Gina Mayer & Frank M. Reifenberg

Mit Illustrationen von Gerda Raidt

Impressum

Alle Abenteuer der Schattenbande:

1. Die Schattenbande legt los!

2. Die Schattenbande jagt den Entführer

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

© 2014 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Gina Mayer und Frank M. Reifenberg, vermittelt durch
Literaturagentur Birgit Arteaga, München

Lektorat: Malte Ritter

Cover- und Innenillustrationen: © Gerda Raidt,
vermittelt durch die Agentur Susanne Koppe, Hamburg,

www.auserlesen-ausgezeichnet.de

Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition, unter Verwendung von
Bildmaterial von © Getty Images/​Thinkstock

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978 - 3-7607 - 9987-2

ISBN Printausgabe 978 - 3-7607 - 9936-0

www.bloomoon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Die Schattenbande

1. Kapitel,

in dem Klara von einer Dame mit Bart gejagt wird

2. Kapitel,

in dem es auch für Otto düster wird

3. Kapitel,

in dem es viele Fragen und keine Antworten gibt

4. Kapitel,

in dem ein Messer plötzlich wieder auftaucht

5. Kapitel,

in dem die Schatten einen verwegenen Plan schmieden

6. Kapitel,

in dem es Schwarzwälder Kirschtorte mit sauren Gurken gibt

7. Kapitel,

in dem mit Cremetörtchen und Pistolenkugeln geschossen wird

8. Kapitel,

in dem die Schatten Besuch und einen heißen Tipp bekommen

9. Kapitel,

in dem ein ziemlich kleiner Graf ziemlich große Angst hat

10. Kapitel,

das für Otto und Paule fast das letzte geworden wäre

11. Kapitel,

in dem es schwarze Katzen regnet

12. Kapitel,

in dem Otto erst untertaucht und dann die Wand hochgeht

13. Kapitel,

in dem es spukt

14. Kapitel,

in dem Klara ordentlich ins Schwitzen gerät

15. Kapitel,

in dem die Schatten jemandem auf den Zahn fühlen

16. Kapitel,

in dem den Schatten ein Licht aufgeht

17. Kapitel,

in dem ziemlich viele Leichen auftauchen und ein Mädchen verschwindet

18. Kapitel,

in dem mehrere Fallen gestellt werden, aber nur eine zuschnappt

19. Kapitel,

in dem es Kaffee und Kuchen und eine Schießerei gibt

20. Kapitel,

in dem Otto dem Mörder ins Auge schaut

21. Kapitel,

in dem es zuerst Theater und dann endlich was zu essen gibt

Die Autoren

Die Illustratorin

DIE SCHATTENBANDE

Schiebermütze, Knickerbocker und Dreck unter den Fingernägeln: Das ist Klara Schlapp. Dass sie ein Mädchen ist, ist geheim. Nur ihre Freunde wissen, dass sie blonde Zöpfe unter der Mütze versteckt. Klara ist eine begnadete Taschendiebin und die Anführerin der Schattenbande. Das Blöde ist nur: Otto will das einfach nicht einsehen.

Im Fassadenklettern nimmt es keiner so schnell mit Otto Karwuttke auf und auch im Pläneschmieden ist er große Klasse. Leider hat Klara oft schon Nägel mit Köpfen gemacht, bevor er sagen kann, wo es langgeht. Otto und Klara sind ein Superteam, das meinen alle. Aber Otto findet, dass sie noch besser wären, wenn Klara endlich einsehen würde, dass er der Chef ist.

Paule Kowalski ist ein genialer Panzerknacker und Erfinder. Aus Schrottteilen und Abfall baut er die erstaunlichsten Apparate, Maschinen und Sprengkörper. Wenn er einmal nicht an seinen Erfindungen tüftelt, stiehlt er Kohlen. Denn die Dampfmaschinen, mit denen er seine Maschinen betreibt, wollen gefüttert werden. Paule träumt von einem eigenen Automobil – und von einer Weste aus Samt mit echten Perlmuttknöpfen.

