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Nr. 2728

 

Die Gravo-Architekten

 

Sie starten eine unmögliche Expedition – ihr Ziel ist Lunas Rettung

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

Kommentar

Report

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.

Im Jahr 1514 Neuer Galaktischer Zeitrechnung steht die Milchstraße vor einer schweren Prüfung: Auf der einen Seite droht ein interstellarer Krieg zwischen Tefrodern und Blues, auf der anderen Seite beansprucht das Atopische Tribunal die Rechtshoheit über die Milchstraße. Die Atopen verurteilen Perry Rhodan und Imperator Bostich zu einer 500-jährigen Isolationshaft und verfügen, dass das Arkon-System an seine eigentliche Urbevölkerung, die Naats, zurückzugeben sei.

Als Exekutive des Tribunals fungieren die Onryonen, die sich auf dem Erdmond Luna eingenistet haben und diesen beherrschen. Luna wird von einem Technogeflecht überzogen, das den Mond zur interstellaren Fortbewegung befähigt.

Als die Onryonen diesen Antrieb einsetzen und der Lunare Widerstand diesen sabotiert, strandet Luna an einem gefährlichen Ort. Hilfe bieten einzig DIE GRAVO-ARCHITEKTEN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Shanda Sarmotte – Die Mutantin kommt auf eine wahnwitzige Idee.

Toufec – Der Meister Pazuzus erweist sich in doppelter Hinsicht als nützlich.

Pri Sipiera – Die Anführerin des Widerstands kämpft gegen ihre Vorurteile.

Fionn Kemeny – Der Wissenschaftler wächst über sich hinaus.

Raphal Shilo – Der Widerständler glaubt das Unmögliche.

»Der Zeitpunkt ist gekommen, an dem alle Lunarer – Onryonen, Terraner und wer auch immer – zusammenstehen und zusammenarbeiten müssen. Andernfalls ist Luna verloren. Unser Mond steht am Gravo-Abgrund. Mehr noch – sein Sturz hat bereits begonnen.«

Ryotar Fheyrbasd Hannacoy

 

 

Prolog

 

»Warum gehen die Augen über uns nicht weg?«

»Schlaf, Satheki. Wie die anderen.«

»Ich will, dass sie verschwinden. Sie sind böse. Seit sie da sind, ist kein Emot mehr blau.«

»Ignorier sie einfach.«

»Mahloy sagt, das sind die Augen vom Feuerschlaf.«

»Hör nicht auf Mahloy. Alles ist gut.«

»Wenn alles gut ist, Hirthannor, warum riechst du nach Angst?«

»Ich mach mir Sorgen, dass du zu wenig schläfst. Das ist die Aufgabe eines Pyzhurgs.«

»Ach so. Und es ist wirklich alles gut?«

»Ja, Satheki. Die Ordo beschützt uns.«

1.

Die Augen im All

Iacalla. Sublunar. 12. August 1514 NGZ

 

Toufec hörte das Tosen und Poltern des einstürzenden Hauses. Es klang wie eine Lawine aus Lärm und Schlägen, aus zerreißendem Plast und splitterndem Glas. Instinktiv bückte er sich und zog den Kopf ein.

»Pazuzu, hilf mir!«, flüsterte er, obwohl bei dem Lärm vermutlich nicht einmal Shanda Sarmotte ihn im Helmfunk hörte und Pazuzu schon gar nicht, denn der war beschäftigt und leistete Wunder. Pazuzu bildete nach wie vor einen Schutzwall aus, eine energetische Kuppel, die vor Ortung und Angriffen jeder Art schützte, geschaffen durch mikroskopische Geräte, die der Dschinn, der keiner war, selbst erschuf.

Toufec wusste dieses beschirmende, wuselnde Etwas über sich, das ihm sein »Dschinn« errichtete; wobei Toufec selbstverständlich längst wusste, dass dieser Dschinn kein magisches Wesen, sondern ein hoch entwickelter Schwarm aus Nanogenten war. Andererseits ... unterschied das für ihn im Grunde nichts von Magie, also blieb Pazuzu sein Dschinn.

Ohne den Nanogentenschutz wären er und Shanda bereits tot, lägen begraben und zerquetscht in ihren SERUNS oder würden mit bangen Herzen darauf hoffen, dass die ballonartigen Schirme der technischen Anzüge leistungsstark genug waren, der kinetischen Energie standzuhalten und ein Gewicht von vielen Tonnen zu tragen.

