Dieses Abenteuer führt

die Göttinger Sieben nach Hamburg.

Die Freie und Hansestadt Hamburg ist mit mehr als 1,7 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt und besitzt den größten Seehafen Deutschlands. In Hamburg spricht man Hamburger Dialekt (Hamburger Platt). Mit etwa 2500 Brücken gilt Hamburg übrigens als eine der brückenreichsten Städte in Europa… So schön, so gut. Aber Vorsicht! Die Freunde fahren dort nicht zum Vergnügen hin. Diesmal wird es wieder richtig gefährlich: Dieser Band ist nichts für Weicheier. Also, wer schwache Nerven hat, lege das Buch besser weit weg oder schenke es seinem ärgsten Feind. Allerletzte Warnung!

Du liest ja trotzdem weiter!

Okay, allerallerletzte Warnung!

Du hast es nicht anders gewollt.

Lesen auf eigene Gefahr! Los geht’s…

Das Entscheidungsspiel

Für die Zuschauer, die sich zahlreich an der Seitenauslinie postiert hatten, waren die letzten Sekunden vor Spannung kaum mehr auszuhalten. Ihre Augen waren auf den kleinen weißen Kunststoffball gerichtet, der immer wieder in den Strafraum vor das Tor der Göttinger geschlagen wurde. Den Spielerinnen des HCG ging es ähnlich. Nur noch wenige Sekunden waren zu spielen. Nervös sah der Trainer auf die Uhr und dann ungeduldig zur Schiedsrichterin. Eine letzte Ecke, ein letzter Schuss aufs Tor, dann ertönte ihr lang ersehnter Abpfiff. Das Spiel war aus.

Maike riss ebenso wie ihre Mannschaftskameradinnen die Arme nach oben. Hockeyschläger flogen in die Luft. Unbeschreiblicher Jubel brach aus. Die Spielerinnen fielen sich in die Arme und tanzten vor Freude. Dann bildeten sie einen Kreis um ihren Trainer, der sie reihenweise abklatschte. Während einige Eltern und Freunde auf den grünen Rasen liefen, schlugen die Spielerinnen mit einem breiten Grinsen im Gesicht langsam den Weg zur Kabine ein.

Maike sah sich noch einmal um. Dass ihre Eltern nicht zum Abschlussspiel kommen konnten, wusste sie, denn ihr Vater war für vier Tage zu einer Fortbildung in Bonn und ihre Mutter begleitete ihn, um dort ihren Bruder zu besuchen und sich die Sehenswürdigkeiten der Stadt am Rhein anzuschauen. Daher durfte Maike in der ersten Hälfte der Abwesenheitszeit ihrer Eltern bei Xiaoli übernachten, in der zweiten Hälfte würde sie dann ihre Patentante in Hamburg besuchen.

Jonas aber hatte versprochen, beim letzten Saisonspiel zuzugucken, doch er war noch immer nirgendwo zu sehen. Schon in der Halbzeitpause hatte sie ihn unter den zahlreichen Zuschauern gesucht. Auch Lukas hatte sie nicht entdeckt.

Über den knappen Sieg glücklich, aber von Jonas gleichzeitig ziemlich enttäuscht, ging sie völlig verschwitzt in Richtung Kabine, als sie plötzlich von einem unbekannten Mann angesprochen wurde.

»Gratulation zum Sieg«, sagte er anerkennend und nahm seine Sonnenbrille ab. Er war groß und kräftig gewachsen. Sein schütteres Haar war durch eine rote Schirmmütze verdeckt. An seiner linken Wange hatte er eine lange Narbe, die vom Wangenknochen bis zum Kiefer verlief. An ihrer hellen Farbe war gut zu erkennen, dass sie schon etwas älter und verwachsen war.

»Sind deine Eltern denn gar nicht da, um mit dir und deinen Freundinnen zu feiern?«

»Nein, die konnten heute nicht«, erwiderte Maike, so als ob es ihr nichts ausmachte und ging langsam weiter, während der Mann sie begleitete.

