978-3-401-80216-9.tif

Die Autorin

Bettina Brömme,
1965 geboren in Karlsruhe, lebt mit ihrer Familie in München.
Nach Abitur und Zeitschriftenvolontariat studierte sie Germanistik, Journalistik
und Kunstgeschichte in Bamberg.
Nach Ausflügen in die Filmproduktionswelt und zum Fernsehen ist sie seit 2000
Schriftstellerin und freiberufliche Autorin für TV, Hörfunk und Print.

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012
© 2011 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung eines Fotos
von polusvet Shutterstock
ISBN 978-3-401-80216-9
www.arena-verlag.de
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Titel

Bettina Brömme

Rachekuss

Arenaneu.tif

Intro

Das Schlimmste war, dass ihr niemand glaubte. Nicht einmal Carina, die ihr als Einzige in den letzten acht Wochen, den schrecklichsten ihres Lebens, immer zur Seite gestanden hatte. Sogar Carina wich vor ihr zurück. Flora konnte es ihr nicht verdenken. Wer traute sich schon in die Nähe einer Mörderin? Denn das war es, was die Menschen nun in ihr sahen: eine Mörderin. Zuerst hatte man sie Spinnerin genannt, Lügnerin, Tierquälerin, Psychopathin und jetzt… Das Bild auf dem Plakat vor ihr verschwamm. Alles, was sie sah, war schwarz. Ein schwarzer Tunnel, in den sie hineingezogen wurde und der keinen Ausgang, kein Ende hatte. Ich bin nicht mehr ich selbst, dachte Flora. Es ist nichts mehr von mir übrig. Gar nichts mehr. Und dieses Nichts würde wahrscheinlich jeden Moment verhaftet werden. Dabei hatte sie niemandem etwas getan. Doch wie sollte sie das beweisen?

Sie versuchte, den Blick von dem Plakat loszureißen, das gleich am Hintereingang der Schule hing. Mindestens das zwanzigste war es auf dem kurzen Weg hierher gewesen. Sie versuchte, die Schrift nicht zu lesen, die unter dem Foto stand. Ihr Blick brannte sich in ihren eigenen Augen fest, diesen großen dunklen Augen, von denen Yannik gesagt hatte, er würde darin ertrinken, rettungslos.

Als sie das erste Plakat mit ihrem Foto darauf am Ende ihrer Straße gesehen hatte, hatte sie so abrupt gebremst, dass sie beinahe vom Fahrrad gestürzt wäre. »Kripo bittet um Mithilfe« stand in großen roten Buchstaben ganz oben. Und darunter ihr Bild. Düster sah sie darauf aus, die Haut wirkte noch dunkler und ihr Blick hatte etwas Finster-Verbissenes. Nur das Weiß ihrer Augäpfel strahlte hervor. Flora schauderte. Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Woher kam das Foto? Seit wann hing hier dieses Fahndungsplakat? Und warum hatten sie sie nicht einfach zu Hause verhaftet?

Ich muss zu Carina, dachte sie, sie muss es mir erklären. Sie muss mir alles erklären. Flora wusste selbst nicht so genau, ob sie ihren Gedanken trauen konnte, vor allem nach gestern Abend, aber sie trat in die Pedale, als könne dies ihr Leben retten. Sie starrte, so gut es ging, hinunter auf die Straße und erkannte doch schon von Weitem jeden Baum, jede Straßenlaterne, jeden Ampelpfosten, an dem ihr Steckbrief hing, als sei sie ein imundície ladrão, ein dreckiger Straßenräuber.

Hoffentlich war Carina heute in der Schule, betete Flora, überfuhr drei rote Ampeln und kam keuchend am Fahrradabstellplatz hinter dem altehrwürdigen Christian-Ernst-Gymnasium zum Stehen. Tief atmete sie durch, als sie Carinas pinkfarbenes und mit weißen Margeriten angemaltes Oma-Fahrrad erkannte, und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren.

Doch dann bemerkte sie, dass auch auf einigen Gepäckträgern dieses widerwärtige weiße Plakat klemmte. »…steht im dringenden Tatverdacht…«, lärmten ihr die Worte entgegen. »Getötet«. »Getötet«. »Getötet«.

Mit einem Mal, ohne jede Vorankündigung, spürte Flora, wie sich ihr Magen hob. Sie konnte gerade noch in Richtung des Gebüschs hinter den Fahrrädern springen und dann würgte sie ihr karges Frühstück ins Grün. Ein Schleimfaden rann über ihr Kinn, den Hals hinunter, angewidert wischte sie ihn fort, spuckte noch einmal aus und wankte zitternd zum Hintereingang der Schule. Wenigstens war hier der beißende Geruch der Brauerei gegenüber nicht mehr ganz so intensiv wahrnehmbar.

