Institut zu intensiven Diskussionen, an denen auch Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach SJ, Dr. Markus Demele und Dr. Wolf-Gero Reichert teilnahmen. Eine Spätfolge der damaligen Debatten war eine kleine empirische Studie, die am Nell-Breuning-Institut 2011/2012 im Auftrag der Hans-Böckler- Stiftung erarbeitet wurde. Die Interviews führten damals Dr. Agnieska Satola und Uwe Schacher. Bei Letzterem lag auch die Gesamtkoordination. Von Uwe Schacher und Dr. Wolf-Gero Reichert stammen viele Konzepte und Einschätzungen des Abschlussberichtes, die auch in das Kapitel IV des vorliegenden Buches eingingen. 2014/2015 erarbeitete die von der Deutschen Bischofskonferenz beauftragte Sachverständigengruppe Weltwirtschaft und Sozialethik die Studie »Wen kümmert die Sorgearbeit? Gerechte Arbeitsplätze in Privathaushalten«. Als Projektleiter habe ich nicht nur von den Debatten dieser interdisziplinären Gruppe und von den Kompetenzen ihrer Mitglieder, ganz besonders von der Expertise von Frau Prof. Dr. Eva Senghaas-Knobloch sehr profitiert, sondern auch vom inhaltlichen Austausch mit der Projektbearbeiterin, Isabell Merkle. Zentrale Passagen des Kapitels V gehen auf diese Zusammenarbeit zurück. Isabell Merkle hat mich auch bei der Arbeit an diesem Buch noch einmal tatkräftig unterstützt – mit verlässlichen Recherchen, konstruktivkritischen Anmerkungen zu meinem Argumentationsgang und erstklassigen Verbesserungsvorschlägen. Ob ohne ihre Hilfe aus dem Buchprojekt überhaupt etwas geworden wäre, weiß ich nicht. Der Lektor des Westend Verlags, Maximilian David, hat die Entstehung des Konzepts und des Manuskripts beharrlich und kompetent begleitet. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank.

Ein besonderer Dank gilt der Hans-Böckler-Stiftung. Schließlich ist das vorliegende Buch Teil des Forschungsprojektes »Ausländische Pflegekräfte in Privathaushalten«, das von ihr in zwei Stufen gefördert wurde. Durch die Finanzierung der Stiftung war es am Nell-Breuning-Institut möglich, zuerst die erwähnte empirische Studie durchzuführen und dann meine Arbeit an dem Manuskript durch Recherchen vorzubereiten und zu begleiten.

Frankfurt am Main, im Februar 2016

Bernhard Emunds

Einleitung

Seit der Wende sind in Deutschland schlechte Arbeitsplätze in Hülle und Fülle entstanden. Prekäre Jobs gibt es heute nicht nur im Handel und in der Landwirtschaft, bei Bewachungsfirmen, Sub-Unternehmen der Bauwirtschaft sowie in Hotels und Gaststätten, sondern auch in den Wohnungen und Häusern der mittleren Einkommensschichten. Zum einen greifen viel beschäftigte Städter gerne auf die Unterstützung einer Reinigungskraft zurück. Zum anderen arbeiten und leben in Haushalten mit pflegebedürftigen älteren Menschen häufig »Haushaltshilfen«, die beinahe rund um die Uhr einen Pflegebedürftigen betreuen, versorgen und pflegen. Das sind wahrscheinlich die beiden Typen neuer prekärer Jobs, die in deutschen Privathaushalten am häufigsten vorkommen. Bei beiden gibt es viel Schwarzarbeit. In beiden Fällen arbeiten vor allem Migrantinnen zu Konditionen, zu denen die meisten Deutschen auf keinen Fall arbeiten würden. Die Privatsphäre wird zu einem Arbeitsplatz, an dem aus den Beschäftigten viel »rausgeholt« wird und sie wenig dafür bekommen. Oder gar: die Privatsphäre, der emotional aufgeladene Hort familiärer und freundschaftlicher Vertrautheit, als Ort der Ausbeutung!

