Sonderberg & Co.
und der Mord
auf Schloss Jägerhof

 

 

 

Impressum

 

 

© 2011 by Dennis Ehrhardt

 

Lektorat: Diana Steinbrede

Umschlaggestaltung: Sebastian Hopf

Illustration: Stefanie Bemmann

 

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

Dennis Ehrhardt

Sonderberg & Co.

und der Mord auf Schloss Jägerhof

 

 

 

 

1

 

Minnie Cogners Nase pflegte sich rot zu färben, wenn sie sich in Rage redete.

Zunächst war es nur ein zartes Rosa, das über ihre Nasenflügel flatterte, aber schon bald wurden daraus zwei rote Flecken, die sich bis hinauf zur Nasenspitze ausbreiteten, um sich dort im Zustand höchster Erregung zu vereinigen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Minnie Cogner längst die Stimme angehoben und dem Gesprächspartner alle Argumente um die Ohren gehauen, gern auch doppelt und dreifach, wobei sie allerdings hin und wieder Ursache und Wirkung vertauschte oder Anfang und Ende, hinten und vorne oder unten und oben. Diese verflixte Erregung! Dr. Sonderberg versuchte trotzdem, ihren Gedankengang nachzuvollziehen, denn er kannte sie noch nicht gut genug, um zu wissen, was wirklich in ihr vorging – und das, obwohl Minnie seit zwölf Jahren als Dienstbotin in seiner unmittelbaren Nachbarschaft – in der Königsallee in Düsseldorf – arbeitete und man seine Nachbarn dort selbstverständlich gut kannte. Jedenfalls damals, im Jahr 1885, in dem unsere Geschichte spielt.

»Also, ich möchte jedenfalls nicht in der Haut vom alten Herrn Kommerzienrat stecken«, erklärte Minnie, während sie im Schatten von Dr. Sonderberg durch den herbstlich gefärbten Hofgarten spazierte. Dabei blieb sie immer wieder stehen und tippte mit dem Zeigefinger in ihre Handfläche, als liege dort ein Notizzettel, dessen Stichwortliste sie Punkt für Punkt abarbeitete. Sonderberg blieb dann ebenfalls stehen und nickte verständnisvoll, während er die Sonnenstrahlen und das Vogelgezwitscher an diesem herbstlichen Nachmittag genoss.

»Erst der Geburtstag am Sonntag auf Schloss Jägerhof«, fuhr Minnie fort, »und dann die Verlobung seines Sohnes. Obwohl, davon darf man ja eigentlich gar nichts wissen. Das ist ja noch geheim, aber die Spatzen pfeifen es ja schon von den Dächern.«

Anscheinend nicht nur die Spatzen, dachte Dr. Sonderberg und fragte sich, wie Minnie an diese Information gelangt war. Wahrscheinlich auf die Art, auf die die meisten Frauen an Informationen gelangten. Indem sie tratschten.

»Wissen Sie was«, fuhr Minnie kopfschüttelnd fort, »bisher hat doch tatsächlich niemand das Mädchen zu Gesicht bekommen! Können Sie sich das vorstellen? Aber eine ganz Hübsche soll sie sein. Ein nettes kleines Persönchen. Passt überhaupt nicht zum Sohn von diesem Kommerzienrat. Der soll ja ziemlich einfältig sein. Neulich, beim Empfang des Generalleutnants ... haben Sie den Bericht in der Illustrierten gelesen? Ich glaub, das war ein brauner Anzug. Braun! Na, in der Zeitung sieht man's ja nicht, Gott sei Dank. Aber charmant soll er sein. Sehr charmant. He, hören Sie mir eigentlich zu?«

»Aber selbstverständlich«, erwiderte Dr. Sonderberg, während sein Blick einem Schmetterling folgte, der einige Meter entfernt hinter einem Rhododendron verschwand. Im Hofgarten fanden sich Zuchtpflanzen ebenso wie wilde Sträucher und Bäume; im Laufe der Dekaden hatte sich der ehemalige Jägergrund in die grüne Lunge der Stadt verwandelt. Dr. Sonderberg liebte die Spaziergänge dort. Er unternahm sie allerdings am liebsten allein und vorzugsweise, wenn er in einen schwierigen Fall vertieft war und das Gefühl hatte, dass sich dessen einzelne Fäden in seinem Kopf zu einem Knoten zu verstricken drohten, den selbst er, der angesehene Privatdetektiv Dr. Friedrich Sonderberg, nicht mehr so ohne Weiteres zu entwirren vermochte.

Und er hatte in den vergangenen zwanzig Jahren – davon zwölf in seinem Büro in der Königsallee – verflixt viele Knoten gelöst. Einige dieser Knoten waren von öffentlichem Interesse gewesen, sodass sich hin und wieder sogar ein Reporter zu ihm verirrte. Es gab Leute, die Sonderberg als »Meisterdetektiv« bezeichneten. Die Polizei, namentlich Inspektor van den Beeck, gehörte nicht dazu, da der Inspektor grundsätzlich der Ansicht war, dass es keine privaten Detektive brauchte, um einen Fall aufzuklären. Verbrechensaufklärung ist Kriegsführung, pflegte van den Beeck zu dozieren, und im Krieg seien Zivilisten ja auch bloß hinderlich.

Dr. Sonderbergs heutiger Besuch im Hofgarten hatte jedoch keinen Fall, keinen neuen Knoten zur Ursache, sondern einen ganz und gar anderen und vollkommen alltäglichen Grund, der allerdings einer genaueren Erklärung bedarf. Dieser Grund war ihm heute Morgen eingefallen, als er am Schreibtisch seiner Detektei gesessen hatte, die im Erdgeschoss des vierstöckigen Hauses mit angeschlossenem Hinterhof lag. Im Garten des Hinterhofs, auf der Nachbarsseite, die durch eine hüfthohe Mauer von Sonderbergs Grundstück abgetrennt war, hatte Minnie Cogner, wie an jedem dritten Tag der Woche, die Wäsche ihrer Dienstherren auf die Leine gehängt.

