Das höllische Kind

 

 

 

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Band 36

 

Das höllische Kind

 

von Rüdiger Silber und Logan Dee

nach einer Story von Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2013

© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Lektorat: Reinhard Schmidt

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt.

Nach jahrelangen Scharmützeln scheint endlich wieder Ruhe einzukehren: Michael Zamis und seine Familie festigen ihre Stellung als stärkste Familie in Wien, und auch Asmodi findet sich mit den Gegebenheiten ab. Coco Zamis indes hat sich von ihrer Familie offiziell emanzipiert. Das geheimnisvolle »Café Zamis«, dessen wahrer Ursprung in der Vergangenheit begründet liegt und innerhalb dessen Mauern allein Cocos Magie wirkt, ist zu einem neutralen Ort innerhalb Wiens geworden. Menschen wie Dämonen treffen sich dort – und manchmal auch Kreaturen, die alles andere als erwünscht sind …

Doch kaum hat sich Coco Zamis mit dem Café Zamis in Wien etabliert, kündigt sich neues Unheil an: Ihr verschwundener Bruder Volkart schwebt in Gefahr. Schon einmal befand er sich in der Gewalt eines Nekromanten, von dem er sich erhofft hatte, seinen vor Jahren ermordeten Zwillingsbruder Demian zum Leben zu erwecken.

Gleichzeitig macht ein Schwarm Raben die Metropole unsicher. In ihrem Gefolge erscheinen die geheimnisvollen Todesboten. Sie übergeben den drei mächtigsten Dämonen Wiens das Schwarze Siegel:

Eine Woche haben sie noch zu leben. Doch die drei hießen nicht Skarabäus Toth, Michael und Coco Zamis, wenn sie sich kampflos fügen würden. Sie schließen einen Pakt, denn nur gemeinsam haben sie eine Chance, das Todesurteil abzuwenden.

Allerdings gibt es da noch einen Haken: Keiner von ihnen traut dem jeweils anderen über den Weg. Während Coco von den Todesboten in das Jahr 1421 geschleppt wird und dort als Hexe hingerichtet werden soll, suchen Toth und Michael Zamis nach weiteren Verbündeten innerhalb der Schwarzen Familie.

Doch das Ultimatum läuft. Die Zeit wird knapp.

 

 

 

 

Erstes Buch: Der Folterkeller

 

 

Der Folterkeller

 

von Rüdiger Silber

nach einer Story von Uwe Voehl

 

1.

 

Vergangenheit (Schloss Behemoth)

Schloss Behemoth in der Steiermark war eine von meinem Onkel Cyrano geführte Internatsschule für die Zöglinge der besseren Dämonenfamilien. Zu der Zeit, als meine Schwester Vera und ich dort aufgenommen wurden, gab es nur eine einzige Professorin. Sie hieß Sandra Thornton, und sie unterrichtete ein einziges Fach: die Schwarze Magie. Als Weib war Sandra böse. Als Hexe durchschnittlich. Aber als Lehrerin anerkannt.

Schon bei der Anmeldung seiner Töchter hatte unser Vater den Onkel darauf vorbereitet, wen er zu erwarten habe: Vera, die ältere, wohlgeratene der beiden Schwestern, sei grausam veranlagt und auch lernbegierig, was die Schwarzen Künste betreffe, aber leider als Hexe nur mäßig begabt. Coco, das Sorgenkind, sei drauf und dran, ungeraten zu werden. Weichherzig sei sie, allzu menschenfreundlich. Allen Anzeichen nach hochbegabt für die Hexenkünste, aber leider nicht sehr daran interessiert, sie zu meistern.

Sandra Thornton beriet sich mit Cyrano. Das Ergebnis waren zunächst unterschiedliche Lehrinhalte für Vera und mich. Später solle sich das ändern, hieß es. Was sich jedoch nie änderte, war die Vorzugstellung, die Vera genoss.

Schon vom ersten Unterrichtstag an erhielt Vera die theoretische und praktische Hexenschulung.