»Ich hoffe, dass die wissen, was für ein Juwel sie als Tochter haben«, sagte der Mann stirnrunzelnd, dann lächelte er milde. »Schade, ich wollte sie fragen, ob ich dich mal zu einem Probetraining einladen darf.«

»Da fragen Sie doch am besten erst mal mich!«

»Na klar«, sagte der Mann leise lachend. »Schließlich musst du wollen. Ich dachte nur…«

»Ich fühle mich hier eigentlich ganz wohl.«

Der Mann nickte anerkennend. »Das glaube ich, ihr habt ja auch ein klasse Team.«

»Das sehe ich auch so«, sagte Maike stolz und verlangsamte ihr Schritttempo.

»Aber ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Jens Wollberg. Ich bin Scout des HHV Hamburg und immer auf der Suche nach guten Talenten.«

»Aus Hamburg? Der Hochburg des Damenhockeys?«, sagte Maike verwundert und blieb nun doch stehen.

Herr Wollberg lächelte bescheiden. »Die anderen Vereine außerhalb Hamburgs sind aber auch nicht schlecht.«

»Und da dachten Sie an mich?« Maikes Stimme verriet ihre Aufregung. Sofort ärgerte sie sich darüber, aber Herr Wollberg schien es nicht bemerkt zu haben. Sie war ziemlich verschwitzt und hatte vom vielen Laufen noch immer einen roten Kopf. So machte sie wohl nicht gerade den besten Eindruck auf den Talentsucher.

»Wir wollen nie die besten Spielerinnen eines Teams haben, wir wollen nur die allerbesten. Kannst du dir denn vorstellen, in Hamburg zu wohnen und für uns zu spielen?«

»Klar«, sagte Maike wie aus der Pistole geschossen. »Da bin ich schließlich geboren.«

»Na siehst du. Bist eine echte Hamburger Deern, nech?«

»Puh. Wenn Sie vom HHV kommen, dann kennen Sie bestimmt auch Leon Langen?« Sie dachte an den Superstar der Herrenmannschaft, der jahrelang für das Deutsche Nationalteam als Torjäger erfolgreich war. Siege bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften hatte er ebenso selbstverständlich gesammelt wie Titel bei den Deutschen Meisterschaften. Dazu sah er noch verdammt gut aus: kurze dunkle Haare, blaue Augen und eine sportliche Figur, kurzum ein makelloser und durchtrainierter Körper. »Na klar, den habe ich entdeckt, als er so alt war wie du jetzt bist«, erwiderte Herr Wollberg und hielt seine Hand auf Brusthöhe, um die damalige Größe des Sportlers anzuzeigen. »Damals war er noch völlig unbekannt.«

»Wahnsinn! Sie kennen ihn persönlich. Wie cool ist das denn?« Maikes Augen leuchteten wie Sterne nachts am Horizont. An ihrem Grübchen hätte auch ein Volltrottel ihre Begeisterung ablesen können.

Wie zur Unterstützung seiner Worte zeigte Herr Wollberg Maike eine Reihe von Autogrammkarten von Hockey-, Fußball- und Handballspielern, die er aus seiner Innentasche nahm. »Die Unterschriften kriegst du alle, wenn du erst einmal für uns spielst«, lachte er.

Maikes überraschter Blick wich Bewunderung.

»Vielleicht ist es ganz gut, dass deine Eltern nicht da sind. Es gibt ein Problem. Bitte sag niemandem etwas von einer Einladung für dich, sonst gibt es gleich wieder Ärger. Die Saison ist offiziell noch nicht vorbei, deshalb dürfte ich dich noch gar nicht ansprechen. Du kennst vielleicht die Regeln des Verbandes. Außerdem will dein Verein dann eine Ausbildungsvergütung von einigen hundert Euros, wenn wir dich später unter Vertrag nehmen.« Maike nickte verständnisvoll.

