Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2014

Coverfoto: © Heike Carstensen

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2014

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-969-0
ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-970-6

Einführung

Gewaltfreiheit und Schule – das scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein. Tagein, tagaus berichten Medien von zunehmender Gewalt an deutschen Schulen, vielfach machen Schülerinnen und Schüler wie Lehrerinnen und Lehrer schulische Gewalterfahrungen. Erst recht, so kann man vermuten, an Förderschulen – doch vielleicht wird Gewalt ja dort lediglich direkter gelebt ...

Für uns, die Autorin und den Autor dieses Buches, war und ist dies ein „Problem“ – es wurde zu einer Herausforderung. Wir wollen anderes: Wir wollen, dass Schülerinnen und Schüler wie Lehrerinnen und Lehrer sich in der Schule wohlfühlen und in einem geschützten Rahmen leichter lernen und unterrichten können. Deshalb berichten wir von einem Schulentwicklungsprozess an der Marienschule in Damme. Sein Ziel war und ist es, die Schulordnung und die damit verbundenen Forderungen an Schülerinnen und Schüler zu ersetzen durch Bitten. Der Titel des Buches „Bitten statt Fordern“ benennt zugleich Ziel und Weg dieses Schulentwicklungsprozesses.

Die Marienschule Damme ist eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen. Zurzeit werden in elf Klassen 90 Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Zum Kollegium gehören 16 Lehrkräfte (14 Förderschullehrkräfte, eine Grund- und Hauptschullehrkraft und eine Vertragslehrerin). Hilde Fritz war an dieser Schule bis 2011 Förderschullehrerin. Gottfried Orth hat den Schulentwicklungsprozess begleitet.

Wer sind wir?

Hilde Fritz ist Förderschullehrerin, jetzt an der Albert-Schweitzer-Schule in Gießen. Sie hat seit fünf Jahren vielfältige eigene GFK-(Lern-)Erfahrungen, u. a. auch als Fortbildnerin von Studierenden, Lehrerinnen und Lehrern, Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten und in der Praxis Gewaltfreier Kommunikation in der (Förder-)Schule.

Gottfried Orth ist Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik (TU Braunschweig) und hat seit fünf Jahren umfassende eigene GFK-(Lern-)Erfahrungen als Fortbildner von Studierenden, Lehrerinnen und Lehrern, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern. Im Aufbau einer gewaltfreien und wertschätzenden Lern-Lehr-Kultur am Seminar für Evangelische Theologie und Religionspädagogik hat er Gewaltfreie Kommunikation ebenso zu praktizieren versucht wie in den Jahren 2009–2011 als Dekan der Fakultät für Geistes- und Erziehungswissenschaften.

Doch besser als diese äußeren Daten charakterisiert uns, wofür wir uns neben all dem anderen, was wir dort erleben, an Förderschule und Universität begeistern; deshalb beginnen wir dieses Buch wie einige unserer Vorträge:

GFK ist Begeisterung für lebendigen, einander wertschätzenden Kontakt und macht meine Arbeit schön – und wenn etwas schön ist, darf es auch anstrengend sein.

Gottfried: Hilde, was begeistert dich in deiner Arbeit als Förderschullehrerin?

 

Hilde: Am Morgen in die Schule zu kommen und von Schülern in ihren jeweiligen Stimmungen, mit Freude und Sorgen und Fragen begrüßt zu werden ...

Die Lebendigkeit der Beziehungen unter den Schülern, in der Klasse, zwischen mir und den Schülern, zwischen den Kollegen – es gibt einfach jeden Tag Neues ...

Schule gestalten zu können und Schule zu „spielen“; so wie als Kinder, ganz ernst und zugleich ganz witzig ...

Eigene Ideen und Schwerpunkte einbringen zu können ...

Mit anderen Erwachsenen und Schülern Schulalltag zu reflektieren ...

Gottfried, was begeistert dich in deiner Arbeit als Hochschullehrer?

 

Gottfried: Die Freiheit und die Zeitsouveränität, die ich habe ...

Dass ich dafür bezahlt werde, immer Neues lernen zu können ...

Universitäres Leben in unterschiedlichen Formen gestalten zu können ...

In jedem Semester die Chance zu haben, so viele neue junge Menschen, die mit großen Erwartungen an die Uni kommen, kennenzulernen ...

