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Evelyn Waugh

Scoop

Roman

Aus dem Englischen von
Elisabeth Schnack

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1938 in London und Boston erschienenen

Originalausgabe: ›Scoop. A Novel about Journalists‹

Copyright © 1938, 1964 Evelyn Waugh

All rights reserved

Die deutsche Erstausgabe erschien 1953 unter dem Titel

›Die große Meldung‹ im Verlag der Arche, Zürich

Copyright der deutschen Übersetzung

© 1953 by Arche Verlag AG, Zürich

Die Übersetzung wurde für die vorliegende

Ausgabe durchgesehen

Das Vorwort des Autors wurde von Marion Hertle

aus dem Englischen übersetzt

Covermotiv: Foto von Jakob Tuggener

Copyright © Jakob Tuggener-Stiftung

Mit freundlicher Genehmigung von

Maria E. Tuggener

 

 

Für Laura

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24274 4 (2. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60352 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Vorwort des Autors  [7]

 

I  Der Stitch-Service  [9]

II  Steine für zwanzig Pfund  [109]

III  Das Bankett  [253]

[7] Vorwort des Autors

Diese heitere Geschichte entstammt einer Zeit der allgemeinen Not und Angst, die für ihren Autor jedoch eine besonders glückliche war.

Die früheren Ausgaben trugen den Untertitel: Ein Roman über Journalisten. Das erscheint mir jetzt überflüssig. Auslandskorrespondenten wurde seinerzeit ein beispielloser und unverdienter Ruhm zuteil. Weniger wichtige, aber damals aktuelle Themen gehören mittlerweile der Vergangenheit an, insbesondere der Krieg der dazumal vorherrschenden Ideologien, obwohl sich in Fernost sicher noch Parallelen finden ließen.

Zur Entstehungszeit dieser Geschichte wandte sich das öffentliche Interesse gerade von Abessinien nach Spanien. Ich habe mich an einer Kombination dieser beiden Kriege versucht. Von letzterem wusste ich zunächst gar nichts. In Abessinien war ich als Auslandskorrespondent für eine englische Tageszeitung tätig gewesen. Ich hatte kein großes Talent dafür, studierte aber mit großem Vergnügen die Schrullen und Ausschweifungen meiner Kollegen. Die geographische Lage Ishmaelias, nicht aber die Staatsordnung, stimmt mit der Abessiniens überein, und das Leben der Journalisten in Jacksonburg entspricht in etwa dem von Addis Abeba im Jahr 1935.

[8] Der wohl anachronistischste Teil ist das häusliche Leben in Boot Magna. Heute finden sich noch blasse Nachgänger von Lord Copper, Lady Metroland und Mrs Stitch. Von den Boots dagegen ist nichts mehr übrig geblieben. Jüngere Leser müssen meiner Versicherung Glauben schenken, dass es solche Menschen mitsamt ihren Bediensteten vor nicht allzu langer Zeit tatsächlich gegeben hat und sie nicht nur meiner Phantasie entsprungen sind. Auch die hier genannten Geldbeträge wird die Jugend als sehr gering empfinden und wird sie um einiges vervielfachen müssen, um die verschiedenen Geschäfte richtig einordnen zu können.

E. W.
Combe Florey, 1963

[9] I

Der Stitch-Service

[11] 1

Bereits als junger Mann hatte sich John Courteney Boot, wie sein Verleger behauptete, »einen festen und beneidenswerten Platz in der zeitgenössischen Literatur gesichert«. Von seinen Romanen wurden im Erscheinungsjahr fünfzehntausend Stück verkauft, und sie wurden von Leuten gelesen, deren Ansicht John Boot schätzte. Wenn er nicht gerade an einem Roman schrieb, sorgte er dafür, dass sein Name in intellektuellen Kreisen mit nicht besonders einträglichen, aber schicken Arbeiten über Geschichte und Reisen im Gespräch blieb. Die vom Autor handsignierten Erstausgaben wurden manchmal für einen oder zwei Schilling über dem Ladenpreis weiterverkauft. Acht Bücher waren von ihm erschienen – angefangen mit dem Leben Rimbauds, das er als Achtzehnjähriger verfasst hatte, und zuletzt mit Zeitverschwendung, einer betont bescheidenen Schilderung einiger entsetzlicher Monate bei den Indianern Patagoniens. Von den Leuten, die bei Lady Metroland verkehrten, konnten sich die meisten an drei oder vier Titel seiner Bücher erinnern. Er hatte eine Menge reizender Freundinnen, von denen die entzückende Mrs Algernon Stitch am höchsten angesehen war.

Wie alle ihre Bekannten kam auch John Boot gewöhnlich mit seinen Problemen zu ihr, wenn er selbst nicht [12] weiterwusste. Zu diesem Zweck durchquerte er eines beißend kalten Junimorgens den Park und sprach in ihrem Haus – einer prachtvollen Schöpfung Nicholas Hawksmoors, die sich bescheiden in einer Sackgasse hinter dem St James’s Palace versteckte – vor.

Algernon Stitch stand unten in der Diele. Die Melone hatte er auf dem Kopf; seine Rechte, unter die er eine rote, fürstlich verzierte Aktentasche geklemmt hatte, tauchte aus dem linken Mantelärmel auf; die andere Hand vergrub sich eigenwillig in der Brusttasche. Aber noch mehr behinderte ihn der Regenschirm unter seinem linken Arm. Er sprach undeutlich, denn er hatte das zusammengefaltete Morgenblatt zwischen den Zähnen.

»Komme nicht hinein«, schien er zu sagen.

Der Mann, der John die Tür geöffnet hatte, kam Stitch zu Hilfe, nahm ihm Regenschirm und Aktentasche ab und legte sie auf den Marmortisch, nahm auch den Mantel und half seinem Herrn beim Hineinschlüpfen. John reichte ihm die Zeitung.

»Danke. Danke vielmals. Sehr liebenswürdig. Sie wollen wohl Julia besuchen, wie?«

Von hoch oben erklang eine feine, doch äußerst durchdringende Stimme und schwebte die majestätische Kurve der großen Treppe hinab.

»Algy, versuch bitte, nicht zu spät zum Essen zu kommen! Die Kents kommen heute!«

»Sie ist oben«, sagte Stitch. Er hatte jetzt den Mantel an und sah von Kopf bis Fuß ganz wie ein englischer Kabinettsminister aus: groß, hager, mit einer langen, schmalen Nase und langem, schmalem Schnurrbart – das ideale [13] Vorbild für ausländische Karikaturisten. »Sie ist noch nicht aufgestanden«, sagte er.

