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Für Kilian und Fillip

In ehrendem Gedenken an die Volksbuchhandlung Nebra und ihre langjährige Leiterin, Frau Ilse Töpfer.

Sie lehrte mich die Achtung vor den Büchern, vermittelte mir die Macht der Literatur und die Liebe zu allem, was zwischen zwei Buchdeckel passt.

Ihr ist diese Buchreihe gewidmet.

Rudolstadt im Oktober 2014 Jörg F. Nowack

Inhaltsverzeichnis

Wenn ein Buch die Kraft besitzt,

dass ich mich in seiner Gesellschaft vergessen kann,

dann werde ich zum Leser.

Jakob Wassermann

Liebe Leserin, lieber Leser!

Herzlichen Dank, dass Sie mein Buch in Ihren Händen halten! Ich lade Sie ein zu einer Reise in die Welt der Bücher! Ich selbst bin praktisch in einer Buchhandlung aufgewachsen. Dementsprechend eng war schon immer meine persönliche Bindung zu Büchern.

Noch bevor ich zur Schule kam, quälte ich meine Mutter und andere Erwachsene, mir vorzulesen, was mir unter die Augen kam. Mein Lieblingsbuch hatte ich, da ich nun mal noch nicht lesen konnte, einfach auswendig gelernt. Als mir eine Bekannte dann daraus vorlas und eine Stelle nicht korrekt wiedergab, verbesserte ich sie nachdrücklich. Die Arme war darüber so erschrocken, dass sie mir niemals wieder etwas vorlesen wollte!

Bereits in der Grundschule hatte ich mindestens 100 Bücher gelesen und es sollten Tausende werden, die ich im Laufe der Zeit las. Ich las alles, was interessant, was spannend und was angesagt war. Doch niemals las ich aus Langeweile, denn Lesen ist das Leben pur. In Büchern sind Erfahrungen, die man nicht selbst machen muss! Bücher gehören für mich zum Leben, zu einer humanistischen Erziehung und Bildung einfach dazu. Bücher sind Leben!

Nun, da ich bereits Enkel habe, denke ich darüber nach, wie ich ihnen die Leidenschaft zum Buch mitgeben, wie ich den Virus des Lesens in ihnen wecken kann.

Die Lösung: Ich schreibe selbst ein Buch. Ein Buch, in dem es um Bücher und das Lesen geht, um die Geschichte des Buches, die Geschichte der Schrift und um die Menschen, die die Bücher ›machen‹. Dieses Buch heißt »Kinkerlitzchen für die Leselust«. In diesem Buch steckt sehr viel von mir, obwohl ich in keiner der Figuren zu erkennen bin. Vielmehr steckt ein kleiner Teil von mir in vielen der Figuren dieses Buches.

Nein, »Kinkerlitzchen für die Leselust« ist kein ausgesprochenes Kinderbuch. Ich freue mich aber sehr, wenn Sie, geschätzte Eltern, Großeltern, Paten, Lehrer und Erzieher dieses Buch ihren Schützlingen näherbringen, damit auch sie aus gemachten Erfahrungen lernen können und vom Virus des Lesens infiziert werden. Denn dieser Virus ist der Einzige auf der ganzen Welt, der das Leben schönermacht, es verlängert und dazu führt, dass sich gleichgesinnte Menschen begegnen.

Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass Lesen nicht eine Frage des Mediums ist. Mir geht nichts über ein schönes Buch, das gut gestaltet ist und dem man ansieht, wenn es oft gelesen wurde. Denn nichts ehrt den Autor mehr, als wenn sein Buch von Hand zu Hand geht und begeistert gelesen wird.

Doch auch am Bildschirm kann man sehr gut lesen. Egal, ob es der eines Rechners, eines Klapprechners, eines Tabletts oder der eines Lesegeräts für elektronische Bücher ist. Lesen ist universell und wir sind gut damit beraten, wenn wir unseren Nachkommen nicht vorschreiben, von welchem Medium sie lesen sollen. Die Hauptsache ist, sie lesen! Denn stellen Sie sich bitte vor, die Menschen der Steinzeit hätten ihren Nachkommen vorgeschrieben, sie dürften nur lesen, was in Stein gemeißelt ist. – Wo wären dann all die Bücher, die bekannte oder unbekannte Autoren mit ihrem Herzblut geschrieben haben?

Nun möchte ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, sehr viel kurzweiliges Lesevergnügen bei der Lektüre des ersten Teils der »Kinkerlitzchen« wünschen! Meine größte Freude soll ihre Begeisterung für meinen Text sein.

Herzlichst Ihr Jörg F. Nowack

Unterschriften

»Abgemacht!« Cornelius Nebukadnezar Schmerbauch rieb sich die Hände.

»Abgemacht!«, erwiderte Felix Grimmig und streckte seine Rechte aus. Schmerbauch schlug ein. Die Männer waren sich einig.

Sie saßen in der Bibliothek des Kinkerlitzchen-Verlags auf zwei mit rotem Leder gepolsterten Sesseln. Um sie herum standen große Regale, die bis zur Decke reichten und in denen Hunderte Bücher ihr Zuhause hatten. Im Raum herrschte ein angenehmes, für bedrucktes Papier günstiges Klima. Der Hausherr und sein Gast fühlten sich sichtlich wohl.

Cornelius Nebukadnezar Schmerbauch war ein stattlicher Mann in den besten Jahren. Er hatte blonde, kurzgeschnittene Haare, die von ersten grauen Strähnen durchzogen waren. Er trug eine Brille mit einem dünnen Goldrahmen und einen dunkelblauen Anzug, aus dem ein weißer Hemdkragen herausschaute. Vor dem Kragen seines Hemdes befand sich eine etwas altmodisch wirkende Fliege. Deren Muster wiederholte sich auf dem Einstecktuch, das aus der Tasche schaute, die auf der linken Brustseite seiner Anzugjacke angebracht war. Die Füße des Älteren steckten in dunklen Strümpfen und schwarzen Schuhen. An Schmerbauchs linker Hand glitzerte ein goldener Siegelring, den er niemals ablegte. Außerdem trug er an der rechten Hand einen dünnen goldenen Ehering. Cornelius Nebukadnezar Schmerbauch war der Verleger des Kinkerlitzchen-Verlags.

Im Sessel gegenüber hatte Felix Grimmig platzgenommen. Er war Autor und hatte ein neues Buch geschrieben. Die Planung sah vor, dass es zu Beginn des Weihnachtsgeschäfts erscheint. Jetzt war Anfang Mai und bis dahin würde noch viel Arbeit nötig sein. Es sollte ein gutes Buch werden und alle Details an ihm stimmen. Felix Grimmig hatte seine dünnen, aschblonden Haare mit einem Schnippgummi zu einem kleinen Pferdeschwanz gebunden. Auf seiner Nasenspitze saß eine kreisrunde Brille, ohne die ihr Besitzer nicht lesen konnte. Alles, was kleiner war als der Titel einer Zeitung, verschwamm nämlich vor seinen blaugrauen Augen. Er selbst dachte, er hätte in seinem Leben schon zu viel gelesen und deshalb seien seine Augen mit der Zeit immer schlechter geworden.

