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Titelseite

 

Für Marian,
die in ihren Träumen Pferde sieht

Prolog

Neun Jahre zuvor

Sean    Heute ist der erste November und das bedeutet, heute wird jemand sterben.

Selbst im hellen Sonnenschein schillert die eisige Herbstsee in allen Farben der Nacht: dunkelblau, schwarz und braun. Ich betrachte die sich stetig verändernden Muster im Sand, zerpflügt von unzähligen Hufen.

Unten am Strand, einem bleichen Streifen zwischen schwarzem Wasser und Kalkfelsen, wärmen sie die Pferde auf. Das ist niemals ungefährlich, aber die Gefahr ist auch nie so groß wie heute, am Tag des Rennens.

Zu dieser Zeit des Jahres lebe und atme ich den Strand. Meine Wangen sind wund vom Sand, den der Wind mir ins Gesicht weht. Die Innenseiten meiner Oberschenkel brennen, wo sie am Sattel scheuern. Meine Arme schmerzen von der Anstrengung, knapp eine Tonne Pferd unter Kontrolle zu halten. Ich habe vergessen, wie sich Wärme anfühlt, eine durchgeschlafene Nacht oder wie mein Name klingt, wenn er gesprochen wird und nicht über zig Meter Sand geschrien.

Ich bin lebendig, so lebendig.

Als ich mich mit meinem Vater auf den Weg zur Klippe mache, hält mich einer der Organisatoren des Rennens zurück. Er sagt: »Sean Kendrick, du bist zehn Jahre alt. Du weißt es vielleicht noch nicht, aber es gibt bessere Arten zu sterben als an diesem Strand.«

Mein Vater fährt herum und packt den Mann am Oberarm, als wäre er ein unruhiges Pferd. Es folgt eine kurze Diskussion über Altersbeschränkungen beim Rennen. Mein Vater gewinnt.

»Wenn Ihr Sohn stirbt«, sagt der Mann, »ist das ganz allein Ihre Schuld.«

Mein Vater würdigt ihn nicht einmal einer Antwort, sondern führt seinen Uisce-Hengst schweigend weiter.

Auf dem Weg zum Wasser müssen wir uns durch ein Gewirr von Menschen und Pferden drängen. Ich schlüpfe unter einem steigenden Pferd hindurch, dessen Reiter sich am anderen Ende des Führstricks in den Sand stemmt. Unbeschadet gelange ich schließlich ans Wasser und finde mich umringt von Capaill Uisce wieder – den Wasserpferden. Sie schimmern in allen Farben der Kieselsteine am Strand: schwarz, rot, golden, weiß, elfenbeinfarben, grau, blau. Die Männer befestigen rote Troddeln und Gänseblümchen an den Zaumzeugen, die sie vor den Gefahren der dunklen Novembersee schützen sollen. Ich würde nicht darauf vertrauen, dass eine Handvoll Blütenblätter mir das Leben rettet. Letztes Jahr hat so ein mit Blumen und Glöckchen geschmücktes Wasserpferd einem Mann beinahe den Arm abgerissen.

Das hier sind keine gewöhnlichen Pferde. Behäng sie mit Zauberkram, so viel du willst, halt sie vom Meer fern, so gut du kannst, aber heute, hier am Strand, gilt nur eines: Dreh ihnen niemals den Rücken zu.

Einige der Pferde haben Schaum vor dem Maul. Er tropft ihnen von den Lippen, rinnt ihnen über die Brust wie weiße Meeresgischt, verdeckt die Zähne, die sich vielleicht noch an diesem Tag in das Fleisch eines Menschen graben werden.

Sie sind wunderschön und todbringend, sie lieben und sie hassen uns.

Mein Vater schickt mich los, um ihm seine Satteldecke und die Armbinde zu besorgen. Anhand der farbigen Stoffe sollen die Zuschauer hoch oben auf den Klippen die Reiter auseinanderhalten können, doch mein Vater hätte kein solches Erkennungszeichen gebraucht, nicht bei dem leuchtend roten Fell seines Hengstes.

»Ah, Kendrick«, sagt einer der Männer, die die Farben ausgeben. Das ist der Name meines Vaters und auch meiner. »Der bekommt eine rote Decke.«

Als ich zurück zu meinem Vater gehe, ruft mich ein anderer Reiter zu sich: »He, Sean Kendrick.« Er ist klein und drahtig, sein Gesicht wie aus Fels gemeißelt. »Guter Tag für das Rennen.« Ich fühle mich geehrt, dass er mit mir redet wie mit einem Erwachsenen. So als gehörte ich dazu. Wir nicken einander zu, dann wendet er sich wieder zu seinem Pferd um, das er gerade aufzäumt. Sein kleiner Rennsattel ist handgefertigt, und als er das Blatt hebt, um den Gurt darunter ein letztes Mal festzuziehen, sehe ich, dass dort Worte in das Leder geprägt sind: Unsere Toten saufen Meerwasser.

Das Herz hämmert mir in der Brust, als ich meinem Vater das rote Stoffbündel reiche. Auch er wirkt unruhig und ich wünschte, ich würde reiten, nicht er.

Meinetwegen mache ich mir keine Sorgen.

Der rote Uisce-Hengst schnaubt nervös, die Ohren aufgestellt, voller Ungeduld. Voller Feuer. Er wird schnell sein. Schnell und schwer zu kontrollieren.

Mein Vater übergibt mir die Zügel, damit er seinem Wasserpferd die rote Decke auflegen kann. Ich lecke mir über die Zähne – sie schmecken salzig – und sehe zu, wie mein Vater sich die gleichfarbige Binde um den Oberarm knotet. Jedes Jahr sehe ich ihm dabei zu und jedes Jahr befestigt er die Armbinde mit ruhiger Hand. Diesmal nicht. Seine Finger wirken unbeholfen und ich weiß, er hat Angst vor dem roten Hengst.

Ich habe es selbst schon geritten, dieses Capall. Wenn ich auf seinem Rücken sitze, den Wind im Gesicht, das Donnern seiner Hufschläge in den Knochen, unsere Beine nass von Gischt, kennen wir keine Erschöpfung.

Ich beuge mich vor, dicht an den Kopf des Hengstes, und zeichne gegen den Uhrzeigersinn einen Kreis über sein Auge, dann flüstere ich ihm etwas in sein weiches Ohr.

»Sean!«, schimpft mein Vater und der Kopf des Capall zuckt so schnell hoch, dass sein Schädel beinahe gegen meinen prallt. »Gehst du wohl weg von seinem Kopf! Siehst du denn nicht, wie hungrig er heute aussieht? Oder meinst du, du wärst hübscher, wenn dir dein halbes Gesicht fehlt?«

Doch ich blicke weiterhin in die schmale Pupille des Hengstes und er starrt zurück, den Kopf leicht von mir weggedreht. Ich hoffe, dass er sich an das, was ich zu ihm gesagt habe, erinnern wird: Bitte friss meinen Vater nicht.

Mein Vater räuspert sich und sagt dann zu mir: »Du solltest jetzt raufgehen. Na, komm …« Er gibt mir einen Klaps auf die Schulter und steigt auf.

Er wirkt klein und dunkel auf dem Rücken des roten Hengstes. Seine Hände ziehen schon jetzt unablässig an den Zügeln, um das Pferd am Platz zu halten. Jede Bewegung überträgt sich auf das Gebissstück im Maul des Tiers; ich sehe zu, wie sein Kopf vor- und zurückwippt. Ich hätte es anders gemacht, aber ich sitze nicht da oben.