Aus der Ferne hatte Minnie dabei ein wenig verloren gewirkt zwischen den flatternden Leinenhemden und Bettlaken. Minnie maß nämlich gerade einmal einen Meter fünfundfünfzig, wog fünfundvierzig Kilo und war damit das genaue Gegenteil von Dr. Sonderberg, der einen Meter fünfundachtzig maß und für diese Größe leider zwei bis zweieinhalb Dutzend Pfund zu viel auf die Waage brachte. Die einsfünfundfünfzig von Minnie waren dabei allerdings nur eine grobe Schätzung, denn Dr. Sonderberg hatte in all den Jahren, die er bereits hier wohnte – es waren übrigens wahrhaftig exakt zwölf, wie er heute Morgen mit einem überraschten Blick auf seinen Kalender festgestellt hatte! – kein einziges Wort mit der Dienstbotin seiner Nachbarn gewechselt. Was womöglich daran lag, dass er auch mit den Nachbarn kein Wort zu wechseln pflegte, jedenfalls nicht nach einem Streit vor einigen Jahren, an dessen Grund Sonderberg sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte. Doch, richtig. Es war um die Höhe der Mauer gegangen. Die Nachbarn, das waren der neureiche Seifenproduzent Rosenke und seine blonde, hysterische Ehefrau mit den stets mürrisch heruntergezogenen Mundwinkeln, die sich für Kunst interessierte und überall herumerzählte, dass sie sich im Dunstkreis des Künstlerverbandes »Malkasten« zu bewegen pflegte. Dieses Ehepaar Rosenke hatte angefangen, einen Zaun durch den Garten beider Häuser zu ziehen. Als Sonderberg freundlich protestierend nach dem Grund fragte, war aus dem Zaun einen Tag später eine Mauer geworden, und als daraufhin auch die Bewohner aus den Obergeschossen protestierten, waren die Bauarbeiten an der Mauer, die eigentlich zwei Meter hoch werden sollte, auf halber Strecke eingefroren worden. Seitdem hingen die Mundwinkel der Nachbarin noch tiefer herunter, wenn sie Sonderberg auf der Straße erblickte, und die Dienstbotin Minnie, die ein offenes und freundliches Wesen zu besitzen schien, war die Einzige, die noch den Nachbarsgarten betrat, einmal in der Woche nämlich, um die Wäsche aufzuhängen.

Nicht einmal ein »Guten Tag« oder »Guten Abend« oder »Auf Wiedersehen« hatte er mit Minnie Cogner gewechselt, sinnierte Sonderberg beschämt.

Kein Wort in zwölf Jahren.

Das war – selbst wenn man von diesem unseligen Streit absah – so unvernünftig und seltsam, dass er es selbst kaum begreifen konnte. Stattdessen hatte er Minnie immer nur abends durch die Scheibe zugewunken, wenn er seine Arbeit beendete, so als wäre er zu schüchtern, das Fenster zu öffnen, was, wenn er ehrlich genug gegen sich selbst war, der Wahrheit sehr nahe kam. Dieses Winken war zwischen ihnen zu einem Ritual geworden, genauso wie Minnie Cogners grimmiger Blick, mit dem sie es erwiderte. Niemals hatte Sonderberg das Fenster oder gar die Hoftür geöffnet, um nach draußen zu treten und ein paar Worte mit ihr zu wechseln.

Nicht ein einziges Mal in zwölf Jahren.

Dr. Sonderberg konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem er die geräumige Wohnung, die zur Hälfte Privatunterkunft, zur Hälfte Detektei war, bezogen hatte. Das Objekt war nicht gerade in gutem Zustand gewesen. Er hatte sein gesamtes Vermögen eingesetzt, um wenigstens das Büro zu sanieren und die Regale einzuziehen, die sich nun unter der Last von Hunderten Büchern über Kriminalfälle, über unerklärliche Tatsachenberichte und über – Insekten bogen. Ja, Insekten. Dr. Sonderberg liebte es, Insekten zu studieren. Besonders fliegende. Wespen, Bienen, Fliegen und Schmetterlinge waren seine Leidenschaft. Wenn er tatsächlich einmal keinen Fall auf dem Tisch hatte, dann lag dort bestimmt eine große Papiermappe, in die er stundenlang mit Bleistiftzeichnungen von bestimmten Schmetterlingsarten eintrug, während sein Rücken immer krummer wurde und seine Nase immer tiefer zwischen die Seiten rutschte.

Minnie Cogner, die Sonderbergs gebeugte Gestalt jeden Mittwoch hinter dem großen Panoramafenster vom Hinterhof aus erkennen konnte, runzelte in solchen Momenten die Stirn. Manchmal wechselte sie das Waschwasser und wusch noch einen halb vollen Korb Wäsche extra, der eigentlich noch gar nicht an der Reihe war, nur um sie anschließend aufzuhängen und dabei zu beobachten, wie lange Dr. Sonderberg wohl noch über seinen Zeichnungen sitzen und wie tief sein Kopf noch zwischen den Deckeln der Mappe verschwinden würde.

Dr. Sonderberg, der Minnies Blick in seinem Nacken spürte, zeichnete deshalb immer weiter, um zu sehen, wie viele Körbe Wäsche Minnie an diesem Tag wohl noch waschen würde.

Es war wie ein Duell, und meist ging Minnie siegreich daraus hervor, weil Dr. Sonderberg vom vielen Zeichnen die Finger wehtaten oder weil es weit und breit keine Schmetterlingsart mehr gab, die er noch nicht aus sämtlichen Perspektiven in einer seiner Mappen abgebildet hatte. Dann stand er auf, reckte und dehnte sich, knetete seine Finger und winkte Minnie verlegen zu.

Zwölf Jahre.

Sonderberg fand, dass das eine gute Zeitspanne war, um sich kennenzulernen, und dass es nun, Nachbarn hin oder her, Zeit wurde, den nächsten Schritt zu unternehmen.

Jetzt. Heute Morgen.

Minnie war erschrocken zusammengezuckt, als er das Fenster mit einem Ruck aufgerissen hatte. Mit zitternden Knien trat er auf den Hof, dessen Steinplatten von Gras überwuchert waren, weil Sonderberg grundsätzlich kein Interesse an Gartenarbeit hegte – war das vielleicht der Grund für die Mauer gewesen? Er erinnerte sich wirklich nicht mehr –, und näherte sich Minnie.

»Guten Morgen, Fräulein Cogner«, sagte er und wartete vergeblich auf eine Antwort, weil sein Vorstoß ihr offenbar die Sprache geraubt hatte. »Hätten Sie Lust, mit mir einen Spaziergang zu unternehmen?«

»Ich?« Sie runzelte die Stirn.

»Ja, Sie.«

»Aber ich bin eine Dienstbotin!«

»Vor allem sind Sie meine Nachbarin. Gewissermaßen. Außerdem haben Sie mittwochs nach dem Waschen immer Ihren freien Tag.« Er stellte ein bisschen selbstzufrieden fest, dass er sie in Verlegenheit gebracht hatte. »Also warum nicht, denke ich mir? Wer weiß, ob morgen immer noch die Sonne scheint.«

Minnie sagte nichts mehr, sondern starrte ihn nur weiter aus aufgerissenen Augen an. Irgendwann nickte sie, und sie machten eine Zeit aus, zu der sie sich vor dem Haus treffen wollten: nach dem Mittagessen.