Trümmerstücke flogen Toufec entgegen und krachten in den unsichtbaren Schutzwall Pazuzus. Sie glitten davon ab und rutschten zur Seite, stapelten sich um ihn herum. Einige fingen Feuer, verflüssigten sich vor seinen Augen und flossen in rot glühenden Schlieren an der Kuppel entlang. Andere rollten weiter, rissen Sitzgelegenheiten um, begruben vertrocknete Sträucher unter sich und schlugen Löcher in die Wand eines verblichenen Budengebildes auf dem Gehweg, in dem vielleicht einmal Essen verkauft worden war. Sie bildeten einen Wall aus Dreck, Metallbruchstücken und steinartigen Plastbrocken.

Staub und Schutt wirbelten auf, hüllten die Welt in Grau, doch Toufecs Sicht war dank Pazuzu klar wie Glassit. Er legte den Kopf in den Nacken, sah die unteren Stockwerke durch einen Regen aus Fassadentrümmern in grausamer Schärfe ineinanderstürzen, Etage auf Etage, bis die wegspritzenden Schuttteile die Schutzkuppel überragten und wie ein Mausoleum einschlossen.

Die Welt verschwand. Es wurde dunkler, und der SERUN ging in den Nachtsichtmodus. Schließlich fand Pazuzu die Zeit, trotz seiner anderen Aufgaben die Lichtintensität zu erhöhen.

Gerade als Toufec meinte, den Lärm nicht mehr ertragen zu können, kehrte beängstigende Stille ein.

»Shanda?«

Keine Antwort.

Besorgt drehte Toufec sich in der fünf Meter breiten Kuppel. Über ihm wölbten sich Bruchstücke aus Metall und Technogeflecht, verbogen und zerrissen, als wären sie in eine überdimensionierte Müllpresse geraten. Einige davon waren durch Pazuzus Einwirken miteinander verbacken und bildeten eine Art Stützgerüst, das die Last über ihnen trug. Die Kruste aus Technogeflecht schimmerte grünlich und stach aus der Masse hervor. Selbst die Zerstörung tat dem fahlen, kränklichen Glanz keinen Abbruch.

»Shanda?«

Warum zeigte der SERUN ihre Position nicht an?

Es rauschte im Helmfunk wie bei statischen Interferenzen. »Hier unten! Alles okay, wenn man davon absieht, dass mir ein Haus auf den Kopf gefallen ist.«

Toufec fuhr herum und sah Shanda dank der schematischen Darstellungen im Visier zusammengekauert am Boden sitzen, ebenso wie er in den zur Kuppel geformten Schutzwall Pazuzus gehüllt. Die Chamäleon-Funktion ihres Anzugs hatte sie nahezu unsichtbar gemacht. Erleichtert ging er auf sie zu und half ihr auf die Beine.

Shanda hustete, als könne sie den Staub schmecken, der die Trümmer über dem Schutzwall in einer Partikelwolke umflirrte. Sie legte den Kopf schief wie jemand, der etwas in der Ferne hörte. »Spürst du das? Das Beben hat aufgehört. Es ist vorbei.«

Toufec fühlte mit den Füßen in den Boden, dann nickte er. »Zumindest im Moment.«

Insgesamt hatten vier oder fünf Mondstöße zusammen mit Gravo-Phänomenen die sublunaren Ebenen Iacallas erschüttert.

Er berührte die Mischung aus altertümlicher Flasche und Öllämpchen, die an einer Halterung des SERUNS auf Hüfthöhe hing. »Pazuzu, schaff uns einen Durchbruch.«

Aus der Öffnung der durchscheinenden Flasche an Toufecs Gürtel entströmte schwarzer Rauch, formte vage ein Gesicht und zerstob wieder. Die Flasche selbst wurde blasser, als verlöre sie an Substanz, je mehr Pazuzu für Toufec tat. Das Behältnis, das entfernt an ein Öllämpchen erinnerte, war untrennbar mit Pazuzu verbunden und ein Teil des Nanogentenschwarms. Eine dünne Säule aus schwebenden Nanogentenverbänden stieg wie ein Trichter zur Decke der Kuppel auf, trieb gleich einem tastenden Finger an ihr entlang und verschwand zwischen den Trümmern.