Der starke Zuwachs der Erwerbsarbeit in den haushaltsbezogenen Dienstleistungen ist kein Phänomen, das auf Deutschland beschränkt wäre. Es findet sich in dieser oder ähnlicher Form in vielen westlichen Ländern. Wahrscheinlich hat es viel mit dem Ende der traditionellen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zu tun, oder sollte ich besser sagen: mit dem halbherzigen Beenden dieser Arbeitsteilung: Die Frauen sind verstärkt erwerbstätig; im Übrigen ist dieser Trend in anderen Ländern deutlich stärker ausgeprägt als in Deutschland. Aber die Männer übernehmen nicht im gleichen Maße die Mitverantwortung für die häusliche Sorgearbeit. Nicht in den Sonntagsreden, wohl aber in der Alltagspraxis bleiben die Frauen erstzuständig für die Tätigkeiten in der Familie und im Haushalt. Viele reiben sich auf in der Mehrfachbelastung. Wo es das Einkommen erlaubt, verschaffen sie sich Luft, indem sie Sorgeaufgaben an andere Personen abgeben, die sie dafür bezahlen – zumeist an andere Frauen aus anderen Ländern. Das muss kein Problem sein. Schließlich können die boomenden haushaltsbezogenen Dienstleistungen politisch gestaltet werden; die Nachfrage kann so gelenkt und mit öffentlichen Mitteln verstärkt werden, dass reguläre, vielleicht sogar gute Arbeitsplätze entstehen. In vielen westlichen Ländern ist da wenig passiert; aber es gibt Ansätze, etwa in Belgien, in Frankreich und in Skandinavien. In Deutschland hat die Öffentlichkeit die Chancen einer politisch gestalteten Entwicklung haushaltsbezogener Dienstleistungen noch nicht entdeckt. So gehört die Bundesrepublik zu den westeuropäischen Ländern, in denen die Politik dem Wildwuchs der Jobs in den Privathaushalten weitgehend freien Lauf lässt.

Mit dem Wachstum der Arbeitsplätze in den Privathaushalten sind in vielen westlichen Ländern neue soziale Problemlagen entstanden, die auf neue, besonders prekäre Formen von Erwerbsarbeit zurückgehen. Die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen der neuen Haushaltsarbeiter im Westen sind verwandt mit den Alltagsproblemen der Haushaltsarbeiter, die in vielen Ländern des globalen Südens seit langem bei Familien tätig sind, die nicht unbedingt reich, aber zumindest etwas wohlhabend sind. Seit dem Millennium schlossen sich diese »domestic workers« über Grenzen hinweg zusammen. Es kam zu nationalen und internationalen Zusammenschlüssen, Treffen und Kooperationen der Hausangestellten. Sie arbeiteten zusammen, um zuerst einmal die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) zum Handeln zu bewegen. Diese Sonderorganisation der Vereinten Nationen, spezialisiert auf Gerechtigkeitsfragen im Kontext der Erwerbsarbeit, hat vor allem die Entwicklung der Erwerbsarbeit in den Unternehmen im Blick. Aber die Organisationen der »domestic workers« ließen nicht locker, suchten und fanden die Unterstützung einiger Gewerkschaften. Im Juni 2011 machte sich der Druck auf die ILO schließlich bezahlt: Die Internationale Arbeitsorganisation verabschiedete das Übereinkommen 189 »Über Menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte«.

Der Grundgedanke des ILO-Übereinkommens 189 ist es, bezahlte Hausarbeit in Privathaushalten als Erwerbsarbeit anzuerkennen und Haushaltsarbeiter mit anderen abhängig Beschäftigten gleichzustellen. Das Übereinkommen bezieht sich auf alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in einem oder in mehreren Haushalten erwerbstätig sind. Gleichgültig, ob sie einen schriftlichen Arbeitsvertrag haben oder nicht, ob sie Inländer, Ausländer mit Aufenthaltsrecht und Arbeitserlaubnis oder illegalisierte Ausländer sind – für alle sollen dieselben grundlegenden arbeitsrechtlichen Normen gelten wie für andere Arbeitnehmer. In den meisten Ländern – auch in Deutschland – sind es vor allem die Migrantinnen, die unter schlechten Bedingungen in Privathaushalten arbeiten und faktisch nicht über die gleichen Rechte verfügen wie andere Arbeitnehmer. Sie sind oft einfach nicht in der Lage, sich gegen ungerechte Verhältnisse zu wehren – deshalb ist es gerade bei ihnen besonders dringlich, gerechte Arbeitsbedingungen zu garantieren. Darin liegt die besondere Bedeutung des ILO-Übereinkommens 189 – auch für Deutschland.