»Ich habe heute Morgen Ihre Rede gelesen. Sie war ausgezeichnet.« John war immer höflich zu Stitch, wie jedermann; die Leute von der Labour Party liebten ihn.

»Rede? Ich? Ach so! Ja, liest sich’s gut? Mir kam es scheußlich vor. Trotzdem danke! Besten Dank! Sehr verbunden!«

Und damit begab sich Stitch ins Kriegsministerium, und John ging nach oben zu Julia.

Wie ihr Gatte gesagt hatte, war sie noch im Bett, obwohl es bereits nach elf Uhr war. Ihre sonst lebhaften Gesichtszüge waren mit Paste bedeckt und starr und bedrohlich wie eine Aztekenmaske. Doch sie ruhte nicht. Miss Holloway, ihre Sekretärin, saß mit Heften, Rechnungen und Briefen neben ihr. Mit der einen Hand unterschrieb Mrs Stitch Schecks; in der andern hielt sie den Telefonhörer und diktierte Einzelheiten für die Kostüme eines Wohltätigkeitsballetts. Ein eleganter junger Mann stand auf einer Stehleiter und malte Schlossruinen an die Zimmerdecke. Josephine, das achtjährige Stitch-Wunderkind, hockte am Fußende des Bettes und erledigte ihr Tagespensum Vergil. Brittling, Mrs Stitchs Dienstmädchen, las ihr die Schlüsselworte für das heutige Kreuzworträtsel vor. Seit halb acht mühte sie sich schon damit ab.

Josephine ließ ihr Heft fallen und sprang auf, um John zu treten, als er hereinkam: »Raus mit dir!«, rief sie stürmisch und versetzte ihm eins auf die eine und dann – »Raus mit dir, Boot!« – auf die andere Kniescheibe. Es war ein alter Scherz zwischen den beiden.

Mrs Stitch wandte ihrem Besucher die Tonmaske zu, in der nur die Augen ihren Willkommensgruß andeuteten.

[14] »Kommen Sie nur rein!«, sagte sie. »Ich muss gleich los! Wofür hat Mrs Beaver zwanzig Pfund bekommen?«

»Die waren für Lady Jeans Hochzeitsgeschenk«, sagte Miss Holloway.

»Ich muss wahnsinnig gewesen sein! Wegen des Löwenkopfs auf dem Brustharnisch des Zenturio – über dem Tor eines Hauses in der Nähe von Salisbury, es heißt Twisbury-Manor, ist ein sehr schöner – kopieren Sie den so getreu wie möglich – rufen Sie Country-Life an und bitten Sie um alte Ausgaben. Vor zwei Jahren haben sie eine Fotografie davon gedruckt. Arthur, Sie malen zu viel Efeu auf das Türmchen – die Eule hebt sich nicht deutlich genug ab, wenn Sie sie nicht auf den nackten Stein malen. Und an der Eule ist mir besonders gelegen. ›Munera‹, Liebling, wie ›Hoppsassa‹ – das Neutrum hat im Plural immer ein kurzes a. Das hört sich wie ein Anagramm an – versuchen Sie’s mal mit ›Terrakotta‹! Wie schön, dass Sie da sind, John! Wo haben Sie nur die ganze Zeit gesteckt? Sie können mitkommen, ich will Teppiche kaufen – ich habe ein neues Geschäft in Bethnal Green entdeckt, es gehört einem sehr interessanten Juden, der kein Wort Englisch spricht. Seine Schwester erlebt dauernd die unglaublichsten Dinge. Warum soll ich Viola Chasms Armenviertel besuchen? Ist sie etwa in meiner Musterirrenanstalt gewesen?«

»Doch, ja, Mrs Stitch.«

»Das kostet mich also zwei Guineen. Zeitverschwendung fand ich wundervoll! Wir haben es in Blackewell laut vorgelesen. Der Abt ohne Kopf ist köstlich!«

»Der Abt ohne Kopf?«

»Nicht in der Verschwenderei. Auf Arthurs [15] Deckengemälde. Ich habe es dem Premier ins Schlafzimmer gelegt.«

»Hat er’s gelesen?«

»Hm, ich glaube kaum, dass er viel liest.«

»›Terrakotta‹ ist zu lang, Madame, und ein ›r‹ kommt auch nicht vor.«

»Versuchen Sie mal ›Hottentott‹! Irgend so ein Wort muss es sein. Anagramme kriege ich immer nur hin, wenn ich sie sehen kann. Nein, ›Twisbury‹ – davon haben Sie doch sicher schon gehört?«

»Floribus Austrum«, leierte Josephine herunter, »perditus et liquidis immisi fontibus apros: Blumen dem Südwind gab ich Verlor’ner dahin und die lauteren Quellen dem Eber … apros heißt Eber, aber das ergibt eigentlich keinen Sinn.«

»Das machen wir morgen! Ich muss jetzt ausgehen. Passt ›Hottentott‹?«

»Ich hab kein ›h‹, Madame«, erwiderte Brittling völlig niedergeschlagen.

»Oje! Ich werd’s mir in der Badewanne überlegen. Bloß zehn Minuten, ja? Warten Sie hier, und plaudern Sie ein wenig mit Josephine!«

Und schon war sie aus dem Bett und im Badezimmer, Brittling hinter ihr her. Miss Holloway raffte die Schecks und Zeitungen zusammen. Der junge Mann auf der Leiter pinselte emsig weiter. Josephine wälzte sich ans Kopfende des Bettes und starrte ihn an.

»Furchtbar banal, nicht wahr?«

»Mir gefällt es sehr.«

»Wirklich? Ich finde alles, was Arthur macht, banal. Ich habe Ihr Buch Zeitverschwendung gelesen.«

[16] »So, so.« John war nicht in der Stimmung für Kritik.