Toufec startete eine Überprüfung des SERUNS. »Ob es der Gravo-Irritator war, der die Phänomene und Beben ausgelöst hat?«

»Hoffentlich nicht. Das würde Kemeny sich kaum verzeihen.« Bis auf die grünbraunen Augen war Shandas Gesicht eine helle Fläche hinter der Helmscheibe. Lediglich die Stelle zwischen Nase und Oberlippe leuchtete in einem geraden Kratzer hellrot, dort, wo ein Stück Technowürfel ihr die Haut aufgerissen hatte.

Eigentlich hatten Fionn Kemeny und YLA auf ihre Rückmeldung warten wollen, ehe sie den Gravo-Irritator starteten. Doch Toufec und Shandas Mission war gescheitert. Hatten die anderen den Irritator trotzdem aktiviert und damit auf ganz Luna Chaos hervorgerufen? Laut Fionn Kemenys Berechnungen hatte dieses spezielle, superschwere Gravofeld gezielt das Synapsenpriorat angreifen sollen. Zu gefährlichen Gravo-Phänomenen und Mondbeben hätte es nicht kommen dürfen.

Mit einem Mal hatte Toufec den Eindruck, das bedrückende Gewicht des Schutts zu fühlen. Der Gedanke, dass der Einsatz des Gravo-Irritators möglicherweise Tausende von Leben gekostet hatte, lastete auf ihm.

Hatte es sämtliche Städte so hart getroffen wie die sublunaren Etagen Iacallas? Wie sah es in Luna City aus? Wie viele Opfer hatte dieser Einsatz gefordert, der nicht als Anschlag gedacht gewesen war?

Toufec erinnerte sich gut, wie begeistert der Wissenschaftler Fionn Kemeny von seiner Idee gewesen war, die »Züge« der Onryonen zu stoppen, die Luna quer durch den Raum bewegten, einem unbestimmten Ziel entgegen. Kemeny und YLA, die Tochter des lunaren Großrechners NATHAN, hatten die Onryonen von weiteren Zügen – so nannten die Besatzer des Mondes die transmitterähnlichen Sprünge – abhalten wollen.

Es war Toufecs und Shandas Ziel gewesen, Aytosh Woytrom, den besten Genifer der Onryonen, zu entführen. Eine Mission, die missglückt war, weil Woytrom ihr Eindringen in seinen Wohnturm bemerkt hatte.

Es knackte und ächzte, Wandungsstücke rutschten polternd aus dem Trümmerberg und krachten auf den Boden. Über ihnen entstand ein armdicker Tunnel, der ins Freie führte. Pazuzus Nanogenten verbanden sich zu mikroskopischen Maschinen und verdampften das Schuttmaterial. Der Durchgang wurde rasch breiter. Er wuchs auf einen Durchmesser von einem Meter an.

Mithilfe des Gravopaks im SERUN stieg Toufec empor, dicht gefolgt von Shanda. Sie flogen über ein Szenario der Zerstörung.

Ganze Häuserblocks lagen wie zerbrochenes Spielzeug unter ihnen. Zu Toufecs Erleichterung hatte in diesem Abschnitt niemand gewohnt. Die Onryonen mussten ihn verlassen haben, nachdem die Gebäude durch vorhergehende Mondbeben ihre Stabilität verloren hatten. Vielleicht hatte das Gebiet schon immer leer gestanden, geschaffen für Generationen, die bislang nicht geboren worden waren.

Nacheinander durchdrangen sie vier Ebenen, bis sie in der Nähe einer sublunaren Fabrik einen schmalen Schacht aufwärts fanden, der nur Robotern und Drohnen zu dienen schien. Gleiter sahen sie keine.

Metallisch glänzende Wände zogen an ihnen vorbei, hin und wieder durchbrochen von Technogeflecht, das wie Adern hervortrat. Mit jedem Meter hinauf wurde Toufec unruhiger. Er überlegte, Pri Sipiera zu kontaktieren, doch damit gefährdete er den Lunaren Widerstand. Wenn die Besatzer den Funkspruch orteten, verfolgten sie ihn vielleicht zu Pri und der Keimzelle der Widerständler in Luna City zurück.

Sie tauchten im Schutz von Pazuzus Nanoschatten aus dem Zugang auf und stiegen über der Stadt mehrere Meter in die Höhe.