Junge Erwachsene auf ihrem Lebens- und Lernweg über vier bis fünf Jahre begleiten zu können ...

 

Hilde: Gottfried, welche Bedürfnisse erfüllst du dir als Hochschullehrer?

Gottfried: Autonomie, Freiheit, Verbundenheit, Sinn, Wertschätzung, Authentizität, Wachstum, Liebe. Hilde, welche Bedürfnisse erfüllst du dir als Förderschullehrerin?

Hilde: Authentizität vor allem, aber auch Kreativität, Verbundenheit, Solidarität, Verständigung, Sinn, Leichtigkeit, Lernen, Wertschätzung / Liebe.

Gottfried: Hilde, wie geht es dir, was fühlst du, wenn deine Bedürfnisse sich erfüllen?

Hilde: Ich bin beschwingt, lebendig, entspannt, angeregt ... Gottfried, wie geht es dir, was fühlst du, wenn deine Bedürfnisse sich erfüllen?

Gottfried: Ich fühle mich leicht, lebendig, froh, zufrieden, angeregt, unbekümmert, glücklich, weich ...

Es gibt neben anderem so viel, was uns an unserer Arbeit begeistert! Wir erfüllen uns mit ihr viele Bedürfnisse und fühlen uns dabei häufig erleichtert, angespornt, glücklich ... Und wir wünschen Ihnen, dass Sie bei der Lektüre dieses Buches etwas von dieser Begeisterung spüren, die Sie ermutigt und inspiriert.

Oft erleben wir oder erfahren davon, dass von und in der Schule anders geredet wird ...

Die Schule, so eine These der Friedensforschung, ist in Deutschland eine Institution „struktureller Gewalt“1. Eine Erfahrung aus dem Ende der 1990er Jahre mag dies bestätigen. So sagte mir, als ich damals Schulpfarrer in einem Gymnasium war, ein Gymnasiallehrer: „Herr Orth, lassen Sie Ihre Phantasien, die Schule ist eine Behörde!“ Gewalt und Verwaltungs- wie Behördenmentalität mögen eng zusammengehören und sich ausgebreitet haben. Die Unkulturen der Vermessung, der Evaluierung, der Sicherung von Qualität, der Implementierung und Akkreditierung sowie der Zentralisierung von Leistungsnormen und -anforderungen haben dazu beigetragen. Ist es da ein Wunder, dass mehr als 60 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer mittelbar oder direkt von Burn-out betroffen sind? – Eigentlich wollten sie ja einmal Kindern und Jugendlichen das zeigen, was sie lieben, denn dies bedeutet lehren ... Ist es wirklich verwunderlich, dass mehr als 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit Angst in die Schule gehen? – Eigentlich wollten sie ja einmal lernen, was sie im Leben stark macht ... Und dann sind ja da noch Sätze wie: „Alleine kann man ja eh nix machen.“ „Schuld sind die miserablen äußeren Bedingungen.“

Berechtigte Klagen, die beliebig auszudehnen wären, die ganze Lehrer- und Schülerbiografien füllen und tagtäglicher Gesprächsstoff landauf, landab in den Lehrerzimmern sind. Sie zeigen die Misere und die von Lehrerinnen und Lehrern persönlich so oft als qualvoll empfundene Situation, die sie immer wieder auch als krank machende Ausweglosigkeit erleben ... Wir wollen diese Erfahrungen ernst nehmen, nicht zuletzt, weil wir sie ja auch selbst in Schule und Universität immer wieder machen.

Trotz zunehmenden Verwaltungs- und Behördengeistes in Schulen haben wir zum Glück unsere Visionen und Hoffnungen noch nicht verloren, sondern uns immer wieder gegenseitig stärken und ermutigen können! Davon und wie sie anfingen, Realität zu werden, möchten wir berichten, ohne damit verbundene Schwierigkeiten und Zumutungen außen vor zu lassen. Wir möchten Sie ermutigen und begeistern, am liebsten auch inspirieren.

Gewaltfreie Kommunikation zu praktizieren heißt, sich auf „Liebesgeschichten“ einlassen zu wollen. Wie macht man das praktisch, „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – Liebe dich selbst wie deinen Nächsten“? – das war eine der Ausgangsfragen des Erfinders der Gewaltfreien Kommunikation, Marshall B. Rosenberg, während der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren. Dieser Kontext erscheint uns bedeutsam, denn Gewaltfreie Kommunikation will immer auch stärken, um die Kraft zu haben, herrschenden Gewohnheiten und Regeln zu widerstehen.