Lina Kowalski ist Paules kleine Schwester und das jüngste Mitglied der Schattenbande. Sie ärgert sich furchtbar darüber, dass die anderen sie oft nicht ernst nehmen. Dabei könnte sie den Freunden nicht selten den Hals retten, wenn man sie nur mitmachen ließe. Lina hat nämlich einen sechsten Sinn. Sie wittert Gefahr und spürt Dinge, die anderen verborgen bleiben.

1. KAPITEL,

in dem Klara von einer Dame mit Bart gejagt wird

Eine Knackwurst. Klara sah sie. Direkt vor sich, so groß, noch größer, mit Senf, je einem dicken gelben Klecks auf beiden Enden. Klaras Nase gab ebenfalls Alarm: Rührei mit Speck. Nur knuspriger brauner Speck konnte ihren Riecher so quälen. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen: Bohnensuppe mit Rindfleisch. Oh ja! Oder wenigstens eine Stulle mit Schmalz. Hauptsache etwas, das dieses Knurren in ihrem Bauch verstummen ließ.

Klara kniff sich mit zwei Fingern so fest ins rechte Ohrläppchen, dass sie vor Schmerz fast aufschrie. Wenigstens schwebte die Knackwurst nun nicht mehr vor ihren Augen durch den Strom der Nichtstuer, die über den Nollendorfplatz schlenderten.

Sie hatte seit knapp zwei Tagen kaum etwas gegessen. Kaum etwas bedeutete ganz genau: sieben Rosinen, dazu ihren Anteil von einem Apfel, der allerdings zur Hälfte von einem Droschkenpferd zertreten worden war. Und die Rinde von einem halben Graubrot, natürlich auch geteilt durch vier.

Aber das würde sich gleich ändern.

In der perlenbesetzten Handtasche der dicken Dame, die nur wenige Meter vor Klara herstöckelte, verbarg sich ihr Abendessen. Dazu noch für die ganze Schattenbande das Frühstück und das Mittagessen für den nächsten Tag.

Jetzt nur nicht ablenken lassen, ermahnte sich Klara, bloß keinen Fehler machen. Sie beobachtete die feine Dame schon seit einer halben Stunde, wie sie in ihren Schuhen aus Schlangenleder über den Markt trippelte. Für die Schuhe hatte sicher eine ausgewachsene Würgeschlange herhalten müssen. Zielstrebig hatte die Dame die teuersten Stände angesteuert, bei Dannemann hatte sie Pralinen gekauft, zwei Pfund von den teuren belgischen!

Danach hatte sie die Handtasche nicht richtig zugemacht.

Die Schnalle stand auf. Und der Geldbeutel lugte hervor.

»Nur ein Handgriff … «, murmelte Klara, biss sich aber sofort auf die Unterlippe.

Ein einziger schneller Handgriff und sofort weglaufen. Die Dicke würde sie nie und nimmer einholen. Dann würde sie merken, was sie von ihrem Übergewicht hatte. Und dass sie nicht so viel Geld für Leckereien ausgeben sollte.

Die schönen Scheinchen machen uns satt, aber Sie, gnädige Frau, nur fett, flüsterte eine Stimme in Klaras Hinterkopf. Jetzt halt den Mund und klau das verflixte Portemonnaie, dann ist der Tag gerettet, zischte eine andere dazwischen.

Klara holte tief Luft, straffte die Schultern und ging zum Angriff über. Scheinbar ziellos schlenderte sie auf die Dame zu, dann tat sie, als ob sie stolperte. Im Fallen streckte sie ihre Finger aus und schob sie in die Handtasche. Das funktionierte immer.

Sie griff nach der Geldbörse und wollte sie herausziehen, aber das Miststück steckte fest. Als wäre es angeklebt oder festgenäht.

Irgendwas war hier faul. Oberfaul. Ganz gewaltig oberfaul. Nichts wie weg, beschloss Klara, aber im selben Moment drehte sich die Dame um und starrte sie an.

Buschige Augenbrauen, Knollennase, Bartstoppeln auf den gepuderten Wangen und dem Kinn, das rechte Lid hing über dem Augapfel.

»Wa-wa-wa … «, stammelte Klara.

»Oh ja«, brummte die falsche Dame.

»Wa-Wa-Wachtmeister Eltinger!«, brachte Klara endlich hervor.

