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Byung-Chul Han
Agonie des Eros

Byung-Chul Han

AGONIE DES EROS

image Matthes & Seitz Berlin

MELANCHOLIA

In letzter Zeit wurde oft das Ende der Liebe ausgerufen. Die Liebe gehe heute an endloser Wahlfreiheit, an Optionsvielfalt und Optimierungszwang zugrunde. In einer Welt unbegrenzter Möglichkeiten sei die Liebe nicht möglich. Beklagt wird auch die erkaltete Leidenschaft. In ihrem Buch Warum Liebe weh tut führt Eva Illouz diese auf die Rationalisierung der Liebe und die Ausweitung der Technologie der Wahl zurück. Diese soziologischen Theorien der Liebe erkennen jedoch nicht, dass heute etwas im Gange ist, was der Liebe wesentlich mehr zusetzt als die endlose Freiheit oder unbegrenzte Möglichkeiten. Zur Krise der Liebe führt nicht allein zu viel Angebot am anderen Anderen, sondern die Erosion des Anderen, die derzeit in allen Lebensbereichen stattfindet und mit zunehmender Narzissifizierung des Selbst einhergeht. Dass der Andere verschwindet, ist eigentlich ein dramatischer Prozess, der aber fatalerweise von vielen unbemerkt voranschreitet.

Der Eros gilt dem Anderen im emphatischen Sinne, der sich ins Regime des Ich nicht einholen lässt. In der Hölle des Gleichen, der die heutige Gesellschaft immer mehr ähnelt, gibt es daher keine erotische Erfahrung. Diese setzt die Asymmetrie und Exteriorität des Anderen voraus. Nicht zufällig heißt Sokrates als Geliebter atopos. Der Andere, den ich begehre und der mich fasziniert, ist ortlos. Er entzieht sich der Sprache des Gleichen: »Als atopos lässt der Andere die Sprache erbeben: man kann nicht von ihm, über ihn sprechen; jedes Attribut ist falsch, schmerzhaft, taktlos, peinlich […].«1 Die heutige Kultur des ständigen Ver-Gleichens lässt keine Negativität des atopos zu. Wir vergleichen permanent alles mit allem, nivellieren es dadurch zum Gleichen, weil uns gerade die Erfahrung der Atopie des Anderen abhanden gekommen ist. Die Negativität des atopischen Anderen entzieht sich der Konsumtion. So ist die Konsumgesellschaft bestrebt, die atopische Andersheit zugunsten konsumierbarer, ja heterotopischer Differenzen zu beseitigen. Die Differenz ist eine Positivität im Gegensatz zur Andersheit. Heute verschwindet überall die Negativität. Alles wird eingeebnet zum Objekt der Konsumtion.

Wir leben heute in einer Gesellschaft, die zunehmend narzisstischer wird. Die Libido wird primär in die eigene Subjektivität investiert. Der Narzissmus ist keine Eigenliebe. Das Subjekt der Eigenliebe nimmt zugunsten seiner selbst eine negative Abgrenzung vom Anderen vor. Das narzisstische Subjekt kann dagegen seine Grenzen nicht klar festlegen. So verschwimmt die Grenze zwischen ihm und dem Anderen. Ihm erscheint die Welt nur in Abschattungen seiner selbst. Es ist nicht fähig, den Anderen in seiner Andersheit zu erkennen und diese Andersheit anzuerkennen. Bedeutungen gibt es nur dort, wo es sich selbst irgendwie wiedererkennt. Es watet überall im Schatten seiner selbst, bis es in sich ertrinkt.

Die Depression ist eine narzisstische Erkrankung. Zu ihr führt der überspannte, krankhaft übersteuerte Selbstbezug. Das narzisstisch-depressive Subjekt ist erschöpft und zermürbt von sich selbst. Es ist weltlos und verlassen vom Anderen. Eros und Depression sind einander entgegengesetzt. Der Eros reißt das Subjekt aus sich heraus auf den Anderen hin. Die Depression stürzt es dagegen in sich selbst. Das narzisstische Leistungssubjekt von heute ist vor allem auf den Erfolg aus. Erfolge bringen eine Bestätigung des Einen durch den Anderen mit sich. Dabei degradiert der Andere, seiner Andersheit beraubt, zum Spiegel des Einen, der diesen in seinem Ego bestätigt. Diese Anerkennungslogik verstrickt das narzisstische Leistungssubjekt noch tiefer in sein Ego. Dadurch entwickelt sich eine Erfolgsdepression. Das depressive Leistungssubjekt versinkt und ertrinkt in sich selbst. Der Eros macht dagegen eine Erfahrung des Anderen in seiner Andersheit möglich, die den Einen aus seiner narzisstischen Hölle herausführt. Er setzt eine freiwillige Selbstaberkennung, eine freiwillige Selbstentleerung in Gang. Ein besonderes Schwach-Werden erfasst das Subjekt der Liebe, das jedoch gleichzeitig von einem Gefühl der Stärke begleitet wird. Dieses Gefühl ist allerdings nicht die Eigenleistung des Einen, sondern die Gabe des Anderen.