Erst jetzt fiel ihr auf, wie ausgestorben alles wirkte. Nicht ein einziger Schüler stand in der Raucherecke, niemand rannte über den Pausenhof. Der Unterricht musste längst begonnen haben. Flora bekam eine Gänsehaut. Hatte sie einen Blackout gehabt? Waren wieder Minuten verstrichen, vielleicht sogar Stunden, von denen sie nicht wusste, was in dieser Zeit geschehen war? So wie vor ein paar Wochen…

»Flora«, hörte sie da eine dunkle Männerstimme, die sie nur allzu gut kannte. »Die Polizei sucht dich. Sie wollen, dass du ein paar Fragen beantwortest.«

1. Kapitel

Auszug aus dem psychiatrischen Gutachten, Prof. Dr. W. Metzler vom 02.12. d. J.

»…Die Patientin berichtet, dass ihr Veränderungen in ihrem Leben schon immer schwer zu schaffen gemacht hätten. Durch plötzliche Neuerungen in ihrer aktuellen Lebensphase spüre sie, wie ihr innerer Druck wachse und das Stressempfinden zunähme. Wie sie diesen Druck sinnvoll und ergebnisorientiert vermindern könne, wisse sie nicht…«

Es war nicht einmal ein Vierteljahr her, dass Flora gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder Lucas und ihrer Mutter in Nürnberg angekommen war. »Ey, krass«, hatte der Elfjährige beim Landeanflug gerufen. »Schaut mal, wie klein das alles ist. Wo sind denn die Häuser? Wohnen da auch irgendwo Menschen oder müssen wir im Wald leben?« Leticia hatte ihm lachend eine Locke aus der Stirn gestrichen und mit ihrer weichen, melodischen Stimme erklärt, dass Nürnberg eben nicht so groß sei wie Rio de Janeiro, wo man den Eindruck habe, der Atlantik gehe einfach über in ein nicht enden wollendes Meer aus Häusern, bevor irgendwann der internationale Flughafen Galeão Antônio Carlos Jobim auf der Gouverneurs-Insel aus dem Wasser auftauchte.

»Papa hätte garantiert wieder gesagt, er würde sich wünschen, dass man in seiner Heimat auch mal einen Flughafen nach einem Musiker benennt so wie in Rio«, lachte Flora.

»Ja«, ergänzte Lucas. »Und dann hätte er dieses langweilige ›Girl from Ipanema‹ gepfiffen und Mama in den Po gezwickt.« Leticia lächelte angestrengt. Für Flora und Lucas war der über zwölfstündige Flug nicht weiter erwähnenswert, Leticia dagegen wirkte wie zerschlagen. Dunkle Ränder gruben sich unter ihren Augen ein, die genauso groß und ausdrucksstark wie die ihrer Tochter waren. Wahrscheinlich hatte sie heute Nacht keine Stunde geschlafen.

»Wann waren wir eigentlich das letzte Mal hier?«, wollte Lucas wissen, während das große Flugzeug mit leichtem Holpern auf der Landebahn aufsetzte.

»Ich glaube, zu Omas Beerdigung vor zwei Jahren«, überlegte Flora und schlagartig wurde ihr klar, dass dies hier kein Flug in die Ferien war. Dies war der Flug in ein neues Leben.

Ohne ein Rückflugticket im Gepäck.

Theo Harnasch stand pünktlich um 6.30 Uhr in der Ankunftshalle mit einem großen Schild bereit, auf das er – oder vielleicht seine Sekretärin? – »Bem Vindos«, herzlich willkommen, geschrieben hatte. Lucas rannte »Papai-Papai« rufend auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Flora entschied sich für eine etwas gemäßigtere Gangart. Ihr Vater sollte nicht glauben, dass sie sich inzwischen mit der Tatsache angefreundet hatte, in Deutschland ihr Abitur zu machen.

»Bald bin ich 18 und dann kann ich gehen, wohin ich will!«, hatte sie immer wieder erklärt. Doch Theo hatte sie mit diesem überheblichen Lächeln gemustert, das er sonst nur unfähigen Assistenten gegenüber aufsetzte, und erwidert: »Und wer soll deinen Unterhalt zahlen? Rio – so wie du es gewohnt bist – ist teuer.« Und damit war das Gespräch für ihn beendet. Flora hasste an ihrem Vater nichts mehr als sein Talent, Diskussionen ins Leere laufen zu lassen. Sie konnte insistieren, immer wieder neue Fakten ins Feld führen, gurren, schimpfen – er wandte sich einfach einem ihm genehmeren Thema zu und die Sache war für ihn erledigt.

»Ich finde es toll, dass du auf meiner alten Schule dein Abi machen wirst«, hatte er gestrahlt. »Du wirst es lieben. Du kannst Theater spielen und Musik machen. Ich freu mich so, wenn du deine Klarinette wieder auspackst.«

»Schade, dass du trotz musischem Gymnasium so ein langweiliger Ingenieur geworden bist«, giftete Flora. »Sonst wärst du jetzt Musiker in Brasilien und dabei würde es einfach bleiben. Scheißkarriere!« Dann hatte sie ihm den Rücken zugekehrt und das Zimmer verlassen.