 

Der Hofgarten lag nicht weit von der Königsallee entfernt. Ihn als grüne Lunge zu bezeichnen, hieß einzugestehen, dass Düsseldorf sich während der letzten Jahrzehnte verändert hatte. Die ehemalige Residenzstadt war nämlich zunehmend von Hektik und Betriebsamkeit erfasst worden. So war im Norden der neue Sicherheitshafen gebaut worden und im Süden die Bahnhöfe, von den Gaswerken ganz zu schweigen, und jetzt war sogar eine dauerhafte Brücke über den Rhein im Gespräch, die die bisherige schwimmende Brücke nach Oberkassel ersetzen sollte. Düsseldorf hatte sich in ein Industriezentrum verwandelt, ohne dass Dr. Sonderberg zu sagen vermochte, ob er diese Entwicklung erfreulich oder katastrophal finden sollte. Zumal eine solche Beurteilung niemandem genützt hätte. Die Veränderung war da, und sie würde auch weiterhin unausweichlich bleiben.

Hier im Hofgarten war jedoch alles ruhig – von Minnie Cogner abgesehen, und Sonderberg fragte sich seinerseits nicht ohne eine Spur Verlegenheit, ob sie vielleicht deswegen so viel redete, weil sie ja zwölf Jahre hatte schweigen müssen, und ob also seine Schüchternheit an ihrem Redeschwall schuld war.

Seit sie die Königsallee verlassen hatten, war er kaum zu Wort gekommen. Offenbar interessierte Minnie sich nicht nur für ihre Arbeit und ihre Dienstherren. Minnie interessierte sich auch für Menschen. Vor allem für jene Menschen, so wurde Sonderberg zunehmend klar, die in der Stadt bekannt waren und über die man in der Zeitung lesen und anschließend mit anderen Menschen tratschen konnte. Dieser Aspekt der Zeitungslektüre hatte Sonderberg noch nie interessiert, und so war ihm auch entgangen, dass es in Düsseldorf in dieser Woche nur ein Thema gab: den bevorstehenden siebzigsten Geburtstag des Fabrikanten Heinrich Weigold, der kürzlich zum Kommerzienrat ernannt worden war. Weigold hatte die halbe Stadt eingeladen – jedenfalls die wichtige Hälfte – und darüber hinaus noch sämtliche bedeutenden Kaufleute, Beamten, Generäle und Politiker der umliegenden Städte. Als Ort der Veranstaltung war Schloss Jägerhof auserwählt worden, das seit dem Auszug der Hohenzollern leer stand und nur noch für besondere Festivitäten vermietet wurde.

»... da habe ich mich also doch wirklich gefragt, ob das nötig ist, für einen siebzigsten Geburtstag einen solchen Aufstand zu machen. Ich meine, es ist ja keine Hochzeit, wissen Sie? So eine Feier kann man doch zu Hause abhalten oder in einem Festsaal in irgendeinem Lokal! Aber dieser Kommerzienrat hält sich wohl für etwas Besseres. Und dabei sollen seine Fabriken kurz vor dem Bankrott stehen. Weigold Textilien. Pah. Ich habe dort neulich Leinen gekauft. Das war nicht das Papier wert, in das man es eingewickelt hatte, und ich sage Ihnen, so schnell schmeiße ich kein Tuch weg. Schließlich kann man ja selbst den letzten Fetzen noch als Putzlappen gebrauchen, aber dieses Zeug ... Da hätte man höchstens noch eine Schürze draus schneidern können! Oder möchten Sie vielleicht einen Anzug tragen, wo die Hosenbeine bei jedem Schritt weiter aufribbeln, und wenn Sie am Rheinufer angekommen sind, stehen Sie nur noch in der Unterhose da?«

Sie blieb wieder stehen und musterte Sonderberg.

»Was soll ich am Rheinufer?«, fragte er arglos.

»Sie haben mir überhaupt nicht zugehört, Dr. Sonderberg!«

»Natürlich habe ich zugehört.«

»Und was sagen Sie dazu?«

»Zu der Unterhose?«

»Zu der Feier!«

Sonderberg schaute zurück zu dem Schmetterling, der den Rhododendron verlassen hatte und jetzt über Minnies Hinterkopf hinwegflatterte. Ihm fiel auf, dass das Tier auf den ersten Blick ungewöhnlich hässlich war, lediglich von erdbrauner Farbe, ohne kräftiges Muster, ohne Schattierungen und Farben an den Flügeln. Sonderberg spürte, wie sich sein eigener Herzschlag beschleunigte.

»Ach, da ist es ja übrigens!«, rief Minnie aus und deutete auf das Dach von Schloss Jägerhof, das in südöstlicher Richtung aus dem bereits gelben Blätterdach hervorragte. »Wo wir gerade davon sprechen: Sieht das Schloss nicht herrlich aus, so zwischen den Wipfeln? Eine Schande, dass man es verfallen lässt. Ich sage Ihnen, als der gute alte Karl Anton noch drin wohnte ... Na ja, ist ja auch egal. Gehen Sie denn nun eigentlich hin? Sie haben doch eine Einladung erhalten.«

»Woher wissen Sie das denn?«

Minnie wurde rot. »Das, äh, habe ich gehört«

»So? Wo denn?«

»Das ... Das habe ich vergessen. Ich glaube, Frau Rosenke hat davon erzählt. Wichtig ist doch nur, ob Sie hingehen. Ich finde, Sie sollten hingehen, Dr. Sonderberg.«

Eine Bö zupfte an einer Strähne, die sich aus Minnies Zopf gelöst hatte, und blies sie über ihre Stirn. Sie schob sie hastig hinter das Ohr zurück. Was geordnet war, musste geordnet bleiben. Minnie war das, was man eine bodenständige Persönlichkeit nannte. Eine bodenständige Persönlichkeit mit einer Nase, die sich inzwischen komplett rot gefärbt hatte. »Für mich wäre das Ganze natürlich nichts. Ich hab ja nicht mal ein passendes Kleid. Aber sehen würde ich's schon gern. So eine Riesenfeier, und dann der Sohn vielleicht im braunen Anzug. Das passt doch nicht. Und dann diese Koteletten.«

»Welche Koteletten?«

»Die von dem Sohn. Haben Sie nicht davon gelesen? Die müssen schrecklich aussehen. Wer trägt denn heute noch solche Koteletten? Andererseits, er soll ja Charme haben. Wirklich. Sehr viel Charme. Hach, ich frage mich, wer da nicht schwach werden sollte ...«

»Ich«, sagte Dr. Sonderberg.