»Natürlich zahlen wir die gern, wenn es mit einem Engagement klappt.« Herr Wollberg blickte sich vorsichtig um. »Aber die Trainer und Vereinsbosse machen alle so einen Wind hier. Auch deine Hockeyfreundinnen könnten eifersüchtig sein, es kann zu Mobbing kommen. Am besten erzählst du niemandem von unserem Gespräch. Bitte sag auch deinen Eltern noch nichts. Die unterrichte ich dann, wenn es soweit ist. Ich muss noch mit dem Coach sprechen.«

»Schade, meine Eltern hätten sich bestimmt gefreut.«

»Das kommt noch. Du kannst doch ein kleines Geheimnis für dich behalten?« Herr Wollberg sah Maike fragend an. »Manche Verträge sind schon nicht zustande gekommen, weil vorher zu viel darüber gesprochen wurde. Leon Langen hat damals seinen Eltern auch nichts erzählt, sonst würde er wohl heute immer noch auf dem Dorf spielen. Ich sehe den jungen Langen noch vor mir…« Er deutete erneut mit der flachen Hand auf seine Brusthöhe, um Leons damalige Größe zu zeigen. Seine kräftige Hand zeigte ungefähr Maikes Größe an. »Und heute überragt er mich. Und verdient Millionen.«

Maike sah Herrn Wollberg bewundernd an. Sie fragte sich, ob sie wach war oder träumte.

»Hättest du denn überhaupt Lust beim HHV zu spielen?«

»Na klar. Das ist mein Traum«, platzte Maike heraus. Sie war vor nicht einmal einem Jahr mit ihren Eltern aus Stuttgart nach Göttingen gezogen. Davor hatte sie die ersten Lebensjahre in Hamburg verbracht. Dort war sie auf der Fahrt ins Krankenhaus in einem Taxi geboren worden.

Allerdings war sie seit ein paar Tagen mit Jonas richtig zusammen, nachdem feststand, dass die Familie in Göttingen bleiben konnte und ihr Vater nicht nach Düsseldorf oder Erfurt versetzt werden würde. Sie dachte an Jonas und die anderen Göttinger Sieben und runzelte die Stirn.

»So richtig glücklich siehst du aber nicht aus«, meinte Herr Wollberg zweifelnd und sah sich wieder unauffällig um.

»Naja, mein Freund… außerdem habe ich hier echt super Schulkameraden.«

»Alles klar. Dann geht es wohl nicht«, sagte Herr Wollberg und setzte sich seine dunkle Sonnenbrille wieder auf. »Schade, aus dir hätte was werden können.«

Maike zögerte nachdenklich. Ein paar Eltern kamen vorbei, um ihr zum Sieg zu gratulieren. Herr Wollberg drehte sich kurz weg und tat so, als ob er sich die Schuhe zubinden müsse. Als sie wieder weg waren, gab er Maike zum Abschied die Hand. »Vielleicht überlegst du es dir noch. Wir haben ein Hockeyinternat mit 16 Mädchen, die alle auf dem Weg in die Nationalmannschaft sind. Vormittags sind vier Stunden Schule. Danach geht es sofort aufs Hockeyfeld zum Training.«

»Also ich weiß nicht. Das kommt alles reichlich plötzlich…«

»Dann lass mir doch einfach mal deine Handynummer da. Wir bleiben in Kontakt. Ich rufe dich an.«

»Ich überlege es mir«, sagte Maike mit einem strahlenden Lächeln. »Jedenfalls freue ich mich sehr, dass Sie mich angesprochen haben. Vielleicht ergibt sich später noch eine Möglichkeit, wenn ich älter bin.«

Herr Wollberg presste die Lippen aufeinander und schüttelte bedächtig den Kopf. »Je älter du wirst, desto schwieriger wird es. Die richtige Technik und das Lauftraining lernt man nur in jungen Jahren und nur von Spitzentrainern.«

»Maike, komm, zieh dich um«, rief aus einigen Metern Entfernung ihr Trainer.

»Wir wollen doch gleich noch gemeinsam den Sieg feiern.« Mit einer Hand hielt er sein Handy ans Ohr und gab das Endergebnis des Spiels an einen Redakteur des Göttinger Tageblattes weiter.