Grimmig war klein, dünn und hatte Äuglein, die unstet umherhuschten. Seine Brille saß auf einer ziemlich spitzen Nase. Er trug ein kariertes Hemd über einer fadenscheinigen Jeans, die auch schon bessere Tage gesehen hatte. Seine nackten Füße steckten in Jesuslatschen.

Felix Grimmig war das absolute Gegenteil zur Erscheinung von Cornelius Nebukadnezar Schmerbauch. Der stellte den Typ eines erfahrenen Geschäftsmannes dar. Grimmig dagegen wirkte noch immer wie ein – mittlerweile etwas in die Jahre gekommener – Student.

»Dann können wir jetzt zur Vertragsunterzeichnung kommen«, sagte der Hausherr.

Er schlug die rote Ledermappe auf, die auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen lag. Darin befanden sich zwei Exemplare des Verlagsvertrags für Grimmmigs Buch. Der Verleger zog die Mappe mit der linken Hand heran und griff mit der rechten Hand in die linke Innentasche seiner Anzugjacke.

Als diese Hand wieder erschien, hielt sie einen goldenen zylinderförmigen Gegenstand umfasst, den er nun öffnete. Zum Vorschein kam eine goldglänzende Feder aus erstklassigem Metall, die hochwertig eingefasst war. Es war der Füllhalter, den er ausschließlich dazu benutzte, um Übereinkommen mit Autoren zu unterzeichnen.

Bedächtig, aber wiederum schwungvoll setzte er das aktuelle Datum und seinen deutlich lesbaren Namenszug unter den ausgehandelten Vertrag. Sanft glitt die zarte Feder über das edle Papier. Sie hinterließ auf ihrem Weg, den ihr die Hand Schmerbauchs wies, eine dünne Spur aus dunkelblauer, nass schimmernder Tinte. Kein überflüssiges Kratzen störte diesen Akt des Schreibens. In jenem Moment vollzog der Verleger eine beinahe weihevolle Handlung. Er erhoffte, durch diesen Kontrakt abermals ein Buch zu veröffentlichen, welches den guten Ruf seines Verlags festigen würde. Obendrein war die Fertigkeit des Schreibens eine der Künste, die auch heute noch in ähnlicher Form wie schon vor Urzeiten praktiziert wurden.

Andächtig sah er auf das Papier, auf dem sich die Spur der Feder noch immer feucht abzeichnete.

Nun nahm Schmerbauch einen altmodischen, halbrunden Löschpapierhalter aus dunklem Holz zur Hand und rollte ihn wiegend über die feuchte Linie. Damit hatte er die entbehrliche Tinte weggelöscht und die Gefahr war gebannt, dass sie durch eine Unachtsamkeit verwischen könnte. Anschließend vollzog er bei der zweiten Ausfertigung des Vertrags ebenso andächtig dieselben Schritte.

Als er fertig war, verschloss er den Füllhalter sorgfältig und ließ die golden schimmernde Röhre wieder dort verschwinden, von wo er sie hervorgeholt hatte.

Dann schob er die rote Mappe zu Grimmig hinüber.

Der zückte mit der linken Hand einen billigen Kugelschreiber mit einem bunten Werbeaufdruck und klickte die Miene heraus. Er legte mit der rechten Hand die beiden Exemplare des Abkommens so, dass die Unterschriftenfelder gut sichtbar übereinander lagen. Nun unterzeichnete er ebenso schwungvoll wie Schmerbauch. Im Gegensatz zu diesem unterschrieb er viel schneller und völlig unleserlich die eine und sofort danach die zweite Ausfertigung. Grimmig schrieb mit links.

Nach diesem Akt, der ihn einige Anstrengung gekostet hatte, steckte er den Kuli wieder in seine Hemdtasche und schob die Mappe zum Verleger hinüber. Dann lehnte er sich im Sessel zurück und streckte beide Füße weit von sich. Nun rieb er sich die Hände.

»Jetzt noch einen Schluck Ihres guten Freyburger Sekts und ich kann das Leben wieder genießen!«

»Unsere Frau Puschenzickel wird Ihnen in den nächsten Tagen Ihr Exemplar des Vertrags per Post zusenden und sicher auch Ihren Vorschuss umgehend anweisen«, sagte der Hausherr. »Was den Sekt angeht, möchte ich Sie in unseren Pausenraum bitten. Sie wissen ja, die Bücher!«

»… vertragen keine Feuchtigkeit jedweder Art, ja ja, ich weiß, Herr Schmerbauch! Das haben Sie mir schon oft genug gesagt.«

»Es gibt noch einige Grundregeln mehr im Umgang mit Büchern, die ich mein Leben lang eingehalten habe, Herr Grimmig. Bisher ist es mir damit ausgesprochen gut ergangen. Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Regeln breits als kleiner Junge erlernen durfte. Ich überlege schon eine ganze Zeit, ob ich diese Grundsätze in einem ›Brevis liber de libro‹, einem ›Kleinen Buch über die Bücher‹ zusammenfassen und sie jedem, der es möchte, zugänglich machen sollte.«

»Mein lieber Herr Schmerbauch, das wird ganz sicher ein Bestseller, davon bin ich überzeugt. Doch mit meiner trockenen Kehle kann ich Ihren bedeutsamen Ausführungen leider nur noch sehr bedingt Folge leisten.«

»Na dann kommen Sie! Wir wollen auf unseren Vertrag anstoßen, wie es sich gebührt«, sagte Cornelius Nebukadnezar Schmerbauch und stand auf. »Frau Puschenzickel erwartet uns sicher schon.«

Die beiden völlig unterschiedlichen Männer verließen die Bibliothek. Die Tür schloss sich hinter ihnen.

Der Verlag

Der Kinkerlitzchen-Verlag hatte seinen Sitz in der Buchstadt Leipzig. In einem sehr modern, aber durch die historische Fassade gediegen wirkenden Haus hatte der Verlag die vierte Etage gemietet. Das Haus aus der Blütezeit der Leipziger Buchkunst in der Inselstraße hatte vor fünfzehn Jahren praktisch noch auf der Abrissliste gestanden. An der Fassade des Gebäudes konnte man noch immer die alten, mittlerweile von Meistern ihrer Kunst wieder hergestellten Verzierungen erblicken, welche das Haus, das im Graphischen Viertel Leipzigs stand, schmückten. Hier, im Reclam Carrée, waren schon vor zirka hundert Jahren wundervolle Bücher gemacht worden. An diese Tradition knüpfte der Kinkerlitzchen-Verlag an. Das ganze Herz Schmerbauchs hing an ihm.