Als sie ihm nun am Flughafen gegenüberstand, spürte sie zu ihrer Verwunderung, wie froh sie war, ihn wiederzusehen. Theo Harnasch war bereits vor drei Monaten in seine alte Heimat Erlangen zurückgekehrt, wo er nach 23 Jahren in Brasilien jetzt als CEO der Abteilung »Erneuerbare Energien« in den Mutterkonzern berufen worden war. Flora hatte sich nie so recht vorstellen können, was ihr Vater den ganzen Tag lang tat – aber er musste wohl viel zu tun haben, denn er war selten zu Hause gewesen. Und in Erlangen würde sich das mit Sicherheit nicht bessern, jetzt, wo er weiter aufgestiegen war.

»Minha princesa«, begrüßte er sie und nahm sie fest in den Arm. »Es tut so gut, euch wieder bei mir zu haben!«

Flora machte sich los. Ihre Freude war augenblicklich eingedämmt. Am liebsten hätte sie ihm ihren Ärger vor die Füße gespuckt: »Wie’s uns dabei geht, ist dir natürlich egal.« Aber sie schwieg. Ihre Mutter hatte sie während des Fluges mehrmals gebeten, doch bitte schön nicht gleich wieder einen Streit vom Zaun zu brechen, sobald sie deutschen Boden betraten. Flora solle Deutschland eine Chance geben, hatte Leticia sie beschworen. Und weil Flora wusste, wie sehr ihre Mutter darunter litt, wenn es zwischen Vater und Tochter krachte, hielt sie sich zurück. Noch.

Durch strömenden Regen hasteten sie mit riesigen Gepäckladungen zum Auto. Flora fröstelte. Obwohl es erst Anfang September war, hatte sie das Gefühl, dies müsste schon der berüchtigte deutsche Herbst sein, über den ihre Großmutter immer gejammert hatte. Er krieche einem nass und kalt unter die Haut und piesacke die Knochen, hatte sie behauptet. Jetzt verstand Flora, wie sie das gemeint hatte. Und in Brasilien begann bald der Frühling.

Die Fahrt vom Nürnberger Flughafen hinüber ins nahe gelegene Erlangen besserte ihre Stimmung um keinen Deut. Die Autobahn schlängelte sich an aufgeräumtem, ödem Nadelwald und großen Feldern vorbei, bevor sie sich über den Frankenschnellweg den ersten Häusern näherten. Gesichtslose Reihenhaussiedlungen und Vorgartenidyllen reihten sich aneinander. Flora versuchte, der Trostlosigkeit durch Augenschließen zu entkommen. Doch die Bilder, die hinter ihren Lidern auftauchten, machten sie noch trauriger. Sie sah sich am Strand von Rio mit seinem Himmel voller unglaublicher Wolkenformationen über den Gipfeln der »Zwei Brüder«, sie sah das Leuchten der untergehenden Sonne, die alles, die Hochhäuser, den Strand und die üppige Vegetation, in ein unwirkliches Licht versetzte. Keine 48 Stunden war das her. Die halbe Schulklasse war nach Ipanema gekommen, um sie am Posto neun, ihrem liebsten Strandabschnitt, zu verabschieden. Ana-Sophia, Christina und Luisa, ihre engsten Freundinnen, aber auch die Jungs, die im Laufe des letzten Jahres fast so etwas wie große Brüder für sie geworden waren, Joao, Guilherme, Joao Filipe. Und Elizeu, der ein bisschen mehr war als ein Bruder. Denn seine Küsse schmeckten so unglaublich süß. Zunächst saßen sie alle etwas beklommen im warmen Sand, kauften den Strandhändlern kaltes Bier ab und Dosenchampagner und schwiegen, den Blick fest aufs Meer geheftet. Später, nachdem die Jungs beim Surfen ihr Bestes gegeben hatten, als wollten sie Flora damit ein Abschiedsgeschenk machen, zündeten sie ein Lagerfeuer an und verteilten die Leckereien, die Flora unterwegs eingekauft hatte. Natürlich das brasilianische Nationalgericht – kräftig gewürzte »Acarajé«, ausgebackene Kroketten, die aus Bohnenmus bestanden, Garnelenspieße und fischgefüllte Tapioka-Fladen, Floras Favoriten »Vatapá«, Pasteten mit scharfer Soße, und für die Mädchen, die essen konnten, ohne zuzunehmen, »Pão de Queijo«, warme Käseteigkugeln. Doch eigentlich war das nebensächlich.

Flora war ungewohnt still, weil sie immer befürchtete, in Tränen auszubrechen, wenn sie etwas sagen wollte. Elizeu und Luisa bemühten sich, kleine Witze zu reißen, sie mit Anekdoten von schrecklichen Lehrern und dämlichen Klassenkameraden zum Lachen zu bringen. Aber irgendwann saßen sie zu dritt dicht nebeneinander, die Hände verschlungen und allen drei liefen Tränen die Wangen hinunter.

»Hey«, protestierte Ana-Sophia. »Es gibt inzwischen günstige Flüge hierher – und bis zum Abi ist es nicht mal mehr ein Jahr. Und dann kommst du wieder!«

»Hoffentlich«, flüsterte Flora.