»Ich fand es furchtbar banal.«

»Du findest anscheinend alles banal.«

»Es ist ein neues Wort, und ich habe erst kürzlich gelernt, es richtig anzuwenden«, bemerkte Josephine würdevoll. »Es trifft nämlich fast auf alles zu: auf Vergil, auf Miss Brittling und auf meine Schule.«

»Wie läuft’s in der Schule?«

»Ich bin bei weitem die Beste meiner Klasse, obwohl ein paar von den Mädchen und zwei der Mittelklasse-Jungen älter sind als ich.«

Wenn Mrs Stitch zehn Minuten sagte, dann meinte sie auch zehn Minuten. Pünktlich auf die Sekunde war sie wieder da, zum Ausgehen bereit. Seit die Paste von ihrem hübschen Gesicht verschwunden war, strahlte es voller Leben.

»Josephinchen, hat Mr Boot dich gelangweilt?«

»Ach, es ging schon. Ich habe die Unterhaltung geführt.«

»Zeig ihm mal, wie gut du den Premierminister nachmachen kannst!«

»Nein.«

»Dann sing ihm dein neapolitanisches Lied vor!«

»Nein.«

»Mach einen Kopfstand. Nur einmal, für Mr Boot!«

»Nein.«

»Ein Jammer! Aber jetzt müssen wir sofort aufbrechen, wenn wir nach Bethnal Green fahren und vor dem Mittagessen zurück sein wollen. Der Verkehr ist verheerend.«

Algernon Stitch war in einem düsteren und ziemlich altmodischen Daimler ins Amt kutschiert worden. Julia fuhr selbst; sie hatte immer das neueste Modell eines [17] Serienkleinwagens, zweimal jährlich funkelnagelneu, immer glänzend schwarz lackiert, immer winzig klein und blitzblank, ein richtiger Zwergen-Leichenwagen. Sie fuhr über die Bordsteinschwelle und brauste den Bürgersteig entlang, bis ein Polizist an der Ecke von St James’s sich ihre Nummer aufschrieb und sie auf die Straße zurückdirigierte.

»Das dritte Mal in dieser Woche!«, seufzte Mrs Stitch. »Wenn sie das bloß lassen würden! Es macht Algy solche Unannehmlichkeiten.«

Als sie nun im Verkehr feststeckten, stellte sie den Motor ab und wandte sich wieder dem Kreuzworträtsel zu.

»›Explosion‹ muss es heißen«, sagte sie und kritzelte das Wort hinein.

Der Ostwind blies das Auspuffgas von hundert Motoren durch die Straße und trieb grobe Bröckchen Regency-Stuck von der andern Straßenseite herüber, wo eine ehemals vornehme Nash-Häuserfront abgerissen wurde. John zitterte vor Kälte und rieb sich ein Körnchen Mörtel noch tiefer ins Auge. Acht Minuten konzentrierter Aufmerksamkeit genügten, um das Rätsel zu lösen. Mrs Stitch legte die Zeitung zusammen, warf sie über die Schulter auf den Rücksitz und blickte vorwurfsvoll auf den zum Stillstand gekommenen Straßenverkehr.

»Das geht wirklich zu weit«, entschied sie, ließ den Motor an, steuerte wieder ungestüm über die Bordsteinschwelle und fuhr auf Piccadilly zu, wobei sie einen beleibten, kahlköpfigen jungen Mann vor sich herjagte, bis er sich schließlich auf die Treppe von Brook’s rettete. Dort wollte er vom sicheren Hafen aus Protest einlegen, erkannte Mrs Stitch aber, als er sich umdrehte, und verbeugte sich hinter dem [18] winzigen schwarzen Wagen, während dieser schon um die Ecke der Arlington Street sauste. »Das gefällt mir so an diesen komischen Wägelchen«, sagte sie, »dass man mit ihnen tun kann, was mit einem richtigen Wagen ganz unmöglich wäre.«

Vom Hyde Park Corner bis zum Piccadilly Circus zog sich eine einzige, ununterbrochene Wagenreihe, die so unbeweglich still stand wie auf einer Fotografie und nur an ein paar strategischen Punkten unterbrochen wurde, wo Straßenarbeiter hinter Absperrungen wie verwegene Vorposten eines proletarischen Bollwerks das Pflaster mit Bohrmaschinen aufrissen, um Kabel und Rohre bloßzulegen, die das Leben der Stadt regelten.

»Ich muss aus London weg«, sagte John Boot.

»Ach, so weit ist es also schon? Und alles wegen Ihrer Amerikanerin?«

»Hm, ja, in erster Linie.«

»Ich hab Sie gewarnt, ehe Sie sich darauf einließen. Ist es schlimm?«

»Meine Lippen sind versiegelt. Aber ich muss sehr weit weg, sonst werde ich noch verrückt.«

»Soviel ich weiß, hat sie bestimmt schon drei Männer auf dem Gewissen. Wohin wollen Sie?«

»Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.«

Die Wagenreihe schoss zehn Meter nach vorn und kam wieder zum Stillstand. Die Mittagsausgabe der Abendzeitungen war schon draußen – Plakate flatterten im Ostwind:

KRISE IN ISHMAELIA
und

SCHARFE PROTESTNOTE

[19] »Ishmaelia scheint mir gerade ganz aufregend zu sein. Ich hab mich schon gefragt, ob Algy mich vielleicht als Spion hinschicken könnte?«, sagte John.

»Keine Chance!«

»Nein?«

»Alles bereits vergeben. Seit Wochen feuert Algy täglich zehn Spione. Ein völlig überschätzter Beruf. Warum gehen Sie nicht lieber als Kriegsberichterstatter?«

»Könnten Sie das für mich einfädeln?«

»Ja, warum nicht! Schließlich sind Sie in Patagonien gewesen. Meiner Ansicht nach müssten die sich geradezu um Sie reißen. Sind Sie sicher, dass Sie hinwollen?«

»Ja, bestimmt.«

»Schön, dann werde ich sehen, was ich für Sie tun kann. Ich treffe heut Mittag Lord Copper bei Margot. Ich will versuchen, die Sache zur Sprache zu bringen.«

Wenn Lady Metroland halb zwei sagte, meinte sie zehn Minuten vor zwei. Auf die Minute genau, und gleichzeitig mit ihrer Gastgeberin, erschien Mrs Stitch, denn der starke Verkehr hatte sie genötigt, ihren kleinen Wagen in einer Garage auf halbem Wege nach Bethnal Green zu lassen und mit der Untergrundbahn zur Curzon Street zurückzufahren. Lord Copper jedoch, der für gewöhnlich um ein Uhr aß, wartete schon mit einiger Ungeduld. Verschiedene Herren und Damen, die sich scheinbar untereinander gut kannten, denen Lord Copper aber unbekannt war, wurden von Zeit zu Zeit in den Salon geführt und hatten ihn ignoriert. Seine Angestellten beim Megalopolis-Zeitungskonzern hätten ihn kaum wiedererkannt, wie er unsicher jedes Mal aufstand, wenn [20] sich die Tür öffnete, und sich dann unbeachtet wieder setzte. Er war ein Fremder in diesem Hause, und nur weil er für eine von Lady Metrolands Wohltätigkeitsaktionen gedankenlos eine Spende gezeichnet hatte, war er mitten an einem arbeitsreichen Tag in diese scheußliche Lage geraten. Jetzt hätte er am liebsten die Summe verdoppelt, hätte er sich damit loskaufen können. Als nun Mrs Stitch einige Pfeile ihres unfehlbaren Charmes auf ihn abschoss, war er zuerst starr und geblendet und dann außerordentlich empfänglich.