Das Büro des Verlegers lag am Ende der Büroetage, die er vor etwa zehn Jahren gemietet hatte. Doch er nannte dieses Büro, so wie es in vergangen Zeiten üblich war, liebevoll sein ›Contor‹. Von diesem Contor aus hatte er einen guten Ausblick zur Leipziger City.

Schmerbauch saß an seinem Schreibtisch und las ein Exposé auf seinem Klapprechner. Ein Exposé stellt eine kurze Inhaltsangabe eines literarischen Werkes dar, die der Autor für den Verlag verfasst hat.

Hinter Herrn Schmerbauch, doch von ihm völlig unbeachtet, fand soeben ein beeindruckender Sonnenuntergang statt. Der Schreibtisch war aufgeräumt. Nur der Klapprechner, welcher drahtlos mit den Servern verbunden war, und eine Akte, die an der Seite lag, störten die Leere der Schreibtischplatte. Zumindest, wenn man von der Kupferstatuette und drei in rotes Leder gebundene Bücher einmal absah. Diese beiden Dinge hütete der Verleger schon seit Jahrzehnten wie seinen Augapfel. Die Statuette stellte Faust und Mephistopheles in Auerbachs Keller dar, die Bücher waren eine alte Ausgabe von Goethes »Faust«. Von beiden Dingen wollte sich Cornelius Nebukadnezar Schmerbauch um keinen Preis der Welt trennen.

Seitlich des Schreibtischs befanden sich an einer sonst freien Wand vier Stiche, die das alte Graphische Viertel zeigten. Sie umrahmten ein Bildnis Johannes Gutenbergs. An der gegenüberliegenden Wand fanden sich Fotos aus dem Betrieb, wie er jetzt war. Neben diesen hingen einige Fotos aus der Zeit, bevor das Gebäude modernisiert worden war. Auf ihnen sah man, wie heruntergekommen das ganze Objekt in jener Ära gewesen war.

Die Möbel im Contor des Verlegers waren halbhoch und in einem hellen Holzton gehalten. Das gab dem Raum eine behagliche Atmosphäre. Und dadurch wirkte der Raum viel größer, als er im Grunde war. Cornelius Nebukadnezar Schmerbauch fühlte sich in seinem Contor ausgesprochen wohl.

Es klopfte.

Die hell gemaserte Holztür öffnete sich leise und herein kam Frau Isolde Puschenzickel, Ihres Zeichens Verlagsorganisatorin des Kinkerlitzchen-Verlags. Sie residierte als solche im Vorzimmer des Verlegers. Der bezeichnete sie nicht zu Unrecht als seine rechte Hand. Es gab keine Entscheidung, die er nicht mit ihr besprach, obwohl er sich stets das letzte Wort vorbehielt. Auf die oft intuitiven Urteile der Frau Puschenzickel konnte sich Cornelius Nebukadnezar Schmerbauch immer verlassen. Isolde Puschenzickel war dem Verlag und seinem Verleger treu ergeben. Schmerbauch hatte sie, als der Verlag in die Räume im Graphischen Viertel gezogen war, unter zig Bewerberinnen ausgewählt. Und das, obgleich sie eine der Ältesten in dieser Runde gewesen war. Sie war arbeitslos geworden, nachdem die Firma, in der sie vor jener Zeit gearbeitet hatte, in Insolvenz gehen musste. Auch schon in ihrem Alter war Arbeitslosigkeit oftmals gleichbedeutend mit dem Absinken in die persönliche Bedeutungslosigkeit. Die wurde oft gefolgt von totaler sozialer Ausgrenzung bis zum Eintritt in das Rentenalter und darüber hinaus.

Doch Isolde hatte Glück. Bereits einen Monat, nachdem sie ihre Kündigung erhalten hatte, fand das Bewerbungsgespräch statt, welches zu ihrer Einstellung als Verlagsgehilfin im Kinkerlitzchen-Verlag geführt hatte. Durch ihre gute Arbeit war sie dem Verleger bald sehr positiv aufgefallen. Und so stieg Isolde Puschenzickel bald zur Verlagsorganisatorin auf und bekam einige äußerst bedeutsame Aufgaben übertragen.

Ein feiner Hauch des Parfums, das Isolde Puschenzickel dezent aufgelegt hatte, wehte dem Verleger in die Nase. Cornelius Nebukadnezar Schmerbauch sah von seinem Klapprechner auf und Isolde Puschenzickel direkt in ihr apartes Gesicht. Die stand lächelnd vor dem Schreibtisch. Sie hatte die Unterschriftsmappe unter dem Arm. Die wollten sie gleich gemeinsam durchgehen wie jeden Tag um diese Zeit.

Schmerbauch war dankbar, dass eine verlässliche Person wie Isolde Puschenzickel seine rechte Hand war. Sie wusste über alle Vorgänge im Verlag bescheid und war in allen Belangen jederzeit auskunftsbereit. Mittlerweile kannte sie die meisten Zulieferer und Dienstleister, mit denen der Kinkerlitzchen-Verlag geschäftlich verbunden war. Auch die Kontaktleute in den jeweiligen Unternehmen konnten sich niemand Besseren auf diesem Posten wünschen. Stets war Isolde freundlich und aufgeschlossen. Sie hatte für jedermann ein gutes Wort übrig und sie sah sofort, wenn einen der Schuh drückte.

»Frau Puschenzickel!«, rief Schmerbauch, als hätte er ihr Hereinkommen erst jetzt bemerkt. Und nach einem kurzen Blick auf die Uhr seines Rechners: »Sie sind pünktlich wie immer! Bitte nehmen Sie doch Platz und gedulden Sie sich einen Augenblick, bis ich das Exposé hier zu Ende gelesen habe!«

»Na klar, vielen Dank, Herr Schmerbauch!«, ließ sich die Verlagsorganisatorin vernehmen und setzte sich auf einen Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. Sie hatte eine angenehm dunkle Stimme, die sie nur wenig erheben musste, um an allen Stellen im Raum gut verstanden zu werden. Sie legte die Mappe auf ihre Knie und verschränkte die Hände darüber.

Isolde Puschenzickel war einige Jahre jünger als der Verleger. Sie hatte knallrote Haare und eine etwas korpulente Figur, trug jedoch stets Kleidung, die dieser schmeichelte. So auch heute. Ein dunkelgrauer, einfarbiger Rock wurde perfekt von ihrem kanariengelben Blazer ergänzt. Der war günstig geschnitten, sodass ihre ausladenden Hüften viel schmaler erschienen, als sie es waren. Eine hellgelbe Seidenbluse und ein grüner Schal, der perfekt mit ihrem roten Haar kontrastierte, vervollständigten heute ihr Ensemble. Ein Paar graue Pumps ergänzten ihre Garderobe.