»Hab ich dich erwischt, Bürschchen!«, brüllte Eltinger. »Du bist verhaftet!«

Aber bevor er Klara packen konnte, war sie losgerannt.

Sie stieß gegen einen der Marktstände, eine Eierpyramide stürzte ein. Die Marktfrau tobte. Klara flitzte zwischen einer Litfaßsäule und einem Sonnenschirm durch, kickte im Vorübergehen gegen einen Stapel leerer Obstkisten, der hinter ihr zusammenfiel, stolperte gegen ein altes Mütterchen und warf fast zwei Hausfrauen mit Kinderwagen um. Nachdem sie quer über den Nollendorfplatz gerast war, bog sie in die Motzstraße ein.

Eltinger blieb ihr dicht auf den Fersen. Klara staunte, dass der Polizist in den Damenschuhen so gut rennen konnte.

Wohin? Wo sollte sie bloß hin?

Da hinten stand eine Haustür auf.

Klara hechtete die Stufen zum Eingang empor, rannte durchs Treppenhaus in den Hof, unter den Teppichstangen durch und ins Hinterhaus. Eine Treppe hoch und noch eine, im zweiten Stock kam ihr ein alter Herr entgegen, der sich gerade noch am Geländer festhalten konnte, sonst hätte sie ihn umgerissen.

»Nicht so schnell, du Rüpel!« Er drohte mit seinem Spazierstock, aber Klara war schon weg.

Dritter Stock, vierter Stock. War Eltinger noch hinter ihr her? Sie warf einen Blick über die Schulter, aber er war nirgends zu sehen. Hier war die Tür zum Dachboden. Glücklicherweise nicht abgeschlossen. Nichts wie rein. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, rang nach Luft und lauschte. Wenn bloß ihr Herz nicht so laut hämmern würde. Aber im Treppenhaus war nichts zu hören. Keine Schritte. Kein Eltinger. Sie hatte ihn abgehängt.

Gerettet, dachte Klara. Gott sei Dank.

Wie dämlich, wie grottendämlich, schimpfte sie mit sich. Alle hatten sie davor gewarnt, dass die Schupos in letzter Zeit wieder mit allen Tricks Jagd auf Diebe rund um die Nolle machten. Und sie war trotzdem in die Falle getappt.

Fast. Sie grinste. So schnell packte man keinen Schatten.

Langsam wurde ihr Atem ruhiger, auch ihr Puls raste nicht mehr so schnell. Sie blickte sich um. Von den Dachbalken hingen Spinnweben wie Girlanden. Staubkörnchen tanzten in den Sonnenstrahlen, die schräg durch ein Dachfenster fielen.

Klara wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie würde sich noch ein paar Minuten ausruhen und dann wieder nach unten schleichen, um woanders ihr Glück zu versuchen. Im KaDeWe auf der Tauentzienstraße vielleicht. In dem schicken Kaufhaus wimmelte es um die Mittagszeit vor reichen Müßiggängern, ein Paradies für Taschendiebe.

Vielleicht traf sie dort sogar die anderen, den Rest der Bande: Otto, Paule und seine kleine Schwester Lina. Klara hatte die drei im vergangenen Winter bei Tante Elfi kennengelernt. Tante Elfi – der Name hörte sich so harmlos an, aber Tante Elfi war ein Scheusal. Sie beutete ihre Schutzbefohlenen aus und piesackte sie mit großer Hingabe. Sie hasste alle Kinder, aber Klara, Otto, Paule und Lina hasste sie am allermeisten. Keiner der vier wusste, warum.

Im Grunde war es ein Glück.

Wenn Tante Elfi nicht so schlimm gewesen wäre, hätten wir uns vielleicht nie getraut, aus dem Waisenhaus auszubrechen, dachte Klara.

Aber weil es so unerträglich gewesen war, hatten sie es gewagt. Nun hausten sie in der ehemaligen Schreinerei am Lützowufer und hielten sich irgendwie über Wasser. Die Schattenbande, so nannten sie sich. Der Name war Ottos Idee gewesen. »Weil wir nicht zu erkennen und nicht zu packen sind«, hatte er gesagt.