Ich will meinen Vater daran erinnern, wie der Hengst nach rechts scheut und dass er womöglich mit dem linken Auge besser sieht, stattdessen aber sage ich: »Wir sehen uns danach.« Wir nicken einander zu wie zwei Fremde, der Abschied knapp und linkisch.

Ich beobachte das Rennen von den Klippen aus, als ein graues Uisce-Pferd sich in den Arm meines Vaters verbeißt, dann in seine Brust.

Einen Moment lang hören die Wellen auf, an den Strand zu rollen, die Möwen über uns halten die Flügel still und die salzige Luft erstarrt in meinen Lungen.

Dann zerrt das graue Wasserpferd meinen Vater aus seinem unsicheren Sitz auf dem roten Hengst.

Der Graue kann meinen Vater nicht zwischen seinen scharfen Zähnen halten und lässt ihn in den Sand fallen, verloren, noch ehe er unter die Hufe gerät. Er lag an zweiter Stelle und es dauert eine endlose Minute, bis der Rest der Pferde über seinen Körper hinweggeprescht ist und ich ihn wieder sehen kann. Er ist nur noch ein länglicher, schwarz-dunkelroter Fleck im Sand, halb überspült von der schäumenden Gischt. Der rote Hengst zögert, schon auf halbem Wege zurück zu jenem hungrigen Meeresgeschöpf, das er immer gewesen ist, aber er tut, worum ich ihn gebeten habe: Er rührt das, was von meinem Vater geblieben ist, nicht an. Stattdessen trottet er ins Wasser. Nichts ist je so rot wie das Meer an diesem Tag.

Ich denke nicht oft an die in der rötlichen Brandung treibende Leiche meines Vaters. Stattdessen denke ich an ihn, wie er vor dem Rennen gewesen ist: ängstlich.

Ich werde niemals denselben Fehler machen.

1

Puck     Die Leute sagen immer, ohne mich wären meine Brüder verloren, in Wahrheit aber wäre ich ohne sie verloren.

Wenn auf der Insel jemand gefragt wird, wo er wohnt, antwortet er normalerweise so etwas wie »In der Nähe von Skarmouth« oder »Im hinteren Teil von Thisby«, »Auf der harten Seite« oder »’nen Steinwurf von Tholla«. Ich nicht. Ich weiß noch, einmal, als ich klein war und mich an die zerfurchte Hand meines Vaters klammerte, fragte mich ein alter, wettergegerbter Bauer, der aussah, als hätte ihn gerade jemand aus dem Acker ausgegraben: »Wo wohnst du, Kleine?« Ich antwortete, mit viel zu lauter Stimme für ein so kleines sommersprossiges Ding: »Im Connolly-Haus.« Er fragte: »Wo is’n das?« Und ich erwiderte: »Na, da, wo die Connollys wohnen. Ich bin nämlich eine.« Dann – und dafür schäme ich mich noch heute ein wenig, weil es eine dunkle Seite meiner Persönlichkeit enthüllt – fügte ich hinzu: »Und Sie nicht.«

Aber so ist es nun mal. Es gibt die Connollys und es gibt den Rest der Welt – obwohl der Rest der Welt, wenn man hier auf Thisby lebt, nicht besonders groß ist. Bis zum letzten Herbst waren das die Connollys: ich, mein jüngerer Bruder Finn, mein älterer Bruder Gabriel und unsere Eltern. Alles in allem lebte unsere Familie ziemlich zurückgezogen. Finn baute die ganze Zeit Sachen zusammen und nahm sie wieder auseinander und sammelte in einer Kiste unter seinem Bett Ersatzteile. Gabe war auch nicht gerade ein großer Redner. Er war sechs Jahre älter als ich und schien all seine Energie fürs Wachsen aufzuwenden; mit dreizehn war er schon einen Meter achtzig groß. Unser Dad spielte die Blechflöte, wenn er zu Hause war, und unsere Mutter vollbrachte jeden Abend aufs Neue die wundersame Vermehrung von Brot und Fisch, auch wenn ich sie erst als Wunder wahrnahm, als Mum nicht mehr da war.

Man konnte nicht sagen, dass wir ein schlechtes Verhältnis zu den anderen auf der Insel gehabt hätten. Unser Verhältnis untereinander war nur einfach besser. Ein Connolly zu sein, stand immer an erster Stelle. Das war die einzige Regel. Man konnte auf den Schlips treten, wem man wollte, solange dieser Schlips keinem Connolly gehörte.

Jetzt ist es Mitte Oktober. Wie jeder Herbsttag auf der Insel beginnt auch dieser hier kalt, doch die aufgehende Sonne verleiht ihm nach und nach Wärme und Farbe. Ich greife mir Striegel und Bürste und schrubbe den Schmutz aus Doves sandfarbenem Fell, bis meine Finger warm werden. Als ich sie schließlich sattele, ist sie sauber und ich bin voller Staub. Sie ist meine Stute und meine beste Freundin und ich rechne jeden Tag damit, dass ihr etwas Schlimmes zustößt, weil ich sie so sehr liebe.

Als ich den Sattelgurt festziehe, drückt Dove mir ihre Nase in die Seite und zwickt mich ganz sanft, dann zieht sie ihren Kopf schnell wieder zurück; sie liebt mich auch. Heute werde ich nicht lange reiten können; ich muss früh zurück sein und Finn dabei helfen, Kekse für die Läden im Dorf zu backen. Ich bemale auch Teekannen für die Touristen, und da es nicht mehr lange bis zum Rennen ist, habe ich Bestellungen im Überfluss. Wenn das Rennen vorbei ist, werden sich bis zum Frühjahr keine Besucher vom Festland mehr hier blicken lassen. Der Ozean ist einfach zu unberechenbar in der kalten Jahreszeit. Gabe wird den ganzen Tag unterwegs sein, bei der Arbeit im Hotel in Skarmouth, wo er die Zimmer für die Zuschauer des Rennens herrichtet. Als Waisenkind auf Thisby muss man hart arbeiten, um über die Runden zu kommen.

Dass auf unserer Insel nicht besonders viel los ist, wusste ich gar nicht, bis ich vor ein paar Jahren anfing, Magazine zu lesen. Für mich fühlt es sich nicht so an, aber Thisby ist winzig: viertausend Menschen auf einem Felsbrocken, der aus dem Meer ragt, viele Stunden vom Festland entfernt. Hier gibt es nichts als Klippen und Pferde und Schafe und schmale Straßen, die sich an baumlosen Feldern vorbei nach Skarmouth schlängeln, dem größten Ort auf der Insel. Die Wahrheit ist: Solange man es nicht anders kennt, ist einem die Insel genug.

Nur dass ich es anders kenne. Und sie ist mir trotzdem genug.

Ich sitze auf und reite los, meine Zehen kalt in den abgewetzten Stiefeln, während Finn in unserem Morris in der Auffahrt sitzt und sorgfältig einen Riss im Beifahrersitz mit schwarzem Klebeband verarztet. Der Riss ist eine Hinterlassenschaft von Puffin, unserer Hofkatze. Wenigstens hat Finn auf diese Weise gelernt, den Wagen nicht mit heruntergekurbelten Fenstern stehen zu lassen. Er tut so, als sei er genervt von der Frickelei, aber ich weiß, dass er sie insgeheim genießt. Es ist einfach nur Finns Grundsatz, nie allzu fröhlich zu wirken.