Zum Aufbau des Buches

Im ersten Kapitel des Buches bieten wir denen unter Ihnen, für die Gewaltfreie Kommunikation neu ist, eine kurze Einführung in die Haltung und Methode gewaltfreier und wertschätzender Kommunikation an und zeigen, welche Chancen sie für uns an der Schule eröffnet hat und immer wieder neu ermöglicht.2

Im zweiten Kapitel berichten wir mit kurzen reflexiven Einschüben und einer ganzen Reihe der dabei entstandenen Materialien von dem fast zweijährigen „Bittenprozess“ an der Marienschule, einem Schulentwicklungsprojekt besonderer Art, wie wir meinen. Und wir gehen abschließend auf seine gegenwärtige Fortsetzung ein.

Im dritten Kapitel folgt die Darstellung einer Befragung der Lehrerinnen und Lehrer sowie einiger Interviews mit Schülerinnen und Schülern, die nicht nur den Prozess reflektieren, sondern auch die Bedeutung – Chancen und Schwierigkeiten – gewaltfreier und wertschätzender Kommunikation im Schulalltag einer staatlichen Schule verdeutlichen.

Das abschließende Kapitel ist einer ausführlichen Reflexion dieses Schulentwicklungsprozesses gewidmet. Hier wollen wir über die geleistete Arbeit nachdenken und Sie inspirieren, Ähnliches an Ihrer Schule zu versuchen, indem wir weitere Entwicklungsmöglichkeiten dieses Prozesses aufzeigen. Reflexion und die Entwicklung von Visionen gehören für uns zusammen!

Danken und Wünschen

Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen und allen Schülerinnen und Schülern der Marienschule in Damme, die sich mit allen Schwierigkeiten, Zusatzaufgaben, Entdeckungen von Gemeinsamkeiten und Widersprüchlichkeiten auf den Weg gemacht haben, Gewaltfreier Kommunikation in der Schule einen Weg zu ebnen. Wir danken den Lehrerinnen und Lehrern für die Beteiligung an der Umfrage und den Schülerinnen und Schülern dafür, dass sie sich für Interviews zur Verfügung gestellt haben.

Wir danken den Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten, Lehrerinnen und Lehrern, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern, mit denen wir in Fortbildungen arbeiten und die uns durch ihre Ideen, ihre Begeisterung und ihre kritischen Einwände und Fragen beim Schreiben dieses Buches unterstützt haben.

Wir danken Frau Sabine Flegel-Teiwes, wissenschaftliche Hilfskraft am Seminar für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der TU Braunschweig, für ihre ebenso einfühlsame, kritische wie immer wieder zum neuen Durchdenken anregende Durchsicht des Manuskripts. Ohne sie hätte dieses Buch nicht seine jetzige Form gefunden.

Und wir danken der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, die durch eine großzügige Förderung die Arbeit an diesem Buch mit ermöglicht hat.

Wir wünschen Ihnen Freude und Ermutigung bei der Lektüre und sich vielleicht daran anschließenden praktischen Erfahrungen. Wenn Sie uns für Zustimmung und Kritik oder Anfragen und Fortbildungswünsche erreichen möchten, können Sie dies gerne über den Weg einer E-Mail tun: g.orth@tu-bs.de.

Hilde Fritz
Gottfried Orth

Gießen und Braunschweig / I-Pezzo im Herbst 2013

1. „Alles fing damit an, dass ich in der Schule von Gewaltfreier
Kommunikation erzählte ...“ – Eine kurze Einführung in Gewaltfreie Kommunikation

Aufgrund eigener Gewalterfahrungen in seinem Heimatstadtteil in Detroit während seiner Jugend und aufgrund seiner Unzufriedenheit mit klinisch-therapeutischer Arbeit hat Marshall B. Rosenberg Gewaltfreie Kommunikation im Kontext der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren entwickelt. Rosenberg praktiziert sie und entwickelt sie weiter als Hilfe in sowohl alltagssprachlichen Zusammenhängen als auch bei persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Konflikten. Sie nimmt Überlegungen von Rosenbergs akademischem Lehrer Carl Rogers auf und versteht sich als Haltung, deren Ziele Selbstachtung und Selbstliebe sowie der Aufbau wertschätzender und achtsamer Beziehungen zwischen Menschen sind.