Mir hingegen verordnete Sandra vor dem Beginn der magischen Unterweisung eine, wie sie es nannte, Formung meiner Hexenpersönlichkeit. In der Praxis bedeutete das, dass ich tagtäglich endlose Stunden bei funzeligem Licht in der riesigen, staubig-dunklen Schlossbibliothek hockte. Aber ich studierte nicht die magischen Manuskripte und Zauberhandbücher, sondern musste meine Nase in uralte, muffige Scharteken über Hexenverfolgung und Hexenprozesse tunken. Gelangweilt und abgestoßen zugleich kämpfte ich mit dem ungewohnten Schriftbild und der veralteten Sprache. Zeile für Zeile buchstabierte ich mich durch betagte Werke wie Von denen Unholden oder Hexen des Ulrich Molitoris, erschienen anno 1489; durch Johann Weyers Von Teuffelsgespenstern, Zauberern und Gifftbereytern aus dem Jahr 1563; durch die 1591 erschienene Ausgabe von Jean Bodins Vom Außgelasnen Wütigen Teuffelsheer, außerdem durch den Tractat von Bekantnuß der Zauberer und Hexen des Petrus Binsfeld von 1590, durch die Daemonolatria des Nicolaus Remigius in der deutschen Übersetzung von 1598 und durch eine anonyme Schwarte mit dem Titel Ein rechtlicher Proceß gegen die Unholden und Zauberische Personen, welche im Jahr 1629 gedruckt worden war. Ebenso mühsam nagte ich mich durch zahlreiche vergleichbare Schriften. Es war ein überaus schwieriger Lesestoff und so ermüdend wie abstoßend, erst recht für eine kaum elfjährige Hexenschülerin. Hinzu kamen die stockfleckigen, unangenehm riechenden Pergamentseiten, die verfärbten, verzogenen, wurmstichigen Ledereinbände. Einige der Bücher, behauptete Miss Thornton, seien in Menschenhaut gebunden. Ich glaubte ihr nicht recht, aber die Vorstellung mehrte meinen Widerwillen. Auch die teilweise abstoßenden Holzschnitte, welche die Berichte von den Hexenfoltern illustrierten, machten die Sache nicht besser. Darum war ich froh, dass die meisten in der Bibliothek verwahrten Schwarten dieser Art in französischer, lateinischer oder sogar arabischer Sprache gedruckt worden waren, sodass mir ihre Lektüre, da ich diese Sprachen noch nicht beherrschte, erspart blieb.

Die Absicht hinter diesem von Miss Thornton ersonnenen pädagogischen Konzept war, Hass auf Menschen in mir zu schüren. Wenn Menschen angebliche Hexen zu Tode schinden, warum sollten dann echte Hexen Skrupel gegenüber Menschen hegen? Zugleich sollten die Folterberichte die dämonische Lust an der Grausamkeit in mir wachrufen.

Aber die Quälereien in den Folterkellern, über die ich las, stießen mich nur ab. Es stimmt, die Untaten der Hexenverfolger riefen Zorn in mir hervor. Dennoch war ich mir allzu deutlich bewusst, dass meine eigene dämonische Familie den Scharfrichtern und Foltermeistern an Grausamkeit in nichts nachstand. Was in den jahrhundertealten Wälzern geschildert wurde, spielte sich im Keller der Villa Zamis noch heute regelmäßig ab. Obwohl ich Mitleid mit den unter der Hexereibezichtigung gefolterten und verbrannten Frauen und Männern empfand, identifizierte ich mich als künftige Hexe jedoch nicht mit ihnen. Schließlich waren in der Regel keine echten Hexen unter den Opfern. Wirkliche Hexen aus dämonischen Familien wie der meinen besaßen zu allen Zeiten genügend Mittel und Wege, sich dem Zugriff sterblicher Inquisitoren zu entziehen.

Abends, wenn Onkel Cyrano, Sandra Thornton und die drei Schüler, die sich derzeit in ihrer Obhut befanden, am Esstisch im holzgetäfelten Speisesaal saßen und gemeinsam das Abendbrot einnahmen, liebte es die Ausbilderin, uns vor dem Hausherrn zu examinieren und die Lernfortschritte abzufragen, die wir tagsüber erzielt hatten.

Sie begann bei dem Zögling, der schon am längsten auf dem Schloss weilte und auch der Älteste von uns dreien war. Anton Oberstaller war ein hoffnungsloser Fall. Er kam aus Salzburg, gehörte also wie Vera und ich dem alpenländischen Stamm der Schwarzen Familie an. Anton war ein sogenannter Geryone. Geryonen zählen zu den selteneren Dämonen – gegen sie sind Hexen, Werwölfe oder Vampire Dutzendware. Dennoch genießen Geryonen innerhalb der Dämonenzunft nur ein geringes Ansehen. Ihre besondere Fähigkeit besteht darin, dass sie sich dreiteilen, das heißt körperlich in drei identische, aber eigenständige Persönlichkeiten aufspalten können. Oder anders gesagt: Sie sind imstande, einen oder zwei Doppelgänger von sich selbst zu erzeugen. So selten diese Gabe ist, große Macht verleiht sie nicht: Im Zweikampf steht ein Geryone seinem Gegner plötzlich zu dritt gegenüber; ein Geryone kann Arbeiten dreimal so schnell verrichten; ein Geryone kann sich an drei verschiedenen Orten zugleich aufhalten, soweit sie nicht zu weit auseinanderliegen. Das ist nützlich, wenn man Feinde verwirren oder sich ein Alibi verschaffen will. Aber man erwirbt damit kaum so viel Ansehen unter Mitdämonen wie ein durchschnittlicher Gestaltwandler.

Die Natur hatte gegenüber Anton mit ihren Gaben gegeizt. Doch die Oberstaller-Sippe hoffte, ihr Sprössling könne dieses Manko teilweise wettmachen, indem er sich durch Ehrgeiz und Fleiß eine brauchbare Grundlage schwarzmagischer Kenntnisse erwarb. Leider war Anton weder ehrgeizig noch fleißig. Obendrein fehlte ihm jedwedes magische Talent.