Als Finn mich auf Dove näher kommen sieht, wirft er mir einen seltsamen Blick zu. Früher einmal, vor letztem Herbst, hätte sich dieser Blick in ein Lächeln verwandelt, er hätte den Motor angeworfen und wir hätten ein kleines Rennen veranstaltet, ich auf Dove gegen ihn im Auto, obwohl er eigentlich noch zu jung zum Autofahren war. Viel zu jung. Aber das war uns egal. Wer wollte es uns auch verbieten? Also rasten wir los, ich durch die Felder, er über die Straße. Wer als Letzter am Strand war, musste dem anderen eine Woche lang das Bett machen.

Aber so ein Rennen hat es nun seit fast einem Jahr nicht mehr gegeben. Nicht seit unsere Eltern in dem Boot gestorben sind.

Ich lasse Dove kehrtmachen und kleine Kreise im Garten neben unserem Haus laufen. Sie ist ungeduldig und zu aufgedreht, um sich an diesem Morgen zu konzentrieren, und mir ist zu kalt, um sie zu zwingen, am Zügel zu gehen. Sie will galoppieren.

Der Motor des Morris brummt auf. Als ich mich umdrehe, sehe ich den Wagen die Straße hinuntersausen, gefolgt von einer Wolke ungesunder Abgase. Eine Sekunde später höre ich Finn juchzen. Er streckt seinen Kopf aus dem Fenster, das Gesicht blass unter dem staubigen Haar und mit einem Grinsen, das jeden einzelnen seiner Zähne zeigt.

»Was ist, brauchst du ’ne schriftliche Einladung?«, ruft er mir zu. Dann zieht er den Kopf zurück und der Motor heult auf, als Finn einen anderen Gang einlegt.

»Dann los!«, rufe ich zurück, obwohl er viel zu weit weg ist, um mich zu hören. Doves Ohren zucken kurz zu mir nach hinten und richten sich dann wieder bebend nach vorn auf die Straße. Es ist ein rauer, kühler Morgen und sie lässt sich nicht lange bitten. Ich presse ihr meine Waden in die Seiten und schnalze mit der Zunge.

Dove stürmt los, ihre Hufe wirbeln die Erde hinter ihr in hohem Bogen auf und wir preschen Finn hinterher.

Finns Route ist nicht schwer zu erraten; er muss sich an die Straßen halten und hier draußen gibt es nur die eine, die hinter unserem Haus vorbei nach Skarmouth führt. Allerdings ist sie nicht besonders gerade. Sie windet sich durch einen Flickenteppich aus Feldern, die von Steinmauern und Hecken umgeben sind. Der Staubwolke zu folgen, die er auf diesem Zickzackkurs hinter sich herzieht, wäre Unsinn. Stattdessen sprengen Dove und ich querfeldein. Dove ist nicht groß – das ist keines der normalen Inselpferde, weil das Gras nicht sehr nahrhaft ist –, aber sie ist ehrgeizig und kühn. Und so setzen sie und ich gemeinsam über jede Hecke, die sich uns in den Weg stellt, solange nur der Boden fest genug ist.

Wir schießen um die erste Kurve und scheuchen ein paar Schafe auf. »’tschuldigung!«, rufe ich ihnen über die Schulter zu. Die nächste Hecke kommt in Sicht, während ich noch mit den Schafen beschäftigt bin, und Dove muss hastig die Vorderhufe hochreißen, um den knappen Absprung zu schaffen. Ich lasse die Zügel so locker, dass es jedem anderen Reiter einen Schauder über den Rücken jagen würde, aber immerhin zerre ich nicht an ihrem Gebiss und sie zieht die Beine ganz dicht an und rettet uns beide. Als sie hinter der Hecke weitergaloppiert, nehme ich die Zügel wieder kürzer und klopfe ihr auf den Hals, um ihr zu zeigen, dass mir nicht entgangen ist, wie gut sie reagiert hat, und sie dreht mir ihr Ohr zu, um mir zu zeigen, dass sie sich über mein Lob freut.

Dann segeln wir über eine Weide dahin, auf der früher einmal Schafe gegrast haben, wo heute aber nur noch stoppeliges Heidekraut steht, das darauf wartet, abgebrannt zu werden. Der Morris ist uns noch immer ein Stück voraus, ein dunkler Umriss hinter einer gewaltigen Wand aus Staub. Ich mache mir keine Sorgen wegen Finns Vorsprung; um mit dem Auto zum Strand zu kommen, muss er entweder die Straße durch den Ort nehmen, mit all seinen Fußgängern und engen Kurven, oder den Umweg außen herum, der ihn mehrere Minuten kosten und uns eine Chance zum Aufholen geben würde.

Ich höre, wie der Morris am Kreisverkehr kurz abbremst und schließlich auf Skarmouth zubraust. Jetzt könnte ich entweder die Umgehungsstraße nehmen, sodass wir nicht mehr springen müssten, oder die Abkürzung direkt durch das Wohngebiet am Ortsrand, auf der wir durch ein paar Gärten hopsen und riskieren würden, von Gabe am Hotel gesehen zu werden.

Ich male mir schon aus, wie ich als Erste auf den Strand presche.

Ich beschließe, das Risiko einzugehen, von Gabe entdeckt zu werden. Das letzte Mal, dass ich diesen Weg genommen habe, ist schon so lange her, dass die spießigen alten Damen nicht allzu viel Grund haben dürften, sich über ein Pferd in ihren Gärten zu beschweren, solange wir nicht irgendetwas von Wert niedertrampeln.

»Na los, Dove«, flüstere ich. Sie galoppiert über die Straße und durch eine Lücke in einer Hecke. Die Häuser hier wirken, als wären sie direkt aus dem Fels emporgewachsen, und die Gärten sind vollgestopft mit Sachen, die aus den Häusern herausgequollen zu sein scheinen. Auf der anderen Seite verläuft eine Straße aus massivem Stein, auf der kein Pferd sollte laufen müssen, also führt der einzig mögliche Weg durch das halbe Dutzend von Gärten und am Hotel vorbei.

Ich hoffe, dass die Leute gerade bei der Arbeit an den Docks oder in ihren Küchen sind. Wir jagen durch die Gärten, springen im ersten halb über eine Schubkarre, können im zweiten gerade noch einem Kräuterbeet ausweichen und werden im dritten von einem bösartig aussehenden Terrier angekläfft. Im letzten Garten geht es noch über eine alte Badewanne, die dort unerklärlicherweise herumsteht, bis wir schließlich auf der Straße landen, die zum Hotel führt.

Natürlich ist Gabe da und natürlich sieht er mich sofort.

Er fegt gerade mit einem riesigen Besen den Gehweg vor dem Hoteleingang. Das Hotel hinter ihm ist ein abweisender Bau, überwuchert von Efeu, in dessen Blattgewirr säuberliche Quadrate geschnitten sind, um die Sonne in die Fenster mit den leuchtend blauen Simsen zu lassen. Das Gebäude ist so hoch, dass es das Morgenlicht dimmt und den Steinweg, den Gabe fegt, in dunkelblauen Schatten taucht. Gabe wirkt groß und erwachsen in seiner braunen Jacke, die um seine breiten Schultern ein wenig spannt. Sein rotblondes Haar, einen Tick zu lang, mogelt sich seinen Nacken hinunter, aber er sieht trotzdem gut aus. Mit einem Mal bin ich unglaublich stolz, dass er mein Bruder ist. Er hört auf zu fegen und stützt sich auf den Besenstiel, als er mich auf Dove vorbeiflitzen sieht.