Wir sind die Schatten, schnell und schlau, keiner sieht sie je genau – das war ihr Motto. Sie hatten kein üppiges Leben, na ja, manchmal war es sogar ziemlich mies, an den Winter wollten sie lieber gar nicht denken. In fast genau einem halben Jahr war Weihnachten, und sie würden frieren, das stand fest.

Oder die Tage, an denen sie hungrig ins Bett gingen, wie gestern zum Beispiel. Und vorgestern. Doch das war alles besser als Tante Elfis Knast. Sie allein hatten das Sagen, und das war gut so.

Klaras Magen begann wieder zu knurren. Unter dem Dach surrte eine dicke Fliege. Im Treppenhaus war alles still. Vorsichtig schlich sie zur Tür, drückte die Klinke herunter und wollte sie behutsam aufziehen 

Wwwwock!

Die Tür knallte ihr entgegen und donnerte gegen die Wand, sie konnte gerade noch zur Seite springen. In der Öffnung stand Eltinger, keuchend, mit verschmiertem Puder auf den Wangen, in Strümpfen, die Schuhe hatte er bei der Verfolgungsjagd wohl verloren.

»Hab ich dich!«

Triumphierend packte er Klara an der Schulter, aber sie duckte sich und tauchte unter seinem Arm durch. Blitzschnell rannte sie aus dem Dachboden ins Treppenhaus.

Jetzt ging es die vier Stockwerke wieder herunter. Auf jedem Treppenabsatz schwang sich Klara auf das Geländer und sauste hinab. Gut, dass sie wie immer ihre Knickerbocker-Hosen trug und kein Kleid. Das war bei einer Verfolgungsjagd ein Riesenvorteil.

Eltinger stolperte fluchend hinter ihr her. Durch den Hinterausgang rannte Klara auf die Straße, wo sie um ein Haar von einer Autodroschke überfahren worden wäre. Im letzten Moment konnte der Fahrer ausweichen. Die Hupe des Wagens quäkte, der Mann drohte mit der Faust aus dem Fenster: »Du verdammter Bengel!«

Klara würdige ihn keines Blickes, sie schlug Haken wie ein Hase, aber Eltinger ließ sich nicht abschütteln. Er blieb ihr dicht auf den Fersen.

»Haltet den Dieb!«, schrie er immer wieder und schwenkte die perlenbesetzte Handtasche wie einen Schlagstock. Auf seinem Kopf hatte sich die Perücke gelöst. Sie hing zusammen mit dem Hut nur noch an einer einzigen Haarnadel und wippte neben dem rechten Ohr auf und ab.

Lächerlich, dachte Klara, aber leider hatte sie gerade keine Zeit zu lachen.

Auf der offenen Straße gab es keine Chance gegen Eltinger, sie brauchte ein Versteck, und zwar schnell, denn an der Ecke zur Eisenacher Straße tauchte ein weiterer Schutzpolizist auf und verstellte ihr den Weg. Die Trillerpfeife zwischen seinen Zähnen schrillte schmerzhaft in Klaras Ohr. Sie bog nach links in eine Seitengasse, aber da stand ebenfalls ein Schupo, breitbeinig, mit verschränkten Armen.

Zurück konnte sie nicht, wenn sie Eltinger nicht in die Arme laufen wollte. Blieb nur noch eine winzige Gasse zu ihrer Rechten. Die Häuser standen hier so eng, dass Klara mit ausgebreiteten Armen die Wände berührt hätte.

Aber das tat sie natürlich nicht. Sie rannte gerade um ihr Leben. Um ihre Freiheit.

Seit dem Ausbruch aus Tante Elfis Waisenhaus war Eltinger hinter den Schatten her. Wenn er Klara einfing und zurückbrachte, würde Tante Elfi dafür sorgen, dass sie ihr so schnell nicht wieder entwischte. Und wenn sie Klara dafür anketten musste wie einen Hofhund.

Klara schwitzte. Täuschte sie sich oder rückten die Häuser vor ihr immer dichter zusammen? Was war das überhaupt für eine Gasse? Es roch muffig und feucht, nach Müll und toten Ratten, süßlich und doch streng.

Sie kannte die Gegend um den Nollendorfplatz wie ihre Westentasche, aber hier war sie noch nie gewesen.