Nach wenigen Minuten wandte sich der Verleger vom Bildschirm ab. Er schrieb etwas auf ein Blatt Papier. Dazu benutzte er einen Bleistift, den er aus einer Schublade des Schreibtischs genommen hatte. Als er damit fertig war, legte er beides auf die Tastatur des Klapprechners und schob diesen etwas nach hinten. Somit war nun Platz für die Unterschriftenmappe, die die Verlagsorganisatorin mitgebracht hatte.

»Was gibt’s Neues, Frau Puschenzickel?«, fragte der Verleger seine Vertraute.

Sie zog ihre Stirn in Falten. »Ich kann das ja nicht beurteilen, Herr Schmerbauch. Aber die Höhe des Vorschusses, den ich an diesen Herrn Grimmig überweisen soll, erscheint mir unangemessen hoch. Was versprechen Sie sich nur von diesem Büchlein, das er geschrieben hat? Und dann noch der Titel: ›Die Fee Leselust‹! Soll das wirklich so ein Renner werden?« Sie blickte ihn aus ihren strahlenden smaragdgrünen Augen fragend an.

»Wissen Sie, liebe Frau Puschenzickel, Bücher liegen mir sehr am Herzen. Das ist schon so, seit ich in meiner Kindheit in der Buchhandlung meines Onkels ein- und ausgegangen bin. Besonders wichtig ist es mir natürlich, dass alle Kinder begeisterte Leser sind. Denn nur so können die Bücher, die eine große Macht besitzen, in ihnen immer weiterleben. Leider wird heute in vielen Schulen und auch von manchen Eltern und Großeltern versäumt, dem Nachwuchs das Virus des begeisterten Lesens einzupflanzen.« Die Miene des Verlegers verdunkelte sich. »Das sehe ich ja an meinem Enkelsohn Tim. Der kann zwar prima lesen, hat aber noch kein einziges Buch bis zum Ende geschafft. Ich dagegen hatte in seinem Alter bereits über fünfzig Bücher gelesen! Aber er sieht sich lieber eine Buchverfilmung im Kino oder Fernsehen an. Noch lieber surft er aber im Internet und vergisst dabei völlig, dass ein Computer nur ein Instrument zur Erfüllung bestimmter Aufgaben ist. Das eigentliche Genie ist hier oben drin.« Er tippte an seine Stirn. Dann fuhr er fort: »Und zwar bei jedem von uns! Darum möchte ich namentlich solche Bücher und ihre Autoren fördern, die dazu in der Lage sein können, den Virus des Lesens wieder mehr zu verbreiten. Vor allem natürlich unter den jungen Leuten. Und deshalb bekommt der Herr Grimmig seinen Scheck, auch wenn Sie, verehrte Frau Puschenzickel, ihn nicht besonders gut leiden mögen.« Er lächelte. »Und nun zeigen Sie mir bitte die Unterschriftenmappe!«

Draußen dunkelte es. Der Verleger saß noch immer an seinem Schreibtisch. Er las gerade ein neues Exposé, das ihm der Cheflektor zur Prüfung auf seinen Klapprechner geschickt hatte. Während des Lesens hatte er hin und wieder verwundert seinen Kopf geschüttelt.

Nun unterbrach er seine Lektüre. Er griff nach seinem Mobiltelefon, suchte eine Nummer heraus und rief an. Gleich darauf vernahm er aus dem Hörer das vertraute Rufzeichen.

»Schiller!«, meldete sich der Angerufene.

»Ich bin’s, Friedbert«, sagte Schmerbauch.

»Ah, Cornelius, was gibst’s?«, wollte der wissen. Er hatte seinen Freund an dessen Stimme erkannt.

»Kannst du bitte mal kurz in mein Contor kommen?«, fragte dieser zurück.

»In einer halben Stunde wollte ich ohnehin Feierabend machen. Wenn du bis dahin Zeit hast, komme ich, bevor ich gehe, noch bei dir rein.«

»Einverstanden!«, sagte der Verleger. »Aber vergiss es bitte nicht!«

»Natürlich nicht. Ich wollte dich ohnehin etwas fragen. Also bis dann, Cornelius!«

Dieser legte auf und steckte das Mobiltelefon zurück in seine Jackentasche. Erneut blickte er auf den Bildschirm und schüttelte noch einmal den Kopf.

Gut zwanzig Minuten später klopfte es an der Tür des Verlegers. »Komm nur rein, Friedbert!«, rief er.

Die Tür öffnete sich. Der Cheflektor des Kinkerlitzchen-Verlags trat ein.

Friedbert Schiller war ein kleiner, gedrungen wirkender Mann, der stets braune Cordanzüge trug. Er ließ sich auf die Ellbogen und die Unterarme der Jacken immer gleich, wenn er sie gekauft hatte, Flicken in einem anderen Braunton nähen. An den Ärmeln wurden die nämlich schnell etwas dünner. Diese Anzüge bezeichnete er selbst nur als ›Manchester-Anzüge‹, weil er sie als Kind unter diesem Namen kennengelernt hatte. Er sagte ›Mánchester‹ mit Betonung auf dem ›a‹. Zu diesen Anzügen trug er nichts als karierte Hemden. Heute hatte er eines an, dessen Hauptfarbe Grün war.

Der Verleger erhob sich und begrüßte seinen Cheflektor mit einem kräftigen Handschlag.

»Ich freue mich, dich zu sehen, Friedbert!«, sagte der Herr Schmerbauch, während er seinem alten Freund die Hand schüttelte. Obwohl sie im gleichen Haus saßen und oft an denselben Projekten arbeiteten, sahen sie einander manchmal tagelang nicht. »Ich freue mich auch, dich zu sehen, Cornelius«, sagte Friedbert Schiller und fuhr fort: »Auch wenn es viel zu selten ist, dass wir uns sehen, ist es jedes Mal schön, wenn wir uns unterhalten können.«

»Komm, nimm Platz, alter Junge!«, forderte Schmerbauch seinen Cheflektor auf.

Als der sich etwas umständlich auf einen Stuhl gesetzt hatte, sah er den Verleger gespannt an.

»Was macht das Manuskript des Buches von Felix Grimmig?«, fragte Cornelius seinen Freund. »Ist es schon bei dir angekommen?«

Der Cheflektor war etwas älter als sein Verleger und kannte sich mit der Bearbeitung von Manuskripten aus wie kein Zweiter. Er kannte die Rechtschreibung und die Grammatik der deutschen Sprache aus dem sprichwörtlichen Effeff und beherrschte den Computersatz perfekt.