Inzwischen war Antons Internatszeit fast zu Ende. Sein Heimreisetermin stand fest. In einer Woche sollte die Abschlussprüfung stattfinden. Es drohte ein Desaster. Die Blamage würde auch Sandra Thornton und am Ende Onkel Behemoth treffen.

Nachdem unsere Lehrerin Anton an der Abendtafel ein wenig auf den Zahn gefühlt und wieder nur blanke Unkenntnis zutage gefördert hatte, sah sie wohlweislich von weiterem Nachbohren ab. Dennoch war nicht zu übersehen, dass Anton, Sandra und Onkel Behemoth der Appetit vergangen war.

Als Nächstes kam Vera an die Reihe. Finster und neiderfüllt sah Anton zu, wie meine Schwester bei Sandras Befragung mit frisch erworbenem schwarzmagischem Schulwissen glänzte.

Zum Schluss nahm Miss Thornton sich die Jüngste vor. Mich.

»Nun zu dir, Coco«, flötete sie. »Wie hast du den Tag verbracht?«

»Ich war in der Bibliothek und habe gelesen«, antwortete ich wunsch- und wahrheitsgemäß.

»Hättest du dann bitte die Güte, unsere Tafel an den Erleuchtungen teilhaben zu lassen, die dein Studium dir gewährt hat?« Miss Thornton liebte eine geschwollene, ironische Ausdrucksweise. Besonders mir gegenüber.

Ich überlegte kurz. Ich wollte das Angelesene möglichst bündig und schlüssig zusammenfassen und damit der Thornton nur wenig Gelegenheit für sarkastische Zwischenfragen einräumen.

»Weltliche Angeklagte, also gewöhnliche Verbrecher«, begann ich, »konnten überleben, wenn sie willensstark genug waren, die Folter auszuhalten, ohne etwas zu gestehen. Sie wurden dann freigelassen. So kamen ausgerechnet die hartgesottenen Frevler manchmal davon.«

Ich fuhr fort: »Doch bei den Hexen war das nicht so. Das crimen magiae, das Verbrechen der Zauberei, galt als crimen exceptum, also als Ausnahmeverbrechen. Ein solches rechtfertigte die tormentum exceptum, die Ausnahmefolter. Den Folterknechten waren keine Grenzen mehr gezogen. Die Folge davon war, dass nichtgeständige Angeklagte in der Regel zu Tode gefoltert und geständige hingerichtet wurden – Überlebende gab es nur selten. Wer des crimen magiae bezichtigt wurde, hatte fast keine Chance, egal wie absurd die Bezichtigung sein mochte. Tausende unschuldiger Menschen fanden unter der Tortur oder auf dem Scheiterhaufen ein entsetzliches Ende.«

»Letzteres, Coco«, unterbrach mich Miss Thornton spitz, »ist kein Aspekt, dem eine wahre Hexe irgendwelche Bedeutung beimisst. Also sei bitte so gütig und halte dich an die schlichten Fakten.«

Ich nickte – und nahm den Faden wieder auf: »In der Folterkammer waren außer dem Inquisiten – dem zu Verhörenden – folgende Personen anwesend: der Richter oder Inquisitor; der Gerichtsschreiber oder Aktuarius als Protokollant; der Scharfrichter oder Foltermeister und einer oder mehrere Folterknechte, die ihm assistierten – diese wurden als Adlaten bezeichnet. Die Folter, auch Peinliche Befragung genannt, war in verschiedene, sich steigernde Schweregrade unterteilt. Die Tortur begann mit der territio nuda sive verbalis, der Verbalterrition oder Schreckung. Diese diente nicht dazu, Schmerzen beizubringen, sondern einzuschüchtern und Angst zu erwecken. Dabei wurden dem Inquisiten oder der Inquisitin die einzelnen Folterinstrumente gezeigt und ihre Anwendung erklärt. Häufig reichte das bereits, um das schuldlose Opfer zu …«

Wieder fiel mir Miss Thornton ins Wort: »Schuldloses Opfer. Das ist in diesem Zusammenhang keine sachliche Wortwahl, liebe Coco.«

Ich verbesserte mich: »… um die Inquisitin zum Geständnis zu bewegen. Verweigerte sie das Geständnis, wurde sie nackt ausgezogen. Das dadurch hervorgerufene Gefühl der Scham und der Schutzlosigkeit galt als Bestandteil der Verbalterrition. Erneut wurde die Inquisitin zum Geständnis gedrängt. Weigerte sie sich weiterhin, ging der Foltermeister von der territio verbalis zur territio realis, zur eigentlichen Tortur über. Jetzt kamen die Folterwerkzeuge direkt am Körper zum Einsatz. Immer wieder wurde die torquenda, die Gemarterte, beschworen, ein Geständnis abzulegen. Nach jeder Weigerung wurde der Foltergrad verschärft, die Folterqual gesteigert. Auf Befehl des Inquisitors konnte der Foltermeister im Verlauf der Tortur an ›geheimen‹ Körperstellen nach dem ›Hexenmal‹ suchen. Hierzu wurden der Inquisitin in einer qualvollen Prozedur alle Körperhaare weggebrannt.«

Ich verstummte. Hoffentlich genügte das für heute. Mir war der Appetit schon jetzt vergangen.