»Außerdem können wir chatten und twittern und skypen und simsen und was weiß ich«, ergänzte Christina. »Und jetzt kommt – dahinten steppt der Bär.« Flora ließ sich mitziehen zu der Samba-Gruppe, die wenige Meter neben ihnen zu spielen begonnen hatte. Sie reihte sich in den Kreis der Tanzenden ein, spürte Elizeus warme Hände auf ihren nackten Schultern, tauchte ein in den Rhythmus der Töne und beschloss, ab jetzt nicht mehr zu denken. Lauthals sang sie die alten Verse mit, die ihr schon das Kindermädchen vor über zehn Jahren vorgesungen hatte: »A vida é uma praia longa«. Das Leben ist ein langer Strand.

Im ersten Moment hatte Flora das Haus ihrer Großeltern in der Hofmannstraße nicht wiedererkannt. Früher war es in einem schmuddeligen Gelbbraun gestrichen gewesen, nun strahlte es beinahe so weiß wie ihr Haus in Urca. Ein riesiger, akkurat gepflegter Garten mit einem gewaltigen Kirschbaum in seiner Mitte umgab das Gebäude. Flora erinnerte sich, wie sie als kleines Mädchen mit ihren Cousinen hier im Sommer herumgetollt war.

Auch innen hatte Theo Harnasch ganze Arbeit leisten lassen. Die großen, schweren altdeutschen Möbel waren verschwunden, aus kleinen Räumen war ein großer geworden und das Dachgeschoss ausgebaut. Überall gab es leichte helle Möbel, die noch mehr Weite suggerierten. Für Leticia hatte der Vater im Souterrain ein Atelier einrichten lassen, das zu einer eigenen Terrasse in den Garten führte, auf der sie ihre großen, schweren Skulpturen würde bearbeiten können. Über die ganze Hausbreite war hier unten Glas eingesetzt worden, sodass es im Atelier hell genug sein würde. Auch Lucas war glücklich über sein großes Kinderzimmer voller Fußballer-Plakate, Fußballer-Bettwäsche und Fußballer-Teppich. Mit Indianergeheul stürzte er sich auf das schwarze Auswärtstrikot der deutschen Nationalmannschaft, das auf dem Bett ausgebreitet lag. Er hatte sich in Rio hauptsächlich mit der Frage gequält, ob er in Deutschland auch weiterhin Fußball spielen könnte. Sein Vater hatte ihn daran erinnert, dass die Deutschen bei der letzten WM deutlich weiter gekommen waren als die Brasilianer und dass einer der berühmtesten deutschen Fußballer – nämlich Lothar Matthäus – in Erlangen geboren worden war. Das beruhigte Lucas ziemlich.

Für seine Tochter hatte »Papai«, wie die Kinder sagten, das Dachgeschoss reserviert. Mit eigenem Badezimmer. Flora war beeindruckt. Gestand man ihr vielleicht doch langsam zu, dass sie ihrer Volljährigkeit in schnellen Schritten entgegenging? Erwartungsvoll öffnete sie die Tür zu ihrem neuen Reich. Der Schock hätte größer nicht sein können. Rosa, sie sah nur Rosa, in allen erdenklichen Schattierungen: die Wände, der Flokati-Teppich, die Vorhänge, das große Lümmelsofa, der Drehstuhl und sogar die Schreibtischplatte. Türkisfarbene Kissen sollten das Quietschen des rosa Albtraums wohl etwas abmildern, ebenso wie ein Wandtattoo in Form einer riesigen weißen Orchidee über dem Bett. Flora aber kam es vor, als würde alles Türkise, alles Weiße, ja sie selbst vom Pink verschlungen werden.

»Toll, oder?!«, strahlte Theo und legte den Arm um ihre Schulter. Flora machte sich los und rannte hinunter Richtung Erdgeschoss.

»Zum Kotzen«, schrie sie. »Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte: Ich bin 17, nicht sieben!«

Sie wusste nicht so recht, wohin, nur raus musste sie, raus aus diesem Kleinmädchenalbtraum. Sie öffnete die Haustür und lief in Richtung Gehweg. Die kalte Luft klatschte ihr ins müde Gesicht, doch der Nieselregen kam ihr im Moment wie eine beruhigende Dusche vor. Sie sah die menschenleere Hofmannstraße hinauf und hinunter, wusste aber nicht so recht, wohin sie sich wenden sollte. Alles wirkte so aufgeräumt und gepflegt, die grünen Bäume, die exakt geschnittenen Hecken, die rausgeputzten Häuser. Irgendwie vertrauenerweckend und abstoßend zugleich. Flora trat hilflos, aber mit voller Wucht in die Hecke neben der Einfahrt und kauerte sich dann auf den Bürgersteig, ignorierte die Nässe und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie sehnte sich so unendlich nach ihrem Zuhause, nach ihrem wunderschönen Haus in der Rua Urbano Santos – sogar nach den unzähligen Stromkabeln, die direkt vor ihrem Zimmerfenster vorbeiliefen, den Schlingpflanzen, die kleine Bäumchen und Straßenmasten gefangen nahmen, und den immer etwas ausgetrockneten Beeten, über die hinweg man direkt auf den kleinen Hafen mit den bunten Booten sah.