»Nicht böse sein!«, rufe ich ihm zu.

Ein Lächeln breitet sich auf einer Hälfte seines Gesichts aus, die andere bleibt ernst. Man könnte meinen, er sei glücklich, wenn man noch nie sein echtes Lächeln gesehen hat. Umso trauriger, dass ich mich mittlerweile fast an das unechte gewöhnt habe. Ich habe mich zu sehr darauf verlassen, dass das echte eines Tages schon wieder auftauchen wird, anstatt mir Mühe zu geben, es wiederzufinden.

Ich reite weiter und treibe Dove zum Galopp an, sobald wir den Gehweg verlassen können und sie wieder Gras unter den Hufen hat. Hier ist der Boden weich und sandig; der Weg beginnt abzufallen und schlängelt sich dann zwischen den Hügeln und Dünen hindurch in Richtung Strand. Ich habe keine Ahnung, ob Finn vor oder hinter mir ist. Als der Pfad zu steil wird, muss ich Dove zu einem langsameren Trab zügeln. Schließlich macht sie einen letzten, etwas ungelenken Satz, der uns hinunter auf dieselbe Höhe wie das Meer bringt. Als wir die Böschung umrunden, stöhne ich ärgerlich auf: An der Stelle, wo das Gras in Sand übergeht, steht der Morris. In der Luft hängt der Geruch nach Abgasen, den das ansteigende Gelände ringsum hier unten festhält.

»Du bist trotzdem ein gutes Mädchen«, flüstere ich Dove zu. Sie ist ziemlich außer Atem, gibt aber ein fröhliches Schnauben von sich. Für sie war es ein gutes Rennen.

Finn steht in der geöffneten Fahrertür auf dem Trittbrett. Einen Arm hat er aufs Dach gelegt, der andere ruht auf der Oberkante der Tür. Er blickt aufs Meer hinaus, doch als Dove erneut schnaubt, dreht er sich zu mir um und schirmt die Augen vor der Sonne ab. Seine Miene wirkt besorgt, also treibe ich Dove an, bis wir neben dem Auto ankommen. Ich lasse die Zügel locker, damit sie ein Weilchen grasen kann, aber sie senkt den Kopf nicht. Stattdessen bleibt auch ihr Blick auf das flache Wasser gerichtet, auf einen Punkt etwa hundert Meter von uns entfernt.

»Was ist?«, frage ich. In meinem Magen breitet sich ein ungutes Gefühl aus.

Ich folge Finns Blick und sehe gerade noch, wie sich inmitten der Wellen für einen Moment ein grauer Kopf aus dem Wasser hebt. Er war so weit weg und seine Farbe der der aufgewühlten See so ähnlich, dass ich mich fast frage, ob ich ihn mir nur eingebildet habe. Aber Finn würde nicht so erschrocken die Augen aufreißen, wenn er sich nicht absolut sicher wäre. Einen Augenblick später taucht der Kopf wieder auf und diesmal sehe ich dunkle Nüstern, die so weit gebläht sind, dass ich selbst von hier aus eine Spur von Rot darin erkennen kann. Jetzt folgen auch der Rest des Kopfes und der Hals, die krause, vom Salzwasser angeklatschte Mähne und die mächtigen Schultern, triefnass und glänzend. Mit einem gewaltigen Satz befreit sich das Wasserpferd nun vollends aus den Wogen, als wäre dieser letzte Schritt aus der anschwellenden Flut ein beinahe unüberwindbares Hindernis.

Finn zuckt zusammen, als das Pferd über den Strand in unsere Richtung galoppiert, und ich lege ihm die Hand auf den Ellbogen, auch wenn mir mein eigener Herzschlag in den Ohren dröhnt.

»Nicht bewegen«, flüstere ich. »Nicht-bewegen-nicht-bewegen-nicht-bewegen.«

Ich klammere mich an das, was man uns wieder und wieder eingebläut hat – dass die Wasserpferde auf Beute aus sind, die sich bewegt; sie lieben die Jagd. In meinem Kopf zähle ich eine Reihe von Gründen auf, aus denen es uns nicht angreifen wird: Wir bewegen uns nicht, wir sind nicht nah genug am Wasser und wir stehen direkt neben dem Morris. Wasserpferde verabscheuen Metall.

Tatsächlich galoppiert das Wasserpferd an uns vorbei, ohne auch nur langsamer zu werden. Ich sehe, wie Finn schluckt, der Kehlkopf in seinem dürren Hals hüpft auf und ab, und ich weiß, wie er sich fühlt; auch mich kostet es alle Kraft, mich nicht zu rühren, bis das Wesen endlich wieder im Wasser verschwindet.

Sie sind wieder da.

So geht es jeden Herbst. Meine Eltern haben sich nie für das Rennen interessiert, aber ich kenne die Abläufe auch so. Je weiter es auf November zugeht, desto mehr Pferde spuckt das Meer aus. Oft schließen sich dann die Inselbewohner, die an einem der nächsten Skorpio-Rennen teilnehmen wollen, zu Jagdgesellschaften zusammen, um die neuen Capaill Uisce einzufangen, was sehr gefährlich ist, denn die Pferde sind ausgehungert und stehen noch unter dem Bann der See. Für die Leute, die im selben Jahr das Rennen reiten wollen, ist das Auftauchen der neuen Capaill das Startsignal, mit dem Training der Pferde aus den Jahren zuvor anzufangen – Tiere, die vergleichsweise sanftmütig sind, bis der Geruch der Herbstsee auch in ihnen die Magie wachzurufen beginnt.

Den ganzen Oktober hindurch bis zum ersten Novembertag ist die Insel ein einziges Gitternetz aus sicheren und unsicheren Gebieten, denn wenn man nicht gerade selbst für das Rennen trainieren will, hat man kein Interesse daran, einem wild gewordenen Capall Uisce über den Weg zu laufen. Unsere Eltern haben immer versucht, uns von allem fernzuhalten, was mit den Uisce-Pferden zu tun hatte, aber das war unmöglich. Mal fehlten in der Schule Freunde, weil in der Nacht zuvor ihr Hund von einem Uisce-Pferd getötet worden war. Mal musste Dad auf dem Weg nach Skarmouth einen übel zugerichteten Kadaver umfahren – der klägliche Rest eines erbitterten Kampfes zwischen einem Wasser- und einem Landpferd. Mal läuteten am Mittag die Glocken der St.-Columba-Kirche zur Bestattung eines Fischers, der unerwartet am Strand angefallen worden war.

Finn und mir muss niemand erklären, wie gefährlich diese Tiere sind. Wir wissen es. Wir denken jeden einzelnen Tag daran.

»Komm«, sage ich zu ihm. Als er, auf seine dürren Arme gestützt, neben mir aufs Meer hinausstarrt, sieht er sehr jung aus, plötzlich wieder mein kleiner Bruder, obwohl er in Wirklichkeit in diesem seltsamen Niemandsland zwischen Kind und Mann gefangen ist. Mit einem Mal überkommt mich das Verlangen, ihn vor dem Schmerz zu schützen, den der Oktober unweigerlich mit sich bringen wird. Aber im Grunde ist es nicht der Schmerz des diesjährigen Oktobers, der mich bekümmert; es ist der Schmerz des vergangenen.