Bereits als zweites europäisches Land hat die Bundesrepublik 2013 das Übereinkommen 189 ratifiziert. Seit September 2014 ist es in Deutschland in Kraft. Die Bundesrepublik hat sich damit völkerrechtlich verbindlich dazu verpflichtet, zu gewährleisten, dass in ihren Grenzen alle Arbeitgeber die in dem Übereinkommen aufgeführten Arbeitnehmerrechte der »domestic workers« beachten und Prozesse in Gang zu setzen, die zu einer rechtlichen Gleichstellung aller Hausangestellten mit den Beschäftigten der Unternehmen führen. Die Bedeutung des Übereinkommens und der Umstand einer verbindlichen Selbstverpflichtung der Regierung blieb in der deutschen Öffentlichkeit völlig unbeachtet – so als hätten die Bestimmungen des Übereinkommens nicht die geringste Bedeutung für die Arbeitsverhältnisse in Deutschland. Ist den Teilnehmern am öffentlichen Diskurs nicht klar, dass auch in der Bundesrepublik viele problematische Jobs in privaten Haushalten entstanden sind? Nehmen sie die Arbeit der »domestic workers« in deutschen Haushalten gar nicht als Erwerbsarbeit wahr? Oder ahnen sie Probleme, schauen aber lieber nicht richtig hin, damit sie nicht vor der eigenen Haustüre und vor den Haustüren vieler ihrer Wähler, Leser oder Zuschauer kehren müssen?

In dem vorliegenden Buch beschäftige ich mich mit einer der beiden wichtigsten Gruppen von »domestic workers« in Deutschland: mit den Arbeitnehmerinnen, die im Privathaushalt Pflegearbeit leisten, dort aber nicht nur arbeiten, sondern auch wohnen. Das Wohnen beim Arbeitgeber kommt in dem Anglizismus »Live-In« zum Ausdruck. Der Begriff ist in der sozialwissenschaftlichen Literatur sehr gebräuchlich. Auch in diesem Buch ist er – in einfacher Form oder zusammengesetzt zu »Live-In-Pflegekraft« – die wichtigste Bezeichnung für die Gruppe von Hausangestellten, um die es geht. Das Wohnen beim Arbeitgeber macht aus der Arbeit der Live-Ins eine besondere Form von Erwerbsarbeit, weil sie fast immer für ihn erreichbar ist. Ohne klare Regeln hat er den Eindruck, er kann immer, wenn er sie braucht, über ihre Arbeitskraft verfügen. So kommt es in diesen Arbeitsverhältnissen häufig zu einer Entgrenzung der Arbeitszeit. Das Phänomen ist bei den Live-Ins in aller Welt bekannt. Bei den Pflegekräften unter den Live-Ins ist es besonders ausgeprägt. Schließlich arbeiten sie für Personen, die in hohem Maße hilfebedürftig sind. Der maßlose Anspruch, immer, an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr, über eine Arbeitnehmerin zu verfügen, kommt in der Rede von einer »24-Stunden-Pflege« gut zum Ausdruck.

Groben Schätzungen zufolge arbeiten in deutschen Privathaushalten 100 000 bis 200 000 Live-In-Pflegekräfte. Bei ihnen handelt es sich zu etwa 90 Prozent um Frauen. Deshalb nutze ich in diesem Buch zur Bezeichnung der Live-Ins weibliche Substantive. Die Arbeitnehmerinnen stammen fast alle aus Mittel- und Osteuropa. Zu Beginn, in den 1990er Jahren, arbeiteten und lebten ausschließlich polnische Staatsbürgerinnen in den deutschen Pflegehaushalten. Damals wurde es üblich, davon zu sprechen, man hole sich für die Pflege zuhause »’ne Polin«. Die Redewendung ist, obwohl von wertenden ethnischen Konnotationen nicht frei, nach wie vor sehr gebräuchlich. Tatsächlich scheinen die Polinnen, zumeist im Alter zwischen 50 und 65, nach wie vor die größte Gruppe unter den Live-In-Pflegekräften in Deutschland zu bilden. Aber der Anteil der Bürgerinnen anderer Staaten Mittel- und Osteuropas wächst, unter ihnen vor allem die Anteile der Bulgarinnen und der Rumäninnen.