»Komm rein, du erkältest dich«, hörte sie die Stimme ihres Vaters und spürte, wie er sie am Ellenbogen hochzog. Widerwillig folgte sie ihm hinein. Der Duft von Kaffee schlug ihr entgegen und sie spürte mit einem Mal, wie hungrig sie war.

»Du darfst es auch giftgrün streichen oder schwarz oder was immer du willst«, sagte er. »Es tut mir leid. Die Innenarchitektin hat einfach gedacht, alle Mädels stehen auf Pink, egal wie alt. Und ich hatte einfach nicht genug Zeit, jede Kleinigkeit zu kontrollieren.«

Flora schüttelte seinen Arm ab und beschloss, nicht mehr mit ihm zu reden. Wenn sie sowieso nur eine »Kleinigkeit« für ihn war, würde er das nicht weiter bemerken.

»So, ihr Lieben«, sagte er, als sie alle in der riesigen, strahlend weißen Küche zusammengekommen waren. »Ich muss jetzt dringend ins Büro. Am besten ihr macht euch einen ruhigen Tag. Dann habt ihr die vier Stunden Zeitverschiebung bald wieder drin.« Er küsste sie alle, murmelte dabei: »Ich bin so froh, dass ihr endlich hier seid«, und verschwand für den Rest des Tages.

2. Kapitel

Auszug aus dem psychiatrischen Gutachten, Prof. Dr. W. Metzler vom 02.12. d. J.

»…Immer wieder fühle sich die Patientin von Verlassensängsten geradezu überrollt. Sie könne dann nicht allein sein, gleichzeitig ertrage sie die Anwesenheit von anderen Menschen nur schwer. Sie fürchtet, dass die ihr vertrauten und geliebten Menschen sie verlassen könnten und sie erneut mit dem beklemmenden Gefühl der Einsamkeit nicht zurechtkäme.…«

Knapp zwei Wochen später begann das neue Schuljahr und Flora stand mit pochendem Herzen vor dem Respekt einflößenden Portal des Christian-Ernst-Gymnasiums. Sie versuchte, flach zu atmen, denn über dem Schulgelände lag ein süßlich-würziger Geruch, der sie beinahe zum Würgen brachte und den sie zunächst nicht einordnen konnte. Sie sah sich um und entdeckte auf der gegenüberliegenden Straßenseite das klobige Gebäude einer Brauerei, aus deren Schornstein es gelblich dampfte. Der dumpfe Braugeruch drängte sie, das Schulhaus endlich zu betreten. Um sie herum rempelten, rannten und flanierten Schüler durch die spätsommerliche Morgensonne in das Innere des Gebäudes. Flora wunderte sich, wie hässlich und ungepflegt viele von ihnen aussahen. Ausgeleierte Jeans und Sweatshirts, unmodische Turnschuhe, ungewaschene Haare und schrecklich stümperhaft, viel zu grell geschminkte, runde Mädchengesichter, wohin sie auch blickte. Allerdings hatte sie den Eindruck, man hielte sie selbst zumindest für ein Marsmännchen, so unverhohlen wurde sie von allen Seiten gemustert. Dabei war Flora wie immer sehr dezent geschminkt, hatte ihre wallenden schwarzen Locken mit einem Gummi zum Zopf gebändigt und trug schlichte, aber wie sie fand, coole Klamotten. Enge Jeans und weißes Hemd mit zartem Spitzenbesatz, dazu eine alte olivgrüne Armeetasche ihres brasilianischen Großvaters für die Schulbücher, die ihr jeder Vintage-Freak sofort aus den Händen gerissen hätte. Erst als ihr auffiel, wie blass und käsig viele Schüler aussahen, wurde ihr bewusst, dass sie sicher auch wegen ihrer Hautfarbe so angestarrt wurde. In Brasilien gehörte sie mit ihrem karamellfarbenen Teint zwar auch nicht zur Mehrheit, aber ihre Hautfarbe war keine Kategorie, nach der man sie beurteilte. Hier aber wurde sofort die Schublade mit der Aufschrift »exotisch« geöffnet.

Flora hatte versucht, sich auszumalen, wie der erste Schultag sein würde – es gab eine optimistische und eine pessimistische Variante. Die optimistische besagte, dass eine freundliche Lehrerin sie in eine nicht zu große Klasse mitnahm, in der ihr freundliche Gesichter interessiert entgegenlächeln würden. Die pessimistische Variante dagegen stellte sich als deutlich realistischer heraus: Flora irrte geraume Zeit durchs große Schulhaus mit seinen langen Gängen, bevor sie das angegebene Klassenzimmer fand. Eine Lehrkraft konnte sie noch nirgends entdecken. Sie spähte ins Zimmer hinein, in dem gut und gerne 30 Schüler saßen. Während ihr die Mädchen ziemlich rasch den Rücken zuwandten, stießen sich die Jungs an und begafften sie gleichermaßen unverhohlen wie vorpubertär. Nur ein zartes, sehr schlankes Mädchen mit blonden Haaren, die ihr etwas wirr vom Kopf abstanden, und ausdrucksstarken, großen hellblauen Augen lächelte ihr zu und nickte. Am rechten Rand der Unterlippe baumelte ein schlichter Piercing-Ring. Mit einer leicht unsicheren Bewegung strich sich das Mädchen eine einzelne lange pinke Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihr jedoch sofort wieder vor die Augen fiel. Dankbar lächelte Flora zurück und sah sich nach einem freien Platz um. Das Mädchen winkte ihr zu und deutete auf einen freien Stuhl in der Nebenbank.

