Guy de Maupassant

Bel-Ami

Roman

Aus dem Französischen neu übersetzt
und mit einem Nachwort von
Hermann Lindner

 

Neuausgabe 2011

© 2001 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41505 - 7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 14010 - 2

 

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Teil I

1

2

3

4

5

6

7

8

Teil II

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Nachwort

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TEIL I

1

Als die Kassiererin ihm das Kleingeld auf sein Hundertsousstück herausgegeben hatte, verließ Georges Duroy das Restaurant.

Da es so seine Art und auch, als ehemaliger Unteroffizier, seine Angewohnheit war, überall selbstbewußt aufzutreten, warf er sich in die Brust, fuhr sich mit der Routine des Soldaten über den Schnurrbart und ließ seinen Blick in der für gutaussehende Junggesellen typischen Art, zu schauen wie Falken, die auf Beute lauern, blitzschnell über die noch mit dem Essen beschäftigten Gäste kreisen.

Die Frauen blickten zu ihm auf, drei kleine Arbeiterinnen, eine nicht mehr ganz junge schlampige, ungepflegte Musiklehrerin, die einen ewig staubig wirkenden Hut auf dem Kopf und ein allzeit schlecht sitzendes Kleid am Körper trug, sowie zwei Bürgersfrauen samt den dazugehörigen Ehemännern, allesamt Stammgäste dieser Kaschemme, wo man zu festen Preisen essen konnte.

Als er dann draußen auf dem Trottoir war, blieb er noch einen Moment stehen, um zu überlegen, was er nun tun sollte. Es war der 28. Juni, und für den Rest des Monats blieben ihm noch ganze drei Francs vierzig. Damit konnte er noch zweimal zu Abend essen, wenn er den Mittag ausließ, oder auch umgekehrt, ganz wie er es sich aussuchte. Bei seiner Kalkulation kam er zum Ergebnis, daß die Mittagsmenüs zweiundzwanzig, die Abendessen aber dreißig Sous kosteten; wenn er sich also mit dem Mittagessen begnügte, würde ihm ein Guthaben von einem Franc und zwanzig Centimes bleiben, womit er sich noch zwei Wurstbrote und zwei Gläser Bier in einem Café auf den Boulevards leisten könnte. Das war die Ausgabe, die er sich regelmäßig als kleinen abendlichen Luxus genehmigte; und so machte er sich auf den Weg die Rue Notre-Dame de Lorette hinunter.

Seine Art zu gehen war dieselbe wie zu der Zeit, als er noch die Husarenuniform trug; er ging mit stolzgeschwellter Brust und leicht gespreizten Beinen, gerade so, als wäre er gerade von einem Ausritt zurückgekommen; und er bahnte sich brutal seinen Weg durch die belebte Straße, rempelte die Leute an der Schulter, stieß sie auf die Seite, um nur ja keinen Zentimeter vom eigenen Weg abrücken zu müssen. Er hatte sich seinen schon recht abgetragenen Zylinder übers Ohr geschoben und ließ die Absätze auf dem Pflaster krachen. Er wirkte, als wollte er jeden Augenblick jemanden provozieren, die Passanten, die Häuser, die ganze Stadt, ganz wie ein flotter Soldat, den es in Zivil unter die Leute verschlagen hat.

Obwohl sein Anzug nicht mehr gekostet hatte als sechzig Francs, war seine Aufmachung zwar etwas auffallend und gewöhnlich, aber doch nicht ohne eine gewisse Eleganz. Groß und gut gewachsen, mit blonden Haaren, einem Blond, das leicht ins Kastanienbraun ging, mit einem nach oben gezwirbelten Schnurrbart, der sich wie ein Schaumtupfer über dem Mund ausnahm, mit seinen hellblauen Augen, in deren Mitte nur eine kleine Pupille saß, seinen sich von Natur aus kräuselnden Haaren, durch die ein Mittelscheitel lief, sah er aus wie der typische Schlawiner eines Groschenromans.

Es war einer dieser Sommerabende, in denen Paris buchstäblich die Luft ausgeht. Die Stadt war so heiß wie eine Dampfküche und lag in der stickigen Nacht gleichsam schweißgebadet da. Aus den granitenen Öffnungen drangen die bestialischen Ausdünstungen der Abwasserkanäle nach oben, und aus den Fenstern der tief gelegenen Küchen kippten die Küchenjungen ekliges Abspülwasser und Saucenreste auf die Straße.