»Das Manuskript ist heute gegen Mittag bei mir angekommen. Du brauchst diesen Grimmig also nicht zu mahnen«, meinte Friedbert. »Gleich am Wochenende werde ich mal drübersehen und mir einen Eindruck verschaffen, wie viel Arbeit nötig ist. Dann kann ich auch einschätzen, wem ich diese Arbeit anvertrauen werde. Ich habe das ausgedruckte Manuskript hier in meiner Innentasche.« Er klopfte auf sein Jackett, das dort, wo er hinklopfte, eine deutliche Beule hatte.

»Ich brauche dir ja nicht noch einmal zu sagen, dass dieses Buch sehr wichtig für uns ist. Es muss auch besonders gut werden!«, ermahnte ihn sein Chef. »Mir wäre es ja am liebsten, du würdest dich selbst darum kümmern können«, fuhr Cornelius fort.

»Und ich brauche dir auch nicht noch einmal zu sagen, dass ich mit der Neustrukturierung unserer Datenbank vollauf genug zu tun habe«, schnaufte Schiller. Der erledigte diese Aufgabe nur mit Widerwillen und brauchte deshalb auch etwas länger dafür, als wenn er sie mit etwas mehr Liebe getan hätte. »Außerdem habe ich ja mit der Anleitung und Kontrolle der Lektoren wahrlich genug um die Ohren. Da muss ich mich nicht noch selbst über den Text hermachen«, stöhnte er fast.

»Klar, ich weiß«, gab Cornelius zurück. »Was meinst du, wem wirst du ›Die Fee Leselust‹ anvertrauen?« Der Verleger wirkte angespannt und besorgt.

»Wie gesagt, ich werde mir das morgen erst mal ansehen, aber ich hatte mir vorgestellt, Isa damit zu betrauen. Also, wenn du einverstanden bist, und auch nichts anderes dagegenspricht, werde ich es auch so machen«, beschloss Friedbert Schiller.

»Warum sollte ich etwas dagegen haben, Friedbert?«, fragte Cornelius. »Aber bitte schau ab und zu mal nach dem Rechten, also ob sie ihre Sache auch wirklich gut macht. Du weißt, es geht in dem Buch um die Fee Leselust. Da sollen schließlich kein fehlerhafter Buchstabe und kein falsches Satzzeichen stören.«

»Sei unbesorgt, Cornelius«, beruhigte ihn der Cheflektor. »Isa ist dieser Sache durchaus gewachsen, auch wenn Deutsch nicht ihre Muttersprache ist.«

Isa war in Russland geboren und sprach die ersten Jahre ihres Lebens ausschließlich diese Sprache. Doch sie war schon nach Deutschland gekommen, als sie acht Jahre alt war.

»Sie spricht Deutsch so gut wie du und ich, das weißt du doch genau!«, stellte sich Friedbert vor seine Mitarbeiterin. »Und außerdem weißt du so gut wie ich, dass kein anderer Bewerber und keine andere Bewerberin beim Deutschtest so gut abgeschnitten hat, wie sie. Auch kein Muttersprachler. Deshalb haben wir uns ja letztendlich für sie entschieden, bitte denk daran, Cornelius!« Friedbert Schiller hatte sich in Rage geredet. ›Auf meine Mitarbeiter lasse ich nichts kommen! Ich weiß schließlich, was sie können und jeden Tag leisten müssen. Davon bekommt Cornelius hier in seinem Contor natürlich nichts mit.‹, dachte er bei sich.

Langsam beruhigte sich der Cheflektor wieder, als er keine Erwiderung vom Verleger bekam.

Der legte seine linke Hand auf Friedberts Unterarm.

»Verzeih mir bitte, ich wollte weder dich noch Isa beleidigen. Ich möchte doch nur, dass alles wirklich so gut wie möglich wird!«

»Lass uns nur machen, Cornelius!«, sagte Schiller mit Nachdruck.

»Dann wird alles gut.«

»Weshalb hast du mich nun herkommen lassen, Cornelius?«, wollte Schiller nach ein paar Minuten des Schweigens wissen. Er ahnte, dass es nicht das Manuskript Grimmigs war, weshalb er hier saß.

Der Verleger wies mit der Hand auf den Bildschirm seines Rechners: »Friedbert, was wagen sich manche Autoren nur, uns anzubieten?!«, ereiferte er sich. »Es muss ja kein perfektes Werk sein, das sie uns anbieten. Aber ein gutes, halbwegs lesbares Deutsch ist doch wohl nicht zu viel verlangt, oder?!«

»Immerhin bekommen sie das Geld von dir für ihre Ideen«, wandte Schiller ein.

»Da hast du völlig recht! Aber es darf doch nicht so sein, dass wir mehr Arbeit in das Manuskript stecken müssen, um es zu verbessern, als es den Autor gekostet hat, es zu schreiben, oder? – Auch wenn die Idee gut ist.«

»Da hast du vollkommen recht, mein lieber Cornelius«, stimmte Friedbert Schiller dem Verleger zu. »Um welches Manuskript geht es? Kenne ich es?«

»Das glaube ich schon. Du hast es mir ja weitergeleitet. Die Idee, die dahinter steckt, ist wirklich nicht schlecht, aber bei diesem Sprachstil verzichten wir besser auf die gute Idee. Es ist ja gar kein Sprachstil, sondern eher eine Aneinanderreihung von Wortgruppen!« Er überlegte einen Augenblick. »Ich werde der Sekretärin gleich einen Brief auf Band sprechen, damit sie diesem Autor eine Absage schicken kann. Da brauchen wir nicht erst lange darüber beraten.«

Friedbert Schiller nickte. ›Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als ein Manuskript, in dem auf jeder Seite zig Fehler korrigiert werden müssen, die eigentlich keine sind und die deshalb auch die gewiefteste Rechtschreibkontrolle nicht findet. Das kostet zu viel Zeit, weil es die Lektoren tun müssen. Und die Lektoren müssen schließlich teuer bezahlt werden‹, dachte Schiller bei sich.

»Ja, das ist besser so, Cornelius«, meinte Friedbert schließlich.

Damit war dieses Thema für die beiden Männer erledigt.

Dennoch konnte sich Schiller nicht entschließen, aufzustehen und zu gehen.

»Hast du noch etwas auf dem Herzen, Friedbert?«

»Wir haben uns schon lange nicht privat gesehen, Cornelius. Es fehlt mir, mich mit dir über Gelesenes auszutauschen und einfach ein wenig zu plaudern.«

»… und dabei ein gutes Gläschen Roten zu genießen«, ergänzte Schmerbauch breit lächelnd. »Weißt du was«, fuhr er fort, »ich habe heute Abend nichts vor, weil die Sitzung des Komitees verschoben wurde. Da würde es doch prima passen, wenn du uns dann besuchen kommst. Wenn du magst, gleich nachher zum Abendessen. Ich sage Lydia sofort Bescheid.« Noch bevor Friedbert Schiller reagieren konnte, griff Cornelius Nebukadnezar Schmerbauch in seine Jackentasche und zog sein Mobiltelefon hervor. Er wählte und hielt das Telefon ans Ohr.