Finn antwortet nicht, sondern schlüpft nur zurück in den Morris und schlägt die Tür zu, ohne mich auch nur anzusehen. Der Tag ist jetzt schon verdorben. Und dabei ist Gabe noch nicht mal zu Hause.

2

Sean     Beech Gratton, der Sohn des Metzgers, hat eine Kuh geschlachtet und lässt das Blut gerade für mich in einen Eimer laufen, als ich die Neuigkeiten höre. Wir stehen im Hof hinter der Metzgerei und der Widerhall unserer Schritte an den Steinmauern ringsum macht das Schweigen zwischen uns nur noch greifbarer. Es ist ein herrlicher, kühler Tag und ich bin rastlos und trete von einem Fuß auf den anderen. Der Steinboden unter mir ist uneben, wo ihn die Wurzeln von Bäumen angehoben haben, die es schon lange nicht mehr gibt, und er ist schmutzig, ein Netz aus Braun und Schwarz in Form von Flecken und Spritzern und Rinnsalen.

»Beech, hast du schon gehört? Die Pferde kommen«, sagt Thomas Gratton zu seinem Sohn, als er in der offenen Tür zu seinem Laden auftaucht. Er ist schon mit einem Fuß auf dem Hof, als er mich sieht, und hält mitten im Schritt inne. »Sean Kendrick. Ich wusste gar nicht, dass du hier bist.«

Ich antworte nicht und Beech grunzt: »Ist vorbeigekommen, als er gehört hat, dass ich schlachte.« Er deutet auf den Kuhkadaver, der nun, ohne Kopf und Beine, von einem Holzgestell baumelt. Der Boden ist voller Blut, weil Beech den Eimer nicht schnell genug unter die Kuh gestellt hat. Der Kopf des Tiers liegt in einer Ecke des Hofes auf der Seite. Thomas Grattons Mund bewegt sich, als wolle er etwas zu Beech über den Anblick, der sich ihm bietet, sagen, aber er tut es nicht. Thisby ist voll von Söhnen, die ihre Väter enttäuschen.

»Hast du es schon gehört, Kendrick?«, fragt Thomas Gratton. »Bist du deswegen hier, anstatt auf deinem Pferd zu sitzen?«

Ich bin hier, weil die neuen Männer, die Malvern zum Pferdefüttern angeheuert hat, im besten Fall zu ängstlich und im schlimmsten Fall völlig unfähig sind und weil das Heu nichts taugt und das Fleisch sogar noch weniger. Die Capaill Uisce haben so gut wie keinen Tropfen Blut bekommen. Man könnte meinen, dass die Stallburschen hoffen, sie würden sich in ganz normale Pferde verwandeln, wenn man sie so behandelt. Ich bin hier, weil ich die Dinge, die ich ordentlich erledigt haben will, selbst tun muss. Doch ich antworte bloß: »Nein, hatte ich noch nicht.«

Beech versetzt der toten Kuh einen gutmütigen Klaps in den Nacken und kippt den Eimer mal ein Stück zur einen, mal ein Stück zur anderen Seite. Er sieht seinen Vater nicht an. »Von wem hast du es denn gehört?«

Die Antwort auf seine Frage interessiert mich eigentlich nicht; es ist mir egal, wer was gesehen oder gehört hat, wichtig ist nur, dass die Capaill Uisce angefangen haben, aus dem Meer zu steigen. Dass es wahr ist, spüre ich in meinen Knochen. Darum also bin ich in letzter Zeit so rastlos. Darum läuft Corr in seiner Box hin und her und darum kann ich nicht schlafen.

»Die Connolly-Kinder haben eins gesehen«, sagt Thomas Gratton schließlich.

Beech gibt einen undefinierbaren Laut von sich und versetzt der Kuh einen weiteren Klaps, eher als Unterstreichung des Ganzen als aus praktischen Gründen. Das Schicksal der Connollys ist eine der traurigsten Geschichten, die Thisby zu bieten hat: Sie handelt von den drei Kindern eines Fischers, die von den Capaill Uisce zu Vollwaisen gemacht wurden. Die Insel ist voll von alleinerziehenden Müttern, deren Männer über Nacht verschwunden sind, entweder einem hungrigen Wasserpferd oder den Versuchungen des Festlands erlegen. Und von alleinerziehenden Vätern, deren Frauen von plötzlich auftauchenden Zähnen in die Fluten gerissen oder von Touristen mit dicken Geldbörsen davongelockt wurden. Aber Mutter und Vater auf einen Schlag zu verlieren, das ist etwas anderes. Mein Schicksal – Vater unter der Erde, Mutter auf dem Festland – ist so alltäglich, dass niemand lange darüber nachdenkt. Mir ist das nur recht. Es gibt bessere Dinge, für die man bekannt sein kann.

Thomas Gratton sieht schweigend zu, wie Beech mir den Eimer reicht und rücksichtslos den Kadaver zu zerlegen beginnt. Es mag schwer vorstellbar sein, aber es gibt eine kunstvolle Art, eine Kuh zu schlachten, und diese ist es nicht. Eine Weile sehe ich Beech dabei zu, wie er grobe Schlitze in das Fleisch gräbt, während er ununterbrochen vor sich hin grunzt – ich werde das Gefühl nicht los, dass er versucht, ein Liedchen zu summen. Ich bin fasziniert von der betonten Fahrlässigkeit, mit der Beech seine Arbeit verrichtet, dem kindlichen Vergnügen daran, sie schlecht zu machen. Thomas Gratton und ich wechseln einen Blick.

»Das Schlachten hat er von seiner Mutter gelernt, nicht von mir«, erklärt Thomas Gratton mir. Meine Reaktion würde zwar nicht unbedingt als Lächeln durchgehen, aber er scheint trotzdem dankbar dafür.

»Wenn du was dran auszusetzen hast, wie ich es mache«, sagt Beech, ohne von seiner Arbeit aufzusehen, »gehe ich stattdessen gern ins Pub. Dieses Messer hier passt genauso gut in deine Hand.«

Thomas Gratton gibt einen derben Laut von sich, der von irgendwo zwischen seinen Nasenlöchern und seinem Gaumen herzurühren scheint; einen Laut, der mir sagt, von wem Beech sein Grunzen gelernt hat. Er wendet sich von Beech ab und blickt zu dem rot gedeckten Dach eines der Häuser auf, die den Hof umgeben. »Ich nehme an, du bist dieses Jahr wieder beim Rennen dabei«, sagt er.

Beech reagiert nicht, denn natürlich spricht sein Vater mit mir.

»Ich denke schon«, entgegne ich.