„Jedem Menschen eine grundsätzliche Wertschätzung entgegenzubringen, ist die schönste Umgangsform, die wir uns selbst gegenüber wählen können. Wenn ich mich dafür entscheide, in jedem Menschen seine Schönheit zu sehen, dann behandle ich auch mich selbst mit Liebe. Das habe ich mir nicht ausgedacht, alle Religionen sagen das auf ihre Weise: ‚Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet‘, ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘.“3

Um gewaltfreie Kommunikation zu üben, hat Rosenberg zwei Tierpuppen eingeführt: den Wolf und die Giraffe. „Wolfssprache“ ist diejenige, die beurteilt und in Gewinner-Verlierer-Kategorien denkt. „Giraffensprache“ bemüht sich um Respekt und Wertschätzung jedes Menschen, seiner Gefühle und Bedürfnisse; sie ermöglicht Kooperation und erkennt Differenzen an.

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Ein Beispiel kann verdeutlichen, was mit Wolfssprache gemeint ist: „Wie immer: Du kommst schon wieder zu spät zum Unterricht!“ Ein klarer Vorwurf wird hier geäußert, und wenn ein Wolf so angegriffen wird, kann er eigentlich nur zurückbeißen – und schon ist eine Eskalation, die Kommunikation nahezu unmöglich macht, fast selbstverständlich. Zur Wolfssprache gehört auch, sich selbst und andere zu beschuldigen. Kennen Sie den Satz: „Ich kann ja eh nichts machen!“, oder: „Als Lehrer bin ich eigentlich nie gut genug ...“ So beschuldigen und greifen Sie sich selbst an. Sie machen sich klein und erfahren sich dann oftmals wirklich als handlungsunfähig ...

Giraffensprache kommt dagegen ganz ohne Vorwürfe oder Verurteilungen aus: Mit dieser Sprache drücken wir unsere eigenen Bedürfnisse und Gefühle aus und zeigen so, was jetzt in uns lebendig ist. Dabei können ‚Giraffen‘ auch den ‚Wolf‘ verstehen, weil sie davon ausgehen, dass auch er Gefühle hat und sich seine Bedürfnisse erfüllen möchte – er verwendet dafür nur leider Wörter und Sätze und Sprachformen, die das Verstehen so schwer machen.

Warum aber ausgerechnet eine Giraffe? Die Giraffe – so sagen Schülerinnen und Schüler immer wieder – hat den Überblick, „weil sie so einen langen Hals hat“. Das stimmt sicher auch. Für Rosenberg ist bedeutsam, dass die Giraffe das Landtier mit dem größten Herzen ist – und Gewaltfreie Kommunikation versteht sich als eine Sprache der Herzen.

1.1 Haltung und Dialogmodell Gewaltfreier Kommunikation

Die Schönheit und Würde jedes Menschen

Gewaltfreie Kommunikation will die Schönheit und Würde jedes Menschen betonen und achten. Im Kontext von Schule, in dem sich täglich ganz viele verschiedene Menschen begegnen, können sich Gedanke und Praxis der wechselseitigen Anerkennung der Würde jedes einzelnen Schülers und jeder einzelnen Schülerin bewähren. Unter vergleichsweise Gleichen einander Würde zuzuerkennen bleibt einfach gegenüber der Aufgabe, die Würde und die Schönheit des anderen auch dann anzuerkennen, wenn er bleibend verschieden fühlt, argumentiert, denkt und lebt. Diese Würde können Schülerinnen oder Schüler spüren, wenn sie von Mitschülerinnen und Mitschülern oder Lehrerinnen und Lehrern in einem sehr qualifizierten Sinne wahrgenommen und ‚gesehen‘ werden. Ein solcher wertschätzender Blick auf die einzelnen Kinder und Jugendlichen nimmt diese als Individuen wahr, ohne sie zu vergleichen oder unter-, über- und einzuordnen. Es geht zunächst darum, das einzigartig Schöne in jeder Schülerin und jedem Schüler entdecken zu wollen. Dann kann ich als Lehrerin oder Lehrer diese darauf hinweisen und ihnen zu dieser Wahrnehmung ‚Übersetzungshilfen‘ anbieten angesichts dessen, dass sie selbst sich untereinander oftmals eher vergleichen, einordnen oder gar abwerten.4