»Ich bin’s, Lydi«, sagte er. »Was gibt’s heute bei uns Gutes zu essen?« Er lauschte in den Hörer. »Dann macht es dir doch sicher nichts aus, wenn ich Friedbert zum Essen mitbringe, oder?« Wieder lauschte der Verleger den Worten seiner Frau. »Gut, danach wollen wir noch ein gemütliches Schwätzchen halten. – Genau, so wie immer. Also bis dann, Lydi! Küsschen!«

Cornelius blickte Friedbert an. Der lächelte.

»Ich freue mich, Cornelius! – Wann soll ich da sein?«

»Na du kommst dann gleich mit mir mit!«, legte der fest.

Doch Friedbert schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, ich muss vorher noch mit Daisy raus!«

Daisy hieß der winzige Hund, den Friedbert in seiner »Junggesellenbude« hielt. Seit er verwitwet war, lebte er in einer kleinen Zweiraumwohnung etwa zwanzig Gehminuten vom Verlag entfernt im Kreuzstraßenviertel.

»Also gut, dann kannst du dir auch noch was Bequemes anziehen«, meinte Cornelius. »Ich hole dich zu Hause ab, sagen wir …«, er blickte wieder zur Uhr auf dem Bildschirm, »… etwa in einer Stunde?«

»Okay, das müsste ich schaffen«, sagte der beste Freund des Verlegers und erhob sich. »Also bis gleich, Cornelius! Ich muss dann los!«

Plötzlich schien es der kleine Lektor eilig zu haben. Ohne seinem Freund noch einmal die Hand zu geben, strebte er aus dem Contor. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Und auf welchen Gaumenschmaus darf ich mich in der Zwischenzeit freuen?« Fragend sah er zum Verleger.

Der strahlte: »Es gibt eines meiner Leibgerichte: Nudelauflauf! Den macht Lydia immer seltener, aber wenn, dann ist meistens Tim in der Nähe.« Tim war der Sohn von Schmerbauchs Schwiegertochter Sarah und seinem Sohn Uwe.

»Also … ich freu mich, das wird lecker!«, strahlte nun auch Friedbert und ging zur Tür hinaus, die hinter ihm leise ins Schloss glitt. Nun hielt Ruhe Einzug im Contor von Cornelius Nebukadnezar Schmerbauch.

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, griff wieder in die Jackentasche und drückte die Taste für die Wahlwiederholung. Nach drei verklungenen Rufzeichen – er wusste, dass das Mobiltelefon seiner Frau jetzt Mozarts ›Nachtmusik‹ spielte – hörte er wieder die vertraute Stimme seiner Frau.

»Conny, was gibt’s noch?«, fragte sie sofort.

»Liebste, du kannst für uns bitte schon mal eine Flasche Dornfelder warmstellen«, bat er seine Frau. »Was macht Timmi? Ist er bei dir?«

»Sarah auch. Sie hilft mir gerade beim Schnippeln. Wir waren heute Nachmittag alle drei in der Stadt. Das war richtig schön. Friedbert muss wohl wieder mal zu Hause raus?«, fragte sie übergangslos.

»Ja, denke ich auch. Er arbeitet zu viel. Genau wie ich. Aber er hat eben niemanden mehr, mit dem er zu Hause reden kann. Da kann es schon mal passieren, dass einem die Decke auf den Kopf fällt«, meinte ihr Mann.

»Zum Glück hat er ja dich – als Chef und als Freund!«, stellte Lydia Schmerbauch fest. »Nachher bei uns kommt er auf jeden Fall auf andere Gedanken«, verlieh sie ihrer Hoffnung Ausdruck.

»Ja, deshalb bringe ich ihn auch gleich heute mit. Glücklicherweise ist die Komitee-Sitzung ja verschoben. Und da passt es doch ganz gut. Morgen können wir ja etwas länger schlafen.«

Für den Verleger waren es die schönsten Tagesbeginne, wenn er neben seiner Frau erwachte und ihn nichts trieb, zur Arbeit zu gehen. Morgen war Samstag, da würde er erst nach dem gemeinsamen Brunch mit seiner Frau das gemütliche Heim mit dem Verlagscontor tauschen. Doch im Moment freute sich Cornelius Nebukadnezar Schmerbauch auf den heutigen Abend mit den Menschen, die ihm am meisten bedeuteten.

Familienangelegenheiten

Wie weiße Finger glitten die Strahlen der Scheinwerfer des Wagens von Cornelius Nebukadnezar Schmerbauch durch die Nacht. Es nieselte leicht. Wie durch einen feinen Nebel sah der Fahrer die Umgebung.

›Nur gut, dass ich mich hier auskenne!‹, dachte Schmerbauch bei sich.

Soeben bog der Verleger in die kurze Straße ein, in der sein Freund und Mitarbeiter Friedbert Schiller wohnte. Langsam rollte das Auto aus und hielt direkt vor der Haustür, die sich in diesem Moment auch schon öffnete.

Die Mütze tief ins Gesicht gezogen und den Kragen seiner Manchesterjacke hochgestellt, versuchte Schiller, unter dem Nieselregen hindurchzuhuschen, was ihm natürlich nicht gelang.

Er öffnete im nächsten Moment die Beifahrertür des Škoda Superb und ließ sich auf den Ledersitz gleiten. Die Tür glitt mit einem satten Ton ins Schloss und Schiller legte den Sicherheitsgurt an. Jetzt erst gab der Verleger Gas und der silbergraue Wagen setzte sich gemächlich in Bewegung.

»Ich hab’s gerade so geschafft, wie ich schon dachte!«, rief der kleine Lektor aus. »Aber siehst du?!« Triumphierend hielt er seine kreisrunde Brille vor sich. »Es ist nicht ein einziger Tropfen auf die Gläser gekommen, obwohl ich so gerannt bin!« Er hasste es, wenn seine Brillengläser durch irgendwelche Topfen oder gar Fett und Schmutz verunreinigt waren.

Cornelius Schmerbauch sah zu seinem Freund hinüber. Der wirkte jetzt wie ausgewechselt. Vorhin, im Contor, waren seine Schultern hängend und seine gesamte Körpersprache drückte seine Niedergeschlagenheit aus. Jetzt jedoch war Friedbert gutgelaunt und strahlte über das ganze Gesicht. Er hatte sogar rosige Wangen. ›Das kommt sicher daher, dass er gerade mit seinem Hund unten war‹, dachte der Fahrer.

»Wie hat es Daisy aufgenommen, dass du schon wieder weggehst?«, wollte Cornelius von Friedbert wissen.