Hinter ihr keuchte Eltinger und wedelte mit der Perlentasche. »Bleib stehen, im Namen des Gesetzes!«

Nun, da er sich ihrer sicher zu sein schien, blieb er stehen und stemmte die Hände auf die Knie. Rasselnd sog er die Luft ein und stieß sie mit einem Pfeifen wieder aus.

Er war nur noch wenige Meter von Klara entfernt. Ihre Lunge brannte, der Puls hämmerte in ihren Schläfen. Nur nicht langsamer werden. Die Gasse machte eine Biegung, Klara schoss um die Ecke – und blieb wie angewurzelt stehen.

Es ging nicht weiter.

Vor ihr wuchs eine Mauer in den Himmel, vier oder fünf Meter hoch, unüberwindbar. Otto hätte vielleicht hinaufklettern können, aber sie? Nein. Jemand hatte mit schwarzer Farbe eine Katze auf die Backsteine geschmiert.

Nirgends eine Tür oder ein offenes Fenster. Es gab kein Entkommen. Sie saß in der Falle.

»Hab ich dich!«, schrie Eltinger. Er stakste durch die dunkle Gasse und musste auf seine Schritte achten, um nicht in eine Scherbe zu treten. An seinem dicken Zeh, der aus dem zerrissenen Seidenstrumpf ragte, hing etwas Braunes, Weiches.

Hoffentlich ist es Hundekacke, dachte Klara.

»Du Lausejunge, du verflixter!«, blaffte der Polizist.

Noch hielt er sie für einen Jungen. Aber das würde sich ändern, sobald er ihr die Mütze vom Kopf zog und ihre strohblonden, langen Haare sah.

»Na warte!«, brüllte er und streckte die Hand nach ihr aus. Er war ganz dicht an sie herangekommen.

Nein, dachte Klara. Du kriegst mich nicht.

Sie biss in seinen Zeigefinger, bis sie Blut schmeckte.

»Aaaah!«, brüllte Eltinger. Er zog seine Hand aus Klaras Mund und starrte ungläubig auf das Blut. »Verdammt! Das wirst du büßen!« Er warf die Arme in die Höhe. Im Gegenlicht wirkte er wie ein wütender Bär, bereit, die Pranken auf Klara hinuntersausen zu lassen.

Im diesem Moment sah Klara die Tür. Eine schmale, grün gestrichene Holztür in der Mauer, die einen Spaltbreit offen stand. Sie war eben noch nicht da gewesen, sondern ganz plötzlich aufgetaucht. Aus dem Nichts. Wie durch Zauberei.

Aber es gab keine Zauberei, das wusste Klara, sie war schließlich kein kleines Kind mehr.

Egal, dachte sie. Und während Eltinger weiter herumbrüllte, zog Klara die Tür auf und schlüpfte hindurch. Der Wachtmeister hechtete hinterher, aber Klara hatte die Tür zugeschlagen, bevor er sie packen konnte.

Jetzt bloß keine Zeit verlieren. Von einer geschlossenen Tür würde sich der Polizist nicht lange aufhalten lassen, selbst wenn er in einem Korsett und einer Rüschenbluse steckte.

Aber es ging nicht.

Die Dunkelheit, die sie umschloss, war so vollkommen, wie sie es noch nie erlebt hatte.

Es war, als ob sie aus dem sonnigen Berliner Sommertag in einen kilometertiefen Brunnen gefallen wäre und nun im Inneren der Erde saß. Sie sah keinen Funken, keinen Schemen, keinen Schatten. Nichts.

Und hören konnte sie auch nichts. Keinen Eltinger, der von außen gegen die Tür hämmerte, nicht einmal ihren eigenen Atem.

»Das ist aber komisch«, sagte Klara. Doch auch ihre Stimme wurde von der Stille verschluckt.

Vielleicht bin ich ja tot, dachte sie erschrocken. Vielleicht hat Eltinger mich vor lauter Wut mit der Perlenhandtasche erschlagen und nun bin ich in der Hölle.

»Ist das hier die Hölle?«, fragte sie, ohne sich dabei zu hören.