Von dem Augenblick an, als sie den Salon betrat, veränderte sich die Situation für ihn vollkommen, er bekam sozusagen einen neuen Blickpunkt. Er hatte verschiedentlich von Mrs Stitch gehört und sie hin und wieder von weitem gesehen. Jetzt war er völlig überrumpelt, fasziniert und berauscht von ihr. Die bei Tisch Sitzenden, die Augenzeugen dieses wohlbekannten Vorgangs wurden, rätselten hin und her, was um alles in der Welt Julia nur von ihm wollen könnte; doch Lord Copper war viel zu hingerissen, um diese Bemerkungen zu hören. Einer sagte: »Sicher ist’s wegen ihrer Musterirrenanstalt«, ein anderer: »Vielleicht will sie, dass Algy von den Karikaturisten in Ruhe gelassen wird.« – »Sie hat Geld verloren«, dachte der zweite Bedienstete, der auf Lady Metrolands Befehl hin auf Diät gesetzt worden war und deshalb gegen Mittag immer zynisch wurde. »Sie will jemandem einen Job besorgen«, kam der Wahrheit am nächsten, doch keiner dachte an John Courteney Boot, bis Mrs Stitch ihn erwähnte. Da begannen sie alle, brav mitzuspielen.

Nachdem sie Lord Copper so weit gebracht hatte, die öffentliche und private Redlichkeit des Premierministers harmlos ein wenig zu denunzieren, sagte sie:

[21] »Vielleicht stimmt ja alles, was Sie da sagen, aber er hat tatsächlich weit mehr Geschmack, als man denkt. Er schläft nie ohne einen Boot auf dem Nachttisch!«

»Einen Boot?«, wiederholte Lord Copper arglos, aber doch leicht verwirrt.

»Ich meine, eins von John Boots Büchern.«

Damit war für die ganze Gesellschaft das Stichwort gefallen.

»Ach, der reizende John Boot«, rief Lady Metroland. »Er ist so clever und amüsant! Ich wünschte, er käme mich öfter besuchen.«

»Er hat einen himmlischen Stil!«, sagte Lady Cockpurse.

Die ganze Tafelrunde sang ein Loblied auf John Boot. Lord Copper war der Name neu. Er nahm sich vor, seinen Literaturreferenten darüber zu befragen. Er war bereits bootifiziert.

Mrs Stitch wechselte das Thema und erkundigte sich aufs Schmeichelhafteste nach den Friedensaussichten in Ishmaelia. Lord Copper gab als seine eigene Meinung bekannt, dass der Bürgerkrieg unvermeidlich sei. Mrs Stitch bemerkte, wie wenige der berühmten Kriegskorrespondenten noch am Leben seien.

»Gibt es da nicht einen Sir Soundso Hitchcock?«, fragte Lady Cockpurse, was ein taktischer Fehler war, da der betreffende Adlige erst kürzlich, nach einem erbitterten Disput über das Datum der Schlacht bei Hastings, Lord Coppers Dienste verlassen hatte und in das Lager des Daily Brute übergegangen war.

»Wen wollen Sie nach Ishmaelia schicken?«, fragte Mrs Stitch.

[22] »Darüber berate ich noch mit meinen Chefredakteuren. Wir glauben, dass es ein recht vielversprechender, kleiner Krieg wird. Gewissermaßen ein Mikrokosmos des Weltendramas. Wir beabsichtigen, ganz groß darüber zu berichten. Die Leistungen einer wichtigen Zeitung«, sagte Lord Copper und fühlte sich endlich ganz Rotarier, »sind von einer Komplexität, die das Publikum selten richtig zu würdigen weiß. Der Bürger ahnt kaum, was für eine riesige Maschinerie als Gegenleistung für seinen Morgen-Penny in Gang gesetzt wird.« (»O Gott!«, bemerkte Lady Metroland leise, aber vernehmbar.) »Wir werden Experten für Marine, Truppen und Luftflotte haben, eine Schar von Fotografen und Sonderberichterstattern, die von jedem Gesichtspunkt und jeder Front aus über den Krieg berichten werden.«

»Ja«, sagte Mrs Stitch. »Ja, ja, das glaube ich gern… Ich an Ihrer Stelle würde einen Mann wie John Boot schicken. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass Sie ihn selbst bekommen können. Aber vielleicht jemanden wie ihn.«

»Liebe Mrs Stitch, Daily Beast kann meiner Erfahrung nach die Talente der ganzen Welt mobil machen. Erst vergangene Woche schrieb uns der Poeta laureatus eine Ode über die saisonalen Schwankungen unseres Netto-Absatzes. Wir brachten sie groß auf unserer wichtigsten Seite. Er gab selbst zu, dass es das poetischste und höchstbezahlte Werk seines Lebens sei.«

»Ja, wenn Sie ihn wirklich bekommen könnten, wäre Boot natürlich der Mann für Sie. Ein brillanter Schriftsteller, der schon überall gewesen ist und die Lage in Ishmaelia in- und auswendig kennt.«

»Boot wäre himmlisch!«, sekundierte Lady Cockpurse.

[23] Eine halbe Stunde später telefonierte Mrs Stitch: »Okay, John! Ich glaube, es ist in trocknen Tüchern! Verlangen Sie keinen Penny weniger als fünfzig Pfund die Woche.«

»Tausend Dank, Julia! Sie haben mir das Leben gerettet.«

»Oh, der übliche Stitch-Service«, antwortete sie vergnügt.