»Ach, die sieht das ganz locker! Außerdem hat sie ja so etwas wie Fernsehen, falls ihr doch langweilig werden sollte. – Haha! Nicht was du denkst, mein Lieber!« Er hatte Cornelius’ ungläubigen Blick bemerkt. »Ich habe das Licht im Aquarium angeschaltet. Das sieht von unten nachher so schön gemütlich aus, wenn ich heimkomme. Fast so, als würde wirklich jemand auf mich warten.«

Er verstummte abrupt. Der Verlust seiner Frau ging ihm auch jetzt noch sehr nahe.

Cornelius überlegte. ›Wie lange ist es jetzt her, dass Birgit von einem Betrunkenen überfahren worden war und starb? – Fast auf den Tag genau fünf Jahre! Das Wetter war ähnlich wie heute. Der Sommer ließ noch immer auf sich warten.‹ Plötzlich wusste der Verleger, weshalb sein Cheflektor heute in einer so bedrückten Stimmung war. ›Birgits Tod jährt sich in diesen Tagen und das macht den sonst so aufgeschlossenen Friedbert nachdenklich und in sich gekehrt. Es ist aber auch schwer, ein Thema zu finden, das den Witwer nicht an seine verstorbene Frau erinnert!

Zu Cornelius’ Glück bog er schon in die Salomonstraße ein. In der stand das Haus, in dem Lydia auf sie wartete. Der Verleger drückte einen kleinen Knopf auf einer Fernbedienung und etwa hundert Meter vor ihnen begann sich ein Garagentor zu heben.

Geschickt steuerte Cornelius den großen Wagen rückwärts in das Garagentor. Als er den Škoda geparkt hatte, drückte er erneut auf den Knopf der Fernbedienung und das Tor begann, sich zu schließen. Die Männer stiegen aus.

Die Garage war innen geräumig und hätte bequem Platz für zwei Autos dieser Größe geboten. Doch Schmerbauchs hatten nur dieses eine Fahrzeug. Lydia Schmerbauch zog es vor, mit der Straßenbahn in die Stadt zu fahren, wenn sie dorthin wollte. Zu deren Haltestelle musste sie etwa hundert Meter gehen. Sonst wusste es Cornelius so einzurichten, dass er seine Frau zu ihren Terminen fahren konnte. Zum Einkaufen fuhren sie donnerstags ohnehin immer gemeinsam.

Beide Männer gaben ihren Türen einen kleinen Schubs und mit einem satten Ton glitten sie in ihre Schlösser. Cornelius schloss die Kellertür auf und ließ Friedbert zuerst eintreten. Hinter sich drehte er den Knauf, der sich im Inneren des Hauses befand. Die Männer stiegen die Treppe ins Erdgeschoss hinauf. Bereits nach einem Absatz wehte ihnen der köstliche Duft des in der Backröhre schmurgelnden Nudelauflaufs in die Nasen.

»Da läuft mir ja das Wasser in der Gusche zusammen!«, rief Cornelius Nebukadnezar Schmerbauch, als er hinter seinem Freund und Kollegen das Entrée erreicht hatte.

»Das wollen wir aber auch hoffen!«, riefen Lydia und Sarah Schmerbauch wie aus einem Mund.

Die beiden Frauen kamen den Ankömmlingen entgegen und begrüßten sie herzlich.

Cornelius gab seiner Frau ein Küsschen und umarmte seine Schwiegertochter. Friedbert Schiller gab beiden seine kräftige Rechte und drückte die Frau seines besten, wenn nicht sogar einzigen Freundes an seine Brust.

»Hallo Opa!«, rief es da hinter Cornelius und er fuhr herum. Er breitete seine Arme aus und sein Enkel Tim warf sich hinein. Cornelius hob ihn hoch und wirbelte ihn herum. Früher hatte er das auch mit seiner Frau getan. Aber seit er älter geworden war, hatte er hin und wieder Rückenschmerzen. Seitdem hielt er sich bei Lydia damit zurück.

»Der Auflauf braucht noch ein Weilchen. Lasst uns ins Esszimmer gehen und einen Schluck trinken!«, forderte die Hausfrau alle Anwesenden auf.

»Oma, hast du wieder den leckeren Kirsch-Banane-Saft für mich da?«, fragte Tim, dem sein Opa augenblicklich egal war.

»Na klar, Tim! Davon habe ich doch immer eine Flasche extra für dich im Keller. Und jetzt ist sogar schon ein Glas für dich eingegossen.«

Lydia trat an ein Sideboard, auf dem ein Tablett stand, welches sie nun in ihre Hände nahm und es herumreichte. Alle bekamen ein Glas Sekt, der wie jener im Verlag aus der Sektkellerei in Freyburg stammte. Sie stießen miteinander an, während der Elfjährige das Saftglas schnappte, allen kurz zuprostete und gleich einen gehörigen Schluck daraus trank. Dann stellte er das halbleere Glas zurück auf das Tablett und verkrümelte sich.

Tim hatte rotblondes, kurz geschnittenes Haar und war ungefähr 1,55 Meter groß. Er ging in die Quinta, also die sechste Jahrgangsstufe des Johannes-Gutenberg-Gymnasiums. Tim selbst fand sich viel zu klein, seit alle Mädchen aus seinem Jahrgang aufgrund ihrer Größe auf ihn heruntergucken konnten. Das nervte ihn total! Ansonsten war Tim ein ganz normaler Junge, wie es sie in vielen Familien in vielen Städten gibt. – Bis auf die Tatsache, dass er nicht las. Also er las überhaupt nicht. Das verstanden weder seine Eltern noch seine Großeltern, die alle sehr gerne lasen und für die Literatur zu einem Teil ihres Lebens geworden war.

Tim liebte es, im Internet mit seinen besten Kumpels zu chatten oder zu spielen. Außerdem war er ein Musikliebhaber. Auf seinem Handy und seinem MP3-Player waren sehr viele Songs gespeichert, die er oft und zu jeder Gelegenheit hörte. Wenn man genau hinsah, traf man Tim eher selten ohne die Ohrstöpsel in den Ohren an. Er war der Meinung, Musik sei das Coolste, gleich gefolgt von Onlinespielen. Obendrein sah er leidenschaftlich Videos und ging hin und wieder mal ins Kino, um auf dem Laufenden zu sein, was die Filmszene betraf. Dem setzte lediglich sein begrenztes Taschengeld eine Grenze.

Der Sekt löste bald die Zungen der Erwachsenen. Friedbert Schiller plauderte angeregt mit Lydia Schmerbauch, während Cornelius seine Schwiegertochter fragte, wie sich Tim in der Schule machte. Sarah Schmerbauch war Anfang dreißig und seit über zehn Jahren mit Uwe Odysseus, dem Sohn der Schmerbauchs verheiratet. Sie war von zierlicher Gestalt, hatte eine nette Ausstrahlung und grüne Augen. Ihre Haare waren brünett, doch heute hatten sie einen rötlichen Schimmer, der ihre Frisur mehr als sonst leuchten ließ.