Der Ausschnitt, den sie überschauten, war begrenzt. Toufec erkannte in der Ferne eine Landebahn, die sich auf dem Boden des Kraters erstreckte und optisch an geschmolzenes Terkonit erinnerte. Im Licht zahlreicher Anuupi-Verbände, die sich wie Quallenschwärme mit ihren leuchtenden Körpern in der Luft ballten, starteten mehrere Großraumgleiter in verschiedene Richtungen. Es sah nach einer laufenden Evakuierung aus.

Die Stadt selbst wies weniger Zerstörungen auf, als Toufec befürchtet hatte. Zwei Gebäude, die den kugelförmigen Schiffen der Onryonen geähnelt haben mochten, lagen wie die zerbrochenen Schalen eines ballonförmigen Rieseneis auf dem Mondboden.

Zwei von über dreihundert Wohnblocks, die intakt aussahen.

Shanda zeigte nach oben. »Was ist das?«

Toufec hob den Kopf. Bisher hatte er gedacht, das düstere rote Licht rühre von den Anuupi-Verbänden der einzelnen Schutzsphären her. Aber das tat es nicht. Hoch über ihnen, in der Unendlichkeit hinter dem Repulsorwall, waberte eine rötliche Wolke. Breite Formationen leckten wie eingefrorene Zungen hindurch. Zwei winzige düstere Punkte glommen darin. Sie stierten ihn an wie die Augen eines wütenden Gottes.

Unvermittelt fühlte Toufec sich schutzlos. »Was auch immer da oben ist, es ist nicht mehr die Indifferenzspur, auf der Luna unterwegs gewesen ist. Wir haben angehalten.«

»Das ist ja großartig! Endlich eine gute Neuigkeit.«

Toufec schickte über Pazuzu Sonden aus. »Abwarten.«

Shanda schwebte näher an ihn heran. Sie tippte gegen ihren Helm. »Ich habe eine Nachricht bekommen. Quinta Weienater ist ganz in der Nähe.«

Toufec gelang es nicht, den Blick von dem Wabern im All zu nehmen. Waren das Neutronensterne? Wenn ja, hatten sie ein Problem.

Shanda flog los. »Komm! Bevor die Onryonen die Funkquelle orten.«

Sie ließen den Kraterwall hinter sich und stießen auf die fahlgrüne Ebene vor, die aus kränklich aussehendem Metall bestand und die gesamte Mondoberfläche bedeckte. Bisher hatte Toufec die künstliche Kruste mit ihren insektenartigen Säulen, den skurrilen Verwerfungen und absurden Mustern in ihren Bann gezogen. Doch alles, was er in diesem Moment wahrnahm, war das düstere rote Wabern im All. Die Plasmawolke, in der vielleicht zwei sterbende Sonnen darauf warteten, ihn mit in den Tod zu reißen.

Pazuzu entdeckte den Gleiter nach kurzer Suche. Seine Sonden gaben Toufec die Position an.

Quinta Weienater hatte entgegen der Vereinbarung nie den Rückweg nach Luna City angetreten. Stattdessen hatte sich die Frau aus dem Widerstand in der Miniatur einer Technohaube versteckt, die den Gleiter nahezu passgenau einhüllte. Die Innenseiten des Geflechts waren dunkel verfärbt. Die Widerständlerin musste vor dem Parken im SERUN vorausgeflogen sein und die Oberfläche mit einer Schicht versehen haben, die eine visuelle Ortung unmöglich machte.

Sie näherten sich per Gravopak, landeten und stiegen in den Gleiter.

Die Türen senkten sich und rasteten mit einem leisen Klicken ein.

Toufec fühlte Erleichterung, die Wände des Gleiters zwischen sich und dem roten Glimmen zu haben.

Quinta drehte sich zu ihnen um. Ihr Gesicht wirkte ausgemergelt, die Augen fiebrig. »Pri hat sich gerade gemeldet. Wir sind so was von ... verloren.«

Toufec setzte sich. »Es sind Neutronensterne.«

Shanda, die eben das Haltefeld aktivieren wollte, hielt in der Bewegung inne. »Neutronensterne?«

»Ja. Extreme Dichte, extreme Strahlung.« Quinta startete und gab Vollschub. Das Technogeflecht jagte unter ihnen dahin. »Ohne den Repulsorwall wären wir längst tot. Wir werden angezogen. Es wird Luna in wenigen Tagen zerreißen.«

»Aber ...« Shanda krallte die Finger in die Lehnen des Pneumositzes. »Das heißt, dass wir sterben.«

Quinta starrte auf das Technogeflecht, das sich im Widerschein des Plasmas schmutzig rot verfärbte, als wäre es entzündet. »Ganz genau.«

2.