Am gleichen Abend wurde Mr Salter, Auslandsredakteur beim Daily Beast, zum Abendessen mit seinem Chef auf dessen Landsitz in East-Finchley zitiert. Es war eine höchst unwillkommene Einladung; normalerweise arbeitete Mr Salter bis neun Uhr im Büro. Heute hatte er eine kleine Auszeit geplant, einen Abend in der Oper; schon seit Wochen hatten er und seine Frau sich darauf gefreut. Während er im Wagen zu Lord Coppers scheußlicher Villa hinausfuhr, dachte er bekümmert an die sorglosen Tage zurück, als er Redakteur der »Seite für die Frau« gewesen war oder, noch besser, die Witze für eins von Lord Coppers Witzblättern ausgesucht hatte. So war nun mal die Politik bei Megalopolis: Den Mitarbeiterstab durch ständigen Ressortwechsel mobil zu halten. Mr Salters höchster Ehrgeiz bestand darin, den Sportteil zu übernehmen. Einstweilen war er Auslandsredakteur und fand, dies sei ein Hundeleben.

Die beiden Herren speisten allein. Es gab Petersiliensuppe, Dorsch, Kalbsbraten und Kabinettpudding; sie tranken Whisky Soda. Lord Copper ließ sich über Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus aus; später skizzierte er in seiner schauderhaften Bibliothek die Lage im Fernen Osten. »Das Beast steht für die Regierungen, die überall so feindselig wie möglich gegeneinander eingestellt [24] sind!«, erklärte er. »Autarkie im Land, Selbstbehauptung nach außen!«

Mr Salters Anteil an der Unterhaltung beschränkte sich auf beipflichtende Äußerungen. Wenn Lord Copper recht hatte, sagte er: »Sehr richtig, Lord Copper!«, und wenn er sich irrte: »Sozusagen, Lord Copper.«

»Warten Sie, wie heißt doch gleich die Stadt, die ich meine? Die Hauptstadt von Japan? Yokohama, nicht wahr?«

»Sozusagen, Lord Copper.«

»Und Hongkong gehört uns, nicht wahr?«

»Sehr richtig, Lord Copper.«

Kurz darauf sagte er: »Übrigens, mit diesem Bürgerkrieg in Ishmaelia… Ich beabsichtige, ihn groß herauszubringen. Wen könnten wir hinschicken?«

»Oh, da hätten wir die Wahl zwischen einem eigenen Reporter, der uns alle Nachrichten verschafft, dessen Name dem Publikum jedoch unbekannt ist, oder wir besorgen uns jemanden von außen, der sich einen Namen als Militärexperte gemacht hat. Hitchcock haben wir ja verloren…«

»Ja, ja! Er war der einzige Mann von europäischem Ruf bei uns. Weiß ich! Jetzt wird Zinc ihn schicken. Weiß ich! Aber mit der Schlacht bei Hastings hat er sich geirrt. Die war 1066. Ich hab’s nachgeschlagen. Ich kann keinen Mann gebrauchen, der nicht die Größe hat, einen Irrtum einzugestehen.«

»Wir könnten uns an einem Amerikaner mitbeteiligen?«

»Nein. Ich sag Ihnen, wen ich haben will: Boot!«

»Boot?«

»Ja, Boot. Ein junger Mann, für dessen Arbeit ich mich sehr interessiere. Hat einen hervorragenden Stil, ist in [25] Patagonien gewesen, und der Premier hat seine Bücher auf dem Nachtkästchen liegen. Lesen Sie seine Sachen?«

»Sozusagen, Lord Copper.«

»Also setzen Sie sich morgen mit ihm in Verbindung! Lassen Sie ihn kommen! Laden Sie ihn zum Essen ein! Sichern Sie ihn uns um jeden Preis! Das heißt, um einen annehmbaren Preis«, fügte er schnell hinzu. Unlängst war nämlich eine peinliche Sache passiert, als Instruktionen dieser Art, die er in generöser Laune gegeben hatte, etwas zu wörtlich befolgt worden waren. Ein Radakrobat, der vorübergehend Lord Coppers Interesse erregt hatte, war als Redakteur der Sportseite mit einem Fünfjahresvertrag und einem Jahreseinkommen von 5000 Pfund angestellt worden.

Gegen Mittag begab sich Mr Salter wieder an die Arbeit. Der Chefredakteur brütete trübe vor sich hin.

»Die Morgenausgabe ist heute einfach miserabel«, sagte er. »Wir zahlen Professor Jellaby dreißig Guineen für einen Leitartikel, und man versteht kein Wort. Der Brute schlägt uns in jeder Nummer mit seiner Gnadenstoßgeschichte im Zoo. Und sehen Sie sich bloß mal diese Sportseite an

Beschämt lasen die beiden die Seite des Radakrobaten.

»Wer ist Boot?«, fragte Mr Salter schließlich.

»Den Namen kenne ich«, sagte der Chefredakteur.

»Der Chef will ihn nach Ishmaelia schicken. Ist der Lieblingsschriftsteller des Premiers.«

»Dann ist’s nicht der, den ich meine.«

»Na, jedenfalls muss ich ihn suchen.« Gedankenlos blätterte er die Morgenausgabe durch. »Boot«, sagte er. »Boot. [26] Boot. Boot. Ach, Boot – da ist er ja! Warum hat der Chef denn nicht gleich gesagt, dass er bei uns ist?«

Unrühmlich auf die letzte Seite der Zeitung verbannt, war da zwischen der Gutenachtgeschichte für Kinder, Pipp und Popp, und einem »Rühreiwaffel« genannten Rezept die zweimal wöchentlich erscheinende Natur-Rubrik:

ÜPPIGE AUEN
von
William Boot,
Landmann

»Glauben Sie, das ist der Richtige?«

»Bestimmt! Der Premier ist ganz versessen aufs ländliche England.«

»Er soll einen erstklassigen Stil haben! Hören Sie her: ›Leichtfüßig durchs glucksende Moor schweift die pirschende Wühlmaus…‹ Ob er das meint?«

»Ja«, sagte der Chefredakteur. »Das ist bestimmt guter Stil. Jedenfalls hört sich’s nicht an, wie das, was man sonst so liest. Und jetzt, wo Sie es vorlesen, erinnere ich mich auch an den Namen. Habe den Mann nie gesehen. Ich glaub, der ist noch nie in London gewesen. Schickt mir sein Zeug immer mit der Post. Alles handgeschrieben, mit Tinte!«

»Ich muss ihn zum Essen einladen.«

»Bieten Sie ihm Cider an!«

»Ist das für Leute vom Land das Richtige?«

»Ja, Cider und Dosenlachs sind die Hauptnahrungsmittel der ländlichen Bevölkerungsklassen.«

»Ich werde ihm ein Telegramm schicken. Komisch, dass der Chef den in Ishmaelia haben will!«

[27] 2

»Wohin ich sehe, Wechsel und Verfall«, sang Onkel Theodor und blickte im Frühstückszimmer aus dem Fenster. Es war seine Gewohnheit, sich lärmend Luft zu machen, wenn er einen seiner unregelmäßigen Anfälle von Niedergeschlagenheit hatte. Für den Ausblick, der sich ihm jetzt bot, stimmte jedoch Verfall besser als Wechsel.