Thomas Gratton antwortet nicht gleich, sondern starrt weiter in die Abendsonne, die die Dachpfannen in leuchtendes Orangerot taucht. Nach einer Weile murmelt er: »Ja, das erwartet Malvern wohl von dir.«

Seit meinem elften Lebensjahr arbeite ich auf dem Malvern-Hof. Es gibt Leute, die behaupten, ich hätte den Job nur aus Mitleid bekommen, aber sie irren sich. Die gesamte Lebensgrundlage und der gute Name der Malverns befinden sich unter dem Dach ihres Stalls – sie exportieren Sportpferde aufs Festland – und keins von beidem würden sie jemals leichtfertig aufs Spiel setzen, schon gar nicht aus einer so menschlichen Regung heraus wie Mitleid. In all den Jahren, die ich nun bei den Malverns lebe, ist mir nicht verborgen geblieben, dass die Grattons nicht besonders gut auf sie zu sprechen sind, und ich weiß, dass Thomas Gratton gern etwas hören würde, was ihn in seiner schlechten Meinung über Benjamin Malvern bestätigt. Darum warte ich einen Moment ab, um seiner Bemerkung die Schärfe zu nehmen, bevor ich schließlich mit dem Griff des Eimers klappere und sage: »Wäre es in Ordnung, wenn ich die Rechnung erst in ein paar Tagen bezahle?«

Thomas Gratton lacht leise. »Du bist wirklich der älteste Neunzehnjährige, der mir je untergekommen ist, Sean Kendrick.«

Ich antworte nicht, denn damit hat er vermutlich recht. Er erklärt, dass ich Freitag bezahlen soll, wie immer, und Beech grunzt mir zum Abschied zu, als ich den Hof mit meinem Eimer voll Blut verlasse.

Ich sollte darüber nachdenken, dass ich noch die Ponys von der Weide holen und das Futter für die Vollblüter vorbereiten und mir etwas einfallen lassen muss, wie ich heute Abend meine kleine Wohnung über dem Stall warm bekomme, aber ich denke bloß an die Neuigkeit, die Thomas Gratton gerade verkündet hat. Ich habe festen Boden unter den Füßen, aber ein Teil von mir ist schon unten am Strand und selbst mein Blut scheint zu singen: Ich bin lebendig, so lebendig.

3

Puck     An diesem Abend bricht Gabe die einzige Regel, die wir haben.

Ich gebe mir nicht besonders viel Mühe mit dem Abendessen, weil wir sowieso nichts als getrocknete Bohnen haben, und ich kann keine Bohnen mehr sehen. Also backe ich einen Apfelkuchen und komme mir geradezu tüchtig dabei vor. Ich bin sauer auf Finn, weil er schon den ganzen Nachmittag im Garten an einer uralten, kaputten Kettensäge herumbastelt. Er behauptet, jemand hätte sie ihm geschenkt, wahrscheinlicher aber ist, dass er sie aus irgendeiner Mülltonne gefischt hat, bloß weil sie einen Motor hat. Ich habe schlechte Laune, weil ich allein im Haus bin und mich irgendwie verpflichtet fühle aufzuräumen, und dazu habe ich keine Lust. Ich knalle Schubladen und Schränke zu und scheppere mit dem Geschirr in der ewig übervollen Spüle herum, aber Finn hört mich nicht oder tut zumindest so.

Schließlich, kurz bevor die Sonne vollständig hinter der Anhöhe im Westen verschwindet, reiße ich die Seitentür auf. Eine Weile stehe ich bloß da und starre Finn vielsagend an, während ich darauf warte, dass er aufblickt und etwas zu mir sagt. Er kauert mit gekrümmtem Rücken über der Kettensäge, die auseinandergebaut vor ihm liegt, ihre Einzelteile in Reih und Glied auf der festgestampften Erde unseres Gartens ausgebreitet. Er trägt ein Sweatshirt von Gabe, das ihm, obwohl Gabe schon vor Jahren herausgewachsen ist, noch immer zu groß ist. Die Ärmel hat er zu dicken, vollkommen gleichmäßigen Rollen hochgekrempelt und sein dunkles Haar ist ein einziger strähniger Wust. Er sieht aus wie ein Waisenkind und das macht mir noch mehr schlechte Laune.

»Willst du vielleicht langsam mal reinkommen und den Kuchen essen, solange er noch so nett ist, warm zu bleiben?« Ich klinge ein bisschen zickig, aber das ist mir egal.

Ohne aufzusehen, erwidert Finn: »Eine Minute noch.«

Er meint nicht eine Minute und das weiß ich.

»Dann esse ich ihn eben allein«, sage ich. Er antwortet nicht; er ist völlig versunken in das Faszinosum der Kettensäge. Ganz kurz, nur für einen Moment, kommt mir der Gedanke, dass ich Brüder hasse, weil sie einfach nie kapieren, wann einem etwas wichtig ist, und sich immer nur um ihren eigenen Kram kümmern.

Ich will gerade etwas sagen, was mir später wahrscheinlich leidtun würde, als ich Gabe sehe, der durch die Dämmerung auf uns zukommt. Keiner von uns sagt ihm Hallo, als er das Gartentor öffnet, sein Rad hindurchbugsiert und es wieder hinter sich schließt – Finn nicht, weil er völlig mit sich selbst beschäftigt ist, und ich nicht, weil ich sauer auf Finn bin.

Gabe bringt sein Fahrrad hinters Haus und bleibt dann neben Finn stehen. Er nimmt seine Wollmütze ab, klemmt sie sich in die Armbeuge und verschränkt die Arme vor der Brust, während er Finn schweigend bei der Arbeit zusieht. Ich bin nicht sicher, ob Gabe in dem bläulich-schummrigen Abendlicht überhaupt erkennen kann, was Finn da seziert hat, bis Finn das Gehäuse der Kettensäge ein bisschen dreht, damit Gabe es besser sieht. Offenbar will Gabe gar nicht mehr wissen, denn als Finn den Kopf schräg legt und zu unserem älteren Bruder hochblickt, antwortet Gabe bloß mit einem kleinen Nicken.

Diese wortlose Kommunikation fasziniert mich und macht mich wütend zugleich. »Es gibt Apfelkuchen«, sage ich. »Noch ist er warm.«

Gabe nimmt seine Mütze aus der Armbeuge und wendet sich mir zu. »Was gibt’s zum Abendessen?«

»Apfelkuchen«, erwidert Finn vom Boden.

»Und dazu eine leckere Kettensäge«, füge ich hinzu. »Damit hat Finn sich besonders viel Mühe gegeben.«

»Apfelkuchen ist gut«, beschwichtigt Gabe, aber er klingt müde. »Puck, lass die Tür nicht so lange offen. Es ist kalt hier draußen.« Ich trete einen Schritt zur Seite, um ihn ins Haus zu lassen, und als er an mir vorbeigeht, fällt mir auf, dass er nach Fisch riecht. Ich hasse es, wenn die Beringers ihn Fische ausnehmen lassen. Danach stinkt immer das ganze Haus.

Gabe bleibt in der Tür stehen. Ich starre ihn an, als er einen Moment bloß dasteht, die Hand auf dem Türrahmen, das Gesicht seiner Hand zugewandt, als studiere er entweder seine Finger oder die abblätternde rote Farbe darunter. Sein Blick wirkt abwesend, wie der eines Fremden, und plötzlich möchte ich ihn umarmen, wie früher, als ich noch klein war. »Finn«, sagt er schließlich leise, »wenn du das da wieder zusammengebaut hast, möchte ich mit dir und Kate reden.«

Finn blickt hoch, erschrocken, aber Gabe ist schon weg, an mir vorbei in dem Zimmer verschwunden, das meine beiden Brüder sich noch immer teilen, obwohl das Schlafzimmer unserer Eltern leer steht. Entweder Gabes Ankündigung, dass er mit uns reden will, oder die Tatsache, dass er meinen richtigen Namen benutzt hat, hat Finns Aufmerksamkeit auf eine Weise erregt, wie mein Apfelkuchen es nicht vermocht hat. Er fängt an, rasch die Teile einzusammeln, und wirft sie in einen ramponierten Pappkarton.