»Unsinn«, sagte plötzlich eine Männerstimme. Sie klang tief und rau und knarzend wie die Tür zu dem Verschlag, in den Tante Elfi ungehorsame Heimkinder tagelang einsperrte. »Wie kommst du denn auf so einen Quatsch?«

2. KAPITEL,

in dem es auch für Otto düster wird

Wo war Klara, verdammt noch mal? Um drei Uhr wollte sie zurück sein, sie hatte es ihm hoch und heilig versprochen, und nun war es fast vier. Seit einer halben Stunde rannte Otto im Bandenquartier auf und ab wie ein Tiger im Käfig.

Jetzt trat er wütend mit dem Fuß gegen die Kohlenkiste. Das war ein Fehler. Wenn man mit Paule Kowalski zusammenlebte, sollte man unvorsichtige Bewegungen vermeiden. In der alten Schreinerei brach die Hölle los.

Der Tritt gegen die Kiste löste eine Feder, die einen mechanischen Greifarm freigab. Der Arm fuhr nach vorn, holte ein Brikett aus der Kiste und schleuderte es in den Ofen. Ein Gummiband flutschte los, beschleunigte einen Feuerstein, der auf eine Stahlplatte prallte, Funken schlugen und setzten ein Gemisch aus trockenem Stroh, Sägespänen und alten Zeitungen in Brand.

Die Flammen erhitzten Wasser in einem Kessel, und der Dampf, der sich in Kürze bilden würde, würde eine Reihe weiterer Kettenreaktionen auslösen, aber so weit ließ Otto es nicht kommen. Mit dem Schürhaken schob er die Kohle nach hinten und löschte so das Feuer.

»Paule«, stieß er wütend zwischen zusammenpressten Zähnen hervor. »Wenn ich dich in die Finger bekomme.«

Die Erfindungen ihres Mitbewohners trieben den Rest der Schattenbande fast zum Wahnsinn. Durch seine Experimente mit Feuer, Chemikalien und Wasserdampf, mit Schießpulver und Schrott hatte Paule die alte Schreinerei mehr als einmal beinahe in die Luft gejagt. Doch Otto hatte jetzt keine Zeit, sich über Paule zu ärgern. Er musste los. Vorher allerdings musste er mit Klara reden. Und die war immer noch nicht da.

Heute Morgen hatte Otto eine Nachricht von Billy Barrakuda erhalten. Ein herausgerissenes Blatt aus einem Notizbuch, das zusammengefaltet zwischen den beiden Latten steckte, die den Eingang zur Schreinerei verbarrikadierten. Es war nicht das erste Mal, dass der berühmte Berliner Reporter ihnen auf diese Weise eine Botschaft zukommen ließ.

An Otto!

PERSÖNLICH!!!

war auf die Vorderseite des Blattes gekritzelt. Und wenn man es aufklappte, stand da:

Komm um halb fünf in die Pension von Witwe Botts.

Zu niemandem ein Wort – auch nicht zu den anderen.

Ich brauche deine Hilfe!

Billy Barrakuda

Zu niemandem ein Wort – das hatte Billy sich so gedacht. Das ging natürlich nicht. Erstens waren die Schatten eine Bande und hatten keine Geheimnisse voreinander. Und zweitens konnte Otto nicht so gut lesen, weshalb er Lina gebeten hatte, die Nachricht des Reporters zu entziffern. Paules kleine Schwester schaffte es, geschriebene Buchstaben schneller in Worte und Sätze umzuwandeln, als andere einen Gedanken fassen konnten. Aber das behielt Otto lieber für sich – Billy musste ja nicht alles wissen.

Wenn der Reporter etwas von Otto und den Schatten wollte, dann lohnte es sich, pünktlich zur Stelle zu sein. Denn die Gefälligkeiten, die die Meisterdiebe Billy Barrakuda erwiesen, wurden gut bezahlt – und im Moment konnten die Schatten jeden Groschen brauchen.

Bei dem Gedanken an die Bezahlung begann Ottos Magen zu knurren. Geld bedeutete Essen. Er durfte keine Zeit mehr verlieren. Die Glocken der Apostelkirche schlugen vier, der Reporter würde nicht ewig auf ihn warten.

Wo steckte Klara? Normalerweise kam sie nie zu spät. Sie konnte einem ziemlich auf den Wecker gehen, aber pünktlich war sie immer.