Die ungeheuren Bäume, die das große Boot-Anwesen umrandeten, die Zufahrten und Wege beschatteten und – nach den Launen eines vergessenen, provinzlerischen Vorgängers von Repton geschmackvoll angeordnet – einzeln oder in Gruppen im Park standen, hatten alle schwer gelitten, teils durch den Efeu, teils durch Blitzschlag, teils durch die verschiedenen bösartigen Krankheiten, denen alles pflanzliche Leben unterworfen ist. Doch vor allem und bei allen war es das hohe Alter. Einige wurden von eisernen Trägern und Stützen gehalten, andere waren mit Zement plombiert, mehrere zeigten selbst jetzt im Juni nur eine Handvoll grüner Blätter an den äußersten Zweigspitzen. Ihr Lebenssaft floss dünn und träge, eine stürmische Nacht fegte jedes Mal ein Gewirr toter Äste herab.

Der See hinter dem Park gehorchte seltsamen Gesetzen. Manchmal, wie eben jetzt, schrumpfte er zu einem kleinen, trüben Tümpel in einer Schlamm- und Schilfwildnis [28] zusammen; manchmal schwoll er an und überschwemmte fünf Morgen Weideland. Früher hatte in einem der Wildhüterhäuschen ein alter Mann gewohnt, der das Bewässerungssystem zu bedienen verstand. Im Schilf versteckt lagen Schleusentore und nur ihm bekannte Kanaldeckel mit Spund und Hahn. Der Mann hatte einen Springbrunnen spielen und aus dem Maul eines Delphins auf der Südterrasse einen zierlichen Wasserstrahl aufsteigen lassen. Doch nun lag er schon fünfzehn Jahre im Grab, und dorthin hatte er das Geheimnis der Wasserspiele mitgenommen.

Das Haus war groß, aber durchaus nicht zu groß für die Familie Boot, die zu jener Zeit aus acht Personen bestand. Mitglieder der direkten Linie waren William, dem Haus und Land gehörten, seine Schwester Priscilla, die behauptete, Eigentümerin sämtlicher Pferde zu sein, Williams verwitwete Mutter, die Anspruch auf die Güter innerhalb des Hauses erhob und außerdem im Blumengarten ein etwas willkürliches Regiment führte, und schließlich Williams Großmutter, die angeblich »das Geld« besaß. Keiner wusste, wie viel sie eigentlich hatte. Solange William zurückdenken konnte, war sie bettlägerig gewesen. Von ihr wurden die großen Schecks ausgestellt, die von Zeit zu Zeit das wacklige Budget ausgleichen oder Onkel Theodors seltene, aber verheerende Eskapaden nach London finanzieren mussten. Onkel Theodor war der Älteste der männlichen Seitenlinie und mit Abstand der Lustigste. Onkel Roderick war in mancher Hinsicht der am wenigsten Verrückte. Er hatte das Gut und den Haushalt verwaltet, solange William minderjährig gewesen war, und auch noch darüber hinaus. Das regelmäßig dabei entstehende kleine Defizit wurde alljährlich mit einem von [29] Großmamas Schecks ausgeglichen. Williams Großtante Anne, die älteste Schwester seines verstorbenen Vaters, war die verwitwete Lady Trilby: Ihr gehörte das Auto, ein Vehikel, das ihren Bedürfnissen angepasst worden war. Es verfügte über eine Hupe, die man vom Rücksitz aus bedienen konnte, und Lady Trilbys sonntägliche Fahrten zur Kirche wurden durchs Dorf posaunt wie die Wiederkunft Christi. Onkel Bernard hatte sein Leben der Wissenschaft gewidmet, jedoch wenig allgemeine Anerkennung geerntet, denn seine Untersuchungen, obwohl tiefschürfend, waren sehr begrenzt, da sie sich einzig mit seinem eigenen Stammbaum befassten. Er hatte Williams Herkunft über drei verschiedene Zweige bis zu Ethelred dem Saumseligen zurückverfolgt, und nur Mangel an Kapital hatte ihn glücklicherweise daran gehindert, Ansprüche auf den erloschenen Titel des Baron de Butte zu erheben.

Jedes Familienmitglied der Boots verfügte so oder so über etwa hundert Pfund Taschengeld jährlich. Deshalb war es praktisch, wenn sie alle zusammen auf dem Anwesen der Boots, Boot Magna genannt, lebten, wo Löhne und Haushaltskosten von Onkel Rodericks jährlichem Defizit bestritten wurden. Das reichste Mitglied des Haushalts war Nannie Bloggs, die alte Kinderfrau, die seit dreißig Jahren bettlägerig war. Sie verwahrte ihre Ersparnisse in einem roten Flanellbeutel unter ihrer Nackenrolle. Onkel Theodor versuchte sich von Zeit zu Zeit daran, doch Nannie war ein schlaues altes Mädchen, und da sie eine seit langem bestehende Abneigung gegen Onkel Theodor mit der übernatürlichen Gabe verband, bei den Rennen die unglaublichsten Dubletten zu gewinnen, vermehrte sich ihr Schatz [30] beständig. Die Bibel und der Ratgeber für Pferderennen waren ihre einzige Lektüre. Ihre größte Freude bestand darin, jedem einzelnen Familienmitglied heimlich und wiederholt anzuvertrauen, dass sie ihn oder sie zu ihrem alleinigen Erben auserkoren habe.