Viele ziehen es vor, die Live-Ins in den deutschen Pflegehaushalten als »Haushaltshilfen« zu bezeichnen. Damit wird suggeriert, diese hätten es doch vorrangig gar nicht mit Pflege zu tun, sondern mit hauswirtschaftlichen Tätigkeiten. »Pflegekräfte«, das seien die Mitarbeiterinnen der ambulanten Pflegedienste. Nur diese seien – neben den Angehörigen – für die Pflege zuständig. Die Wirklichkeit sieht anders aus. In den Pflegehaushalten, in denen Live-Ins arbeiten, sind sie fast immer diejenigen, die die meisten pflegerischen Aufgaben erfüllen. Ich spreche lieber von Pflegekräften. Denn mir geht es in diesem Buch um Pflegearbeit – vor allem um die Frage, wie die deutsche Gesellschaft die notwendige Pflegearbeit organisiert und welche Rolle die mittel- und osteuropäischen Migrantinnen dabei spielen.

Wo macht Erwerbsarbeit Menschen krank, wo nimmt sie ihnen die Luft zum Leben? Welche Formen der Erwerbstätigkeit erschließen denen, die arbeiten, dagegen gute Chancen der persönlichen Entfaltung und der gesellschaftlichen Beteiligung? Wie kann die gesellschaftlich notwendige Arbeit gerecht organisiert werden? Diese Fragen sind für die kirchlichen Sozialtraditionen, denen ich mich verbunden weiß, zentral. Dahinter steht die Einsicht, dass eine gerechtere Organisation der Arbeit ein Schlüssel für eine gerechtere Gesellschaft ist. In diesem Buch stelle ich diese Fragen für eine bestimmte Form von Pflegearbeit: für die Pflegearbeit, mit der Live-Ins aus Mittel- und Osteuropa in deutschen Haushalten ihr Einkommen verdienen.

Pflege interessiert mich also vor allem als Arbeit und dabei insbesondere aus der Perspektive des Pflegenden und, sofern es um Erwerbsarbeit geht, aus der Perspektive seines Arbeitgebers. Die Perspektive des Pflegebedürftigen und die Frage nach der Pflegequalität treten demgegenüber in den Hintergrund. Nicht, dass sie unwichtig wären! Aber sie stehen für andere Fragen an die Pflege, für einen anderen Blickwinkel der Analyse und der ethischen Reflexion.

Wichtig ist mir dabei ein weites Verständnis von Pflege und Pflegearbeit. Bei der häuslichen Pflege umfasst Pflegearbeit neben der pflegerischen Interaktion auch die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten für den Pflegebedürftigen. Pflegende Angehörige und Live-Ins erfüllen ganz selbstverständlich pflegerische und hauswirtschaftliche Aufgaben; das Eine geht mit dem Anderen Hand in Hand. So macht es meines Erachtens wenig Sinn, eine künstliche Trennung vorzunehmen. Dabei soll schon das Wort »pflegerische Interaktion« über die einzelnen Hilfestellungen, Handgriffe und Behandlungsschritte hinausweisen. Zweifellos, in der Pflege sind die Unterstützungsleistungen der Grundpflege, also die Hilfe zum Beispiel beim Aufstehen, Waschen, Anziehen oder bei der Nahrungsaufnahme, und die einzelnen Schritte der Behandlungspflege wie etwa das Blutabnehmen oder die Wundversorgung von zentraler Bedeutung. Aber Pflege ist eben mehr als diese »Verrichtungen«. Diese sind nämlich eingebunden in die persönliche Begegnung des Pflegenden mit dem Gepflegten, in ein Kommunikationsgeschehen auf verschiedenen Ebenen, in einen verbalen und nonverbalen Austausch zwischen zwei Personen. Auf diese Kommunikation zwischen Pflegendem und Gepflegtem, zu deren Teil die jeweiligen Handgriffe und Behandlungsschritte geworden sind, verweist das Wort »pflegerische Interaktion«.

Die Pflegearbeit der Live-Ins aus Mittel- und Osteuropa ist also das Thema des Buches. Zugleich spielt aber auch die Perspektive der pflegenden Angehörigen eine wichtige Rolle. Gewissermaßen aus dem Blickwinkel der Angehörigen schaue ich in den ersten drei Kapiteln vorrangig – wenn auch nicht ausschließlich – auf die »24-Stunden-Pflege«. Im ersten Kapitel geht es in besonderem Maße um die Frage, weshalb sich die Angehörigen auf diese besondere Form der Pflege überhaupt einlassen. Schließlich ist sie mit ungewohnten, ja problematischen Beschäftigungsverhältnissen verbunden, um die wohl auch die meisten Angehörigen vor Jahren noch einen weiten Bogen gemacht hätten. Nun akzeptieren sie diese im eigenen Haus oder im Haus beziehungsweise in der Wohnung der Eltern. Wie kommt es dazu? Den Gründen der Angehörigen stelle ich dann die Motive der Pflegekräfte gegenüber. Schließlich bette ich beide Motivlagen in eine Skizze jener gesellschaftlichen und internationalen Faktoren ein, die die starke Verbreitung der »24-Stunden-Pflege« in den letzten zwanzig Jahren gefördert haben.