Miss Thornton lächelte süßlich. »Danke für die kundigen Ausführungen, Coco. Du hast fleißig gelernt. Beim nächsten Mal wirst du uns dann en detail über die verschiedenen Foltermethoden aufklären. Bereite dich morgen beim Studium in der Bibliothek entsprechend vor.«

Am folgenden Vormittag betrat ich die düstere Bibliothek eingedenk meiner Hausaufgabe noch widerwilliger als bisher. Als ich mir meine Studienlektüre aus dem Regal zusammenstellte, bemerkte ich eine Lücke in der Reihe der Foliobände. Ich stellte fest, dass es sich bei dem fehlenden Buch um die Hochnötige Unterthanige Wemütige Klage Der Frommen Unschültigen von Hermann Löher handelte. Dieses Werk sticht durch die Menge der Holzschnitte hervor, die die Foltermethoden bei der Hexenvernehmung in allen Einzelheiten veranschaulichen. Niemand war befugt, ohne Graf Behemoths ausdrückliche Erlaubnis ein Buch aus der Bibliothek zu entleihen – schon gar nicht ein derart seltenes Werk: direkt nach dem Erscheinen im Jahr 1676 war die gesamte Auflage des Löher-Wälzers, eines Anti-Hexenjagd-Buches, makuliert worden. Nur zwei bereits verkaufte Exemplare entgingen der Vernichtung. Das Buch hätte zu meiner heutigen Vorbereitungslektüre gehört. Ich überlegte, ob irgendjemand mir übel mitspielen und mich dem Verdacht des Bücherdiebstahls aussetzen wollte.

Später, beim gemeinsamen Abendessen, erfolgte keine Lehrstoff-Abfrage. Wahrscheinlich wollten Sandra Thornton und Onkel Behemoth sich nicht schon wieder die Laune von Antons Aussichtslosigkeit verderben lassen. Dafür erhärtete sich mein Verdacht, dass Anton oder Vera – oder beide – etwas gegen mich im Schilde führten. Anton warf mir unentwegt verstohlene Blicke zu, von denen ich eine kalte Gänsehaut bekam. Vera hingegen gab sich auffallende Mühe, mich wie Luft zu behandeln. Nie blickte sie in meine Richtung. Doch ich sah ihre Mundwinkel zucken, als sei sie permanent bemüht, ein gemeines Grinsen zu unterdrücken.

Nach dem Zähneputzen verschanzte ich mich in meiner Kammer. Sie war klein und spartanisch möbliert. Einen Kamin gab es nicht, weswegen die Kammer im Winter klirrend kalt war. Aber immerhin hatte ich die wenigen Quadratmeter für mich allein. Ein weiterer Vorteil war die zweite Tür, die auf einen schmalen Söller hinausführte. Einzelzimmer mit Balkon, hatte ich gedacht, als ich mein Gemach zum ersten Mal betreten hatte.

Die gemauerten Wände waren so dick, dass ich von Anton Oberstaller, dem Bewohner des Nachbarzimmers, nichts mitbekam. Später, nach seiner Abreise, zog dort der schreckliche Vampirjunge Pietro Salvatori ein … aber das ist eine andere Geschichte.

Ich trat auf den Söller hinaus und beobachtete den schwarzen Kater, der über die Zinnen der Burgmauern stolzierte. In den alten Büchern hatte ich gelesen, dass man den angeblichen Hexen nachsagte, von tiergestaltigen, sogenannten Familiargeistern begleitet zu werden. Diese ›Familiare‹ galten als Dämonen, die Botendienste zwischen den Hexen und ihrem satanischen Gebieter versahen. Ein Rabe, ein Hund, ja sogar ein Hase oder eine Kröte, die sich in eine menschliche Behausung oder auf ein Grundstück verirrten, konnten der Bewohnerin eine Anklage wegen Hexerei und damit die Folter eintragen, weil man die Tiere für den Familiargeist der Bedauernswerten hielt. Schwarze Katzen waren in dieser Hinsicht natürlich ganz besonders verdächtig.

Gerne hätte ich mich mit dem Schlosskater angefreundet. Dann hätte auch ich einen eigenen Familiargeist besessen. Ich wusste sogar schon, wie ich ihn nennen würde: Butzemann. Ein passender Name für einen Teufelsboten in der Maske eines schwarzen Katers, wie ich fand. Oder wäre es umgekehrt – würde vielmehr ich der Familiar des Katers sein? Der Gedanke amüsierte mich. In der Tat war er ja nur ein harmloser Vierpföter – ich hingegen ein Dämon in Menschengestalt.

Leider war es mir nie gelungen, das Tier anzulocken und für mich zu gewinnen. Vielleicht war es allergisch gegen Hexen. Oder es war selbst eine Hexe. Auch das hatte man Hexen nachgesagt – dass sie sich in schwarze Katzen verwandelten.