»Hi«, sagte das Mädchen gedehnt. »Ich bin Carina. Und du?«

»Flora«, sagte sie verlegen und ließ den Blick über die Mitschüler wandern. Zwei Jungs drei Reihen weiter vorne hatten die Köpfe zusammengesteckt, tuschelten und sahen zu ihr herüber.

»Mach dir nichts draus«, sagte Carina. »Leider sind das hier alles ziemlich dämliche Spacken, die man am besten ignoriert.«

»Spacken?«, fragte Flora unsicher nach.

»Oh, Idioten«, beeilte sich Carina zu erklären. »Woher kommst du? Bist du keine Deutsche?«

»Brasilien«, erklärte Flora knapp. »Ich bin aus Brasilien. Aus Rio de Janeiro.« Und sie spürte, wie ihr das Heimweh die Kehle zudrückte.

»Cool«, entgegnete ihre Sitznachbarin. »Dafür sprichst du aber klasse deutsch.«

»Mein Vater ist Deutscher. Meine Mutter Brasilianerin. Ich bin in Rio auf die deutsche Schule gegangen.«

»Boah, und jetzt hierher in dieses öde Kaff – das ist doch sicher total ätzend, oder?«

Flora lächelte zum ersten Mal. Sie hätte nicht gedacht, dass sie so schnell eine verwandte Seele treffen würde.

»Allerdings«, bestätigte sie. »Und vor allem…«

Aber da betrat ein ernst dreinblickender, immerhin noch ziemlich junger und gut aussehender Mann das Klassenzimmer. Er hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit einer scharfkantigen Nase, eher kleine braune Augen, ebensolche Haare, die auf Höhe seines kantigen Kinns sehr gerade abgeschnitten waren, und einen fein geschwungenen Mund, der jetzt ein Reihe blitzend weißer Zähne preisgab.

»Guten Morgen«, sagte er laut und alle ließen sich mehr oder minder stöhnend auf ihre Plätze sinken. »Pierre Edinger ist mein Name. Ich werde Sie in diesem Jahr in Ihrem Deutschkurs unterrichten und damit den letzten Teil meines Referendariates abschließen.«

»Viel Spaß«, zischte es von weiter hinten, aber Pierre Edinger ignorierte den Einwurf. Er wirkte wie jemand, der nicht allzu viel Sinn für Humor hatte. Die folgenden zehn Minuten erläuterte er den Lehrplan für das kommende Schuljahr, der neben der Beschäftigung mit deutscher Literatur der Gegenwart und des 20. Jahrhunderts auch Referate, Vorträge, sprachtheoretische Fragestellungen und Textanalysen vorsah. Carina flüsterte Flora ein »Ich kann’s kaum erwarten« zu und verzog ihren Mund zu einem spöttischen Flunsch.

Flora versuchte, Pierre Edingers Ausführungen zu folgen, aber vor Müdigkeit wurde ihr Blick starr und sie verlor sich im Betrachten der Baumwipfel vor dem Fenster. Sie hatte sich geschworen, am letzten Abend vor Schulbeginn früh ins Bett zu gehen, aber dann hatte sie mit Elizeu eine Ewigkeit geskypt und so war sie erst nach eins schlafen gegangen. Es war so schön gewesen, portugiesisch reden zu können, was ihr momentan sogar ihre Mutter verweigerte – natürlich nur, damit die Eingewöhnung leichter fiele, wie sie beteuerte.

Elizeu hatte Flora auch in Rio schon einiges bedeutet, nicht umsonst war er in den letzten Monaten der Einzige gewesen, mit dem sie häufig ins Kino gegangen war und gelegentlich rumgeknutscht hatte. Aber sie wäre nicht auf die Idee gekommen, ihn als aussichtsreichen Anwärter für eine feste Stelle in ihrem Herzen anzusehen. Natürlich war er wunderschön – seine braune Haut eine Spur dunkler als ihre eigene, seine Augen geheimnisvoll und funkelnd, die Sixpacks seiner Bauchmuskulatur perfekt geformt. Aber weil er ein gutes Jahr jünger als Flora war, hatte sie ihn nie ernstlich in Betracht gezogen. Außerdem war er beängstigend intelligent und neigte gelegentlich zum Sarkasmus.

Doch in der Fremde ihres rosa zugetünchten Prinzessinnenzimmers sehnte sich Flora nach Elizeu, als seien sie Romeo und Julia.

»Vielleicht würden Sie sich uns vorstellen«, schreckte sie Pierre Edingers sonore Bassstimme aus ihren Brasilien-Träumen.