Im zweiten Kapitel betreten die Akteure die Bühne, die zumeist die ersten Vertragspartner der Angehörigen beziehungsweise der Pflegebedürftigen sind: die Vermittlungsagenturen. Ich trage zusammen, was man über ihr Geschäftsgebaren weiß, frage aber auch nach alternativen Wegen, über welche die Haushalte mit Pflegeverantwortung und die Pflegekräfte zusammenfinden können.

Im dritten Kapitel wird auf die Frage vieler Angehörigen eingegangen, ob die Arbeits- beziehungsweise Auftragsverhältnisse, auf die man sich mit der »24-Stunden-Pflege« einlässt, legal sind. Wie werden die verschiedenen Vertragsformen, in denen die Pflegearbeit der Live-Ins angeboten wird, in der arbeitsrechtlichen Diskussion eingeschätzt? Welche rechtlichen Probleme gibt es zudem mit der Arbeitszeit?

Ein Perspektivwechsel von den Angehörigen zu den Live-Ins, von den Arbeitgebern zu den Arbeitnehmerinnen, findet zwischen Kapitel III und Kapitel IV statt. Die Live-In-Pflegekräfte arbeiten und leben in der Wohnung eines anderen. Was bedeutet das für sie? Dieser Frage gehe ich im vierten Kapitel nach. In den Jahren 2011 und 2012 hat das Nell-Breuning-Institut im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung über die Arbeits- und Lebensbedingungen der Live-Ins und über die Beziehungen zwischen ihnen, den Pflegebedürftigen und den Angehörigen geforscht. Die Ergebnisse der kleinen empirischen Studie, die damals entstand, greife ich hier auf. Ich verbinde sie mit Einblicken in die Arbeits- und Lebenserfahrungen mittel- und osteuropäischer Pflegekräfte, die sie einigen Sozialwissenschaftlerinnen in Interviews gewährt haben. Deutlich wird ein ganz besonderes Profil dieser Form von Erwerbsarbeit: ein Mangel an von außen vorgegebenen Regeln, eine enge Verknüpfung des Arbeitsverhältnisses mit persönlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten und der Anspruch der Arbeitgeber, ohne zeitliche Begrenzung auf ihre Arbeitskraft zurückgreifen zu können. Deutlich werden vor allem die hohen, oft genug kaum mehr tragbaren Belastungen, die für die Arbeitnehmerinnen mit diesem besonderen Profil der Arbeit verbunden sind. Der Bezug auf die stark belastenden Arbeitsbedingungen der Live-Ins wird dann zum Tenor der weiteren Argumentation.

Die Perspektiven der Angehörigen und der Pflegekräfte gehen im Folgenden nicht verloren. Aber sie werden in den drei folgenden Kapiteln in einen größeren Kontext gestellt: in die sozialwissenschaftliche Diskussion, die ethische Reflexion und die politische Öffentlichkeit. In Kapitel V ordne ich die Pflegearbeit der Live-Ins sozialwissenschaftlich ein. Hier wären natürlich verschiedene systematische Zuordnungen möglich. Ich habe mich entschieden, der Frage nachzugehen, warum die Pflegearbeit gesellschaftlich so wenig wertgeschätzt wird. Dazu begreife ich Pflegearbeit als eine Form von Sorgearbeit und skizziere die Stellung dieser Sorgearbeit in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung.

Dass ich das Buch als Mitglied einer bestimmten gesellschaftlichen Großgruppe mit einer bestimmten ethischen Perspektive schreibe, habe ich bereits erwähnt. Diese ethische Sichtweise stelle ich in Kapitel VI dar. Ich zeige auf, warum es wichtig ist, nach der Qualität der Erwerbsarbeit – hier nach der Qualität der Arbeit von Live-In-Pflegekräften – zu fragen. Wie wirkt sich die Arbeit auf das Leben der Arbeitnehmerinnen aus? Dann entwickele ich für die Bewertung der Qualität von Erwerbsarbeit zwei Gruppen ethischer Mindeststandards, Kriterien gerechter und Kriterien menschenwürdiger Arbeit. Schließlich lege ich diese Standards an die Pflegearbeit der Live-Ins an. Dabei treten nicht nur Gerechtigkeitsdefizite zu Tage. Vielmehr zeigt sich auch, dass die Live-Ins nicht wirksam dagegen geschützt sind, von ihrem Arbeitgeber menschenunwürdig behandelt zu werden. Mehr noch, der Anspruch, bei Bedarf jederzeit auf die Arbeitskraft der Live-Ins zugreifen können, widerspricht selbst schon der Menschenwürde. In dieser Argumentation soll deutlich werden, wo aus ethischer Sicht dringender Regelungsbedarf besteht und in welche Richtung politisch die Entwicklung der »24-Stunden-Pflege«gelenkt werden sollte.