Jenseits des Repulsorwalls

Iacalla. Raumüberwachungszentrum.

 

»Drei, zwei, eins – Start!« Menthennar Zariy stand vornübergebeugt an der Konsole, die goldenen Augen zusammengekniffen. Der hagere Körper zitterte vor Anspannung.

Bonthonner Khelay betrachtete die Cheftechnikerin und Einsatzleiterin neben sich. Sie war alt. Fast so alt wie Fheyrbasd Hannacoy, der auf ihrer anderen Seite saß. Die schwarze Haut in Zariys Gesicht war borkig, zwei Alterstropfen hingen wie geronnenes Gelee an der Schläfe. Statt sich diesen Makel entfernen zu lassen, trug Zariy ihn mit sichtlichem Stolz. Die Tropfen standen für ihr Können und ihre Erfahrung. Sie hatte das Kontrollzentrum Iacalla-Taa und die besten Techniker Lunas unter sich.

Auf dem Holo vor Khelay zeigte sich in Miniatur, was auch das riesige Raumholo vor den beiden halbkreisförmig angeordneten Arbeitsstationen übertrug: ein kugelförmiges Beiboot, kaum fünfzig Meter durchmessend und unbemannt, das hundert Kilometer von Iacalla entfernt in einer geraden Linie nach oben schoss. Die KAATIR. Auf ihrem runden Leib lag die Hoffnung ganz Lunas.

Die fünf Techniker an den Stationen vor Khelay beobachteten das Schiff ebenso lautlos wie Hannacoy und die beiden Mediker, die sich im Hintergrund hielten.

Nur Serhi Tanjung, der Genifer, stieß abgehackt die Luft aus. Der Laut klang überdeutlich in der angespannten Stille.

Tanjung lag auf einer grün glänzenden Liege in der Raummitte zwischen dem großen Holo und den Arbeitsstationen. Seine Hände steckten in metallischen Handschuhen, deren Fingerspitzen in zehn Vertiefungen in der Sitzlehne verschwanden. Dort verschmolz das Metall mit dem Übertragungsmaterial und verband Tanjung mit dem Genius, der die Operation durchführte. Der Genius wertete sämtliche Daten aus, die das Schiff sammelte und aussendete. Tanjung war die Schnittstelle, die biologischen Augen und Ohren der KAATIR.

Die KAATIR veränderte ihre Fluglinie und ging in eine Kreisbahn um Luna.

Khelay lehnte sich im Sessel zurück.

Der schwache Geruch nach Satheki-Blüten lag in der Luft. Es war nur eine Nuance, dafür gedacht, den Technikern dabei zu helfen, entspannt zu bleiben. Khelays Emot prickelte unwillkürlich, als er den Duft einatmete. Er hatte eine seiner Töchter nach der sternförmigen Blüte benannt, die sich in den Praeterital-Kolonien großer Beliebtheit erfreute.

Satheki. Was sollte er ihr und ihrer Schwester sagen, falls diese Mission keinen Erfolg brachte? Es tut mir leid, aber ihr müsst jetzt in den Feuerschlaf gehen.

Die KAATIR sollte hinter dem Repulsorwall Daten sammeln, einen Hilferuf absenden, ihnen mithilfe von Sonden und Messungen irgendwie einen Ausweg aus der völlig abstrusen Situation aufzeigen.

Irgendwie. Das war das Wort, über das Bonthonner Khelay seit mehreren Stunden immer wieder stolperte. Alles war unscharf geworden. Während er in einem kreisrunden Raum mit klaren geometrischen Strukturen saß, umgeben von messerscharfen Bildern, war für ihn nichts mehr klar. Über Nacht hatte die Sabotage des Widerstands Luna in ein Chaos gestürzt, das seine Pläne und Absichten durchkreuzte und Khelay an einen Abgrund führte.