»Wie bitte?«

»Ich trage Koteletten, Minnie.«

»Sie ...? Aber das sind doch keine Koteletten! Was Sie tragen, das ist ein ehrbarer, gestandener Backenbart! Nicht solche Fransen wie bei diesem ... diesem ... Na, Sie werden ja sehen. Es wird bestimmt Fotos geben von der Geburtstagsfeier. Und Artikel. ]a genau, die gesamte Presse soll nämlich anwesend sein –«

»Sehen Sie mal, Minnie!« Sonderbergs Blick heftete sich erneut auf den Rhododendron. »Da hinten, da ist er wieder! Etwas weiter links, bei dem Bienenstock. Nein, das muss ein zweiter sein. Der andere war doch eben noch hier, über Ihrem ... Das ist ja unglaublich. Saturnia Pernyi! Ein Echter Spinner!«

Minnie rümpfte die Nase. »Also, ich sehe niemanden.«

Dr. Sonderberg lachte. »Minnie. Ein Spinner ist ein Schmetterling. Sieht er nicht wunderschön aus?«

Minnie fragte sich, ob er tatsächlich dieses mottenähnliche Tier meinte, das da zwischen den Zweigen tanzte. Sie hatte noch nie einen hässlicheren Schmetterling gesehen.

»In China werden Spinner für die Serikultur eingesetzt«, erklärte Sonderberg. »So nennt man die Produktion von Seide. Die Schmetterlingspuppen, die die Seide produzieren, werden bei lebendigem Leib gekocht, und der Faden wird –«

»Ich will das nicht hören! Mein Kopfkissen ist aus Seide!«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich seltsam. Hier in Europa gibt es zwar auch Seidenfabrikanten, aber ein Echter Spinner in freier Natur ... Das ist wirklich eine Überraschung!«

Minnie hob die Schultern. »Also, ich finde den Bienenstock da hinten viel interessanter.«

»Ach, die.« Sonderberg winkte ab. »Das sind doch nur ganz normale Honigbienen. Nichts Besonderes. Erstaunlich allerdings, dass sie um diese Jahreszeit noch so aktiv sind. Aber wir hatten ja auch einen warmen Spätsommer.«

»Sie meinen, in diesem Loch da im Baum, da drin ist tatsächlich –«

»Das nennt man Beute.«

»Ja, ja. Und in dieser Beute ... Sie meinen, da ist echter Honig drin?«

»Warten Sie, Minnie. Ich hole Ihnen etwas davon.«

Sie schluckte aufgeregt. »Jetzt gleich?«

»]a, jetzt. Haben Sie was dagegen?«

»Selbstverständlich hab ich was dagegen! Die Bienen werden Sie umbringen!«

»Ach, die stechen schon nicht. Die sind schon ganz träge, sehen Sie? Bald werden sie sich in einer Wintertraube versammeln, um sich mit ihrer Körperwärme gegenseitig am Leben zu halten.«

»Halt, warten Sie ... Sie können doch nicht einfach ...!«

Sonderberg konnte. Unerschrocken trat er in die schwarze, summende Wolke hinein, krempelte den rechten Ärmel auf und griff tief in die Beute hinein. Die Bienen wurden jetzt unruhiger. Die schwarze Wolke dehnte sich nach rechts aus, dann wieder nach links, sie wogte auf und nieder, so als würde sie einen seltsamen Reigen tanzen, und zwar zusammen mit dem furchtlosen Dr. Sonderberg, der in ihrer Mitte stand.

»Dr. Sonderberg ...?«, hauchte Minnie, während das Blut aus ihrer Nasenspitze wich.

Er antwortete nicht.

Minnie wedelte mit den Armen. »Hallo? Hören Sie mich, Dr. Sonderberg? Ich finde, wir sollten gehen. Sehen Sie die Wolken im Süden? Da hinten zieht Regen auf. Dr. Sonderberg? Also, ich finde, wir sollten jetzt wirklich –«

Er zog den Arm heraus, der jetzt bis zum Ellenbogen mit Honig beklebt war, und kehrte zu Minnie zurück, deren Nase nicht mehr rot, sondern kalkweiß leuchtete.

»Was haben Sie gesagt, Minnie? Ich habe Sie nicht verstanden. Die Bienen waren so laut.«

»Nichts.«

»Hier. Möchten Sie kosten? Das ist ... mhm, schrecklich lecker!«

»Aber da sind Bienen drauf rumgekrabbelt!«

Sonderberg grinste vergnügt. »Das ist die Natur, liebe Minnie.«

»Danke, ich verzichte! Und erwarten Sie nicht, dass ich Ihr Hemd nachher wasche. Ich meine, ich sollte es tun. Sehen Sie nur, der Ärmel ... alles verklebt.«

Sonderberg wischte sich den Arm an der Hose ab und krempelte den Ärmel wieder herunter. »Das Ärgerliche ist nur, dass mein Seidenspinner jetzt auf und davon ist. Nein, da ist er ja! Direkt neben dem Bienenstock. Das ist seltsam. Und da ist noch einer. Es sind also wirklich zwei. Das ist doch unfassbar!«

»Vielleicht ein Pärchen«, sagte Minnie, »das sich verirrt hat. Aus China. – Übrigens, bei dieser Feier auf Schloss Jägerhof ... Ich habe gehört, da soll sogar eine Kapelle aufspielen. Und der Oberbürgermeister ist auch da. Und was Ihre Einladung angeht –«

»Ich verstehe das einfach nicht«

»Wieso? Der Kommerzienrat Weigold ist ein bekannter Mann.«

»Kommen Sie mal mit, Minnie!« Er tastete mit der sauberen Hand nach ihrem Ärmel und zupfte daran, wie ein aufgeregter Schüler, der einem Freund ein Geheimnis verraten möchte. »Nun kommen Sie schon!«

»Zum Bienenstock? Nie im Leben!«

Aber Sonderberg wollte auch gar nicht zurück zum Bienenstock, sondern zu dem Rhododendron, bei dem er die beiden Schmetterlinge gesehen hatte. Minnie sah ihm hinterher. Also gut, dachte sie. Also gut, vielleicht sterbe ich dabei, aber dann hat er wenigstens seinen Willen bekommen.