See Me Beautiful

See me beautiful
Look for the best in me
It’s what I really am
And all I want to be
It may take some time
It may be hard to find
But see me beautiful

See me beautiful
Each and every day
Could you take a chance
Could you find a way
To see me shining through
In everything I do
And see me beautiful

(Kathy und Red Grammer, „See Me Beautiful“)5

Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen

Jeder Mensch hat Bedürfnisse, braucht z. B. Beachtung, Liebe, Wertschätzung, Nahrung, Sicherheit und Schutz.

Grundannahmen Gewaltfreier Kommunikation

Bedürfnisse, so Gerlinde Fritsch, sind universelle Lebensmotive, d. h. alle Menschen in allen Kulturen haben die gleichen grundlegenden Bedürfnisse, um zu gedeihen und ein erfülltes Leben zu führen. „Alles Verhalten ist darauf ausgerichtet, Bedürfnisse zu erfüllen. Selbst tragisches Verhalten dient letztlich dem Ziel, das Leben zu verschönern. Ob das wirklich gelingt, ist eine andere Sache. Die spannende Frage ist, welches Bedürfnis durch ein Verhalten oder einen Verhaltensimpuls eigentlich befriedigt werden soll“7 – und wie dies gewaltfrei, friedensfördernd und lebensbereichernd gelingen kann.

Im Zentrum Gewaltfreier Kommunikation steht die Wahrnehmung dessen, was ich selbst und andere Menschen zum Leben brauchen. Verbindung zu mir selbst und anderen, so die bereichernde Erfahrung gewaltfreier Kommunikation, wird möglich, wenn ich meine eigenen Bedürfnisse ebenso wahr- und ernst nehme wie die meiner Mitmenschen: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – „Liebe dich selbst wie deinen Nächsten“.

M. Max-Neef hat neun solcher Grundbedürfnisse der Menschen formuliert:

Diese Grundbedürfnisse, so Max-Neef, sind unabhängig von den kulturellen, religiösen, gesellschaftlichen Bedingungen, innerhalb derer Menschen leben, und daher konstitutiv für alle Menschen.8

Gefühle und Bedürfnisse

Gefühle zeigen unsere Lebendigkeit. Sie sind differenzierte Möglichkeiten, die Welt, sich selbst und die eigenen Beziehungen immer neu wahrzunehmen. Es gibt ganz unterschiedliche Möglichkeiten, Gefühle näher zu kennzeichnen.9 Entscheidend erscheint uns folgende Differenzierung: Angenehme Gefühle zeigen uns, dass wichtige Bedürfnisse von uns erfüllt sind. Unangenehme Gefühle zeigen uns, dass wichtige Bedürfnisse von uns nicht erfüllt sind. Dabei ist „das innere Erleben von Gefühlen orientierungsgebend für uns selbst, und der Ausdruck von Gefühlen ist beziehungsbeeinflussend“10.

Gefühle sind komplexe Gebilde:

Weil Gefühle also von meiner Bewertung einer Situation und von meinen jeweiligen Bedürfnissen abhängen, ist es wenig sinnvoll, anderen Menschen die Verantwortung für das zu geben, was ich fühle. Sie entstehen im Zusammenspiel mit meiner Erziehung und Sozialisation, meiner aktuellen körperlichen und seelischen Verfassung, meinem Denken ... Entscheidend dabei erscheint, dass jeder und jede selbst auf seine bzw. ihre Gefühle aktiv einwirken kann, sie also nicht lediglich ‚erdulden‘ muss.