Bald verschlang die aufziehende Dämmerung den finsterfarbenen Feliden. Ich zog mich ins Zimmer zurück, entkleidete mich und streifte das Nachthemd über. Dann streckte ich mich auf der schmalen Zimmerpritsche aus und kuschelte mich unter die Decke. Wenig später war ich eingeschlafen.

 

Ich erwachte, weil ich zu ersticken glaubte. Ein harter Druck verschloss mir Mund und Nase. Ich riss die Augen auf.

Und blickte in Anton Oberstallers schmales, aber teigiges Gesicht. Oder genauer gesagt: in seine beiden identischen Gesichter. Anton Nummer eins presste mir die verschwitzte Handfläche auf Kinn und Wangen. Anton Nummer zwei zischte tonlos: »Kein Wort, Coco. Sonst …« Er richtete den Taschenlampenstrahl auf die Klinge, die aus seiner andern Hand ragte und gefährlich aufblitzte. Langsam nahm Anton Nummer eins seine erstickende Pfote weg. Ich schnappte nach Luft. Anton Nummer eins gewährte mir zwei hektische Atemzüge, dann pappte er mir einen Streifen Haftband über die Lippen. Meine Nasenflügel blähten sich, aber ich bekam noch genug Luft zum Atmen. »Du kommst jetzt mit uns«, gebot Anton Nummer zwei.

Sein Zwilling, Anton Nummer eins, zerrte die Bettdecke fort und wälzte mich auf den Bauch. Dann verschränkte er mir die Arme auf dem Rücken, und ich spürte, wie er mir mit einem weiteren Stück Klebestreifen die Hände zusammenband. Ich wurde auf die Beine gehoben.

Anton war vier Jahre älter, anderthalb Köpfe größer und etliche Pfund schwerer als ich. Obendrein hatte ich es mit einer verdoppelten Version seiner selbst zu tun. Die wenigen Hexenkunststücke, die ich bereits beherrschte, konnte ich mit zugeklebtem Mund und gefesselten Händen nicht ausführen. Sie waren auch zu harmlos, um mir in einer solchen Situation von Nutzen zu sein. Mit reiner Geisteskraft zu zaubern vermochte ich damals erst recht nicht.

Als sie mich aus dem Zimmer führten, bemerkte ich, dass das Türschloss unversehrt war. Anton hatte es nicht aufgebrochen. In mir keimte der Verdacht, dass Vera mit einem Einbruchszauber behilflich gewesen war.

Schon nach wenigen Schritten auf dem nackten Steinboden schmerzten mir die Füße vor Kälte. Die beiden Antons flankierten mich. Der eine hielt einen gefesselten Arm gepackt. Der andere beleuchtete den Weg mit der Taschenlampe und drohte mir zugleich fortgesetzt mit dem Messer. Die beiden besaßen identisch aussehende Körper, waren aber unterschiedlich angezogen. Daran ließen sie sich voneinander unterscheiden. Ich kannte die Kleidungsstücke. Sie stammten aus Antons Gewandschrank, er hatte sie häufig in verschiedenen Kombinationen getragen.

Wir stiegen in die Kellergewölbe des Schlosses hinab. Die schmale Spindeltreppe zwang uns zum Gänsemarsch. Anton Nummer eins ging mit der Taschenlampe voran. Sein Zwilling hatte das Messer übernommen und bildete die Nachhut. Ich ging in der Mitte. Nicht nur meine blanken Fußsohlen waren längst gefühllos. Unter dem dünnen Nachthemd spürte ich, wie mir die Kälte allmählich durch die Haut und ins Fleisch kroch.

Eine zusätzliche Furcht beschlich mich. Ich wusste, dass die Gewölbe von Schloss Behemoth ein wahres Labyrinth waren und dass manch geheime Winkel von niemandem außer meinem Onkel betreten werden durften. Gesichert waren sie mit Schutzzaubern und magischen Fallen, von denen viele tödlich wirkten. Einige taten den Opfern noch Schlimmeres an, als sie zu töten. Niemand von uns dreien vermochte die Schranken und Fallen außer Kraft zu setzen. Und selbst ich als begabte, aber noch ungeschulte Novizin der Hexenkunst würde die allermeisten nicht einmal bemerken, ehe es zu spät war.

Doch zu meiner Erleichterung brachten die beiden Antons mich in Onkel Behemoths Weinkeller. Dort lagerten zwar die erlesensten Tropfen. Aber da die menschlichen, im Bann des Grafen stehenden Dienstboten regelmäßig hier herunter geschickt wurden, gab es zwischen den Weinregalen keine magischen Hindernisse oder Fallen.

Somit richtete meine Angst sich ausschließlich auf das, was Anton vorhaben mochte …

Wenn er jemanden hasste, dann eher meine Schwester. Weil sie Miss Thorntons strebsame Lieblingsschülerin war. Mit mir hatte er sich nie abgegeben. Wie es schien, war die kleine Coco-Göre ihm schnurz gewesen. Jedenfalls bis jetzt.