»Zum Teufel aber auch.«

Otto kratzte sich in den Wirbeln, die seine tiefschwarzen Haare in alle Himmelsrichtungen stehen ließen. Wenn er schreiben könnte, hätte er eine Nachricht an sie geschrieben. Nach seinem Besuch bei Witwe Botts wollte er sich nämlich mit Klara und den anderen am Sportpalast treffen. Dort boxte heute Abend Max Schmeling, und im Publikum gab es für die Schatten immer einiges zu mopsen.

Egal. Er kletterte durch das Fenster in den Hinterhof und schlüpfte durch die Toreinfahrt hinaus auf die Straße. Das Fenster war der einzige Zugang zur alten Schreinerei. Die Haustür war mit Brettern verrammelt und vernagelt, seit der Betrieb vor ein paar Jahren geschlossen hatte.

Kurz darauf überquerte er den Landwehrkanal und eilte die Straße entlang. Immer wieder blickte er über die Schulter nach hinten. Wenn er Glück hatte, erwischte er eine Elektrische.

Otto nickte zufrieden, als er in der Ferne das Rattern der Trambahn hörte. Die drei Pfennige für die Fahrt wollte er nicht zahlen. Er ließ die Bahn erst einmal vorbeifahren, sprintete im letzten Moment los und schwang sich auf das hintere Trittbrett. Jetzt musste er nur den Kopf einziehen, damit ihn der Schaffner nicht entdeckte.

Wie spät es wohl sein mochte? Billy wartete bestimmt schon ungeduldig auf ihn.

»Hat jemand von Ihnen die Uhrzeit?«, fragte er einen Herrn direkt neben sich.

Der Fahrgast zuckte erschrocken zusammen. Eine Hand schnellte zu seiner Uhrkette, die andere wahrscheinlich zu der Brieftasche in der Innentasche seines Überrocks.

Er hält mich für einen Dieb, dachte Otto.

Recht hatte der Mann, allerdings war Otto ein miserabler Taschendieb. Viel schlechter als Klara, auch wenn er es nicht gerne zugab.

»Fünf vor halb fünf«, erklärte eine rotwangige Dame, die auf der anderen Seite des Gangs saß.

»Danke«, rief Otto und machte einen Diener, wodurch er fast vom Trittbrett fiel.

Kurze Zeit später bog die Elektrische in die Potsdamer Straße ein. Bevor sie richtig zum Stehen kam, sprang Otto vom Wagen.

Das Mietshaus, in dem Frau Botts ihre Pension betrieb, sah aus, als würde es jeden Moment zusammenbrechen. Schief und krumm stand es zwischen den stolzen Bürgerhäusern auf der Potsdamer Straße, wie ein armes Dienstmädchen neben lauter Prinzessinnen. Die Witwe hatte ständig Ärger, weil es hereinregnete, von der Fassade bröckelte der Putz, selbst das Schild am Eingang hing nur noch an einer Schraube und schwankte bei jedem Windstoß quietschend hin und her. Auf dem Schild stand:

Pension Botts

3. Stock

Zimmer mit Aussicht

Otto schnaubte verächtlich. Sämtliche Fenster der Pension Botts führten nur zu einem hässlichen Lichtschacht, das wusste er.

»Aussicht ist Aussicht«, erklärte Frau Botts immer, wenn man sie darauf hinwies, dass der Blick aus ihrer Pension nicht gerade berauschend war. »Andere Zimmer haben gar keine Fenster. Und manche haben Gitter.« Was wohl ein kleiner Hinweis darauf war, dass sie über die Machenschaften der Schatten informiert war.

Klara erledigte oft Botengänge für Frau Botts. Die Witwe stellte für einen Spielwarenfabrikanten Püppchen her, die Klara dann zu der Fabrik nach Tempelhof brachte. Dafür zahlte ihr die Witwe ein kümmerliches Botengeld.

Otto zog die Haustür auf und trat in den Flur. Im Treppenhaus roch es nach Kohlsuppe. Seufzend machte er sich an den Aufstieg. Er hasste Kohl, aber im Moment hätte er alles für einen Teller davon gegeben.