Sie folgte Dr. Sonderberg und machte dabei einen großen Bogen um den Bienenstock. Trotzdem lösten sich zwei oder drei Bienen aus dem Schwarm und surrten auf Minnie zu.

»Ouh ... Oh ... Aua! Ich glaub, mich hat was gestochen!«

Sie beeilte sich, zu Dr. Sonderberg aufzuschließen. Die Bienen kehrten in den Schwarm zurück. Sie lief weiter und prallte beinahe gegen Dr. Sonderberg, der sich umgedreht hatte und ihr entgegentrat. Sein Gesichtsausdruck wirkte plötzlich sehr ernst.

»Halt, nicht weiter. Das sollten Sie sich nicht ansehen, Minnie.«

»Wieso das denn nicht? Gerade eben haben Sie doch noch gesagt –«

»Ich weiß, was ich gerade eben gesagt habe. Aber jetzt sage ich etwas anderes.«

Irgendetwas in seinem Tonfall verriet Minnie, dass es besser gewesen wäre, seinem Ratschlag Folge zu leisten, aber Minnie wäre nicht Minnie, wenn sich da nicht eine klitzekleine Spur Widerstand bei seinen barschen Worten geregt hätte, gepaart mit aufkeimender Neugier. Und dann waren da noch Sonderbergs in die Hüfte gestemmten Arme, genau in der richtigen Höhe, um unter seiner rechten Achsel hindurchzulugen und sich ein eigenes Bild von dem zu machen, was er so entschlossen vor ihr zu verbergen ...

»Ach du meine Güte!«

»Ja, genau«, sagte Sonderberg, verärgert darüber, dass sie seinen Rat in den Wind geschlagen hatte.

»Wer ist das?«, hauchte Minnie erschüttert.

»Woher soll ich das wissen? Irgendein Mädchen.«

Der Körper lag fast vollständig hinter dem Strauch verborgen, nur das bleiche Gesicht hatte zwischen zwei oder drei Blättern hindurchgeschimmert. So zart, so unscheinbar, dass es einem Spaziergänger, der unaufmerksamer gewesen wäre als Dr. Sonderberg, gewiss niemals aufgefallen wäre.

Er schob die Zweige zur Seite.

Die dunkelbraunen Haare waren zerzaust und lagen wie aufgefächert um das Gesicht der jungen Frau, das sehr hübsch war und dennoch seltsam aufgequollen wirkte. Besonders der dicke Unterkiefer und die geschwollene Kehle schienen überhaupt nicht zum schlanken Halsansatz und den schmalen Schultern zu passen.

Dr. Sonderberg bog die Zweige noch weiter zur Seite. Die Oberbekleidung des Mädchens bestand aus einem schmutzigen braunen Mantel, das weiße Kleid darunter wirkte einfach und abgetragen. Das Leder der Schuhe war eingerissen und brüchig und die Sohlen so stark abgelaufen, dass an einer Stelle der Fußballen herausschaute.

Sie lag einfach nur da, den Blick der halb geöffneten Augen in den Himmel gerichtet.

»Ist sie ...?«

»Ja, Minnie«, antwortete Dr. Sonderberg. »Sie ist tot.«

 

 

 

2

 

Auf dem Bahnsteig des Köln-Mindener Bahnhofs südlich der Düsseldorfer Innenstadt stand ein kleiner, gedrungener Mann in einer blauschwarzen Uniform, die von goldenen Knöpfen und einem breiten schwarzen Gürtel zusammengehalten wurde. Auf dem Kopf trug er eine Pickelhaube.

Das Auffälligste an ihm war die Tatsache, dass er sich allein auf dem Bahnsteig befand. Ansonsten war er ein ganz gewöhnlicher Mann mit einem gewöhnlichen Gesicht, das man anblickte und gleich darauf wieder vergessen hatte: Über fleischigen Lippen thronte eine breite und stets leicht gerötete Nase, darüber lagen blaue, wässrige Augen und eine hohe Stirn mit einem Haaransatz, der sich Jahr für Jahr weiter zurückzog, wie eine Reihe ängstlicher französischer Soldaten.

Das Ungewöhnlichste an diesem höchst gewöhnlichen Mann war eben jene Uniform, die er trug und die er jeden Abend, wenn er nach Hause kam, sorgsam zusammengefaltet über denselben Stuhl vor seinem Bett legte, als wäre sie der kostbarste Besitz, den ein Mensch sich nur vorstellen könnte.

An diesem Morgen hatte er sogar die Knöpfe poliert, und zwar mit doppelter Sorgfalt, einen nach dem anderen. Dann hatte er die Uniform angezogen, die wenigen Falten glatt gestrichen (früher hatte die Uniform mehr Falten besessen, aber im Laufe der Jahre hatte der Mann um die Hüften herum das eine oder andere Pfund zugelegt) und sich im Spiegel betrachtet.

Das Ergebnis stellte ihn zufrieden. Gestatten, Inspektor van den Beeck. Polizei Düsseldorf. Das war doch was. Das machte Eindruck. Wenn jetzt noch die Lippen etwas weniger fleischig gewesen wären ... Aber egal. Er war gut in Form, immer noch. Im Revier rätselten sie schon, wie alt er war, jedenfalls die jüngeren Kollegen. Er musste natürlich viel älter sein als einunddreißig, sagten sie, denn vor ebenso vielen Jahren war ein Mann mit dem Namen van den Beeck in den Dienst der Düsseldorfer Polizei eingetreten. Das hatte jedenfalls ein alter Schutzmann aus Oberbilk behauptet, der inzwischen verstorben war. Außerdem musste van den Beeck jünger sein als hundert, denn in die Nähe von hundert Jahren kam eigentlich niemand, von Goethe vielleicht abgesehen, und selbst der hatte es bekanntlich nicht ganz geschafft.

Van den Beeck selbst genoss das Rätsel um sein Alter, denn wie er als Polizist wusste, weckten Rätsel Interesse. So war er auch heute Mittag gut gelaunt in die Kutsche gestiegen, die der Herr Kommerzienrat Heinrich Weigold ihm eigens für diesen Tag zur Verfügung gestellt hatte – als eine Art Gegenleistung für den Gefallen, den van den Beeck dem Kommerzienrat erfüllen sollte. Natürlich war es kein richtiger Gefallen, sondern nur eine winzig kleine Gefälligkeit, denn van den Beeck hätte niemals in den Ruf kommen wollen, kompromittiert zu sein, weil er einem Zivilisten einen Gefallen schuldete.