Meine Gedanken rasten, aber sie bewegten sich im Kreis und fanden kein Ziel. Nur eins wusste ich jetzt: Mein Verdacht, Anton und Vera wollten mir eine Buchentwendung unterschieben, war viel zu optimistisch gewesen.

Offenbar fehlte es hier unten an Elektrizität. Jedenfalls betätigte Anton keinen Lichtschalter. Nur der kegelförmige Strahl der Taschenlampe durchdrang die Dunkelheit und schälte rohe Mauersteine und von Spinnweben überzogene Holzgestelle voll staubiger Flaschen aus der Schwärze hervor.

Plötzlich wies ein flackernder Schein uns den Weg. Gleich darauf betraten wir ein Gewölbe, das von Wandfackeln erhellt war.

»Da bist du ja endlich, Coco. Schön, dass du hergefunden hast!«, empfing mich eine spöttische Stimme.

Sie gehörte Anton Nummer drei, der hier auf uns gewartet hatte. Er lachte leise. Natürlich hatte er ganz genau gewusst, in welcher Sekunde ich eintreffen würde, denn die Anton-Klone teilten ja ein identisches Bewusstsein.

Ich stand da, bibbernd und zähneklappernd. Mein ängstlicher Blick irrte umher. Das kleine Kellergelass, in dem wir uns befanden, enthielt ein paar vereinzelte Regale, in denen aber keine Flaschen lagerten. Vielleicht sollte der Raum erst noch zu einer Erweiterung des Weinkellers ausgebaut werden. Außer den leeren Regalen gab es einen länglichen Tisch, der aus zwei Schragen und einem darüber gelegten Holzbrett bestand.

Ich hätte mich fragen können, warum auf dem provisorischen Tisch zwei sauber zusammengelegte Klamottenstapel bereitlagen, die anscheinend ebenfalls aus Antons unerschöpflichem Kleiderschrank stammten. Doch stattdessen starrte ich auf weitere Gegenstände, die mir bösartig ins Auge stachen.

Nämlich eine Beißzange. Eine Stechahle. Eine Säge. Ein Drillbohrer. Eine Schraubzwinge. Sauber nebeneinander aufgereiht wie zum bevorstehenden Einsatz. Daneben lag aufgeschlagen ein großformatiges Buch.

Ich erkannte es sofort. Es war der aus der Bibliothek verschwundene Foliant mit den Folterbildern.

Anton Nummer eins sah, wie ich die Augen aufriss – und lächelte kalt. Er trat an den Tisch und legte das Messer in die Lücke zwischen der Stechahle und der Säge. Dann zeigte er auf Anton Nummer zwei: »Der Inquisitor.« Er schwenkte den ausgestreckten Finger, bis er auf Anton Nummer drei wies: »Der Schreiber.« Er deutete auf sich selbst: »Der Scharfrichter.«

Zum Schluss richtete er den Zeigefinger auf mich und erklärte grinsend: »Die Hexe.«

Anton Nummer zwei ergriff das Wort. »Wie man die Werkzeuge anwendet, muss ich wohl kaum erst erklären. Betrachten wir also allein ihren Anblick als genügende territio nuda – du siehst, ich habe deinen Belehrungen aufmerksam gelauscht, Coco! – und sparen uns die Worte.«

Er fuhr fort: »Hiermit fordere ich dich auf, Hexe, dein Geheimnis zu bekennen!«

Ich schrie schmerzvoll auf, als Anton Nummer eins, der Scharfrichter, mir mit einem Ruck den Knebelstreifen von den Lippen abriss. Dann heftete Anton Nummer eins, der Inquisitor, die Augen auf mich und durchbohrte mich mit seinem merkwürdig hellen Blick.

»Gestehe, Hexe! Wie wird der Zeitzauber der Zamis bewirkt?«

Ich war perplex. Mit vielem, ja mit fast allem hatte ich inzwischen gerechnet – aber nicht damit.

»Ich weiß es nicht«, hauchte ich kraftlos.

»Du lügst!«, fuhr der Inquisitor-Anton mich an. »Ich hatte erst Vera gebeten, mir den Zauber zu verraten. Aber sie behauptete, dass manchen Zamis die Fähigkeit des Zeitzaubers fehle. Widerwillig gab sie zu, dieser Schwäche zu unterliegen. Bei dir, ihrer jüngeren Schwester hingegen, sei das Talent zur Zeitmanipulation vorhanden. Ich habe die Thornton-Schlampe gefragt, ob beides stimmt. Die Alte hat es mir bestätigt.« Er holte Luft und fuhr fort: »Müssen wir erst zur handfesten Folter greifen, ehe du mit der Sprache rausrückst?«

»Bitte …«, hörte ich mich betteln. »Es stimmt, ich habe angeblich das Talent. Aber ich kann es nicht anwenden. Noch nicht. Ich stehe erst am Anfang der Ausbildung und habe mich nie darin erprobt!«

Der Inquisitor-Anton setzte ein wissendes Grinsen auf. »Vera sagte voraus, dass du das Geheimnis des Zeitzaubers nicht ohne Weiteres preisgeben würdest. Da müsse ich schon nachhelfen.« Er wandte sich an den Scharfrichter-Anton, wies auf mein Nachthemd. »Runter mit dem Fetzen!«

Grobe Hände packten zu, Stoff zerriss, dann stand ich nackt da.