Die Concierges saßen mit hochgekrempelten Ärmeln rittlings auf Strohstühlen vor den offenstehenden Haustüren und rauchten ihre Pfeife, und die Spaziergänger gingen barhäuptig, den Hut in der Hand, verlegen ihres Wegs. Als Duroy am Boulevard ankam, blieb er noch einmal unschlüssig stehen. Er hatte nun Lust, auf die Champs-Elysées und die zum Bois de Boulogne führende Avenue zu gehen, in der Hoffnung, unter den Bäumen ein wenig frische Luft zu bekommen; aber zugleich arbeitete noch ein anderer Wunsch in ihm, der Wunsch, irgendeine Frau aufzutreiben.

Wie würde sich ein solches Treffen ergeben? Er hatte nicht die geringste Vorstellung, aber er wartete seit einem Vierteljahr darauf, Tag für Tag, Abend für Abend. Dank seines guten Aussehens und seines einnehmenden Auftretens gelang es ihm hier und da mal zwar einen Happen Liebe aufzuschnappen, aber er erhoffte sich immer mehr davon und außerdem etwas Besseres.

Mit leeren Taschen und heißem Blut erregte er sich im Kontakt mit den herumlaufenden leichten Mädchen, die einem an den Straßenecken zuflüstern: »Na, mein Süßer, wie wär’s, kommen Sie, gehen wir zu mir?« Aber er traute sich nicht, mit ihnen zu gehen, da ihm das Geld dazu fehlte. Und außerdem schwebte ihm etwas anderes vor, andere, weniger vulgäre Küsse.

Allerdings behagten ihm die Örtlichkeiten, an denen sich die Prostituierten scharenweise herumtrieben, schon, ihre Bälle, ihre Cafés, ihre Straßen; sie anzustoßen, anzureden, zu duzen, ihre derben Parfums zu schnuppern, ihre Gegenwart in sich aufzunehmen, all das mochte er sehr. Immerhin waren das richtige Frauen, Frauen, die sich auf die Liebe verstanden. Die Verachtung, die brave Familienväter für sie hegen, teilte er ganz und gar nicht.

Er lenkte seine Schritte in Richtung auf die Madeleine und ging der Menge nach, die unter der Last der Hitze träge dahinfloß. Die Tische der bis auf den letzten Platz gefüllten Straßencafés standen weit auf das Trottoir heraus und gaben ihre Kundschaft von Zechern unter dem gleißenden und harten Licht ihrer hellbeschienenen Fensterfront dem Anblick der Passanten preis. Auf kleinen quadratischen oder runden Tischen standen Gläser mit roten, gelben, grünen, braunen Flüssigkeiten in allen Farbnuancen vor ihnen; und in den Karaffen sah man große durchsichtige Eiswürfel glänzen, die das schöne helle Wasser kühlten.

Duroy hatte seinen Gang verlangsamt; seine Kehle war nun so ausgetrocknet, daß es ihn dringend danach verlangte, etwas Flüssiges zu sich zu nehmen.

Ein brennender Durst, ein für Sommerabende typischer Durst hielt ihn gefangen, und er mußte an das prickelnde Gefühl eines kalten Getränks denken, das einem die Kehle hinabläuft. Aber auch wenn er nur seine zwei Biere im Lauf des Abends trank, dann war’s schon vorbei mit dem bescheidenen Abendessen vom nächsten Tag, und er kannte sie nur zu gut, diese Stunden am Monatsende, in denen ihm der Magen knurrte.

Er sagte sich: »Ich muß unbedingt bis um zehn durchhalten; dann genehmige ich mir meine Halbe Bock im Américain. Verdammt noch mal, was hab ich nur für einen Mordsdurst!« Und er schaute all diese Leute an, die da an den Tischen saßen und ihren Durst stillten, sie alle, die trinken konnten, was das Herz begehrte. Großspurig und angeberisch stolzierte er an den Cafés vorbei und taxierte mit einem kurzen Blick nach Aufmachung und Kleidung, was jeder dieser Gäste wohl so an Geld dabei hatte. Und dabei überkam ihn Wut auf diese Leute, die da in aller Ruhe herumsaßen. Würde man ihre Taschen filzen, kämen Stücke aus Gold und Silber und so manche Sous zum Vorschein. Im Schnitt hatte jeder bestimmt mindestens seine zwei Louis in der Tasche; in jedem Café waren gut und gerne hundert Leute; hundert mal zwei Louis, das macht viertausend Francs! Während er nach außen hin graziös an ihnen vorbeiflanierte, murmelte er in seinen Bart: »Diese Schweine!« Wenn er einen von ihnen, in einem schön dunklen Winkel, an einer Straßenecke, packen hätte können, dem hätte er ruckzuck den Hals umgedreht, wie er es seinerzeit bei den großen Manövern mit dem Federvieh der Bauern gemacht hatte.