Dazu gehört auch, dass Gefühle nicht direkt veränderbar sind. Es nutzt nichts zu sagen: „Du brauchst keine Angst zu haben.“ Unangenehme Gefühle verschwinden vielmehr dann, wenn

Bedürfnisse und Strategien ihrer Erfüllung

In Gewaltfreier Kommunikation wird zwischen Bedürfnissen und Strategien unterschieden: Mit Strategien erfüllen Menschen sich selbst und einander ihre Bedürfnisse und die der anderen. M. B. Rosenberg12 stellt die auf die Ebene der Strategien zielende Frage: „Willst du recht haben oder glücklich sein?“, und aufgrund seiner Erfahrung behauptet er, dass beides zusammen nicht gehe. Um Missverständnissen dieses Satzes gleich zu wehren: Er zielt zum einen nicht auf ein Aufgeben eigenen Rechts, wohl aber darauf, dem anderen sein Recht zu lassen; mein Recht ist letztlich ebenso wenig maßgebend wie seines. Und er weist zum Zweiten – und dies ist bedeutsamer – darauf hin, dass es im Dialog um Strategien darauf ankommt, die Bedürfnisse wahrzunehmen, zu deren Erfüllung sie gewählt werden, um sich auf der Ebene der allen Menschen gemeinsamen Bedürfnisse zunächst miteinander zu verbinden. Wenn dies gelingt, kann ich recht haben und der andere recht haben, können beide Bedürfnisse zugleich oder in einer zeitlich versetzten Weise erfüllt werden – und beide können glücklich sein! Bleiben wir dagegen lediglich auf der Ebene divergierender Strategien, die ich jetzt anwende, um mein Bedürfnis jetzt zu erfüllen, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer zu nehmen, erscheint dies kaum möglich. Konflikte sind fast notwendig vorprogrammiert.

In der Schule treffen täglich ganz unterschiedliche Menschen zusammen. Sie handeln sehr unterschiedlich, so wie sie es jeweils gelernt oder eingeübt haben; in der Sprache Gewaltfreier Kommunikation: Ihre Strategien sind verschieden. Was sie dagegen vereint, sind ihre Bedürfnisse.13 Das Zusammenleben mit so verschiedenen Menschen gewinnt dann an Leichtigkeit, wenn es nicht mehr darum geht, Verhaltensweisen oder handlungsleitende Impulse, also Strategien, gegeneinander durchzusetzen, sondern Leben in der Gemeinsamkeit der Bedürfnisse zu gestalten und die Strategien herauszufinden, die bleibend verschiedenen Menschen die gewaltfreie, friedensfördernde, lebensbereichernde und oftmals unterschiedliche Erfüllung ihrer Bedürfnisse ermöglichen. Der Blick auf die Bedürfnisse lockert bei klarer Wahrnehmung und Unterscheidung von „Ich“ und „Du“ die Grenzen zwischen „mir“ und „anderen“.

Die vier Schritte

Gewaltfreie Kommunikation ist zunächst eine Haltung grundsätzlicher Wertschätzung mir selbst und anderen gegenüber. Sie zielt auf ein gewaltfreies Miteinander ich-starker Menschen. Als Hilfestellung, diese Haltung einzuüben, hat Rosenberg sein aus vier Schritten bestehendes Kommunikationsmodell entwickelt. Er selbst vergleicht sein Modell einmal im Rückbezug auf eine abgewandelte buddhistische Parabel mit einem Floß: „Sie stehen am Ufer eines Flusses, den Sie überqueren wollen, um an einen wunderbaren Ort zu gelangen. Deshalb besorgen Sie sich ein Floß. Dieses Floß ist genau das richtige Hilfsmittel, um Sie über den Fluss zu bringen. Sobald sie erst einmal auf der anderen Seite des Flusses angelangt sind, müssen Sie nur noch wenige Kilometer zurücklegen, um diesen wunderbaren Ort zu erreichen. Und die buddhistische Parabel endet folgendermaßen: ‚Der ist ein Narr, der den Weg zum heiligen Ort fortsetzt, und sich dabei das Floß auf seinen Rücken lädt.‘ Gewaltfreie Kommunikation ist ein Werkzeug, um mir über meine kulturellen Konditionierungen hinwegzuhelfen, damit ich zu dem wunderbaren Ort gelangen kann. Gewaltfreie Kommunikation ist nicht der Ort.“14

Die vier Schritte

  1. Ich benenne die klare Beobachtung einer Situation, ohne diese zu beurteilen oder zu bewerten.
  2. Ich drücke die Gefühle aus, die ich mit der Situation verbinde / die die Situation in mir auslöst und die mich auf meine Bedürfnisse hinweisen.
  3. Ich formuliere die Bedürfnisse, die erfüllt oder unerfüllt sind.
  4. Ich formuliere eine konkrete und handlungsorientierte Bitte an andere oder an mich selbst, die meine Bedürfnisse hier und jetzt erfüllen kann – eine Bitte, die, wenn sie erfüllt wird, mein Leben in dieser konkreten Situation schöner werden lässt.