Mein magerer, noch unausgeformter Körper war rau von der Gänsehaut, die ihn bedeckte. Instinktiv wollte ich meine Blöße verbergen, aber mir waren ja die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden.

Anton erzählte: »Ich machte Vera weis, dass ich dich nachts in deinem Zimmer besuchen und verführen wolle, um dir das Geheimnis zu entschmeicheln. Vera schien diese Vorstellung zu genießen.« Er schüttelte abfällig den Kopf. »Bei Asmodi, du hast ja noch nicht einmal Titten …« Er hob den Blick und sah mir wieder in die Augen. »Vera half mir, indem sie das Schloss deiner Zimmertür aufzauberte … Und nun sind wir hier. Du tätest wirklich besser daran, mich gutwillig in die Zeitmanipulation einzuweisen.«

Mir war übel. Die Beine wollten mir den Dienst versagen. Offenbar unterlag Anton dem Irrtum, bei dem Zeitzauber handele es sich um einen Hexenspruch, den jeder x-Beliebige nachplappern und sodann anwenden könne. Oder um magische, in die Luft gemalte Zeichen, die man nur einzuüben und nachzuäffen brauche. Ich musste mehrmals ansetzen, ehe meine Zunge gehorchte: »Selbst wenn ich … den Zeitzauber bereits beherrschen würde. Das … ist keine Magie, die man einfach so weitergeben kann wie ei…«

Der Inquisitor-Anton unterbrach mich. »Das bedeutet also, dass du es nicht anders willst, Coco. Wir schreiten zur Folter. Dazu benötigen wir zwei zusätzliche Gehilfen, die dich festhalten.«

Anfangs glaubte ich, der Schwindel der Furcht, der mich ergriff, habe meine Sehkraft getrübt. Doch dann wurde mir klar, dass tatsächlich etwas Magisches vor sich ging. Zur Rechten und zur Linken des Scharfrichter-Antons begann die schale, nach dem Pech der Fackeln stinkende Kellerluft zu flirren. Im Flackerschein der Flammen zeichneten sich rudimentäre Gebilde ab. Knochen, erkannte ich. Wie aus dem Nichts kroch Fleisch über die Gerippe. Sehnen und Muskeln bildeten sich, Adern schlängelten sich durchs Fleisch. Pulsierende Organe wuchsen. Haut begann die Gestalten zu umkleiden. Es war entfernt so, als liefe das Hologramm einer Leichenzergliederung im Zeitraffertempo rückwärts ab.

Nach weniger als einer Minute rahmten zwei weitere Ebenbilder Anton Oberstallers den Scharfrichter-Anton ein. Sie schenkten mir ein zweifaches böses Lächeln. Dann schritten sie zu den Kleiderbündeln, die auf dem Tisch für sie bereitlagen, und verhüllten ihre Nacktheit.

Jetzt waren fünf Antons mit mir im Kellergewölbe. Dabei hatte ich gelernt, dass Geryonen magische Drillinge waren – dass ein Geryone sich also höchstens verdreifachen konnte. Schließlich ging ihre Bezeichnung auf Geryon zurück, den dreileibigen Recken aus der griechischen Mythologie.

»Da staunst du, nicht wahr, Coco?«, frohlockte der Inquisitor-Anton. »Ich bin nicht ganz der unfähige Versager, für den ihr alle mich haltet. Wahrscheinlich bin ich der einzige Geryone auf der Welt, der sich nicht nur verdreifachen kann, sondern der die Gabe hat, sich zu verfünffachen … zu verzehnfachen … zu verdreißigfachen. Mit genügend Übung kann ich mich vielleicht sogar schrankenlos multiplizieren … zu einer gewaltigen Armee. Bisher bin ich dabei noch an keine Grenze gestoßen.« Er zog die Brauen zusammen und durchbohrte mich mit dem Blick. »Aber welche Macht wird mir erst gegeben sein, wenn ich imstande bin, diese Gabe mit der Fähigkeit der Zeitmanipulation zu verbinden?«

Nun begriff ich endlich, warum Anton so verflucht scharf auf das ›Geheimnis‹ des Zeitzaubers unserer Familie war. In der Tat würde dieser die ideale Ergänzung zu seiner Vervielfältigungs-Magie bedeuten. Ein Dämon, der sich beliebig duplizieren und jeden seiner Doppelgänger in den rascheren Zeitablauf versetzen konnte …! Wenn Anton mit dieser Macht in den Schoß seiner Sippe zurückkehrte, wäre sein Versagen als Schüler auf Schloss Behemoth restlos vergessen und verziehen.