Ich habe ein ungutes Gefühl, als ich darauf warte, dass Gabe wieder aus seinem Zimmer kommt. Die Küche hat sich in die kleine gelbe Kammer verwandelt, zu der die Dunkelheit draußen sie immer zusammenzupressen scheint. Ich spüle eilig drei zueinanderpassende Teller und schneide für jeden von uns ein dickes Stück Apfelkuchen ab. Gabe bekommt das größte. Der Anblick der drei einsamen Teller auf dem Tisch, wo früher einmal fünf gestanden haben, macht mich traurig und ich lenke mich schnell ab, indem ich eine Kanne Pfefferminztee koche. Erst als ich die Teetassen neben unseren Tellern hin und her rücke, fällt mir auf, dass Minztee und Apfelkuchen vielleicht gar nicht so gut zusammenpassen.

Finn hat unterdessen damit begonnen, sich die Hände zu waschen, was ewig dauern kann. Schweigend und in aller Ruhe schäumt er seine Hände mit einem Stück Milchseife ein, bis jeder Millimeter Haut zwischen seinen Fingern und jedes Fältchen in seiner Handfläche sorgfältig gereinigt ist. Er ist noch nicht damit fertig, als Gabe aus seinem Zimmer kommt; er hat sich umgezogen, aber er riecht noch immer nach Fisch.

»Sehr schön«, sagt Gabe zu mir, als er einen Stuhl vom Tisch wegzieht, und Erleichterung durchströmt mich, weil alles in Ordnung ist, weil alles gut werden wird. »Nach einem Tag wie heute gibt es nichts Besseres als Minzduft.«

Ich versuche mir vorzustellen, was Mum oder Dad jetzt zu ihm gesagt hätten; aus irgendeinem Grund fühlt sich unser Altersunterschied in diesem Moment an wie eine unüberwindbare Kluft. »Ich dachte, du hättest heute im Hotel ausgeholfen.«

»Sie brauchten Verstärkung am Pier«, antwortet Gabe. »Und Beringer weiß, dass ich schneller arbeite als Joseph.«

Joseph ist Beringers Sohn und zu faul, um jemals bei etwas schnell zu sein. Gabe meinte mal, wir sollten Joseph dankbar sein, dass er nicht in der Lage ist, an irgendetwas anderes zu denken als an sich selbst, weil Gabe dadurch wenigstens Arbeit hat. Im Augenblick aber bin ich ihm alles andere als dankbar, denn nur weil Joseph so ein Trottel ist, stinkt Gabe jetzt nach Fisch.

Gabe hebt seine Tasse, aber er trinkt nichts. Finn ist noch immer beim Händewaschen. Ich setze mich auf meinen Platz. Gabe wartet noch ein paar Sekunden, dann sagt er: »Finn, das reicht jetzt, ja?«

Finn braucht noch eine weitere Minute, um die Seife wieder abzuspülen, dann dreht er den Wasserhahn zu, kommt an den Tisch und setzt sich mir gegenüber. »Müssen wir auch ein Tischgebet sprechen, wenn es nur Apfelkuchen gibt?«

»Vergiss die Kettensäge nicht«, fauche ich.

»Gott, wir danken dir für diesen Kuchen und Finns Kettensäge«, sagt Gabe. »Zufrieden?«

»Gott oder ich?«, hake ich nach.

»Gott ist immer zufrieden«, bemerkt Finn. »Du bist wesentlich schwieriger bei Laune zu halten.«

Das ist absolut unfair, aber ich weigere mich, auf die Provokation einzugehen. Stattdessen sehe ich Gabe an, der auf seinen Teller blickt. »Also, was ist los?«, frage ich.

Draußen, an der Stelle, wo ihre Koppel an den Garten grenzt, höre ich Dove wiehern; sie fordert ihre Handvoll Hafer ein. Finn späht zu Gabe hinüber, der noch immer auf seinen Teller starrt, die Finger auf den Apfelkuchen gedrückt, als wolle er seine Konsistenz prüfen. Plötzlich wird mir bewusst, wie sehr mich der Gedanke an morgen, den Todestag unserer Eltern, belastet, und erst jetzt kommt mir die Idee, dass es für den stillen, beherrschten Gabe genauso sein könnte.

Er hält den Blick gesenkt. »Ich verlasse die Insel.«

Finn lässt Gabe nicht aus den Augen. »Was?«

Ich kann nichts sagen; es ist, als habe Gabe in einer anderen Sprache gesprochen und als müsse mein Gehirn seine Worte erst übersetzen, bevor sie zu mir durchdringen können.

»Ich verlasse die Insel«, wiederholt Gabe und diesmal klingt seine Stimme fester, entschlossener, obwohl er noch immer keinen von uns ansieht.

Finn bringt als Erster einen vollständigen Satz heraus. »Was sollen wir mit unseren Sachen machen?«

»Was ist mit Dove?«, füge ich hinzu.

Gabe antwortet: »Ich verlasse die Insel.«

Finn sieht aus, als habe Gabe ihn geohrfeigt. Ich recke das Kinn vor und versuche Gabe dazu zu bringen, mich anzusehen. »Du willst ohne uns gehen?« Dann aber formt sich in meinem Kopf eine logische Erklärung, die ihn entlastet, und ich spreche sie selbst aus. »Also bleibst du nicht lange weg. Du bleibst nur, bis …« Ich schüttele den Kopf. Ich weiß nicht, wozu er nur kurz aufs Festland gehen sollte.

Endlich hebt Gabe den Blick. »Ich ziehe weg.«

Mir gegenüber klammert sich Finn an die Tischkante, die Finger so fest auf das Holz gepresst, dass sie an den Spitzen weiß und dahinter dunkelrot sind. Ich glaube nicht, dass er es überhaupt merkt.

»Wann?«, will ich wissen.

»In zwei Wochen.« Irgendwo zu seinen Füßen miaut Puffin, die ihr Kinn an seinem Bein und seinem Stuhl reibt, aber Gabe sieht nicht zu ihr hinunter, beachtet sie gar nicht. »Ich habe Beringer versprochen, dass ich noch so lange bleibe.«

»Beringer?«, frage ich. »Du hast Beringer versprochen, dass du noch so lange bleibst? Und was ist mit uns? Was soll aus uns werden?«

Er weicht meinem Blick aus. Ich versuche mir auszumalen, wie wir über die Runden kommen sollen, mit einem Connolly weniger in Lohn und Brot und einem leeren Bett mehr.

»Du kannst nicht gehen«, beschließe ich. »Nicht so bald.« Mein Herz rast in meiner Brust und ich muss meine Kiefer aufeinanderpressen, damit meine Zähne nicht klappern.

In Gabes Gesicht zeigt sich keine Regung und ich weiß, dass ich das, was ich als Nächstes sage, bereuen werde, aber es ist alles, was mir einfällt, also spreche ich es aus.

»Ich reite das Rennen mit«, sage ich. Einfach so.

Jetzt habe ich die volle Aufmerksamkeit meiner Brüder und meine Wangen fühlen sich an, als hätte ich mich zu dicht über eine heiße Herdplatte gebeugt.