In der Hölle des Gleichen kann die Ankunft des atopischen Anderen eine apokalyptische Form annehmen. Anders formuliert: Heute kann allein eine Apokalypse uns aus der Hölle des Gleichen zum Anderen hin befreien, ja erlösen. So beginnt Lars von Triers Film Melancholia mit der Ankündigung eines apokalyptischen, desaströsen Ereignisses. Desaster heißt wörtlich Unstern (lat. des-astrum). Am nächtlichen Himmel auf dem Anwesen ihrer Schwester entdeckt Justine einen rötlich schimmernden Stern, der sich später als ein Unstern erweist. Melancholia ist ein desastrum, mit dem das ganze Unheil seinen Lauf nimmt. Es ist aber ein Negativ, von dem eine heilende, läuternde Wirkung ausgeht. Melancholia ist insofern ein paradoxer Name, als der Planet gerade eine Heilung von der Depression als einer besonderen Form der Melancholie herbeiführt. Er manifestiert sich als der atopische Andere, der Justine aus dem narzisstischen Sumpf herausreißt. So blüht sie angesichts des todbringenden Planeten förmlich auf.

Der Eros besiegt die Depression. Das Spannungsverhältnis von Liebe und Depression beherrscht von Anfang an den filmischen Diskurs von Melancholia. Das Präludium von Tristan und Isolde, das den Film musikalisch umrahmt, beschwört die Kraft der Liebe. Die Depression stellt sich als Unmöglichkeit der Liebe dar. Oder die unmögliche Liebe führt zur Depression. Erst der Planet »Melancholia« als atopischer Anderer, der in die Hölle des Gleichen einbricht, entfacht bei Justine ein erotisches Begehren. In der Nacktszene auf dem Flussfelsen sieht man den von Wollust durchströmten Körper einer Liebenden. Erwartungsvoll räkelt sich Justine im blauen Licht des todbringenden Planets. Diese Szene erweckt den Eindruck, als sehnte Justine den tödlichen Zusammenstoß mit dem atopischen Himmelskörper geradezu herbei. Die nahende Katastrophe erwartet sie wie eine beglückende Vereinigung mit dem Geliebten. Unweigerlich denkt man hier an Isoldes Liebestod. Beim nahenden Tod gibt sich auch Isolde »des Welt-Atems wehendem All« lustvoll hin. Es ist kein Zufall, dass gerade in dieser einzigen erotischen Szene des Films wieder das Präludium von Tristan und Isolde erklingt. Magisch beschwört es die Nachbarschaft von Eros und Tod, von Apokalypse und Erlösung. Paradoxerweise belebt Justine der nahende Tod. Er öffnet sie für den Anderen. Befreit aus ihrer narzisstischen Gefangenschaft, wendet sich Justine auch fürsorglich Claire und ihrem Sohn zu. Die wirkliche Magie des Films ist Justines wundersame Verwandlung von einer Depressiven zur Liebenden. Die Atopie des Anderen erweist sich als Utopie des Eros. Lars von Trier setzt gezielt bekannte klassische Gemälde ein, um den Film diskursiv zu steuern und ihn mit einer besonderen Semantik zu unterlegen. So blendet er in dem surrealistischen Vorspann das Bild von Pieter Bruegel Die Jäger im Schnee ein, das den Betrachter in eine tiefe winterliche Melancholie versetzt. Die Landschaft grenzt im Bildhintergrund ans Wasser wie das Anwesen von Claire, das vor Bruegels Bild eingeblendet wird. Beide Szenen weisen eine ähnliche Topologie auf, sodass die winterliche Melancholie von Die Jäger im Schnee auf das Anwesen von Claire übergreift. Die dunkel gekleideten Jäger kehren tief gebeugt heim. Die schwarzen Vögel in den Bäumen lassen die Winterlandschaft noch düsterer erscheinen. Das Schild des Wirtshauses »Zum Hirschen« mit dem Bild eines Heiligen hängt schief und fällt fast herunter. Gottverlassen wirkt diese winterlich-melancholische Welt. Lars von Trier lässt dann schwarze Brocken langsam vom Himmel fallen, die das Bild wie ein Feuerbrand auffressen. Auf diese melancholische Winterlandschaft folgt eine gemäldeartig wirkende Szene, in der Justine ganz der Ophelia von John Everett Millais nachgebildet ist. Mit einem Blumenkranz in der Hand treibt sie wie die schöne Ophelia auf dem Wasser.

Tristan und Isolde.Jäger im SchneeOphelia,David mit dem Haupt Goliaths,Schlaraffenland