Natürlich war es aussichtslos, ihm zu erklären, dass die Anwendung des Zeitzaubers bei meinen Angehörigen, die ihn beherrschten, einen solchen Energieaufwand erforderte und eine solche Erschöpfung hervorrief, dass irgendwelche Vervielfältigungen, auch wenn wir Zamis die Gabe dazu besessen hätten, vollkommen außer Frage standen. Umgekehrt musste dasselbe gelten. Doch was auch immer ich vorbrachte – Anton würde mir nichts glauben außer dem, was er hören wollte. Ich befand mich auf verzweifelte Weise in der gleichen Lage wie die zu Unrecht beschuldigten Hexen aus den alten Büchern, die ich in der Bibliothek gelesen hatte.

Die beiden hinzugekommenen Schergen rahmten mich ein und nahmen mich in einen eisernen Griff.

Der Inquisitor-Anton sprach: »Willst du mir jetzt verraten, wie euer Zeitzauber funktioniert? Letzte Chance. Ja oder nein?«

»Anton, bitte!«, flehte ich, »Ich schwör…«

»Alsdann. Eröffnen wir die peinliche Befragung. Schreiber, du notierst dir alles Wichtige, was Coco ausspuckt! Scharfrichter – ans Werk!«

Daraufhin trat der Folter-Anton vor den Tisch hin und musterte sein Arsenal. Für den Anfang wählte er die Schraubzwinge.

Ich schüttelte so verzweifelt den Kopf, dass mein langes schwarzes Haar sich wie Rabenschwingen spreizte, und entrang meiner Lunge einen gellenden Schrei.

Was in den folgenden Sekunden geschah, passierte so unerwartet und war so schnell vorüber, dass ich es nur halb mitbekam. Plötzlich war nur noch ein einziger Anton im Raum, der sich schmerzvoll auf dem Steinboden krümmte. Seine Doppelgänger hatten sich verflüchtigt wie Luftspiegelungen. Aus Augen, Mund und Ohren rann dem Niedergeworfenen das Blut.

Im Kellerzugang aber stand Onkel Behemoth, die Verkörperung des Zorns. Die Narbe, die sein groteskes Antlitz zweiteilte, brannte wie ein Lavaspalt. Sein übergroßer rechter Augapfel trat aus der Höhle wie eine Blase, geworfen von siedender Milch. Der Zauberspruch, den er gegen den Geryonen geschleudert hatte, hallte donnergleich in den Gewölben nach.

Noch in derselben Nacht wurde Anton Oberstaller nach Hause geschickt. Bis heute hege ich den Verdacht, dass der Vorfall meinem Onkel nicht ganz ungelegen kam. Statt sich vor dem Vormund des Geryonen wegen der Erfolglosigkeit des teuren Internatsschulaufenthalts rechtfertigen zu müssen, durfte Onkel Behemoth Entschuldigungen entgegennehmen, weil der missratene Sprössling der Sippe im Keller des Instituts heimlich nackte Hexenschülerinnen folterte.

 

 

2.

 

Wien im Jahre 1421

Noch zwei Tage bis zum Ablauf des Todesultimatums

Es war, als durchliefe ich eine Déjà-vu-Erfahrung. Und doch war es mehr. Denn ich hatte diesen Horror schon einmal erlebt. Und wahrscheinlich waren die Angst und das Entsetzen, die ich als Kind im Kellergewölbe von Schloss Behemoth durchlitten hatte, nicht geringer gewesen als meine jetzige Furcht, mein jetziges Grauen.

Dennoch glaube ich inzwischen, dass der sadistische Zögling Anton Oberstaller mir bedenkenlos Schmerz zugefügt, aber mich allein schon aus Angst vor Strafe nicht verstümmelt oder gar getötet hätte.

Hierin lag der Unterschied zu meiner jetzigen Situation. Ich selbst war, nachdem ich meine magischen Fähigkeiten eingebüßt hatte, meinen Peinigern genauso hilflos ausgeliefert wie einst als Kind, dessen Hexenkräfte noch nicht ausgebildet waren. Allerdings waren meine neuen Peiniger ungleich furchterregender als der pubertäre Geryone. Sie verfügten über perfidere Foltermittel und größere Grausamkeit als jener, und sie mussten keine Strafe fürchten.

In den letzten Kerkertagen waren Realität, Wahnvorstellung und Traum für mich zu einem chaotisch-grausigen Kaleidoskop verschmolzen. Ich hatte geglaubt, blind tastend zwischen ausgeweideten, an die Mauern geketteten Leibern und verwesenden Leichen herumzuirren. Vindobene war mir als halbstoffliche Spukgestalt erschienen und hatte eine bizarre Unterhaltung mit mir geführt. Meine Angst vor der drohenden Marter hatte einen Albtraum heraufbeschworen, in dem ein blutrot gewandeter Scherge mich, beschienen von Höllenfeuern, mit Daumenschrauben folterte. Er wollte von mir das Geständnis erzwingen, einem Schwein das Fliegen beigebracht zu haben.