Er spitzte die Mundwinkel und blickte nach Norden, dorthin, wo hinter den Dächern der Altstadt demnächst irgendwo die Kirchturmuhr von St. Lambertus die Mittagsstunde schlagen musste. Van den Beeck hatte kein Risiko eingehen wollen und war deshalb eine halbe Stunde zu früh eingetroffen. Jetzt wartete er, während der Wind in die Uniform schnitt und ihm das Wasser in die ohnehin schon tränenden Augen presste. Van den Beeck konnte nicht ahnen, dass er Zeuge eines erstaunlichen Wetterumschwungs wurde. Während ein paar Hundert Meter weiter nördlich im Hofgarten noch die Sonne schien, zogen hier über dem Bahnhof von Süden her dunkle Wolken auf. Erste Tropfen fielen, und van den Beecks gute Laune schwand.

»He, Sie!«

Van den Beeck überlegte gerade, zurück in die Kutsche zu flüchten, die vor dem Bahnhof wartete. Wenn der Zug nicht absolut pünktlich eintraf – und wer konnte das bei Zügen schon so genau wissen –, dann würde er in ein paar Minuten völlig durchnässt sein.

»He, Sie da! Schaffner! Ich rede mit Ihnen.«

Van den Beeck blinzelte. Er hatte gar nicht bemerkt, wie sich der Bahnsteig während der vergangenen Minuten gefüllt hatte. Bestimmt zwei Dutzend Männer und Frauen hatten sich eingefunden, einige mit Kindern, um die Ankunft der Kölnlinie zu erwarten.

Der Mann, der van den Beeck angesprochen hatte, war groß und breitschultrig. Er trug einfache Leinenkleidung und löchrige Schuhe. Sein Gesicht war unrasiert und wahrscheinlich auch ungewaschen, dennoch schob er das Kinn vor wie ein Mann, der von seiner Wirkung auf andere überzeugt war.

»Mit mir?«, erwiderte van den Beeck, nachdem er sich mit einem weiteren Blick versichert hatte, dass niemand außer ihm gemeint sein konnte. »Aber ich hin nicht der ...«

»Ist das der Zug aus Köln?«

Van den Beeck schürzte die Lippen. »Das ist der Köln-Mindener Bahnhof«, erwiderte er und legte eine Portion scharfen Spott in die Stimme. »Also wird der Zug wohl aus Köln sein, mein Herr.«

»Oder aus Minden« , spottete der Mann zurück.

Van den Beeck legte die Stirn in Falten. Die Düsseldorfer Haltestelle der Köln-Mindener Bahn war ein Kopfbahnhof, sodass der Zug immer von Osten einfuhr, egal, ob er nun aus Köln oder aus Minden kam. »Aber der Zug, der jetzt kommt, ist aus Köln! Das weiß ich ganz sicher. Ich erwarte nämlich ... Aber das geht Sie überhaupt nichts an! Und ich bin übrigens nicht der –«

»Danke. Und Sie sind wirklich sicher, dass das der einzige Zug heute ist?«

»Der einzige Zug? Bestimmt nicht.«

»Ich suche nämlich jemanden.«

»Also, da müssen Sie am besten den Schaffner tragen.«

Die Augen des Breitschultrigen wurden schmal. »He, willst du mich vielleicht verkohlen, Meister? Du bist doch der –«

»Van den Beeck. Inspektor van den Beeck«, erwiderte dieser triumphierend. »Zu Ihren Diensten, mein Herr.«

Der Breitschultrige zuckte zurück und schien erst jetzt die Pickelhaube auf dem Kopf van den Beecks wahrzunehmen. »Polizei? Ja, leck mich doch einer ...!«

»Danke sehr. Aber wenn Sie jemanden suchen, der mit dem Zug hier ankommt, könnte ich Ihnen –«

»Was? Ach, nein. Schon gut. Vielen Dank, Inspektor.«

Mit diesen Worten machte der Breitschultrige, der auf einmal sehr nervös wirkte, auf dem Absatz kehrt und hastete davon.

Van den Beeck blickte ihm verblüfft hinterher und zog mit kriminalistischer Erfahrung seine Schlüsse. Ein Mann, der beim Anblick der Polizei in nackte Panik ausbrach und das Weite suchte, hatte etwas zu verbergen. Eigentlich müsste ich ihm folgen, überlegte van den Beeck, und ihn festnehmen – aber weswegen eigentlich? – oder der Sache zumindest auf den Grund gehen. Aber da er sich nicht ganz sicher war, überlegte er noch ein bisschen weiter, und noch ein bisschen, und als er lange genug überlegt hatte, fand er, dass der Breitschultrige leider schon zu weit entfernt war, um ihn noch einholen zu können, und deshalb ließ van den Beeck den Gedanken mit einem bedauernden Achselzucken fallen.

Da fiel ihm das Briefkuvert ins Auge.

Es lag dort, wo der Breitschultrige gestanden hatte. Die Oberfläche war weiß und unbeschriftet und vom Regen beinahe vollständig durchnässt. Aber eben nur beinahe, woraus van den Beeck schloss, dass es bis eben sicher und trocken in einer Jackentasche gesteckt haben musste, was wiederum bedeutete, dass es nur dem Breitschultrigen gehören konnte. Kriminalistische Erfahrung eben.

Wie unter einem Zwang bückte sich van den Beeck und hob den Brief auf. Er sondierte den Bahnsteig, der sich inzwischen gefüllt hatte, aber niemand nahm Notiz von ihm. In der Ferne ertönte das Pfeifen des Zuges, und in der Schienenkurve, die von Südosten herführte, zeichneten sich die Umrisse der Lokomotive ab.

Der Inspektor wendete den Brief in seiner Hand. Kein Absender. Kein Empfänger. Unter dem durchgeweichten Kuvertpapier glaubte er, eng beschriebene Zeilen zu erkennen, aber er war sich nicht ganz sicher. Sollte er den Brief öffnen? Nein, andersherum: War er nicht sogar dienstlich verpflichtet, den Brief zu öffnen, um herauszufinden, an wen er gerichtet war?

Van den Beeck war so in Gedanken versunken, dass er überhaupt nicht bemerkte, wie die mächtige Dampflok neben ihm zum Stehen kam und ihn in eine Wolke aus grauem Qualm hüllte, die sogleich wieder vom zunehmenden Regen fortgespült wurde. Aus den Fenstern der Waggons ragten Gesichter, nebeneinander, übereinander und untereinander, so als hätte jemand die dazugehörigen Personen wie Apfelkisten in den Abteilen aufgestapelt. Die Reisenden lachten und winkten, und die Wartenden auf dem Bahnsteig lachten und winkten zurück, und niemanden kümmerte der einsame Inspektor, der mit dem Brief in der Hand im Regen stand, als ginge ihn das restliche Geschehen auf dem Bahnhof nicht das Mindeste an.