Sein Blick glitt zu Ryotar Hannacoy, der konzentriert zusah, wie die KAATIR ihre Kreisbahn um Luna absolvierte. Der Kanzler hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als ausgerechnet die Widerständler um Mithilfe zu bitten. In vier Stunden stand ein Treffen auf der gegenüberliegenden Mondseite an – zwischen den Onryonen und Pri Sipiera samt einiger ihrer Anhänger.

Khelays Emot brannte, als er daran dachte.

Ausgerechnet die Widerständler, die die Schuld an der Situation trugen. Ohne sie wäre Luna niemals in diesem extremen System gestrandet.

Wenn wenigstens die Tolocesten gute Neuigkeiten gehabt hätten! Laut der Lampionköpfe war ein Verlassen des Systems unmöglich. Die gravitativen Verhältnisse verhinderten einen Zug. Dazu kam erschwerend, dass das Priorat durch das vom Widerstand initiierte Gravofeld massiv geschädigt worden war. Es konnte Tage dauern, sämtliche Synapsen zu reparieren.

Tage, die sie nicht hatten.

»Die KAATIR tritt in die zweite Umrundung ein. Höhe auf viertausend Kilometer.« Zariys Stimme stand in starkem Kontrast zu ihrem zitternden Körper. Hätte man nur ihre Worte gehört, man hätte denken können, sie wäre die Ruhe selbst. »Bist du einsatzbereit, Tanjung?«

»Das bin ich.«

Khelay sah über die Arbeitsstationen vor sich und betrachtete den Genifer. Er trug ein schlichtes fahlgelbes Gewand. Tanjung trug es immer. Es war eine Absage an die bunte Kleidung, die ihn umgab. Er wollte sich bewusst von anderen Onryonen abgrenzen und besonders sein.

Dagegen ließ sich nicht viel sagen, denn Tanjung war besonders. Seine Fähigkeiten als Genifer ragten heraus. Dennoch blieb Tanjung der ewige Zweite, denn sein Können verblasste, sobald Aytosh Woytrom den Raum betrat. Und das war bitter für Tanjung.

Es wäre Khelay lieber gewesen, Aytosh Woytrom, den besten Genifer, für diese Mission einzusetzen.

Woytrom arbeitete allerdings mit NATHAN unter Hochdruck an der Wiederherstellung des Priorats, damit das Transpositornetz schnellstmöglich wieder einsatzbereit war.

Die KAATIR ging in die nächste Umrundung. Sie war ein dunkler Punkt vor dem rot leuchtenden Wabern, das Luna umschloss.

Zariy hielt die dunklen Hände am organisch wirkenden Pult aufgelegt. Anscheinend hatte die Cheftechnikerin nicht vor, sich während der Mission hinzusetzen. »Höhe auf achttausend. Freischaltung der Strukturschleuse am unteren Pol vorbereiten. Letzte Berechnungsüberprüfung starten.«

Die KAATIR nahm immer mehr Fahrt auf.

Khelay dachte an die Neutronensterne, die wie vier rote Augen im Wabern der Plasmawolke hingen. Er war in Shekval Gennerycs Abwesenheit der höchste Militärkommandant Lunas. Aber was sollte er gegen einen Feind ausrichten, der zwar vier Augen, jedoch kein Gesicht hatte? Gegen Tefroder, Terraner oder Jülziish hätte er kämpfen können. Dieser Schrecken dagegen verdammte ihn auf die Zuschauerbank.

Langsam löste Zariy die Hände von der Konsole. Sie stand wackelig auf den Beinen, doch ihre Stimme war so fest wie zuvor. »Höhe auf 11.000. Tanjung?«

»Alles in Ordnung. Sämtliche Funktionen laufen. Die KAATIR ist einsatzbereit. Verstärkter Schutzschirm auf hundert Prozent. Geraffter Funkspruch wird fortwährend ausgestrahlt. Außenoptiken übertragen stabile Bilder.«

Eine Weile war nichts zu hören außer dem leisen Sirren verborgener Aggregate.

Zariys Emot pulsierte schneller. »12.200. Unteres Schleusentor ist freigeschaltet. Tanjung?«

»Eintritt in ... Gravitation erhöht ... Untere Schleuse geschlossen.« Ein Zittern lief über den Körper des Genifers.

In die Mediker seitlich hinter Khelay kam Bewegung. Khelay sah es aus den Augenwinkeln und drehte sich um. Die beiden Blaugekleideten kontrollierten auf einem eigenen Holo Tanjungs Werte und unterhielten sich flüsternd.