Schritt 1: Beobachtung

Der erste Schritt zielt darauf, eine Beobachtung – gleichsam im filmischen Blick (was sehe ich, was höre ich?) – zu äußern, ohne dass irgendeine Bewertung mitschwingt. Meistens äußern Menschen Beobachtungen sogleich verknüpft mit Verurteilungen, Analysen, Kritik, Lob oder Diagnose. Das macht es dem / der Zuhörenden schwer, sich auf die Beobachtung zu konzentrieren, weil er / sie sogleich die Bewertung mithört. Die Beschreibung der Beobachtung ist also so angelegt, dass sie von dem / der anderen vermutlich geteilt werden kann.

 Beispiel:

Statt: „Also Timo, ich bin stinksauer, weil du andauernd während meines Unterrichts mit deinem Handy spielst!“

sagt der Lehrer in GFK: „Timo, ich sehe, dass du in dieser Stunde zum dritten Mal unter dem Tisch dein Handy anschaust und Tasten drückst.“

Der Vorteil dieser beobachtenden Formulierung liegt zunächst darin, dass ich mich mit Timo nun weder über „andauernd“ streiten muss noch darüber, ob er spielt oder recherchiert oder SMS schreibt. Timo kann wahrscheinlich dieser Beobachtung zustimmen, und Lehrer und Schüler sind sogleich beim Thema.

Schritt 2: Gefühle

Konflikte sind immer gefühlsgeladen; bei den verschiedenen an den Konflikten beteiligten Personen können dies ganz unterschiedliche, auch einander widersprechende Gefühle sein. So ist es wichtig, seine Gefühle wahrzunehmen und zu äußern – doch, und dies erscheint uns entscheidend, getrennt von der Beobachtung.

Beispiel:

Statt: „Also Timo, ich bin stinksauer, weil du andauernd während meines Unterrichts mit deinem Handy spielst!“

sagt der Lehrer in GFK: „Timo, ich sehe, dass du in dieser Stunde zum dritten Mal unter dem Tisch dein Handy anschaust und Tasten drückst.“ – „Ich bin besorgt jetzt!“

Schritt 3: Bedürfnisse

Mit der Benennung dessen, was ich brauche, wird ausgedrückt, worauf meine Gefühle mich hinweisen. Dies trägt zur Klarheit des Gesprächs ebenso bei wie dazu, Lösungsmöglichkeiten für einen Konflikt zu finden.

 Beispiel:

Statt: „Also Timo, ich bin stinksauer, weil du andauernd während meines Unterrichts mit deinem Handy spielst! Und du weißt: Ich merke mir so was!“

sagt der Lehrer in GFK: „Timo, ich sehe, dass du in dieser Stunde zum dritten Mal unter dem Tisch dein Handy anschaust und Tasten drückst.“ – „Ich bin besorgt jetzt!“ – „weil ich sicher sein möchte, dass diese Erklärung für die Weiterarbeit von allen Schülern gehört und verstanden wird.“

Schritt 4: Bitte

Eine Bitte sollte hier und jetzt erfüllt werden können und handlungsorientiert sein. Ihr zentrales Kennzeichen ist, dass sie Freiheit in der Beantwortung ermöglicht. Forderungen dagegen signalisieren Zwang und führen eher zu Rebellion oder Unterwerfung.

 Beispiel:

Statt: „Also Timo, ich bin stinksauer, weil du andauernd während meines Unterrichts mit deinem Handy spielst! Nach der Stunde bleibst du hier und wiederholst, was ich gesagt habe!“

sagt der Lehrer in GFK: „Timo, ich sehe, dass du in dieser Stunde zum dritten Mal unter dem Tisch dein Handy anschaust und Tasten drückst.“ – „Ich bin besorgt jetzt!“ – „weil ich sicher sein möchte, dass diese Erklärung für die Weiterarbeit von allen Schülern gehört und verstanden wird.“ „Bist du bitte bereit, dein Handy für den Rest der Stunde in der Tasche zu lassen?“ „Bist du auch bereit, mit mir in der Pause zehn Minuten über die Handynutzung während meines Unterrichts zu sprechen?“

Die vier Schritte lassen sich auch in folgenden Satz kleiden: