Edition III

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„Folgen 13-18“

Simon X. Rost

Hendrik Buchna

Raimon Weber

Anette Strohmeyer

John Beckmann

- Originalausgabe -

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-942261-65-4

Lektorat: Hendrik Buchna

Cover-Gestaltung: Ivar Leon Menger

Fotografie: iStockphoto

© Verlag Psychothriller GmbH

www.psychothriller.de

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Ein Buch zu schreiben, dauert Monate. Es zu kopieren, nur Sekunden. Bleiben Sie deshalb fair und verteilen Sie Ihre persönliche Ausgabe bitte nicht im Internet. Vielen Dank und natürlich viel Spaß beim Lesen! Ivar Leon Menger

Folge 13

„Die Ausgestoßenen“

von Simon X. Rost

Prolog

„Wenigstens macht der Taxifahrer keine Probleme, als ich, beim Hilton angekommen, mit einem Dollarschein statt der hiesigen Währung Sucre bezahle. In der imposanten Hotellobby treten, noch bevor ich die Rezeption erreicht habe, zwei Männer in hellen Anzügen auf mich zu. In fließendem Englisch stellen sie sich als Mitarbeiter der Reisebehörde vor, die seitens der amerikanischen Botschaft im Vorfeld über den besonderen Anlass meiner Einreise informiert worden war. Wäre ich nicht so groggy, hätte ich mir sicher die Frage gestellt, wie die beiden mich unter all den anderen Touristen sofort erkannt haben. Schnell wird klar, dass die dauerlächelnden Herren offenbar gewillt sind, mir ab jetzt nicht mehr von der Seite zu weichen. Ihre Einladung zum Essen zwecks Klärung der weiteren Formalitäten lehne ich jedoch höflich mit Verweis auf meinen Erschöpfungszustand und die starken Kopfschmerzen ab. Ich bin jetzt definitiv nicht in der Lage, irgendwelche organisatorischen Gespräche über den Transport von Terrys Sarg zu führen.“

Quelle: Unbekannt

1

„Bist du sicher? Ganz sicher, dass es hier weitergeht?“

Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung. Denke schon.“

Emily blickt skeptisch und auch ein wenig ängstlich an mir vorbei in das Dunkel, das sich keine zwei Schritte jenseits des Lichtkegels der Taschenlampe erstreckt. Der Gang ist schmal und die gemauerten Wände sind mit Moos bewachsen. Das Wasser auf dem Boden reicht uns bis über die Knöchel. Es riecht modrig und von der Betondecke hängen kleine Tropfsteingebilde.

„Können wir zurückgehen, Jonathan? Bitte!“ Sie schmiegt sich an mich und ich spüre die Wärme ihres Körpers, nehme den leichten Geruch von parfümierter Seife wahr, der ihrem Haar entströmt. Sie ist toll. Ich will sie berühren, sie küssen. Hier, jetzt. Aber ich tue es nicht. Ich weiß nicht, wie oft sich uns diese Chance bieten wird. Unsere Klamotten sind nach einer Stunde in diesem unterirdischen Labyrinth völlig verdreckt. Das wird Fragen aufwerfen, Fragen, die vielleicht verhindern, dass wir jemals wieder nach einem Ausgang suchen können.

Einem Ausgang nach Draußen.

Ich lasse den Lichtkegel der Taschenlampe wieder auf die verwitterte Karte gleiten, die ich für einen Haufen Kohle in Amy’s Bakery erstanden habe. Doch. Wir sind richtig. Aus dem großen quadratischen Raum, den wir gerade verlassen haben, gibt es nur drei Ausgänge. Wir haben den rechten genommen. Wir sind richtig, auch wenn es hier enger, feuchter und glitschiger ist, als zuvor.

Ich nicke Emily zuversichtlich zu: „Komm. Es ist nicht mehr weit“

Sie folgt mir. Als ich die Taschenlampe wieder nach vorne richte, wuselt es. Greybugs flüchten nach allen Seiten vor dem Licht. Aber sie sind das Einzige, was hier unten zu leben scheint. Das dumpfe Grollen, das wir am Vortag aus dem Schacht in Amy’s Bakery gehört haben, ist bislang nicht zu vernehmen gewesen. Auch sonst haben wir niemanden hier unten gesehen, die Gänge sind bis auf die Greybugs verwaist. Vor uns ist ein Teil der Decke eingestürzt. Am Boden hat sich ein kleiner Schuttkegel gebildet. Als ich ihn erklimme und mich umdrehe, um Emily die Hand zu reichen, durchfährt es mich eiskalt.

Sie ist weg. Emily ist weg!

Vor einer Sekunde war sie noch hinter mir!

„Emily?“, hauche ich erst leise und dann, als keine Antwort kommt, rufe ich laut: „Emiiiilyyyy?“

Wieder nichts. Mein Herz schlägt schneller. Ich schlucke, stolpere den kleinen Schutthügel herunter und gehe ein Stück zurück, leuchte in den Gang, aus dem wir gekommen sind. Sie ist nicht da!

„EMIIIILLYYYY!“

Mein Schrei verhallt. Plötzlich schießt etwas aus einer dunklen Nische links von mir, packt mich und reißt mich herum. Mein Herz setzt für einen Moment aus. Ich hebe die Taschenlampe, will zuschlagen, mich losreißen, da spüre ich feuchte Lippen auf den meinen. Und dann höre ich ihr Lachen.

„Na, du großer Held? Hast du dich vielleicht erschreckt?“ Sie lacht und das Geräusch klingt herrlich fröhlich in dieser trostlosen unterirdischen Dunkelheit. Mein Herz schlägt immer noch wie ein Dampfhammer, ich drücke sie an mich.

„Du Biest! Na, warte, das wirst du mir büßen ...“

Ich küsse sie. Lange. Sie öffnet ihren Mund, unsere Zungen umspielen sich.

„Oh, so büße ich aber gerne ...“ sagt sie und dann küssen wir uns. Leidenschaftlich. Sie schmiegt sich an mich, ich spüre jede Kontur ihres Körpers. Meine lederne Umhängetasche gleitet zu Boden. Emily muss bemerken, wie erregt ich bin, aber es ist mir nicht peinlich. Bei ihr ist mir nichts peinlich. Und sie sträubt sich nicht. Im Gegenteil. Sie drückt sich mit der Hüfte fest an mich, als es plötzlich da ist.

Das Geräusch.

Das dunkle Grollen.

2

Wir stehen wie versteinert da. Die aufgeheizte Stimmung, die Leidenschaft, alles ist mit einem Mal verflogen. „Hast du das gehört?“, haucht sie. Ich nicke, ziehe sie langsam ein Stück in Richtung Schuttkegel. „Was war das?“, fragt Emily, aber ich lege den Finger an die Lippen, bedeute ihr, leise zu sein. Wir lauschen.

Da ist es wieder. Und es klingt näher.

Man hört Schritte im flachen Wasser. Da kommt etwas auf uns zu.

„Komm!“, schreie ich, ziehe Emily hinter mir her, stürme auf den Schuttkegel zu. Wir hasten ihn hinauf. Folgt es uns? Ist es immer noch hinter uns her? Im Rennen werfe ich kurz einen Blick über die Schulter. Etwas ist da. Etwas Bleiches, Helles.

Wir lassen den Schutthügel hinter uns, das Wasser spritzt zur Seite, während wir vorwärts hasten. Irgendwo da vorne muss der Ausgang sein, wenn die Karte stimmt. Irgendwo da vorne geht es nach Draußen. Wir schrammen mit den Schultern gegen die engen Wände. Das dumpfe Grollen hinter uns wird lauter. Das bleiche Ding kommt näher. Der Gang zweigt nach links ab, dann wieder nach rechts. Das Etwas folgt uns noch immer.

Emily keucht heftig, hält sich an mir fest, um mich nicht zu verlieren. Ich wechsle die Taschenlampe in die andere Hand, fummele in der Umhängetasche nach dem Revolver aus der Sammlung meines Großvaters, den ich heimlich eingesteckt habe. Hoffentlich funktioniert das Ding.

Ich werde ihn benutzen, wenn es nötig ist.

Nach der nächsten Ecke muss der Ausgang kommen, wenn die Karte stimmt. Das Geräusch hinter uns wird lauter. Ich blicke kurz über die Schulter, als wir um die Ecke biegen. Es ist ein Mensch, der uns folgt. Oder zumindest so etwas Ähnliches. Er ist bleich, groß und unglaublich mager.

Und er ist schnell.

„Jonathan! Jonathan!“, schreit Emily atemlos. Sie deutet hektisch auf den Weg vor uns. Ich blicke nach vorne und meine Kehle schnürt sich zu. Das ist nichts. Kein Ausgang. Nur eine Wand.

Eine Sackgasse. Das Ende.

Ich reiße den Revolver hoch und feuere, zwei, drei Mal nach hinten, ohne wirklich hinzusehen. Das Ding kreischt auf, ein schriller Schrei voller Zorn.

„Du hast getroffen! Du hast ihn getroffen, Jonathan!“

Es zuckt zurück. Kurz verschwindet das bleiche Leuchten in der Dunkelheit. Aber man hört das Geräusch noch. Es ist noch da. Er ist noch da. Emily zittert.

Dann geht die Taschenlampe aus. Einfach so. Ohne ein einziges Mal zu flackern.

Einfach aus. Emily stöhnt erschrocken auf. „Jonathan“, flüstert sie. Ihre Stimme ist brüchig.

Das Leuchten in der Dunkelheit ist deutlich zu sehen.

Der bleiche Mann kommt näher. Ich habe irgendwo in der Tasche noch eine zweite Lampe, ich krame hektisch danach, aber ich wage es nicht, die Augen von dem bleichen Mann zu lassen. Ich nehme den Revolver hoch, drücke noch mal ab. Und noch mal. Der Schüsse hallen von den Wänden zurück, der Lärm ist unbeschreiblich.

Das bleiche Ding zuckt zusammen. Aber es kommt weiter auf uns zu.

Gleich wird es bei uns sein.

Ich schieße noch mal. Das Ding macht ein paar Schritte rückwärts. Als ich noch mal abdrücke, gibt der Revolver nur noch ein Klicken von sich.

„Scheiße! Scheißescheißescheiße!“

Der bleiche Mann hält inne. Dann kommt er wieder näher.

„Jonathan! Da!“ Emily deutet nach oben. Über uns sieht man einen matten Lichtschein. Da ist ein Loch. Ein quadratisches Loch in der Decke, und von irgendwo scheint Licht einzufallen.

„Schnell! Hoch mit dir!“

Emily hält sich an meiner Schulter fest, stemmt einen Fuß auf meinen Oberschenkel, den anderen gegen die Wand. Sie schiebt sich nach oben, zieht sich hoch. „Hier ist Licht!“, schreit sie. „Da geht es raus! Komm! Komm!“

Der bleiche Mann kommt auf mich zu. Schnell. Ich stecke den Revolver ein, stemme mich hoch. Emily streckt mir ihre Hand entgegen und ich packe sie.

„Mach, Jonathan, MACH SCHNELLER!“

Der bleiche Mann rennt jetzt auf mich zu. Er wird gleich bei mir sein. Das Herz schlägt knapp unter meinem Kinn. Ich schlage mir Ellbogen und Knie an, drücke mich verzweifelt nach oben, als eine bleiche Hand mit langen, sehnigen Fingern meinen Fuß packt und an mir zerrt.

„Nein! Lass mich! Lass mich!“, schreie ich, Emily schreit auch, sie zerrt an meinen Armen, das Ding an meinem Fuß. Es röchelt bösartig, es will mich beißen, ich weiß es. Mit der Kraft der Verzweiflung trete ich mit dem freien Fuß nach unten, und treffe das Ding. Es kreischt schrill, lässt mich für einen Augenblick los und ich katapultiere mich nach oben, Emily reißt mich förmlich auf die Füße und wir stürzen auf die dünnen Schlitze zu, aus denen Tageslicht auf uns fällt. Holzbretter, Lichtschlitze dazwischen. Ich werfe mich mit aller Kraft dagegen.

Es knirscht und ein höllischer Schmerz fährt in meine Schulter. Wir werfen uns zusammen dagegen. Das morsche Holz bricht.

Und das gleißende Sonnenlicht explodiert in meinem Kopf.

Wir sind Draußen.

3

„Weg, weg hier!“, schreit Emily, immer noch voller Panik.

Noch geblendet vom Sonnenlicht rappeln wir uns auf und stolpern vorwärts. Alles ist grün und hell und ich bekomme langsam wieder Luft. Luft! Wir rennen über eine hohe Wiese und dann sind da Büsche und schließlich dicke Baumstämme, der Wald. Ich kann nicht mehr. Ich bleibe keuchend stehen, blicke mich um, sehe in der Ferne das Loch, aus dem wir gekrochen sind. Ein mit Brettern vernagelter, alter Abwasserkanal in einer mächtigen Mauer.

Die Stadtmauer. Für einen kurzen Moment glaube ich, noch ein bleiches Schimmern neben den geborstenen Brettern zu sehen, doch dann ist es weg. Niemand folgt uns.

Wir sind allein. Und wir sind draußen.

„Warte! Emily!“, rufe ich ihr zu. Sie ist ein paar Schritte weiter gerannt. Jetzt bleibt sie stehen und kommt zurück.

„Es ist weg!“, sage ich. „Wir haben es geschafft!“

Sie sieht mich mit großen Augen an, keucht, stützt die Hände auf den Oberschenkeln ab. Dann geht auch ihr Blick zur Mauer. Sie schüttelt fassungslos den Kopf. Das graue Bollwerk wirkt von dieser Seite gigantisch, es umspannt die ganze Stadt. Emilys Blick geht nach oben, ihre Augen weiten sich in Unglauben. Der Himmel über uns ist nicht einfach blau, er ist von einer so durchdringend schönen Farbe, wie man ihn in der Stadt, unter der Kuppel noch nie gesehen hat. Die Luft riecht klar und frisch und ist voller verheißungsvoller Düfte. Es ist warm und freundlich hier draußen und das viele Grün ist wie eine Überdosis von etwas Echtem, das man nur als schwachen Abklatsch kennt. Tausend Geräusche dringen zu uns, gedämpft und doch klar, ein Zirpen, ein Rascheln, der Wind in den Blättern, irgendwo hört man Vogelstimmen. Es ist, als wären ganz plötzlich alle Sinne geschärft und ein grauer Schleier über Augen, Ohren, Nase und Herz wären von einem abgefallen. Minutenlang bleiben wir einfach stehen und lauschen und sehen uns um. Ich blicke in Emilys Augen und sehe, dass es ihr genauso geht. Sie fällt mir um den Hals. Wir küssen uns. Eine Träne läuft über ihre Wange, sie wischt sie weg und muss gleichzeitig lachen.

„Was ist?“, frage ich. „Was ist so komisch?“

Sie lacht und kriegt sich kaum ein. „Nichts, es ist nur ... weißt du, was sie uns in der Schule immer gesagt haben? Das alles im Draußen Schmerz ist? Das ein Mensch keine fünf Minuten überleben kann?“

Sie lacht. Und ich muss auch lachen. Es fühlt sich nicht an wie Schmerz. Es fühlt sich gut an.

„Sir, da ist was! Da drüben im Wald!“

Die Stimme lässt uns zusammenfahren. Sie kommt von einem Mann in einem sandfarbenen IFIS-Overall. Er hat einen Flammenwerfer auf dem Rücken und steht etwa dreißig Schritte entfernt von uns, halb verdeckt von Büschen und Bäumen. Da steht eine ganze Gruppe von IFIS-Männern auf einer schmalen Straße, es ist mehr eine steinige Piste, zwischen den Bäumen. Alle haben Motorsensen, Flammenwerfer oder Motorsägen in der Hand. Sie scheinen eine Ausfallstraße aus der Stadt zu roden. Ein anderer Mann mit schwarzem Barett auf dem Kopf kommt auf den Typ mit dem Flammenwerfer zu.

„Was soll da sein, Hughes?“, fragt er und blickt in unsere Richtung. Für einen kurzen Moment treffen sich unsere Blicke.

„Da! Sehen Sie, Sir?“

Emily und ich bleiben geschockt stehen. Man hat uns entdeckt. Der IFIS-Mann mit dem Barett zückt eine Waffe. „Stehenbleiben!“, brüllt er und kommt auf uns zu.

Ich bin wie versteinert, aber Emily ist hellwach. Sie packt mich an der Hand und zieht mich hinter sich her. „Los, weg hier!“ zischt sie und dann rennen wir wieder.

Es geht bergab, Äste peitschen an uns vorbei, hinter uns sind Stimmen und Schritte, lautes Geschrei. Ein Schuss schlägt dicht neben uns in einen Baum, zerfetzte Rinde spritzt zur Seite. Wir folgen einem Trampelpfad durch dichtes Unterholz, Büsche mit länglichen roten Früchten nehmen uns die Sicht, aber Emily drückt die Zweige zur Seite und schlängelt sich durch die Büsche, als würde sie den Weg kennen. Dann wird der Untergrund steinig, wir sind an einem Bachlauf angekommen, hasten über flache Steine im Wasser auf die andere Uferseite. An einem großen Felsen bleiben wir stehen, ducken uns.

Ich atme heftig, Emily legt den Finger an die Lippen. Wir lauschen.

Nichts. Vereinzelt das Knacken von Ästen. Vogelgezwitscher.

Aber keine Stimmen. Keine Schüsse.

„Warten die, dass wir rauskommen?“ Emily sieht mich mit angstgeweiteten Augen an.

Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber ich würde nicht hier bleiben. Lass uns lieber noch etwas weiter.“

„Weiter wohin?“

Ich habe keine Ahnung, nehme sie an der Hand und wir folgen einfach dem Bachlauf bergab. Wortlos. Nach einer halben Stunde weitet sich das Dickicht und der Bachlauf mündet in einen großen See, der komplett von Wald eingefasst ist. Hübsche weiße Blüten schwimmen auf dem Wasser. Schwärme von irgendwelchen schwarzen Vögeln ziehen über der spiegelglatt daliegenden Wasseroberfläche ihre Kreise. Ihr kehliges Krächzen füllt die Stille, die ansonsten an diesem Ort herrscht.

Wir machen eine Pause. Emily lässt sich am sandigen Ufer des Sees nieder, legt sich hin, atmet tief durch. Wir sind völlig fertig. Aber nachdem wir ein paar Minuten durchgeatmet haben, bin ich überzeugt davon, dass uns niemand gefolgt ist.

Ich krame in der Umhängetasche, und fördere eine Packung Kekse und eine Flasche Wasser zutage, die ich die ganze Zeit mitgeschleppt habe. Gierig stürzen wir uns darauf. Emilys sorgenvoller Blick geht zu den Baumwipfeln hinter uns.

„Ich sehe die Stadt nicht mehr. Nicht mal den Sato-Tower.“

Ich nicke. „Wir sind weit weg.“

Emily schüttelt den Kopf. „Was machen wir jetzt? Wir werden Riesenärger bekommen! Es ist schon Nachmittag. Mrs. Gratschow wird mich fertigmachen! Und wie sollen wir überhaupt zurück in die Stadt? Ich geh nie wieder in dieses dunkle Loch mit diesem ... Etwas!“

„Das musst du auch nicht“, sage ich.

Emily sieht mich verwirrt an. „Warum nicht? Wie willst du zurückkommen?“

„Wir werden einfach an die Tür klopfen. Wir gehen zum Tor und klopfen einfach an.“

Emily schüttelt verständnislos den Kopf. „Ja, und dann? Mrs. Gratschow wird mir den Kopf abreißen und ich denke, deine Großmutter wird auch nicht begeistert sein.“

Ich nicke. „Gut möglich. Aber ... verstehst du nicht, wie wichtig das ist, was wir hier gerade erleben? Was wir gerade herausfinden?“

Ich mache eine ausladende Bewegung mit den Armen, die den See, die Bäume, den ganzen Wald um uns einschließt. „Das hier! Es ist nicht so, wie mein Großvater und seine Leute glauben! Es ist nicht feindlich! Es ist nicht Schmerz oder was sie uns eingetrichtert haben! Es ist gut! Diese Früchte dort drüben, siehst du die?“

Ich deute auf einen Baum, von dem violette Früchte von der Größe eines Footballs hängen. Emily nickt. „Ja. Ich hab sie im Sato-Tower gesehen, als ich dich zum ersten Mal besucht habe. Deine Großmutter hat gesagt, das wären Züchtungen deines Großvaters.“

Wieder nicke ich eifrig. „Ja, und es stimmt nicht. Sie wachsen hier, siehst du? Hier draußen! Und diese Typen, die uns verfolgt haben, sahen auch nicht aus, als würden sie Schmerzen haben, oder?“

Emily blickt zu Boden. „Nein. Das stimmt. Du meinst –“

„Ich meine, das ist alles Schwachsinn!“ unterbreche ich sie. „Die Mauer und dieses Tod-und-Verderbens-Zeug und alles. Hier draußen ist es cool! Vielleicht müsste kein Mensch in Porterville dieses ekelhafte Supreme essen, verstehst du? Vielleicht gibt es hier draußen genug für alle. Überleg mal: Bauernhöfe, wie in diesen alten Filmen! Eine Hütte und etwas Land für jeden und genug zu essen! Wir müssen es ihnen sagen! Wir klopfen einfach ans Tor und gehen zu meinem Großvater. Ich muss mit ihm reden!“

Emily sieht mich nachdenklich an. „Was, wenn er es längst weiß?“

Ich blinzle. „Wie meinst du das?“

„Na, ja. Wenn er weiß, dass es hier draußen nicht tödlich ist und es eigentlich genug Platz und zu essen für alle gäbe. Aber er will nicht, dass es jemand erfährt?“

Ich blinzle erneut. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ja, was wenn er es tatsächlich weiß? Was, wenn er es die ganze Zeit gewusst hat? Bevor ich etwas antworten kann, steht Emily plötzlich auf. Sie knöpft ihre völlig verdreckte Bluse auf.

„Was machst du da?“, frage ich und starre sie dabei entgeistert an.

„Wenn wir schon Ärger bekommen, dann soll es sich auch lohnen, oder?“, sagt sie grinsend, dann streift sie ihren BH ab, schlüpft rasch aus ihrer Hose und dem Slip.

Sie ist nackt. Komplett nackt steht sie vor mir.

Die tiefe Nachmittagssonne lässt den See in einem hellen Kupferton schimmern, als Emily jubelnd und lachend ins Wasser rennt.

Ich brauche keine zweite Einladung.

4

Emily bäumt sich auf. Sie wirft die Haare zurück, schließt die Augen und stemmt sich mir ein letztes Mal entgegen. Der Sand reibt an meinem Rücken. Sie sitzt rittlings auf mir. Sie spürt mich. Ich spüre sie.

Alles ist gut.

Für eine endlose, ewige Sekunde verharren wir so. Das Licht der untergehenden Sonne spielt in ihren Haaren. Emily seufzt tief, dann öffnet sie die strahlenden Augen und lächelt mich an. Sie beugt sich vor, küsst mich. Ihre Brustwarzen streifen meine Haut. Dann sinkt sie neben mir in den Sand, legt ihren Kopf auf meine Brust. „Das ist es also. Das wollten sie uns vorenthalten“, flüstert sie. „Warum nur. Warum?“

Ich schüttle den Kopf, lächle. „Ich habe keine Ahnung.“

Ein Windhauch fährt über unsere schweißnassen Körper. Es wird kühl.

Wir ziehen uns an, sammeln etwas Holz auf und entfachen ein Feuer. Die Kekse und die Wasserflasche sind längst leer, aber wir pflücken einige der violetten Früchte und trinken das Wasser aus dem Bach. Das Wasser ist köstlich. Die Früchte sind fantastisch. Alles ist gut.

Wir lachen viel. Fühlen uns stark und cool, weil es stark und cool ist, dass wir hier draußen sind, allein, und tun, was wir tun. Es wird dunkel und wir liegen zusammen beim Feuer und lieben uns wieder. Es ist nicht so, dass einer damit anfängt und der andere sich dann darauf einlässt. Es geht von uns beiden aus, passiert von ganz allein, immer wieder, seit ich ihr, ebenso nackt wie sie, in den See gefolgt bin. Es ist, als hätten wir plötzlich eine neue Fertigkeit, ein angeborenes Talent an uns entdeckt und müssten uns ständig versichern, dass es noch da ist. Und es ist nicht nur der Sex. Ich liebe Emily. Das wird mir fast schmerzhaft an diesem Lagerfeuer, weit weg von allen anderen Menschen, weit weg von Porterville und dem Sato-Tower und allem anderen, bewusst.

Ich streife ihre Bluse zur Seite, küsse ihre Brust, dann ihren Bauch, wandere langsam nach unten. Emily seufzt auf, ihre Finger streichen durch mein Haar, sie drückt mich sanft an sich. Ich öffne ihre Hose, ziehe sie herunter, lege meine Arme unter ihre Schenkel, und küsse die Innenseiten, was sie dazu bringt, sie mit einem leisen, wohligen Seufzen zu spreizen. Irgendetwas ist an meinem rechten Fuß und ich will es abschütteln, aber blitzschnell wandert es höher, zu meinem Bein und es packt zu. Was ist das? Ich zucke zusammen und Emily schreckt auf.

„Was? Was ist denn?“

Ich schrecke herum und schreie auf. Etwas hat sich in meinen Unterschenkel gebohrt. Im Licht des Lagerfeuers erkennt man etwas Schwarzes, Glänzendes, wie ein langer Arm. Ein dünner Tentakel mit Widerhaken, der aus dem Wasser kommt. Vier, fünf, sechs Meter lang. Ein Körper zu diesem Tentakel ist nicht zu sehen, er muss im Wasser sein. Er muss groß sein! Emily schreit auch, ich trete gegen das Ding, versuche es abzuschütteln, der Schmerz in meinem Schenkel wird infernalisch, das Ding bohrt sich in meine Haut.

Und dann zieht es an mir.

Es will mich ins Wasser ziehen!

Ich trete und stemme mich mit Armen und Füßen gegen den Sand, aber ich rutsche ab und das Ding hat enorme Kräfte. „Jonathan! Mach was! Mach doch was!“ schreit Emily, aber ich weiß nicht, was ich machen soll und rutsche weiter auf das Wasser zu. Ich spüre, wie Blut warm an meinem Bein herabläuft, und schreie. Das Ding hat mich schon fast im Wasser, als Emily einen Ast aus dem Lagerfeuer an der Seite packt, die noch nicht brennt, und mit der brennenden Seite dann auf das Ding einprügelt. Der Tentakel zuckt und ich spüre, wie es sein Fangzähne tiefer in meine Haut treibt, seine Beute nicht freigeben will.

„Lass ihn los! Lass ihn los, du Drecksding!“, schreit Emily und schlägt wie von Sinnen wieder und wieder auf die gleiche Stelle des Tentakels ein. Funken sprühen in den Nachthimmel, die Flamme verlischt und Emily drückt den glühenden Ast mit aller Kraft auf den Tentakel. Es zischt und stinkt und die nasse, glänzende Haut des Tentakels wirft Blasen. Plötzlich werden die Widerhaken aus meiner Haut gezogen und der Druck um mein Bein wird schwächer.

Der Tentakel zieht sich blitzschnell zurück, schlängelt sich über den Sand und das Wasser spritzt auf, als es im See verschwindet.

Auf allen Vieren krabble ich rückwärts vom Wasser weg, das Blut pocht in meinen Schläfen. Emily springt mir bei, zieht mich, bis ich jenseits des Feuers liege. Wir keuchen, starren aufs Wasser.

Still und schwarz liegt der See da, als wäre das alles nur ein böser Traum, als wäre das nie passiert.

Dann setzen die Schmerzen ein.

5

Eine dünne Säule Rauch kräuselt sich von unserem erloschenen Lagerfeuer in den Morgenhimmel. Nebel liegt über dem See. Es ist kühl.

Emily sitzt wie versteinert neben dem Feuer, in ihrer Hand der Revolver. Ihre Augen sind gerötet und darunter liegen tiefe Schatten. Sie hat kein Auge zugetan. Nachdem sie mich gestern Nacht verbunden hatte, haben wir ein paar der brennenden Äste genommen, uns gute zweihundert Meter vom See zurückgezogen und zwischen den Felsen am Bachlauf ein neues Lager aufgeschlagen. Sie musste mich stützen, die Schmerzen waren unbeschreiblich.

Auch jetzt tut es höllisch weh, ich kann das Bein kaum bewegen. Ich hab die halbe Nacht gezittert, fühle mich schwach und elend und vermute, dass ich Fieber habe. Emily hat noch nicht bemerkt, dass ich wach bin. Sie starrt auf den See, als würde sie jeden Moment damit rechnen, dass der schwarze Tentakel zurückkehrt.

„Emily“, sage ich leise und als sie nicht reagiert, sage ich es noch mal lauter: „Emily!“

Sie merkt auf, rutscht zu mir rüber und nimmt mich in den Arm. „Oh, Jonathan“, sagt sie und ihre Stimme klingt brüchig und erschöpft. Ich halte sie fest, streiche über ihr Haar. „Wir müssen zurück“, sage ich. „Die Wunden entzünden sich, ich brauche einen Arzt.“

Sie nickt tapfer, wischt sich eine Träne weg. Dann zerreißt sie den Rest ihrer Bluse, trägt nur noch den grauen Strickpullunder, der zu ihrer Schuluniform gehört. Sie wickelt den provisorischen Verband von meinem Bein ab und mir fällt auf, dass meine Hose total zerfetzt ist, dort wo das Biest seine Widerhaken hineingeschlagen hat. Der Verband ist getränkt mit Blut und Eiter. Er stinkt. Emily schluckt und wendet sich kurz ab. Der Anblick der Wunden ist grässlich, ein Dutzend tiefer Löcher verteilen sich über Unter- und Oberschenkel, sie wirken wie mit dicken Nägeln eingeschlagen. Ihre Ränder sind ausgefranst, rotviolette Hämatome ziehen sich wie ein gewundenes Band über das Bein.

Emily ist tapfer und bindet die Streifen der zerrissenen Bluse notdürftig über die Wunden. Dann machen wir uns auf den Rückweg.

Die euphorische Stimmung des Vortags ist komplett verflogen, alles hier draußen wirkt an diesem Morgen einfach nur feindselig und trist. Eintöniges Grün, merkwürdige Geräusche. Meine Idee, das Draußen zu erforschen und damit alles zu riskieren, mein angenehmes Leben im Sato-Tower, die Privilegien, erscheint mir inzwischen einfach nur idiotisch und kindisch dazu. Mein ganzer Körper schmerzt, als ich mich aufrichte, Emily stützt mich und wir finden einen langen, gegabelten Ast, den ich als Krücke benutzen kann. Wir kommen nur unendlich langsam vorwärts und ich muss alle paar Schritte eine Pause machen, mich setzen um kurz zu Atem zu kommen.

„Glaubst du, sie suchen schon nach uns?“, fragt Emily.

Ich nicke, bringe es aber nicht übers Herz, sie anzulügen. „Ja. Aber wahrscheinlich nicht hier draußen.“

Wir folgen dem Bachlauf bergauf, überqueren ihn, aber wissen nicht mehr, wo der Pfad ist, der uns von der Stadtmauer zum Bach geführt hat. Manchmal wird mir schwarz vor Augen und ich greife nach Emilys Schulter, um nicht zu stürzen. Wir entscheiden uns für einen Trampelpfad, folgen ihm eine Weile, aber dann endet der Pfad in einem Dickicht aus Dornenbüschen, wie in einer Sackgasse. Wir kehren zurück zum Bachlauf, folgen ihm weiter bergauf. Wie lange sind wir gestern bergab gelaufen?

Es ist Mittag und inzwischen ist es sehr heiß. Ich muss mich ausruhen, wir trinken Wasser aus dem Bach. Emily hat den Revolver in ihrer Hosentasche. Ihr Blick wandert unruhig über das undurchdringliche Grün.

„Da ist was. Irgendwas folgt uns“, sagt sie.

Ich versuche, etwas zwischen den Bäumen zu erkennen. Aber ich habe Schwierigkeiten zu fokussieren, immer wieder verschwimmt mein Blick. Doch man kann es hören. Weit oben in den Baumwipfeln knackt und raschelt es. Schwarze Schatten huschen zwischen den Baumkronen umher, doch es sind keine Vögel. Dafür sind die Schatten viel zu groß. Plötzlich zieht Emily erschrocken Luft ein. Zwanzig Schritte von uns entfernt steht jemand.

Ein Mensch.

Er ist nackt, komplett nackt. Sehnig und muskulös. Dunkler Teint, braune, lange Haare und jung wie wir. Er sieht von Emily zu mir, er sieht mich an, fast scheint es mir, als würde er meine zerfetzte, mit Blut verschmierte Hose mustern. Emily blinzelt, sie umgreift die Waffe, öffnet den Mund, um etwas zu sagen oder zu schreien, aber bevor sie es tut, ist der junge Mann verschwunden. Fast lautlos.

Verängstigt sieht mich Emily an. „Wer war das?“

Ich schüttle den Kopf. „Weiß nicht. Lass uns weiter gehen.“

Ich stemme mich hoch, Emily stützt mich und schweigsam und so schnell es mir möglich ist, stapfen wir weiter. Wenig später ist da noch ein Trampelpfad. Wir glauben beide, dass es der ist, der zur Mauer führt, und folgen ihm. Die Schmerzen werden immer schlimmer. Der Schweiß läuft mir in Sturzbächen von der Stirn. Aber da ist keine Mauer. Und auch keine Straße durch den Wald. Wir wollen es uns nicht eingestehen, aber wir haben uns verirrt. Nach endlosen zwei Stunden lasse ich mich erschöpft auf den Waldboden sinken. Ich kann nicht mehr. Ich schließe die Augen. Emily nimmt mich in den Arm.

„Was machen wir jetzt, Jonathan? Wir können nicht hierbleiben! Ich weiß nicht, wie es weitergeht, und du kannst nicht mehr laufen.“

„Wir bleiben hier ... heute Nacht.“

Sie schüttelt energisch den Kopf. „Du musst schnell zu einem Arzt! Dein Bein! Du hast Fieber! Und ich weiß nicht, was noch in diesem Wald ist. Wer war dieser Mann? Vielleicht gibt’s hier auch so ... so Dinger wie im See!“

Sie klingt total verzweifelt und sie ist es. Ich schüttle den Kopf, ich kann nicht klar denken, alles tut weh. „Ich ... kann nicht mehr ... laufen“, stammle ich und Emily schluckt, wischt sich eine Träne weg und dann gibt sie mir aus der Wasserflasche zu trinken, die wir am Bach aufgefüllt haben.

Ich versuche ein Lächeln, aber es gelingt nicht gut. „Ich muss mich kurz ausruhen ... dann gehen wir weiter. Wir finden die Mauer.“

Sie nickt, streicht mir die verschwitzen Haare aus der Stirn. Ich schließe die Augen und alles wird schwarz.

6

Als ich wieder wach werde, ist es dunkel. Ich weiß für einen Moment nicht, wo ich bin. Dann kommen die Schmerzen zurück und alles fällt mir wieder ein.

Emily hat ein Feuer entfacht, sie sitzt mit der Waffe in der Hand da und starrt in den Wald. „Er ist wieder da“, sagt sie, ohne mich anzublicken. „Er ist uns gefolgt.“

Ich kneife die Augen zusammen, versuche in dem Schwarz und Grün, das sich keine fünf Schritte hinter dem Feuer ausbreitet, etwas zu erkennen. Es fällt mir schwer, immer wieder verschwimmt mein Blick. Dann glaube ich, ihn zu sehen. Zwischen zwei Baumstämmen schimmert etwas. Zwei Augen. Haare.

Der nackte Mann.

„Er steht da seit Stunden. Ich weiß nicht, was er will“, flüstert Emily. Ich weiß es auch nicht. Ich bin verschwitzt, meine Kehle ist völlig ausgetrocknet. Ich greife nach der Wasserflasche, aber dann durchzuckt mich der Schmerz im Bein und ich sinke zurück.

Emily kommt zu mir und gibt mir zu trinken, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen. Dann gibt sie mir etwas von den violetten Früchten, von denen sie ein paar eingesteckt hat. Die Frucht ist süß und schmackhaft und so weich, dass man sie fast mit der Zunge zerdrücken kann. Dennoch macht das Kauen mir Mühe. Ich will nichts als schlafen. Emily sieht entsetzlich müde aus. Aber auch entschlossen. Das Feuer wirft ein flackerndes, rötliches Schimmern auf ihre Wangen. Sie bettet meinen Kopf in ihren Schoß und umgreift die Waffe. Sie streicht mir über die Haare. „Schlaf jetzt“, sagt sie. „Morgen gehen wir weiter.“

Das letzte, was ich sehe, bevor ich die Augen schließe, ist ihr starrer Blick zu dem nackten Mann, der uns aus dem Bäumen heraus beobachtet.

„Jonathan!“ Sie schüttelt mich. „Jonathan, wach auf!“

Ihre Stimme ist nur ein Flüstern, trotzdem bin ich sofort hellwach, weil große Angst in ihr liegt. Ich blicke zu Emily, ihre Augen sind weit aufgerissen und gehen nach oben. Dann sehe ich, was sie sieht.

Der nackte junge Mann, eher ein Teenager, steht direkt vor uns.

Es ist früher Morgen, die noch tief stehende Sonne wirft ihre Strahlen quer durch den Wald. Ich rutsche ein Stück zurück, mein Herz schlägt sofort im Hals. Emily hält den Revolver umklammert, auch sie ist, wie es scheint, gerade erst aufgewacht.

Der Junge mustert uns aufmerksam. Er hat nichts bei sich, außer einem langen Stock, auf den er sich lässig stützt. Er ist schlank, groß, seine Muskeln zeichnen sich deutlich unter der olivfarbenen Haut ab. Seine verfilzten Haare hängen in die Stirn, seine braunen Augen wirken wachsam und furchtlos. Es liegt eine tiefe Unschuld darin, weswegen ich mich seltsamerweise nach dem ersten Schrecken etwas entspanne und nicht mehr vor ihm fürchte. Emily scheint es genauso zu gehen. Sie ist eher verwirrt als ängstlich. Die Tatsache, dass er komplett nackt vor uns steht, scheint den jungen Mann überhaupt nicht zu bekümmern. Es ist ihm einfach egal.

„W-was willst du?“, stammelt Emily.

Der junge Mann sagt nichts. Der Hauch eines Lächelns huscht über sein Gesicht. Dann dreht er sich um und geht. Emily und ich blicken uns ratlos an. Nach ein paar Schritten bleibt der Kerl stehen und dreht sich wieder zu uns um. Er nickt uns ganz leicht zu, weist mit dem Kinn in Richtung Wald. Dann geht er weiter.

Emily schüttelt den Kopf. „Was will er?“

Ich weiß es nicht. Der junge Mann bleibt abermals stehen und macht mit der Hand eine winkende Geste.

„Wir sollen ihm folgen?“, raune ich Emily zu und sehe sie ratlos an. Sie nickt, zuckt mit den Achseln und steht auf.

„A-aber ... was, wenn ... ich meine, können wir ihm trauen?“

Emily sieht mich müde an. Sie nickt erschöpft zu meinem Bein. „Was sollen wir denn sonst tun?“, fragt sie und für eine Sekunde steht die Frage wie eine Wand zwischen uns. Sie hat Recht. Vielleicht bringt er uns zur Mauer.

Ich versuche, mich aufzurichten, der Schmerz fährt mir vom Bein über das Rückgrat bis in den Kopf. Ich beiße die Zähne aufeinander, Emily stützt mich, reicht mir meine Krücke. Der junge Mann wartet auf uns. Emily zeigt mir kurz den Revolver. „Zur Not haben wir noch den hier“, sagt sie, doch dann steckt sie das Ding in die Umhängetasche. Wir folgen dem jungen Mann ins Dickicht.

Es geht nur langsam vorwärts. Der Nackte geht zehn Schritte vor uns und dreht sich nie um, er weiß, dass wir ihm folgen. Das verletzte Bein ist mittlerweile steif, ich kann es nicht mehr aufsetzen, wenn ich es doch tue oder versehentlich gegen eine Wurzel oder einen Stein stoße, lähmt der Schmerz sekundenlang meine gesamte rechte Körperhälfte. Ich muss mich häufig setzen, ich habe Kopfschmerzen, meine Augen tränen. Emily stöhnt unter meiner Last.

Wann immer wir eine Pause machen, hält auch der Nackte. Er bleibt stehen und beobachtet uns, macht aber auch keinerlei Anstalten, mir zu helfen und Emilys Position einzunehmen. Er wartet einfach, bis ich wieder zu Kräften gekommen bin.

Obwohl ich alles nur wie durch einen dichten Nebel wahrnehme, entgeht mir nicht, dass er Emily aufmerksam betrachtet. In seinem Blick liegt Neugier. Er lächelt scheu. Und Emily beobachtet ihn auch. Nicht mehr misstrauisch. Sondern ebenfalls neugierig. Sie betrachtet seinen Körper und ich glaube zu erkennen, dass ihr gefällt, was sie sieht. Zu Recht. Sein Körper ist schön, anders kann man es nicht sagen, auch nicht als Mann. Aber ich habe nicht genug Kraft, um eifersüchtig zu sein. Irgendwann geht es dann wieder weiter.

Nach ein paar Stunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, deutet der Nackte auf kleine gelbe Früchte mit kurzen, schwarzen Haaren auf der Oberfläche und bedeutet uns, davon zu essen. Er isst sie selber, und wir sind völlig ausgehungert, weswegen wir seinem Beispiel folgen. Sie schmecken säuerlich, aber sehr erfrischend, löschen auch den Durst. Der Nackte steht jetzt neben uns. Er lächelt Emily zu, während sie sich die Früchte in den Mund steckt. Sie lächelt zurück. „Gut! Die sind gut!“, sagt sie und leckt sich über die Lippen.

Dann geht der junge Mann weiter. Nach einer halben Stunde bleibt er stehen. Er dreht er sich um, nickt Emily zu, macht einen Schritt in das undurchdringliche Grün und plötzlich ist er weg.

Ganz weg.

Zunächst glauben wir nur, dass er hinter dem nächsten Busch verschwunden ist, aber als wir an die Stelle kommen, an der er gerade noch stand, ist keine Spur von ihm zu sehen. Er ist einfach weg. Lautlos verschwunden.

„Hallo?“, ruft Emily halbherzig. Dann etwas lauter. „Hallo? Wo bist du?“

Es kommt keine Antwort. Wir stehen mitten im Wald, wissen nicht wohin und ich fühle mich schwächer denn je. „Ich muss mich setzen ...“, stöhne ich, aber Emily will nichts davon wissen.

„Komm! Wir dürfen ihn nicht verlieren!“, sagt sie, drückt einen Busch zur Seite und schleppt mich weiter. Ich huste und die Schmerzen kriechen langsam vom Bein über die Hüfte in den Rücken. Die Luft bleibt mir weg. „Echt, Emily, ich brauch ’ne Pause!“

„Nein! Nur noch kurz, er darf nicht –“, und da bricht sie ab. Sie ist stehengeblieben. Ich nutze die Pause, um durchzuatmen, denke, sie hat endlich auf mich gehört. Aber deswegen hat sie nicht gehalten. Sie hat etwas gesehen. Etwas, das ihre Aufmerksamkeit gefangenhält. Ich hebe mühsam den Kopf und sehe, auf was sie starrt.

Zahllose Treppen und Hängebrücken spannen sich zwischen den zyklopischen Bäumen vor uns. Dutzende, mit Blättern gedeckte, aus Holzstämmen gebaute Baumhäuser hängen in unterschiedlichster Höhe in den Baumkronen und stehen auf starken Ästen.

Und da sind Menschen. Auf den Hängebrücken, in den Baumhäusern und um die große Feuerstelle zwischen den Baumriesen.

Viele Menschen. Ein ganzes Dorf.

7

Ein paar von ihnen bleiben stehen, sehen uns an. Sie sind ganz normal. Ich meine, sie sind nicht wie der Nackte. Sie tragen Kleidung wie wir. Alt, abgerissen, geflickt und ausgebessert, aber Kleidung. Und sie haben keine Furcht und rennen nicht weg. Sie bleiben stehen, kommen näher, sehen uns neugierig an. Sie lächeln. Eine ältere, füllige Frau mit breitem Grinsen gibt einem Jungen einen Klaps auf den Hinterkopf und sagt: „Geh und hol Jeff, das muss er sich ansehen!“

Sie sprechen unsere Sprache! Die alte Frau kommt näher. Ein junger Mann mit Bart und ein kleines Mädchen sind auch stehengeblieben. Ich kann mich nicht mehr auf den Beinen halten und sacke zusammen. Die Frau betrachtet mich mit einem nachsichtigen Lächeln. Emily geht neben mir in die Hocke, dann blickt sie flehend zu der älteren Frau. „Bitte! Helfen Sie uns! Er ist verletzt! Er braucht einen Arzt!“

Die Frau lächelt und nickt. „Na klar, Kindchen. Den braucht er. Das kann man sehen.“

„Wo sind wir hier? Ist es weit nach Porterville?“

Die Erwähnung der Stadt hinterlässt einen kleinen Riss im Lächeln der älteren Frau, doch sie fängt sich sogleich wieder und grinst. „Ja, es ist weit. Sehr weit sogar.“

Ein junges Paar bleibt stehen, kaum älter als Emily und ich. Er ist blond, hat verfilztes Haar und einen Bartflaum. Er trägt nur eine rissige Hose und ein paar Ketten aus Holzperlen um den Hals. Das Mädchen hat langes schwarzes Haar und asiatische Züge. Sie trägt eine Art Lendenschurz, ein schmales Tuch verhüllt ihre Brust. Sie kaut eine Frucht, während der junge Mann lässig den Arm über ihre Schulter hängen lässt. Eine zweite junge Frau kommt hinzu, zierlich und rothaarig, sie hat ein buntes Tuch um die Hüfte geschlungen und trägt einen zerschlissenen BH, den sie mit Blumen geschmückt hat. Sie schmiegt sich ebenfalls an den jungen Mann, die beiden Frauen halten sich an den Händen.

Von irgendwo dringt Musik an meine Ohren, alte Musik mit Gitarren und Schlagzeug, sehr rhythmisch, dazu ein merkwürdig heulender Gesang. Ist es das, was man Rock’n Roll nennt?

Mein Blick verschwimmt, ich habe das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden, als ein großer Mann mit langen dunklen Haaren und grauen Schläfen im Gefolge des kleinen Jungen, den die Alte vorher weggeschickt hat, und einiger anderer Männer zu uns kommt. Er trägt einen weiten braunroten Umhang und Ketten um den Hals. Der Mann hat eine Hakennase und einen kräftigen Kiefer. Er strahlt Autorität aus, grinst dabei aber fröhlich, und hebt lässig die Hand. „Hey! Willkommen in Jamestown. Ist lange her, dass wir Neuzugänge hatten. Ihr habt bestimmt eine Menge zu erzählen. Wie war die Reise? Angenehm? Benutzt die IFIS noch immer die Viehtransporter?“

Emily blinzelt, sie schüttelt verzweifelt den Kopf, deutet auf mich. „Er braucht Hilfe. Jetzt! Bitte!“

Der mit den grauen Schläfen hebt beschwichtigend die Hand. Sein Lächeln wird breiter. „Sicher, sicher.“ Er dreht sich zu dem jungen Mann und den beiden Frauen um. „Buzz, Ella, Mandy! Helft uns, den Jungen in meine Hütte zu bringen. Und dann holt Christine, sie soll ihn sich ansehen.“

Die drei jungen Leute setzen sich in Bewegung, helfen mir auf und stützen mich. Ich höre noch, wie der mit den grauen Schläfen und dem Umhang sagt: „Ich bin übrigens Jeff. Ich bin so etwas wie der Vorstand dieser kleinen Kolonie. Und wer seid ihr?“

Emily antwortet für uns: „Das ist Jonathan ... und ich bin Emily. Emily Prey.“

Sie hat meinen Nachnamen vermutlich absichtlich verschwiegen. Das ist clever. Dennoch vollzieht sich im Gesicht von Jeff ein seltsamer Wandel. Sein zementiertes Lächeln verschwindet. Er wird bleich. Kalkweiß.

Als hätte er ein Gespenst gesehen.

Dann weiß ich nichts mehr.