Das änderte sich erst, als eine markige Stimme wie eine aufbrandende Welle über den Bahnsteig schwappte.

»So, Schnuckelchen, da wären wir. Das ist Düsseldorf. Sieht gar nicht so schlimm aus, wie ich dachte, he he. Na komm schon – und vergiss die Koffer nicht!«

Van den Beeck hob den Kopf. Aus der Waggontür schräg vor ihm löste sich ein mächtiger Schatten und sprang auf den Bahnsteig. Hinter ihm kam eine zierliche Person zum Vorschein, eine dünne Frau in einem weinroten Kleid und einem dicken Wollmantel, deren Gesicht rot angelaufen war von der Anstrengung, mit der sie einen schweren Koffer die Treppe hinunterhievte.

»Verdammt!«, röhrte der dicke Schatten. »Gibt es hier eigentlich keinen Schaffner? Ah, wenn man die braucht, sind sie natürlich nicht da. Ach, doch. Da ist ja einer. – He, Sie da!«

Van den Beeck erstarrte zu Eis.

Der Schatten trat näher, so nahe, dass er fast van den Beecks zitternde Fußspitzen berührte, und entpuppte sich als übergewichtiger Mann, dessen gerötetes Gesicht unter einem Gewirr aus Kopfhaar, Backen- und Kinnbart fast vollständig verschwand. Wäre nicht der feine, maßgeschneiderte Zwirn gewesen, in den er gekleidet war, hätte man ihn für einen Rübezahl halten können, der einer Höhle im Wald entsprungen war. Ganz oben auf der krausen Frisur thronte ein Zylinderhut, dessen Außenflächen regennass glänzten und der bei jeder Bewegung seines Besitzers schwankte wie ein Korken auf hoher See. Van den Beeck dachte an die Beschreibung, die der alte Kommerzienrat Weigold ihm von Ludwig Böringer gegeben hatte, und stellte fest, dass sie stimmte. Böringer ist dick wie ein Wal, hallte Weigolds Stimme in seinem Kopf nach. Aber, mein lieber van den Beeck – und bei diesem Zusatz hatte der alte Kommerzienrat bedeutungsvoll die Stirn gerunzelt –, sagen Sie ihm um Gottes willen nicht, dass er dick ist! Behalten Sie es für sich. Machen Sie keine Bemerkung. Vermeiden Sie es, an eine Bemerkung auch nur zu denken!

»Ja, Sie meine ich!«, rief der Mann, der unzweifelhaft Ludwig Böringer sein musste, und maß van den Beeck mit einem herablassenden Blick. »Sie sind doch der Schaffner, oder?«

»Ehrlich gesagt, bin ich –«

»Jetzt stehen Sie doch nicht so rum! Tun Sie lieber was für Ihr Geld und nehmen Sie meiner Frau den Koffer ab, bitte schön!«

Ein Ruck ging durch den Inspektor. »Natürlich. Geben Sie her, verehrte Dame.«

Der Koffer war schwer. Verflixt schwer, als ob ein zweiter Ludwig Böringer darin untergebracht war. Wie zum Teufel hatte diese zierliche Frau einen solchen Koffer ...? Van den Beecks Gedanken zerfaserten, während sich seine Armmuskeln spannten und das Gewicht ihm dennoch das Schultergelenk auszukugeln drohte, aber schließlich gelang es ihm, das Gepäckstück vom Boden zu heben.

»Die beiden hier können Sie auch noch gleich mitnehmen. Und rufen Sie uns eine Kutsche, aber schnell! Der Regen wird ja immer schlimmer. Wir wollen doch auf dem Schloss sein, bevor es richtig lospladdert. Nicht wahr, Schnuckelchen?«

»Ja«, sagte die Frau in dem roten Kleid.

Inspektor van den Beeck streckte den Oberkörper durch und presste mit aller Würde, zu der er in dieser Situation fähig war, hervor: »Entschuldigung, aber ich habe bereits eine Kutsche für Sie reserviert.«

»Hervorragend«, dröhnte Böringer. »Endlich mal ein Schaffner, der sein Geschäft versteht!«

»Ich bin kein ... Ich bin Inspektor van den Beeck, wenn Sie gestatten. Kriminalpolizei.«

Böringer musterte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Verachtung. Seine Stirn krauste sich, die Nasenspitze senkte sich zur gleichen Zeit, bis sie fast in dem dichten Vollbart verschwand, und die Lippen verbreiterten sich zu einem Grinsen. »Polizei, he? Da hat sich der alte Weigold wohl einen Scherz erlaubt, wie? Oder stehen die Beamten in dieser armseligen Stadt etwa auch schon unter seiner Fuchtel?«

»Ich muss doch sehr –«

»Was hab ich denn verbrochen? Wollen Sie mich gleich abführen, oder ist es mir gestattet, dem alten Geizhals zu seiner Überraschung zu gratulieren?« Gelächter zuckte wie eine Serie elektrischer Stöße durch den massigen Körper. Der Bauch zitterte, die Beine zitterten, ebenso das Doppelkinn, und der Vollbart flatterte wie eine Baumwollstaude im Wind.

»Sie haben überhaupt nichts verbrochen«, erklärte van den Beeck, der sich mit einem Schritt nach hinten in Sicherheit gebracht hatte. »Absolut gar nichts. Der Herr Kommerzienrat hat mich nur um den Gefallen gebeten, Sie abzuholen. Sie sind doch Ludwig Böringer? Der Textilfabrikant?«

»Ich fabriziere alles, mein Bester. Nicht nur Textilien. Tse, Schnuckelchen, hat man so was schon gehört? Weigold, dieser alte Geizkragen. Hut ab. Spart sich auch noch den Kutscher, wie?«

Böringer schlug van den Beeck auf den Rücken, wodurch das sorgfältig austarierte Gleichgewicht des Koffers in Unordnung geriet. Es gab einen Knall, und van den Beeck fand sich auf dem Bahnsteig wieder, auf dem Hosenboden sitzend, während um ihn herum der Inhalt des Koffers verstreut lag. Ein Moment unheimlicher Stille folgte.

»Meine Wäsche!«, schrie Schnuckelchen.