Maike wollte ihm zurufen, dass sie gerade mit dem Entdecker von Leon Langen sprach, aber der Mann mit der Sonnenbrille hielt ihr schnell einen Stift und einen Fetzen Papier unter die Nase. Sie ergriff beides sogleich und schrieb ihm ihre Handynummer und ihren Namen auf. Dann reichte sie ihm den Zettel zurück.

»Wie alt bist du eigentlich?«

»Zwölf.«

»Prima.« Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich melde mich bei dir. Versprochen! Und du versprich mir bitte, zu niemandem ein Wort zu sagen.«

»Ich verspreche es.«

Zu spät

Knapp hundert Meter von Maike entfernt kam Jonas keuchend angelaufen. Ein solches Hecheln kannte man sonst nur von Gustav, wenn er sich zu schnell auf Gangster oder Kekse gestürzt hatte. Um noch zum Hockeyspiel zu kommen, war Jonas sogar schneller gelaufen als beim Fußballspiel eine Stunde zuvor.

Seit 72 Stunden und 21 Minuten war er mit Maike zusammen. Vor drei Tagen hatte sie ihn in der Kanalisation das erste Mal geküsst. Sein erstes Küsschen auf ihre Wange am Anfang des Schuljahres war weniger von Erfolg gekrönt gewesen. Entsetzt hatte sie ihn damals zurückgestoßen. Aber nun war alles anders. Mann-o-Mann. Er wollte keine Minute mit ihr verpassen.

Schnell steuerte er auf Lukas zu, der in einem Pulk von Zuschauern stand, der sich langsam auflöste. Es war nicht leicht gewesen, Lukas zu finden. Links verdeckte ihn eine ältere Frau mit Hut, die vor Rührung über den umkämpften Sieg Tränen in den Augen hatte. Wenige Meter rechts neben Lukas standen zwei ältere Männer, die offenbar noch über das Spiel intensiv diskutierten. Einer der beiden hielt einen Spazierstock in der Hand, der andere trug einen hellblauen Trainingsanzug und schäbige rote Turnschuhe. Sein etwas eingefallen wirkendes Gesicht hatte wohl längere Zeit wenig Sonne gesehen und so wirkte er ziemlich blass. Endlich war Jonas bis zu seinem Bruder vorgedrungen.

»Wo kommst du denn jetzt her? Ich habe schon diverse Male versucht, dich auf deinem Handy zu erreichen«, fragte Lukas vorwurfsvoll ohne Jonas dabei anzusehen. Stattdessen blickte er weiterhin konzentriert durch die Linse seiner Kamera.

»Ich habe `nen Platten am Hinterrad«, japste Jonas und stemmte die Hände auf die Knie. »Das waren bestimmt die Auswechselspieler aus Kassel, die die ganze Zeit gelangweilt an der Außenlinie standen.«

»Und deshalb kommst du so spät?«

»Ja«, maulte Jonas. »Ich musste den Bus nehmen und der kam auch noch zu spät.«

»Typisch«, erwiderte Lukas und drückte auf den Auslöser seiner Kamera.

»Na, zumindest zum Schlusspfiff kamst du pünktlich.«

»Und dann hat mich noch eine dämliche Wespe gestochen.«

»Wo denn?« Lukas nahm seine Kamera beiseite und sah Jonas besorgt an.

»Zeig mal her.«

Jonas schob die kurzen Ärmel seines T-Shirts bis zur Schulter hoch. Unter seiner Achsel kam eine kleine rote Einstichstelle zum Vorschein.

»Das musst du kühlen.«

»Mache ich später«, keuchte Jonas tapfer und sah auf das Spielfeld. »Muss erst mal zu Maike.«

»Mach das mal lieber gleich, bevor es größer wird.«

»Später. Habe ich jetzt keine Zeit für.«

Lukas blickte wieder durch die Kamera und drückte zweimal ab.