Flora zuckte zusammen und räusperte sich verlegen. »Ähm, klar, logisch«, brachte sie hervor. »Ich heiße Flora Harnasch und äh, tja…«,… muss in diesem Provinzkaff mein Abitur machen, hätte sie am liebsten gesagt. »…freue mich über die Chance, im Heimatland meines Vaters das Abitur zu machen.« Gut geschleimt. Sie sah, wie Carina breit grinste, als habe sie genau verstanden, was Flora eigentlich hatte sagen wollen.

»Und Sie kommen woher?«, bohrte der Lehrer nach.

»Brasilien. Rio.«

»Hey«, raunte es anerkennend aus der Jungsecke.

»Hast du auch so einen geilen brasilianischen Stringbikini?«, rief ein moppeliger Typ mit glänzendem Aknegesicht.

»Oh, der junge Mann kennt sich in der brasilianischen Landeskunde aus«, spottete Pierre Edinger. »Da würde ich Sie bitten, ein kleines Referat vorzubereiten. Sagen wir – über die Geschichte Brasiliens der letzten 500 Jahre inklusive Tendenzen der modernen Gegenwartsliteratur. Für nächsten Montag, bitte. Danke schön.« Er warf Flora das erste Lächeln des Vormittags zu, was seine Attraktivität deutlich erhöhte. Der moppelige Aknetyp knallte verärgert seinen Kugelschreiber auf den Tisch, verschränkte die Arme und schwieg für den Rest der Stunde.

Carina grinste breit und sehr zufrieden. »Cooler Typ«, zischte sie Flora zu.

»Wer?«, flüsterte Flora zurück. »Die Akne-Spacke?«

»Stoffi? Quatsch, der da vorne…«

Es schien selbstverständlich, dass sich Flora und Carina nach den sechs Schulstunden gemeinsam auf den Heimweg machten, zumal sie schnell festgestellt hatten, wie nah sie beieinanderwohnten. Carina lebte mit ihren Eltern in einem der Hochhäuser an der Mozartstraße, nur zwei Parallelstraßen von Flora entfernt. Carina, die ihr pinkfarbenes Fahrrad mit den eigenhändig aufgemalten weißen Margeriten neben Flora herschob, erwies sich als muntere Erzählerin, die Flora einen Abriss ihres neuen Lebensumfeldes lieferte – das letztlich schauderlich spießig und langweilig zu sein schien, andererseits von Carina so witzig geschildert wurde, dass Flora ständig lachte. Dann musste sie in allen Einzelheiten erzählen, wie im Kontrast ihr Leben in der Weltmetropole Rio ausgesehen hatte. Zu ihrer Verblüffung mussten die Mädchen feststellen, dass es sogar eine ganze Reihe Gemeinsamkeiten in ihrem Alltag gab. Schule, na klar, aber auch die Freizeitvergnügen waren nicht sehr unterschiedlich: ins Kino gehen, zum Tanzen, am Baggersee (respektive Strand) chillen, mit Freunden abhängen.

»Na ja, obwohl«, sinnierte Carina. »Ich mein, so ein Strand mit Blick auf den Atlantik ist natürlich schon was anderes als der Dechsi.«

»Der was?«

»Der Dechsendorfer Weiher. Da rennen im Sommer alle hin.«

»Immerhin kannst du hier sicher sein, dass dich auf der Busfahrt keiner um dein Handy erleichtert oder dir am Badesee die Kamera klaut«, sagte Flora. Carina sah sie verblüfft an. »Echt? Nee, oder? Das ist dir passiert? Ist ja krass.«

Flora machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, so was gibt es ständig. Du darfst am Strand halt nicht einschlafen. Das ist mir einmal passiert und prompt war meine Tasche weg samt der 200 Real. Knapp 100 Euro.«

»Und im Bus? Bist du da auch ausgeraubt worden?«

»Na ja, ausgeraubt nicht gerade. Die wollen halt dein Handy. Ich hatte immer ein altes in meiner Handtasche, das hab ich dann rausgegeben. Das, was ich benutzt habe, hatte ich immer irgendwo in einer engen Hosentasche oder so versteckt.«

»Boah, das ist aber schon schräg irgendwie. Und wenn du abends unterwegs warst? War das nicht auch saugefährlich? Bist du mal in eine Schießerei geraten oder so?«

Flora lachte laut. »Quatsch! Rio ist doch nicht der Wilde Westen. Klar gibt es Viertel, da weiß man genau, dass man abends nicht hingeht. Und ich hab oft ein Taxi genommen oder Papai hat mich abgeholt.«

»Wer?«

»Mein Vater. Und die Gegend, wo wir gewohnt haben, in Urca, das ist gleich neben dem Zuckerhut, die ist eh so mit die sicherste in ganz Rio.«

Carina wiegte nachdenklich ihr schmales Gesicht und strich wie so oft die pinke Strähne hinters Ohr, wo sie sich sofort befreite.

»Aber so mal nachts von einer Fete mit dem Fahrrad nach Hause fahren?«

»Ähhh, nee. Bestimmt nicht. Außerdem sind die Entfernungen ja ganz schön groß. Aber wenn du da aufwächst, dann weißt du ja gar nicht, wie es anderswo normal ist. Ich hab da nicht drüber nachgedacht, dass meine Eltern meinen Bruder und mich überallhin kutschiert haben. Auch zur Schule. Das war total praktisch, da konnte ich morgens im Auto immer noch schnell ein paar Hausaufgaben machen.«

Carina lachte.