Schon im ersten Stock war er völlig außer Atem. Hinter einer Wohnungstür trillerte ein Kanarienvogel. Im zweiten Stock wurde gestritten. »Du Schuft!«, kreischte eine Frauenstimme. Ein Mann brüllte. Etwas klirrte.

Otto ging schnell weiter. Auf halber Treppe zum dritten Stock hörte er Schritte, die von oben herabtrappelten.

Zwei Männer in langen dunklen Mänteln kamen ihm entgegen. Die Hüte tief ins Gesicht gezogen, eilten sie die Stufen hinunter, sie schienen ihn gar nicht zu bemerken. Nun rannten sie beinahe.

»Achtung!«, rief Otto.

Zu spät. Der größere der beiden, lang und dürr wie eine Bohnenstange, stieß mit ihm zusammen und riss ihn fast um.

Der Dürre hastete weiter, ohne sich zu entschuldigen. Aber der andere verharrte einen Moment und starrte Otto ausdruckslos an. Oder vielmehr: Eines seiner Glupschaugen fixierte Otto, das andere stierte gegen die Wand.

Der Dürre packte seinen Begleiter am Ärmel und riss ihn weiter.

»Auf Wiedersehen, war mir ein Vergnügen«, rief Otto ihnen spöttisch nach.

Im dritten Stock stand die Tür zur Pension offen. Das war ungewöhnlich. Witwe Botts legte allergrößten Wert darauf, dass ihre männlichen Gäste keinen Damenbesuch und die weiblichen keinen Herrenbesuch empfingen, und sie wollte stets über alles genauestens Bescheid wissen. Deshalb öffnete sie die Tür immer selbst und kontrollierte jeden Besucher persönlich, bevor sie ihn zum Zimmer begleitete.

»Hallo?«, rief Otto.

Keine Antwort.

Ob die beiden Männer Pensionsgäste gewesen waren?

»Frau Botts?«

Sonst saß die Alte immer an ihrem Tisch im Zimmer neben dem Eingang und nähte an ihren Püppchen. Heute war das Zimmer leer.

»Billy?«

Auch von Billy Barrakuda fehlte jede Spur. Otto fragte sich, warum ihn der Reporter ausgerechnet in die Pension bestellt hatte. Als Otto ihn vor einigen Tagen in der Redaktion des Lokal-Anzeigers besucht hatte, hatte er mit keinem Wort erwähnt, dass er ihn treffen wollte.

Vermutlich war Billy wieder einer seiner brandheißen Geschichten auf der Spur, für die ihn seine Leser vergötterten. Beim Sammeln von Informationen ließ er sich gerne von Otto und dem Rest der Schattenbande helfen, denn die Bande übernahm Aufgaben, die der Reporter nicht erledigen konnte oder durfte: Türschlösser knacken oder einen Blick in einen Tresor oder durch ein Dachfenster werfen, hinter dem sich Filmstars mit ihren Liebhabern trafen.

Hinten im Flur stand eine Tür einen Spaltbreit offen. Vielleicht wartete Billy dort auf ihn. Otto ging den Flur entlang, klopfte, wartete einen Moment, und als keine Antwort kam, schob er die Tür auf und trat ein.

»Heiliges Kanonenrohr!«, flüsterte er. Das Zimmer glich einem Schlachtfeld.

Die Schranktür hing schief in den Angeln, der Inhalt sämtlicher Schubladen des Bücherregals und des Büfetts war auf dem Boden verteilt. Ein Berg aus Scherben, Kleidern, zerknülltem Papier, Strümpfen, Hüten und Büchern. Auf dem Tisch lag eine umgekippte Flasche. Rotwein tropfte auf den Teppich.

Otto hörte ein leises Stöhnen, dann ein Röcheln.

»Ist hier jemand?«, fragte er.

Wieder stöhnte jemand.

Das Geräusch kam von dem umgekippten Diwan am Fenster. Die Vorhänge aus schwerem, dunkelblauem Brokat raschelten. Jemand schien daran zu ziehen, mit einem Ratsch riss der altersschwache Stoff entzwei.

»Frau Botts?« Otto hastete zu dem Sofa und schob es zur Seite. »Billy?«