»Maike wird sauer sein«, befürchtete Jonas geknickt. »Obwohl sie sonst auch immer zu spät kommt.«

»Aber nicht 2 Stunden«, brummte Lukas und knuffte Jonas mit einem Augenzwinkern kurz in die Seite. Dann sah er wieder durch die Linse und schoss noch ein paar Fotos von den Spielerinnen. »Zumindest haben sie gewonnen.«

»Wir nicht«, erwiderte Jonas. »Drei zu eins verloren. Ist heute echt nicht mein Tag. Wo ist denn Maike eigentlich?«

»Da drüben«, sagte Lukas und blickte durch sein Objektiv. Er zeigte auf Maike, die dabei war, in die Kabine zu eilen. »Die strahlt ja wie drei Kilo Plutonium.«

»Kein Wunder, nach dem Sieg sind sie in der Abschlusstabelle mindestens Zweiter«, witzelte Jonas, dessen Herz und Lunge sich langsam vom Laufen beruhigten.

»Ich bin auch gerade erst gekommen, aber drei oder vier gute Bilder habe ich geschossen«, berichtete Lukas und zeigte Jonas die Fotos auf dem Bildschirm seiner Kamera. Er hatte den letzten Eckball, einen Freistoß, einen Abschlag und auch einen hitzig geführten Zweikampf festgehalten und freute sich über seine Fotos. Dass das Fotografieren seine große Leidenschaft war, war nicht zu übersehen.

»Nicht schlecht. Lass uns jetzt zu Maike gehen.«

»Einen Augenblick«, sagte Lukas lächelnd und steckte seine Kamera in die Tasche. »Geh schon mal vor. Ich packe die Kamera noch ein.«

»Na gut.« Jonas eilte davon. Er lief fast den Mann mit der dunklen Sonnenbrille um, der ihm breit grinsend entgegenkam. Dessen Narbe an der linken Schläfe fiel Jonas sofort ins Auge.

Kurz darauf hatte Lukas endlich alle seine Sachen zusammengepackt und wollte gerade hinter Jonas herlaufen, als er plötzlich eine ängstliche Stimme hörte.

»Meine Güte. Mich trifft der Schlag.« Es war der Mann in den roten Turnschuhen, der in Lukas‘ Nähe stand. Er stöhnte kurz auf und hielt sich dann aber vor Schreck schnell den Mund zu.

Der Mann neben ihm mit dem Stock sah seinen Begleiter erstaunt an. »Was hast du denn?«

»Den Typen da, den… den kenne ich«, stotterte der hagere Mann im Trainingsanzug und war plötzlich ganz grün im Gesicht. »Ich hätte nicht gedacht, dass der noch einmal rauskommt.«

»Rauskommt?«, raunte der andere fragend.

»Den kenne ich aus Santa Fu«, fügte der blasse Mann erklärend hinzu. Mit wackeligen Knien hielt er sich an den eisernen Absperrungen fest, die die Zuschauer vom Spielfeldrand fernhielten. »Der Kerl saß da eigentlich lebenslänglich.«

»Und wie heißt er?«

Er zuckte mit den Schultern. »Alle nannten ihn den >Metzger<.«

»Den Metzger?«, fragte der Mann mit dem Stock überrascht.

»Ich weiß auch nicht weshalb. Ich nehme an, weil er alle im Knast zur Schnecke machte, bis sie nur noch wie verängstigte kleine Würstchen vor ihm kuschten.«

»Und der läuft frei herum?«

»Ich hätte nicht geglaubt, dass ich dem jemals wieder begegne«, zischte der Mann und zündete sich zitternd eine Zigarette an. »Wo der auftaucht, gibt‘s Ärger.«

»Bist du sicher, dass das der Typ ist und du dich nicht irrst?«

»Den erkenne ich hundertprozentig wieder«, flüsterte der Mann so leise, dass Lukas es gerade noch verstand. »Hast du seine Narbe an der Schläfe gesehen? Ein Rocker hat ihm beim illegalen Glücksspiel eine Axt über den Schädel gezogen, als er ihn betrügen wollte.«

Nun wurde auch der andere Mann etwas blass um die Nase. Entschlossen stieß er seinen Stock in die Erde. »Upps, dann lass uns lieber abhauen.«

Maike war gerade dabei, die Umkleidekabine zu betreten, als Jonas sie entdeckte. »Maike«, rief er laut. »Mai-i-i-i-i-i-ke!«

Doch Maike drehte sich nicht mehr um.