»Na, da musst du dich hier ja ganz schön umstellen.« Flora nickte. Sie deutete auf das große Einfamilienhaus aus den 1920er-Jahren, vor dem sie nun stehen geblieben war.

»Magst du mit reinkommen?«, fragte sie. »Hier wohn ich.«

»Wow.« Carina pfiff anerkennend. »Prächtige Bleibe. Ich bin hier schon oft vorbei und hab immer gedacht, was für Typen wohl in so einem Ding wohnen.«

»Das ist das Haus meiner Großeltern. Sie sind beide schon tot und mein Vater hat das Haus halt geerbt. Er hat’s total umbauen lassen innen. Krieg keinen Schock, wenn du mein Zimmer siehst, okay?«

Nach dem ersten Blick in die rosa Albtraumhöhle ließ sich Carina auf die Knie fallen und betrat so das Zimmer.

»Oh, is das sön hier«, quiekte sie mit Kleinmädchenstimme. »Hassu auch Barbiepuppen? Oder Lillifee? Jippie, alles rosa! Rosa, rosa, rosa!« Sie führte einen Knietanz auf und Flora ließ sich kreischend auf ihr Bett fallen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen vor Lachen. Es war das erste Mal, seit sie aus Brasilien fort war, dass sie sich frei und unbeschwert fühlte. Sie war überglücklich, dass ihr irgendein unbekannter Schicksalsgott ausgerechnet Carina als Klassenkameradin zugeführt hatte.

Den Nachmittag über, bewaffnet mit großen Tassen Milchkaffee, Schokolade und einer Tüte Gummibärchen, die Flora ihrem kleinen Bruder geklaut hatte, erzählten sie sich in rosa Licht eingetaucht ihr Leben.

Carina berichtete, dass ihre Mutter Schauspielerin am Markgrafentheater war und ihr Stiefvater dort Chefdisponent. Flora war beeindruckt, als sie hörte, dass Carinas Vater der bekannte Schauspieler Fabian Grabow war, allerdings hatte Carina seit fast zehn Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm. Ihre Mutter war nach der Trennung von ihm, da war Carina gerade mal zwei Jahre alt gewesen, nach Erlangen zu Carinas Großmutter gezogen, damit sie eine Betreuung für die Kleine hatte. Das Markgrafentheater war natürlich nur ein schlechter Ersatz für die Karriere, die sie hätte in Berlin oder München machen können. Die ersten Jahre waren wohl sehr unruhig gewesen und von vielen Umzügen, verschiedenen Ersatzpapas und immer wieder Phasen im Haus der Großmutter, einer herrischen und strengen alten Frau, geprägt. Aber seit Melissa Meyer-Grabow am Erlanger Theater Udo Vollmer kennengelernt hatte, verlief das Leben von Carina in geregelteren Bahnen. Sie schien ihren Stiefvater nicht nur deshalb zu mögen, sondern weil er wohl ein lässiger Typ war, der ihr viele Freiheiten ließ und sie der Mutter gegenüber fast immer in Schutz nahm.

»Mein Vater interessiert sich, glaub ich, nicht allzu sehr für seine Kinder«, erzählte Flora. »Der ist immer nur am Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten. Klar bereitet er uns ein sorgloses Leben und so, aber manchmal hätte ich es schon ganz schön gefunden, wenn er beim Abendessen oder bei Schulaufführungen dabeigesessen wäre.«

»Ach«, Carina rutschte das türkisfarbene Kissen in ihrem Rücken zurecht, »gemeinsames Abendessen gibt es bei uns so gut wie nie. Schließlich muss vor allem meine Mutter fast immer abends arbeiten. Und tagsüber braucht sie auch viel Ruhe, morgens anstrengende Proben, abends dann die Vorstellungen.«

»Oh, nimmst du mich mal mit? Darf ich sie mal sehen?«, bat Flora. Carina nickte. »Klar, können wir schon mal machen.« Ihr Blick wanderte zum großen, schrägen Dachfenster hinaus und blieb im Wipfel des Kirschbaums hängen.

»Magst du noch einen Kaffee?«, fragte Flora. Carina reagierte nicht. Flora stupste sie an der Schulter und das Mädchen zuckte zusammen.

»Hallo?! Ob du noch einen Kaffee magst?« Sie wedelte mit der Hand vor Carinas Augen, die diese zu schmalen Schlitzen zog.

»Ach, mir ist gerade eingefallen, dass ich für meine Mutter was aus der Reinigung abholen sollte. Hätte ich fast vergessen. Darüber kann sie sich tierisch aufregen, wenn ich was nicht mache, was sie braucht. Egal, ich glaub, ich muss los. Aber es war ein schöner Nachmittag. Bald wieder, oder?«

Flora strahlte und spontan nahm sie Carina in den Arm. »Ich bin jetzt schon froh, dass ich dich kennengelernt habe«, sagte sie leise.

»Ich auch, und wie«, sagte Carina und stupste mit ihrer kleinen Nase gegen Floras.