In andern Gemächern des Hauses hatten sich zur Ruhe gesetzt: Nannie Price, auch eine alte Kinderfrau, zehn Jahre jünger als Nannie Bloggs und ungefähr ebenso lang bettlägerig (sie spendete ihr Gehalt der Mission in China und hatte im Haus wenig zu sagen); Schwester Watts, die erste Kinderfrau der alten Mrs Boot, und ihre zweite, Schwester Sampson. Miss Scope, die ehemalige Gouvernante von Tante Anne, war die Veteranin der Invaliden, da sie noch älter als die alte Mrs Boot war; und schließlich noch der Hausmeister Bentinck. James, der erste Diener, musste auch seit einiger Zeit auf seinem Zimmer bleiben, doch konnte er an warmen Tagen in einem Lehnstuhl am Fenster sitzen. Schwester Granger war noch auf den Beinen, da aber alle acht Krankenzimmer zu ihrem Pflichtenkreis gehörten, nahm man an, dass auch sie nicht mehr lange durchhalten würde. Zehn Dienstboten sorgten für die Familienmitglieder und für sich, doch nur höchst mangelhaft, denn die fünf Fleischmahlzeiten täglich, die ihnen nach alter Sitte zustanden, ließen ihnen wenig Zeit für anderes. Unter diesen Umständen konnten die Boots keinen gesellschaftlichen Verkehr pflegen, und in der ganzen Gegend sagte man herablassend, sie seien »so arm wie Kirchenmäuse«.

Der schicke John Courteney Boot war ein entfernter Vetter oder, wie Onkel Bernard es gerne ausdrückte, ein Glied einer Seitenlinie. William hatte ihn nie kennengelernt; [31] allerdings kannte er überhaupt nur sehr wenige Leute. Es entsprach aber nicht den Tatsachen, wie der Chefredakteur des Beast behauptet hatte, dass er noch nie in London gewesen sei. Doch waren diese Besuche selten genug gewesen und standen ihm noch immer deutlich und schrecklich vor Augen.

»Wohin ich sehe, Wechsel und Verfall«, sang Onkel Theodor. Es war seine Gewohnheit, immer wieder das Gleiche vor sich hin zu singen. Er wartete auf die Morgenzeitungen, genau wie William und Onkel Roderick. Der Metzger brachte sie mit, oft blutbefleckt, irgendwann zwischen elf und zwölf Uhr. Sie verschwanden, falls sie nicht abgefangen wurden, sogleich in den verschiedenen Krankenzimmern, von wo sie um die Teezeit herum hoffnungslos verstümmelt wieder auftauchten, denn sowohl die alte Mrs Boot wie auch Bentinck sammelten Zeitungsausschnitte für ihre Notizbücher, und Schwester Sampson hatte sich angewöhnt, Gutscheine auszuschneiden, die sie dann zwischen ihren Bettlaken verlor. Heute kamen die Zeitungen spät. William geriet dadurch in große Unruhe.

Er war noch nie im Gebäude des Megalopolis-Konzerns gewesen und hatte auch nie jemanden vom Beast kennengelernt. Seinen Posten als Verfasser der Rubrik Üppige Auen hatte ihm die Witwe des Pfarrers von Boot Magna bei dessen Tode vermacht. Er hatte seinen Stil gewissenhaft dem des verstorbenen Pfarrers angepasst, was ihm zunächst nur schwerlich, inzwischen jedoch fast mühelos gelang. Diese Arbeit war für ihn von äußerster Wichtigkeit: Für jeden Beitrag erhielt er eine Guinee und damit die beste Ausrede, ohne Unterbrechung auf dem Lande zu bleiben.

[32] Und jetzt war all das gefährdet! Vergangenen Donnerstag hatte sich etwas Grässliches ereignet. Nach lebenslänglichen Beobachtungen, einem gebührenden Kreuzverhör des obersten Wildhüters und einer halbstündigen Befragung der Enzyklopädie hatte William einen poetischen und doch exakten Bericht über die Lebensweise des Dachses verfasst. Es war tatsächlich einer seiner besonders gelungenen Essays. Seine Schwester Priscilla aber hatte das Manuskript gefunden und es in launischer Albernheit abgeändert, indem sie das Wort ›Dachs‹ durchweg mit ›Haubentaucher‹ ersetzte. Erst am Sonntagmorgen, als der Essay in dieser Form im Beast erschien, bemerkte William die Missetat.

Er hatte eine Fülle von Zuschriften bekommen. Einige Briefe klangen skeptisch, andere höhnisch. Eine Dame fragte ihn, ob sie recht gelesen habe, dass er es tatsächlich befürworte, diese seltenen und schönen Vögel mit Terriern zu hetzen und vorsätzlich ihr Heim zu zerstören. Wie könne man so etwas im sogenannten 20. Jahrhundert dulden? Ein Major in Wales forderte ihn kurz und bündig auf, einen unanfechtbaren Beweis zu erbringen, dass ein ›Haubentaucher‹ junge Kaninchen angegriffen habe. Es war außerordentlich unangenehm gewesen. William hatte während des ganzen Wochenendes stündlich seine Entlassung erwartet, doch Montag und Dienstag waren ohne eine Nachricht vom Beast verstrichen. Er verfasste eine harmlose Abhandlung über die Wasser-Wühlmaus und sandte sie mit den schlimmsten Vorahnungen ab. Vielleicht waren die maßgeblichen Stellen beim Beast so wütend, dass sie ihm nicht einmal das Manuskript zurücksandten? In der Mittwochausgabe würde er wohl einen anderen Autor der Üppigen Auen finden. Sie kam. [33] Fieberhaft suchte er seine Halbspalte. Da war sie, eine grüne Oase zwischen Rühreiwaffeln und Gutenacht-Pipp-und-Popp. »Leichtfüßig durchs glucksende Moor schweift die pirschende Wühlmaus…« Alles in Ordnung. Ein Wunder hatte gnädig die Schande des vergangenen Samstags verdeckt.

Seine Onkel verlangten mürrisch die Zeitung; bereitwillig gab er sie ab. Er trat zur Verandatür und blickte in die Sommerlandschaft; auf der Weide jenseits des Grenzgrabens sprangen die Pferde ausgelassen umher.