»Entweder hat sie dich nicht gehört oder sie ist sauer, weil du nicht zum Spiel gekommen bist«, stellte Lukas fachmännisch fest, als er Jonas eingeholt hatte. Er war das letzte Stück ebenfalls gerannt und drückte die Tasche mit der Kamera fest an sich. »Dann ist es besser, wenn du sie erst einmal in Ruhe lässt.«

»Meinst du wirklich?«, fragte Jonas unsicher.

»Ruf sie später an und erklär ihr das mit dem Fahrrad. Bis die Mädels wieder aus der Umkleidekabine kommen, vergeht der halbe Tag. Duschen, quatschen, Haare föhnen… du weißt doch, wie lange das bei denen immer dauert.«

Jonas presste enttäuscht die Lippen aufeinander. »Wollen wir jetzt zu Kröte ins Krankenhaus fahren?« Kröte war drei Tage zuvor, bei der Aufklärung des letzten Falls der Göttinger Sieben, durch ein Kellerfenster gestürzt und hatte sich beide Arme verletzt. Nun musste er den Ferienbeginn im Göttinger Klinikum verbringen.

»Später.« Lukas sah auf die Uhr. »Lass uns vorher dein Fahrrad holen und deinen Wespenstich kühlen.«

»Na gut!«

Ohne Jonas und Lukas eines Blickes zu würdigen, eilte Maike in die Umkleidekabine zu den anderen Spielerinnen, in der ihr gleich ihr Trainer Rolf entgegen kam. Mit einem leichten Ruck zog er sie in die Kabine hinein.

»So, jetzt sind alle da. Hört mal alle zu! Ich habe gerade mit dem Verbandsleiter über die Ergebnisse des heutigen Spieltages gesprochen. Das Team der SG hat heute verloren. Tä-tä-tä-tä! Das bedeutet, dass wir aufgestiegen sind. Ich gratuliere. Wenn ihr alle in der kommenden Saison weiter macht, haben wir nach den Ferien gemeinsam eine gute Chance, uns in der neuen Spielklasse auf eine gute Position zu spielen.«

Die Umkleidekabine bebte vor Begeisterung. Lautes Gejohle brach aus, denn die ganze Saison über war Maikes Team immer nur Zweiter hinter der SG gewesen. Doch an den letzten Spieltagen schwächelte das SG-Team und ihr Vorsprung schmolz Woche für Woche. Maikes Mannschaft kam mit jedem Spiel dichter an den Tabellenführer heran. Die Konstellation war vor dem letzten Spieltag dennoch eindeutig gewesen. Ein Sieg gegen den Tabellenletzten TuS Bovenden hätte den SGlerinnen zum Aufstieg genügt, doch sie verloren überraschend. Was für ein Tag!

Die jungen Spielerinnen in Maikes Team lagen sich jubelnd in den Armen. Damit hatte wirklich niemand gerechnet.

»Was ist denn bloß bei der SG los?«, fragte Xenia noch völlig außer Atem.

»Die waren doch immer so gut.«

»Ich habe da nicht meine Finger im Spiel«, sagte Trainer Rolf und lachte herzhaft. »Das müsst ihr mir glauben.«

Er hatte in einem Spiel während der Saison zweimal mit Lara, Würmchens großer Liebe aus der Parallelklasse, am Spielfeldrand gesprochen. Sofort war er vom Trainer der SG des Platzes verwiesen worden, weil alle dachten, er wolle Lara abwerben und zum HCG holen. Seit diesem Tag war das Verhältnis der beiden Teams noch angespannter, als es durch die enge Tabellennachbarschaft eh schon war. Das ging zwar nicht so weit, dass man sich offen anfeindete, aber auch Lara und Maike sprachen in der Schule kein Wort miteinander. Durch die spannende Situation an der Tabellenspitze in den letzten Wochen war das Verhältnis zwischen den Mädchen nicht besser geworden.