Van den Beeck kam keuchend auf die Beine. »Lassen Sie nur, Herr Böringer. Ich räum das schon weg.«

»Das will ich doch hoffen, Mann! Beruhig dich, Schnuckelchen. Der Inspektor wird seinen Fehler wieder ausbügeln. Was haben Sie da eigentlich für einen Brief, van den Beeck. Ist der für mich? Geben Sie her. Dann haben Sie wenigstens die Hände frei.«

Van den Beeck wollte protestieren, aber seine Kräfte waren aufgebraucht. Mit einem Ruck riss Böringer das Kuvert entzwei.

»Da war ein Mann«, erklärte van den Beeck, während er zwei paar Schlüpfer und einen Kulturbeutel zusammenklaubte. »Der hat ihn verloren. Vielleicht steht ja der Absender drin ...«

»Ja, ja, schon gut. Kümmern Sie sich lieber um den ...« Böringer schnappte nach Luft, während er auf das Papier in seiner Hand starrte. »Och, das ist doch ...« Er brach in schallendes Gelächter aus. »Hol mich der Teufel, dieses verdammte kleine ...«

»Und?«, fragte van den Beeck.

Böringer riss den Kopf herum. »Was und?«

»Na, steht der Absender drin?«

Böringer blinzelte und schien erst jetzt zu begreifen, wovon van den Beeck sprach. Er faltete das Papier zusammen und schob es in die Tasche.

»Aber das können Sie doch nicht ...«, stotterte van den Beeck. »Oder war der Brief etwa für Sie?«

»Für mich? Nein, bestimmt nicht!«

Van den Beeck streckte die Hand aus. »Darin können Sie ihn auch nicht einstecken!«

Böringer machte ein abweisendes Gesicht. »Doch, das kann ich. Weil er – für einen Freund ist. Ja. Richard Brem. Ich treffe ihn auf Schloss Jägerhof. Dort werde ich ihm den Brief übergeben.«

Van den Beeck legte den Kopf schräg. »Kann ich mich darauf verlassen?«

»Aber Inspektor! Sie haben das Wort eines Ehrenmannes.«

Van den Beeck zog eine wichtige Miene und nickte langsam, obwohl er in Wirklichkeit froh war, den Brief und den Ärger darum los zu sein. »Das genügt mir. Ich ermächtige Sie hiermit, den Brief zu übergeben.«

Böringer deutete eine Verbeugung an. »Ich danke Ihnen, Inspektor. Mein Freund Richard Brem wird das Vertrauen der Düsseldorfer Polizei zu schätzen wissen. Und jetzt sollten wir wirklich los. Wo, sagten Sie, steht die Kutsche? Da hinten? Ah, gut. Ich seh sie. Los, Schnuckelchen. Wir gehen schon mal vor.«

 

 

 

3

 

Der Kutscher brachte die Pferde mit knallender Peitsche zum Stehen.

Van den Beeck stieg als Erster aus. Die Wolken und der Regen waren im Süden der Stadt hinter ihnen zurückgeblieben. Schloss Jägerhof lag unter blauem Himmel.

»Ah, was für eine herrliche Luft. Durfte ich Sie bitten auszusteigen, Herr Böringer – wir sind da!«

Böringer steckte seine Nase aus der Tür und schnupperte, als müsse er prüfen, ob ihm der Geruch des Hofgartens überhaupt zusagte. »Was denn? Und in diesem Schuppen soll ich vier Tage lang unterkommen? Was sagst du dazu, Schnuckelchen?«

Van den Beeck streckte die Brust durch. »Ich darf Sie darauf hinweisen, dass Schloss Jägerhof einst sogar Napoleon als Kommandozentrale diente, als er ...«

»Franzosenpack! Ich hoffe, er hat seinen Stinkekäse wieder mitgenommen, als er zurück in die Weinberge geflohen ist.«

Van den Beeck räusperte sich. »Der Herr Kommerzienrat Weigold hat jedenfalls keine Kosten und Mühen gescheut, Ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.«

»Will's hoffen, will's hoffen.« Böringer stieg aus. »Sind wir etwa die Ersten? Was ist mit Poßdorf und Brem?«

Van den Beeck war vom Kommerzienrat auf diese Frage vorbereitet worden. »Ihre Geschäftsfreunde Ernst Poßdorf und Richard Brem werden im Laufe des morgigen Tages eintreffen.«

»Freunde, pah! Und die anderen Gäste?«

»Die kommen noch später. Die Feier findet ja erst in vier Tagen statt. Bis dahin gehört das Schloss Ihnen allein.«

»Dann will ich hoffen, dass es bis dahin trocken bleibt – diese Ruine hier genauso wie der alte Weigold, haha! Wo ist der alte Geizkragen denn überhaupt, he?«

»Der Herr Kommerzienrat übernachtet natürlich nicht auf dem Schloss. Dies ist allein für die Feierlichkeit reserviert – und zur Übernachtung der Gäste selbstverständlich.«

Van den Beeck warf aus dem Augenwinkel einen Blick auf das Schloss, so als müsste er sich selbst erst vergewissern, dass Böringers abfällige Worte unbegründet waren. Doch der alte Kommerzienrat hatte tatsächlich alles unternommen, um das Schloss auf der Nordostseite des Hofgartens für die Festivität herzurichten. Die Fenster der rosafarbenen zweigeschossigen Fassade leuchteten geradezu im Sonnenlicht. Die geschwungene Treppe vor dem Eingangsportal war geschrubbt, und selbst die nachträglich angebauten Seitenflügel glänzten, als wären sie mit Bohnerwachs abgerieben. Alles in allem wirkte das ehrwürdige Gebäude genauso imposant wie zu jener Zeit, als Napoleon von hier aus seine Amtsgeschäfte geführt hatte. Der Franzosenkaiser war damals übrigens nach drei Tagen weitergezogen, ein Detail, das van den Beeck bei seiner Lobrede bewusst unterschlagen hatte.

Selbst Böringer nickte widerwillig. »Da hat der alte Weigold ja einiges springen lassen. Scheint seinen Fabriken doch besser zu gehen, als ich dachte. Was sagst du dazu, Schnuckelchen? ... Schnuckelchen?« Er steckte den Kopf zurück in die Kutsche. »Hast du nicht gehört? Du kannst jetzt rauskommen. Wir sind da. Ach ja, und Sie, Inspektor, Sie können ja schon mal die Koffer aufs Zimmer bringen.«

Van den Beeck ließ einen Seufzer hören und verschwand hinter der Kutsche, wo er die Koffer verstaut hatte.

 

»Sehen Sie mal, die Kutsche«, sagte Minnie zufrieden.

»Ich sehe die Kutsche«, sagte Sonderberg.