»Ach weißt du, Cornelius, Tim ist ja überaus intelligent, in der Schule gehört er zu den Besten. Seinen Rechner bedient er mittlerweile im Schlaf, und wenn ich ein neues Mobiltelefon habe, sage ich Tim nur, wie ich es eingerichtet haben möchte. Nach kurzer Zeit kommt er damit wieder und hat alles so gemacht, wie ich es wollte. Natürlich hat er dann auch immer schon die wichtigsten Telefonnummern darauf gespeichert. Die von Uwe, eure Nummer und die seiner Freunde. Schon allein, damit er sie von meinem Mobiltelefon anrufen kann, wenn er kein Geld mehr auf seinem hat.« Sarah stöhnte, fast, als sie fortfuhr: »Aber er liest einfach nicht! Nur Sachen, die ihn interessieren, liest er. Also Bedienungsanleitungen beispielsweise. Oder die Musiktitel auf seinem Handy. Jetzt sitzt er bestimmt wieder vor der Glotze und sieht irgendetwas auf einem Geschichtskanal! Ich weiß ebenso wenig wie Uwe, wie wir das ändern können. Kannst du nicht noch einmal mit ihm reden? Du würdest uns damit ungemein helfen!«

Cornelius hatte aufmerksam zugehört. Jetzt nickte er.

»Selbstverständlich werde ich das tun. Obwohl …« er strich sich mit der Rechten durch seine kurzen blonden Haare. »Sehr viele Hoffnungen habe ich nicht, dass das etwas nutzt, Sarah.«

»Es liegt ja auch bestimmt nicht am mangelnden Beispiel. Uwe und ich lesen ständig und Tim sieht das auch. – Aber es interessiert ihn einfach nicht! Ich habe wie mit Engelszungen geredet, als ich ihm Harry Potter schmackhaft gemacht habe, oder Tintenherz zum Beispiel. ›Klingt interessant, kann ich mir ja mal auf Video anschauen‹, hat er nur gemurmelt. ›Beim Lesen ist ja überhaupt keine Action dabei, das ist nur voll öde‹, sagt er immer. Uwe hat ihm unser dreißigbändiges Lexikon schmackhaft gemacht, aber Tim hat nur abgewinkt. Aber der Test hat doch ergeben, dass er kein Legastheniker ist! Wir wissen wirklich nicht mehr weiter, Cornelius!« Sarah sah ihn flehend an.

»Gut«, sagte Cornelius. »Ich werde mir morgen nochmal Zeit für ihn nehmen. Vielleicht gehen wir ja mal wieder ein Eis essen. Nur er und ich. Dann können wir mal von Mann zu Mann reden.«

»Oh ja, das ist prima!« Sarah freute sich wie ein kleines Mädchen.

»Freu dich nicht zu früh!«, ermahnte Cornelius sie. »Noch hat er kein Buch gelesen!«

Aus der Küche erklang in diesem Moment ein klagender Pieplaut.

– Der Backofen!

»Nehmt bitte schon Platz am Tisch!«, forderte Lydia alle Anwesenden auf. »Sarah, würdest du Tim Bescheid sagen? Und du, Cornelius – hilfst du mir, den Auflauf hereinzuholen? Komm!«

»Aaaah, das hat wieder einmal vorzüglich geschmeckt!« Cornelius trank den letzten Schluck Sekt.

»Liebling, du machst noch immer den allerbesten Nudelauflauf der Welt für mich!«, wandte er sich an seine Frau.

»Und für mich auch, Oma!«, ließ sich Enkelsohn Tim vernehmen.

»Das freut mich aber!«, sagte sie nicht ohne Stolz in ihrer Stimme.

»Hat es den anderen wenigstens ein bisschen geschmeckt?«, fragte sie in die Runde.

Sarah strahlte sie aus ihren grünen Augen an: »Aber Mutsch, was denkst du denn?! Du bist auch für mich die beste Auflaufköchin der Welt! Es war wie immer total lecker!«

»Auch mir hat dein Auflauf vorzüglich gemundet, liebe Lydia«, ließ sich Friedbert Schiller vernehmen. »Ganz so, wie ich es von dir gewohnt bin.« Er tupfte sich seinen Mund mit der Stoffserviette ab. Dann ergriff er sein Glas und erhob es. »Auf unsere Köchin!«

»Auf unsere Köchin!«, murmelten nun auch die anderen. Sie erhoben ihre Gläser.

Nach dem Essen räumten die Hausfrau und die Mutti von Tim den Tisch ab und füllten die Spülmaschine. Tim half ihnen.

Währenddessen gingen die beiden Freunde in Cornelius’ Bibliothek, die einen großen Raum im Erdgeschoss einnahm. Dort nahm Cornelius auf einem großen alten Sessel und Friedbert auf einem ebenso alten Sofa Platz. Doch kaum hatten sie es sich gemütlich gemacht, als sich die Tür öffnete und Tim hereingesprungen kam.

»Och hier bei den ollen Büchern seid ihr! Wir wollten uns jetzt von euch verabschieden!«, tönte Tim, hinter dem seine Mutti Sarah zögernd den Raum betrat.

Cornelius breitete seine Arme aus, in die sich Tim sehr gerne ziehen ließ. Er umarmte seinen Großvater ganz herzlich. Dann fragte Cornelius ihn: »Was meinst du, Tim – wollen wir beide morgen Nachmittag in der Stadt ein Eis essen gehen? Ich lade dich ein!«

»Nur wir zwei, Opa?«, fragte Tim mit großen Augen.

»Nur du und ich«, beteuerte Cornelius und fügte hinzu: »Und du darfst dir selbst aussuchen, was du schleckern möchtest.«

»Au ja!«, freute sich Tim. »Dann können wir mal wieder ein Pizzaeis essen!«

»Oder einen großen Erdbeerbecher, wenn du mehr Appetit darauf hast«, ergänzte Cornelius.

»Oder einen Nougateisbecher! Oder …«

»Das werden wir dann dort sehen, Tim«, meinte Cornelius beruhigend. »Jetzt gehst du erst mal schlafen und morgen Nachmittag kommst du mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof. Dort treffen wir uns halb vier und gehen Eisessen!« Tim umarmte seinen Opa noch einmal.

Mit einem Blick zu seiner Schwiegertochter fragte der: »Das geht doch in Ordnung so, Sarah? Oder muss Tim noch wichtige Sachen für die Schule machen? – Ich würde ihn natürlich danach raus zu dir bringen.«

»Nein nein, das geht in Ordnung. Ich wünsche euch schon jetzt ganz viel Spaß beim Eisessen und beim Schnattern! Uwe kommt ja morgen gegen Abend nach Hause, deshalb passt mir das alles ganz gut!«

Nachdem sich Sarah und Tim verabschiedet hatten, kehrte etwas mehr der gewohnten Ruhe im Hause Schmerbauch ein.