»Ach, komm schon, Kate«, sagt Gabe, aber seine Stimme ist nicht so fest, wie sie sein sollte. Er glaubt mir fast, wenn auch gegen seinen Willen. Bevor ich weiterspreche, muss ich jedoch erst einmal herausfinden, ob ich mir selbst glaube. Ich denke an heute Morgen, den Wind in meinen Haaren, Dove unter mir im gestreckten Galopp. Ich denke an den Tag nach dem Rennen, die roten Flecken im Sand am oberen Teil des Strands, den das Wasser noch nicht erreicht hat. Ich denke an die letzten Boote, die vor dem Winter die Insel verlassen, und stelle mir Gabe in einem von ihnen vor.

Ich könnte es, wenn es sein muss.

»Doch, wirklich. Hast du es noch nicht gehört? Die Pferde kommen an Land. Morgen fängt das Training an.« Ich bin so stolz darauf, wie fest und ruhig meine Stimme klingt.

Gabes Lippen bewegen sich, als würde er alles Mögliche sagen, ohne dass ein Ton herauskommt, und ich weiß, dass er im Kopf sämtliche Gegenargumente durchgeht, die ihm einfallen. Ein Teil von mir hofft, dass er sagt: »Das kannst du nicht«, damit ich fragen kann: »Und warum nicht?«, denn dann würde er merken, dass er nicht antworten kann: »Weil Finn nachher vielleicht ganz allein ist.« Und er selbst kann auch nicht fragen: »Warum?«, weil er sich dann dieselbe Frage stellen müsste. Ich sollte ziemlich zufrieden mit mir und meiner Gewieftheit sein, denn Gabe sprachlos zu machen, ist nicht einfach, stattdessen aber rast mein Herz wie verrückt in meiner Brust. Tick-tick-tick, flach und schnell, und ich hoffe inständig, dass er sich bereit erklärt zu bleiben, wenn ich es mir nur anders überlege.

Schließlich aber sagt er: »Na gut. Dann bleibe ich noch bis nach dem Rennen.« Er wirkt verärgert. »Aber nicht länger, sonst fahren bis zum Frühjahr keine Boote mehr. Das ist wirklich eine total hirnrissige Idee, Kate.«

Er ist wütend auf mich, aber das ist mir egal. Alles, woran ich denken kann, ist, dass er bleibt, wenn auch nur ein kleines bisschen länger.

»Tja, scheint, als könnten wir das Preisgeld gut gebrauchen«, bemerke ich und versuche, so erwachsen und gleichgültig wie möglich zu klingen, obwohl ich in Wirklichkeit hoffe, dass er sich vielleicht entschließt zu bleiben, wenn ich das Geld tatsächlich gewinne. Dann stehe ich vom Tisch auf und stelle meinen Teller und meine Teetasse in die Spüle wie an einem ganz normalen Abend. Ich gehe in mein Zimmer, mache die Tür hinter mir zu und vergrabe den Kopf unter meinem Kissen, damit niemand mich hört.

»Selbstsüchtiger Mistkerl«, flüstere ich in meinen Kissenbezug.

Dann breche ich in Tränen aus.

4

Sean     Ich träume vom Meer, als sie mich wecken.

Genauer gesagt träume ich von der Nacht, in der ich Corr gefangen habe, aber ich kann das Meer in meinem Traum hören. Es gibt eine Legende, dass Capaill Uisce, die in der Nacht gefangen werden, schneller und stärker sind, also hocke ich um drei Uhr morgens auf einem Felsen am Fuß der Klippen, etwa hundert Meter vom Sandstrand entfernt. Über mir hat die See eine Art Grotte in den Kalkstein gegraben, deren dreißig Meter hohe Decke und weiße Wände mich nun umgeben. Es sollte dunkel hier sein, wo das Mondlicht nicht hingelangt, aber die Wasseroberfläche reflektiert die hellen Felsen und ich sehe gerade genug, um nicht über die zerklüfteten, mit Seetang bedeckten Steinbrocken auf dem Boden zu stolpern. Der Fels unter meinen Füßen hat mehr gemein mit dem Meeresgrund als mit der Küste und ich muss aufpassen, auf dem glitschigen Stein nicht auszurutschen.

Ich lausche.

In der Dunkelheit, in der Kälte lausche ich auf kleine Veränderungen im Meeresrauschen. Das Wasser steigt, schnell und lautlos; die Flut kommt und in etwa einer Stunde wird das Wasser in dieser unvollständigen Höhle höher stehen, als ich groß bin. Ich lausche auf ein Platschen, auf Hufe, die die Oberfläche durchbrechen, auf ein Zeichen dafür, dass ein Capall Uisce aus dem Meer steigt. Denn wenn ich erst Hufschläge auf Stein höre, bin ich tot.

Aber ich höre nichts als die gespenstische Stille des Wassers: keine Seevögel am Nachthimmel, keine Fischer an der Küste, kein Bootsmotor, der in der Ferne brummt. Der unbarmherzige Wind findet mich in meiner Grotte. Seine Wucht bringt mich aus dem Gleichgewicht, ich taumele und kann mich erst wieder fangen, als ich mit gespreizten Fingern an die Wand gepresst werde. Hastig ziehe ich die Hand zurück – die Wände der Grotte sind mit blutroten Quallen bedeckt, die im Mondlicht schimmern und glitzern. Mein Vater hat mir einmal erklärt, dass sie vollkommen harmlos sind. Ich habe ihm nicht geglaubt. Nichts ist vollkommen harmlos.

Unter mir schlängelt sich das Wasser zwischen den Felsbrocken hindurch, als die Flut kommt. Meine Handfläche blutet.

Ich höre einen Laut, wie von einem miauenden Kätzchen oder einem schreienden Säugling, und erstarre. An diesem Strand gibt es keine Kätzchen oder Säuglinge, es gibt nur mich und die Pferde. Brian Carroll hat einmal erzählt, dass er manchmal, wenn er nachts draußen auf dem Meer ist, die Rufe der Pferde hören kann. Er hat gesagt, es klinge wie Walgesang, eine klagende Witwe oder wie leises Kichern.

Ich blicke in das Wasser in der tiefsten Spalte unter mir; es steigt rasch an. Wie lange habe ich hier gestanden? Die Felsbrocken vor mir haben sich bereits in kleine, feucht glänzende Inseln verwandelt, die noch eben über die Wasseroberfläche ragen. Ich habe nichts erreicht und mir läuft die Zeit davon – ich muss umkehren, zurück über die mit schleimigem Tang überzogenen Felsen, solange ich noch kann.

Ich betrachte meine Hand; ein stetiges Rinnsal von Blut quillt aus der Wunde in meiner Handfläche und strömt zwischen meinen beiden Unterarmknochen nach unten zum Ellbogen. Dort sammelt es sich und tropft schließlich lautlos ins Wasser. Der Schmerz wird erst später kommen. Ich blicke ins Wasser, wo mein Blut verschwindet. Ich schweige. Die Grotte schweigt.

Ich drehe mich um und sehe das Pferd.

Es ist so nah, dass ich seinen Salzgeruch schmecken kann, so nah, dass ich die Hitze seiner nassen Haut spüren kann, so nah, dass ich die geweitete Pupille in seinem Auge erkenne. Ich rieche Blut in seinem Atem.

Dann wecken sie mich.