»Verdammt!«, rief hinter ihm Onkel Roderick. »Ich kann nirgends die Cricketergebnisse finden. Irgend so ein verrückter Radfahrwettbewerb im Crecklewood-Stadion füllt tatsächlich die ganze Sportseite.«

William kümmerte das nicht. Aus der Fülle seiner Dankbarkeit heraus beschloss er, in der nächsten Sonntagsnummer die Nagetiere zu überspringen (obwohl sie seine ganz besonderen Lieblinge waren) und stattdessen über Blumen und Vogelsang zu schreiben. Vielleicht konnte er sich’s sogar leisten, ein Dichterwort zu zitieren.

Wie? Noch im Bett, wenn rings im Wald

der Vöglein Morgenlob erschallt?

So jubelte sein Herz all den Langschläfern im Hause zu. Und dann erschien – heftig keuchend und schwerfällig durchs Frühstückszimmer stampfend – Troutbeck, der betagte Diener, an dessen Lippen noch Brotkrumen hingen. Er brachte ein Telegramm – neugierig, weil Telegramme im Boot-Anwesen ein seltenes Ereignis waren, und beleidigt, weil er sein zweites Frühstück hatte unterbrechen müssen, ein [34] üppiges und beschauliches Mahl, das von zehn Uhr dreißig bis zwölf Uhr mittags im Bedienstetenzimmer stattfand.

Williams Gesichtsausdruck überzeugte Troutbeck sofort, dass er nicht etwa wegen eines albernen Anlasses vom Tisch aufgescheucht worden war. »Schlechte Nachrichten!«, war er zu berichten in der Lage, »eine furchtbar schlechte Nachricht für Master William!«

»Ein Todesfall kann’s kaum sein«, meinte das dritte Zimmermädchen. »Die ganze Familie ist ja hier.«

»Wir werden sicher bald wissen, um was es sich handelt«, sagte Troutbeck. »Es traf Master William wie ein Blitz aus heiterem Himmel. – Darf ich bitten, mir das Chutney zu reichen?«

Schlechte Nachrichten in der Tat! Blind und taub gegenüber dem Sonnenschein, den weidenden Pferden und Onkel Theodors schnaufenden Atemzügen starrte William das furchtbare Unheil an, das über ihn hereingebrochen war:

ERBITTEN SOFORTIGE ANWESENHEIT HIER
DRINGENDER PERSÖNLICHER WUNSCH VON LORD
COPPER SALTER BEAST

»Hoffentlich nichts Unangenehmes?«, fragte Onkel Theodor, der früher öfter Telegramme äußerst beängstigenden Inhalts empfangen hatte.

»Doch«, antwortete William. »Ich soll nach London fahren.«

»Nein, wirklich, mein Junge? Wie interessant! Habe selbst schon darüber nachgedacht, mal wieder für einen Abend hinzufahren.«

[35] Aber Onkel Theodor sprach in die Luft. William war bereits dabei, die umständliche Haushaltsmaschinerie in Bewegung zu setzen, die nur zu bald seine Abreise in Gang bringen würde.

Nach einem frühen Mittagessen ging William zu seiner Großmutter, um sich von ihr zu verabschieden.

Sie sah ihn kummervoll und mit irrem Blick an: »Nach London willst du? Da werde ich wohl kaum noch am Leben sein, wenn du wiederkommst. Zieh dich nur warm an, mein Lieber!« In Mrs Boots sonnigem Schlafzimmer herrschte der ewige Winter.

Wer von der Familie noch im Besitz zweier gesunder Beine war, stand auf der Freitreppe, um William zu verabschieden. Priscilla versank in Tränen der Reue. Nannie Bloggs hatte ihm drei Goldstücke herunterschicken lassen. Tante Annes Auto fuhr vor, um ihn zur Bahn zu bringen. Im letzten Augenblick versuchte Onkel Theodor, sich durch die unbeobachtete Wagentür einzuschmuggeln, wurde aber ertappt und zurückgehalten. »Ich wollte bloß einen Bekannten in der Jermyn Street wegen ein paar geschäftlicher Angelegenheiten sprechen«, sagte er wehmütig.

Nach London zu fahren war für die Boots von jeher eine feierliche Angelegenheit gewesen, und für William war es an diesem Nachmittag so feierlich wie eine Beerdigung. Ein-, zweimal auf dem Wege zum Bahnhof und ein-, zweimal, als der Zug auf der Strecke nach Paddington hielt, war William versucht, aus lauter Verzweiflung die Expedition abzubrechen. Warum sollte er sich in diese scheußliche Stadt begeben, nur um verspottet und vielleicht – denn was wusste [36] er schon von Lord Coppers Charakter – gar noch tätlich angegriffen zu werden? Doch ernstere Überlegungen trugen den Sieg davon. Vielleicht gelang es ihm, sich rauszureden. Lord Copper war ein Städter, noch dazu aus einer Provinzstadt, und bestimmt konnte er keinen Dachs von einem Haubentaucher unterscheiden. Williams Behauptung stand gegen ein paar besserwisserische Korrespondenten. Leute, die Leserbriefe an Zeitungen schickten, waren bekanntlich nie ganz normal. Als der Zug durch Westbury fuhr, hatte William sich eine kleine Szene zurechtgelegt: Entschlossen stand er im Konferenzraum und bot der pedantischen Fleet-Street-Zoologie die Stirn, jeder Zoll ein Boot, in dreifacher Linie abstammend von Ethelred dem Saumseligen, rechtmäßiger 15. Baron de Butte, hochmütig wie ein Häuptling, ehrlich wie ein Landmann. ›Lord Copper‹, würde er sagen, ›niemand darf mich ungestraft einen Lügner nennen! Der Haubentaucher hält Winterschlaf, und darauf bestehe ich!‹

Er ging in den Speisewagen und bestellte sich einen Whisky. Der Kellner sagte: »Wir servieren jetzt Tee! Whisky gibt’s erst ab Reading.« In Reading versuchte er es noch einmal. »Wir servieren jetzt das Abendessen. Ich kann Ihnen aber einen Whisky ins Abteil bringen.« Als der Whisky kam, verschüttete William etwas davon auf seine Krawatte. Er gab dem Kellner eins von Nannie Bloggs’ Goldstücken, weil er es mit einem Schilling verwechselt hatte. Es wurde verächtlich zurückgewiesen, und alle im Abteil starrten ihn an. Ein Mann mit Melone sagte: »Darf ich’s mal ansehen? Heutzutage bekommt man die Goldfüchse selten zu Gesicht! Wissen Sie was? Lassen Sie uns drum spielen! Sie zuerst! Kopf oder Zahl?«

[37] »Kopf«, sagte William.