»Mmh… komisch ist das schon«, meinte Maike nachdenklich. Aber dann schob sie diesen Gedanken beiseite und rief ihre Mutter in Bonn auf dem Handy an, um ihr vom Aufstieg ihrer Mannschaft zu berichten.

Ein wichtiger Anruf

53 Minuten später war Maike fast zu Hause angekommen, als erneut ihr Handy klingelte. Die ersten vier Anrufe von Jonas hatte Maike meisterhaft ignoriert. Das war umso schwieriger, weil dabei immer ihr Lieblingslied ertönte. Ebenso bei der Ankunft seiner SMS und seiner E-Mails. Diesmal erklang eine andere Melodie.

>Der soll sich ruhig mal was einfallen lassen<, dachte sie enttäuscht, während sie ihr Handy hervorkramte. Von wegen, sie sei seine große Liebe. Statt ihr beim Hockey zuzugucken, hatte er es wohl vorgezogen mit seinen Fußballfreunden zu feiern. Und das, obwohl er hoch und heilig versprochen hatte, zu Maikes letztem Saisonspiel zu kommen.

Für den späten Nachmittag hatte sie sich mit ihren Freunden bei Kröte im Krankenhaus verabredet, aber zu einem Treffen hatte Maike im Augenblick gar keine Lust. Sie entschied sich dafür, das Handy in der Sporttasche zu lassen und später nachzuschauen, wer angerufen hatte. Sie musste sowieso gleich frische Kleidung für die Übernachtung bei Xiaoli einpacken. Gustav war natürlich mit von der Partie, auch wenn damit Ärger mit Xiaolis Schwester Zerou vorprogrammiert war. Die glaubte nämlich, allergisch gegen Hundehaare zu sein und machte immer gleich eine riesige Szene, wenn etwas nicht so lief, wie sie wollte.

Während Maike ihr Fahrrad in die Garage stellte, klingelte erneut ihr Handy. Die Melodie verriet ihr, dass es mal wieder Jonas war. Dickköpfig ignorierte sie es. Statt abzunehmen begrüßte Maike erst einmal Gustav ausgiebig und fütterte ihn zur Belohnung des Aufstiegs mit einem Stück Hundekuchen. »Vielleicht müssen wir bald wieder umziehen«, sagte sie etwas wehmütig und streichelte ihm über sein Fell. »Aber dann kommst du natürlich mit.«

In ihrem Zimmer angekommen, stellte sie die Sporttasche ab, warf die verschwitzte Kleidung in den Wäschekorb und sich selbst völlig fertig aufs Bett. Sie robbte vorwärts und schaltete Musik an. Da sie allein war, etwas lauter als normal, aber immer noch so leise, dass sich ihr Hund Gustav nicht daran störte. Denn natürlich wusste sie, dass Hunde viel besser hörten als Menschen und ihm die Lautstärke von Geräuschen mehr zu schaffen machte als ihr.

Bevor sie passende Kleidung in die Tasche packte, rief sie im Internet die Seite des Hamburger Hockey Verbands auf. Dieser Verband war ein Zusammenschluss von Hamburger Hockey-Vereinen. Von der Seite dieses Dachverbandes surfte Maike zum Hamburger Hockey Verein. Schon während sich die Seite langsam aufbaute, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Neugierig verschlang sie die bunten Artikel, die von den vielen Erfolgen des HHV berichteten. Gewonnene Titel und Pokale waren aufgeführt. Hellblaue Trikots und modische weiße Röcke ließen die Sportlerinnen noch edler und erfolgreicher wirken. In Gedanken versunken nahm Maike jetzt erst wahr, dass ihr Handy erneut klingelte. Neugierig sah sie aufs Display: >Unbekannte Nummer<. Hatte Jonas seine Nummer unterdrückt, weil sie bis jetzt nicht ans Handy gegangen war? Bestimmt. Da war sie sich ziemlich sicher. Es klingelte noch immer. Genervt griff Maike nach dem Telefon, um das Gespräch anzunehmen.

»Was ist denn, Nervensäge?«, fragte Maike gespielt gelangweilt.