Auf dem Holo stieß die KAATIR durch das obere, unsichtbare Schleusentor. Sie war dem Neutronenstern, der Luna anzog, kaum näher gekommen. Wie ein dunkler Punkt hob sie sich vom düsterroten Hintergrund ab.

»Es packt mich ... es ...« Zuckungen überkamen Tanjung. Sein Körper bäumte sich auf. Er schlug den Kopf so heftig nach links und rechts, als wolle er sich selbst das Genick brechen.

Im Holo flackerte der Schutzschirm auf wie eine Kerze. Es riss die KAATIR auseinander. Es ging innerhalb einer Sekunde, so schnell, dass man nicht einmal Trümmerstücke sah. Wo eben noch der aufleuchtende Punkt gewesen war, war nun nichts als das rote Glimmen.

Tanjung schrie.

Zariy beugte sich vor. »Obere Schleuse schließen! Verlagerungen der Energien auf die Schwachstelle!«

Hektische Aktivität brach aus. Sämtliche Techniker arbeiteten auf Hochtouren.

Ein Mediker sprang auf und lief auf Tanjung zu. Ein Medorobot begleitete ihn. Er rollte den Ärmel des blassgelben Gewands hoch und drückte Tanjung ein handtellergroßes Gerät auf die Haut. Das Zittern des Genifers ließ augenblicklich nach.

Alarm heulte auf, hoch und schrill wie die Schreie eines gefolterten Maschinenwesens. Das Holo wechselte und zeigte schematisch den Strukturdurchgang. Die Schleuse hatte die Form einer Kugel. An ihrem oberen Pol leuchtete es unangenehm grell, ein Zeichen höchster Gefahr. Wenn die Lücke am Pol sich nicht schloss, konnte auch der Rest der Konstruktion Schaden nehmen. Der Wall drohte an der Schwachstelle einzureißen.

Hannacoy stand auf. »Schließt das Strukturtor!«

Eine Vernichtung des Repulsorwalls würde tödliche Strahlung über Luna ergießen. Dazu kamen die gewaltigen gravitativen Kräfte, die in den vorbelasteten Städten zu Katastrophen führen mussten. Selbst wenn die Notfall-Paratronschirme die Strahlung abhielten – Luna würde so schnell und endgültig untergehen wie die KAATIR.

Khelay schloss die Augen. War es das? Würde er auf Luna sterben? Er hatte noch viel vor.

»Energie umgeleitet!« Zariys Emot strahlte fast so hell wie die Warnmeldung.

»Es ... zerreißt ...«, stammelte Tanjung. Er schloss die Augen. Sein Kopf fiel zur Seite. Offensichtlich hatte er das Bewusstsein verloren.

Trotzdem lief das Bild weiter. Die Helligkeit der Darstellung ließ nach.

Khelay stieß die Luft aus und merkte erst in diesem Moment, wie fest er seine Finger ineinandergekrampft hatte.

Ein harter Laut, der wie ein Husten klang, kam von Zariy. »Strukturlücke geschlossen. Janthur, du übernimmst!«

Zariy drehte sich von der Arbeitskonsole fort und rannte aus dem Raum. Ihr Emot leuchtete gefährlich intensiv. Sie hatte es in der Anspannung überhitzt. Wenn sie nichts dagegen unternahm, konnte ihr Kreislauf kollabieren.

Der Techniker Janthur stand auf. »Der Funkspruch wurde abgestrahlt. Die Wahrscheinlichkeit, dass er das hyperphysikalisch chaotische Umfeld Lunas passiert hat, geht gegen null. Unsere bisherigen Berechnungen wurden bestätigt. Erste Auswertungen durch den Genius liegen vor. Eine Flucht Lunas ist unmöglich.«

Die Mediker halfen dem Genifer beim Aufstehen. Eine Medoliege schwebte heran.

Hannacoy setzte sich wieder. »Ein Fehlschlag also. Unsere Hoffnungen waren unbegründet. Wir müssen uns darauf konzentrieren, gemeinsam mit dem Widerstand eine Lösung zu finden.«

Gemeinsam mit dem Widerstand? Was für ein Hohn!

Khelay wandte das Gesicht ab und stand auf. Er folgte Zariy eine Etage tiefer in einen Nebenraum. Er wollte Hannacoy nicht mehr sehen.