Diese politische Fragestellung bestimmt dann Kapitel VII. Darin kritisiere ich, dass sich die deutschen Politikerinnen und Politiker bisher der Aufgabe völlig entzogen haben, die Beschäftigungsverhältnisse in der »24-Stunden-Pflege« so zu gestalten, dass sie menschenwürdig und gerecht sind. Vor allem mache ich hier einen dreiteiligen Vorschlag, wie menschenwürdige Arbeitsbedingungen für Live-Ins durchgesetzt und wie Prozesse angestoßen werden könnten, durch die ihre Pflegearbeit mit der Zeit dem Maßstab gerechter Erwerbsarbeit angenähert werden könnte.

Das abschließende Kapitel VIII kehrt noch einmal zur Angehörigenperspektive zurück und enthält einige Hinweise für die (potenziellen) Arbeitgeber der Live-In-Pflegekräfte.

Die politisch Verantwortlichen in der Bundesrepublik mögen sich, wie gerade erwähnt, der Aufgabe entziehen, die Beschäftigungsverhältnisse in der »24-Stunden-Pflege« zu regeln. Aber dass es da ein riesiges Problem gibt, haben sie gleichwohl sehr genau erkannt. So hat die Bundesregierung bei der Ratifikation des ILO-Übereinkommens 189 von einer Klausel Gebrauch gemacht, die es den Unterzeichnerstaaten ermöglicht, bestimmte Personengruppen von der Geltung des Übereinkommens auszunehmen. Wie ich in Kapitel VI noch näher erläutern werde, hat sie dabei eine Formulierung gewählt, die auf die Live-In-Pflegekräfte zielt. Genau sie sollen offenbar von den Arbeitnehmerrechten, die in dem Übereinkommen aufgelistet sind, ausgenommen werden. Dabei dürfte es der Bundesregierung vorrangig darum gehen, zu verhindern, dass sie gezwungen ist, das Recht der Live-Ins auf mindestens einen arbeitsfreien Tag in der Woche durchzusetzen. Wenn die Bundesregierung ein Übereinkommen ratifiziert, dass den Hausangestellten weltweit grundlegende Rechte verschaffen soll, aber genau diejenige Gruppe von der Geltung ausnimmt, die in Deutschland auf die Durchsetzung dieser Rechte besonders angewiesen ist, dann ist das schon ein bemerkenswerter Vorgang. Im Gegensatz zur politischen Öffentlichkeit war sich also die Bundesregierung der Brisanz des Übereinkommens 189 für Arbeitsverhältnisse in Deutschland durchaus bewusst. Diese Ausnahme reduziert den Druck, tätig werden zu müssen, vor allem die – für die Beschäftigten menschenunwürdige – Zeitstruktur der »24-Stunden-Pflege« zu korrigieren. Den politisch Verantwortlichen dürfte sehr willkommen sein, dass die deutsche Öffentlichkeit das alles verschlafen hat.

Allerdings reduziert die Ausnahmeklausel des Übereinkommens 189 den Handlungsdruck nur vorübergehend. Eine Regierung, die sie in Anspruch nimmt, ist verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, die dazu führen, dass die Geltung des Übereinkommens künftig auf diese Gruppe ausgedehnt werden kann. Und sie muss der ILO regelmäßig über ihre Maßnahmen und deren Erfolg Bericht erstatten. Ob die politische Öffentlichkeit in den nächsten Jahren die Arbeitsverhältnisse in der »24-Stunden-Pflege« doch einmal in den Fokus nehmen wird? Das bleibt zu hoffen! Denn dann könnte aus dem ILO-Übereinkommen 189 doch noch Handlungsdruck entstehen, der die politisch Verantwortlichen in Deutschland dazu bewegt, die Beschäftigungsverhältnisse der Live-In-Pflegekräfte zu gestalten.