Und da mußte er an seine zwei Jahre in Afrika denken und an die Art und Weise, mit der er dort, in den kleinen Garnisonen des Südens, die Araber ausnahm. Und bei der Erinnerung an einen üblen Streich, der drei Mitgliedern vom Ouled-Alane-Stamm das Leben gekostet und der ihnen, ihm und seinen Kameraden, zwanzig Hühner, zwei Hammel, einen Batzen Gold und Stoff zum Witzemachen fürs nächste halbe Jahr eingebracht hatte, huschte ein grausames, hämisches Lächeln über sein Gesicht.

Die Schuldigen waren nie ermittelt worden, man hatte sich bei der Suche nach ihnen auch nicht überanstrengt, galten die Araber doch ein wenig als die natürliche Beute der Soldaten.

In Paris, da lagen die Dinge anders. Da konnte man nicht, ungestört und seelenruhig, mit umgeschnalltem Säbel, den Revolver in der Hand, drauflosplündern, weitab vom Schuß der bürgerlichen Justiz. In seinem Herzen fühlte er noch alle Instinkte des alten Unteroffiziers, den man auf ein erobertes Stück Land losgelassen hatte. Mit Wehmut dachte er zurück, an seine zwei Jährchen in der Wüste. Schade, daß er nicht länger da unten geblieben war! Aber so war’s nun einmal, er hatte sich das Leben bei der Rückkehr in rosigeren Farben ausgemalt gehabt. Und jetzt! Jetzt saß er ziemlich in der Tinte!

Er ließ seine Zunge durch den Mund wandern, schnalzte dann ganz leicht mit ihr, nur um festzustellen, wie ausgetrocknet sie denn schon war.

Um ihn herum war eine große Menschenmenge, matt und mit müden Schritten, und alles, was er dachte, war: »Dummköpfe, nichts als Dummköpfe; und jeder von diesen Trotteln hat einen Haufen Pinke in der Tasche.« Er rempelte die Leute an der Schulter und pfiff lustige Lieder dabei. Manche der Männer, die er anstieß, schauten sich mißmutig um; manche Frauen sagten: »Donnerwetter, das ist aber einer, ein echter Stier von einem Mann!«

Er kam am Vaudeville-Theater vorbei und blieb gegenüber dem Café Américain stehen. Er fragte sich, ob er nicht doch gleich sein Bier trinken sollte; so schlimm war der Durst schon geworden. Aber bevor er sich zu einer Entscheidung durchrang, warf er einen Blick auf die Leuchtuhr, die mitten in der Straße stand. Es war viertel nach neun. Er kannte sich: Stand das Glas voll Bier erst einmal vor ihm, dann war es auch schon so gut wie hinuntergespült. Aber danach, was sollte er bloß bis elf machen?

Er zwang sich zum Weitergehen: »Bis zur Madeleine geh’ ich noch«, sagte er sich, »und dann in aller Gemütlichkeit wieder zurück.«

Gerade als er an der Ecke vom Opernplatz ankam, kreuzte sich sein Weg mit dem eines dicken, jungen Mannes, und es kam ihm vor, als hätte er dessen Gesicht schon mal irgendwo gesehen.

Er ging ihm hinterher und kramte in seinem Gedächtnis. Halblaut sagte er immer wieder vor sich hin: »Wo zum Teufel ist mir dieser Bursche schon einmal über den Weg gelaufen?«

Er stöberte lange in seinem Kopf herum, ohne sich genauer an ihn erinnern zu können. Dann, mit einem Schlag, wie das eben manchmal so ist mit dem Gedächtnis, hatte er diesen Burschen vor seinem geistigen Auge, nur weniger dick, jünger, und er steckte in einer Husarenuniform. Und er rief: »Klar, Forestier!« Er ging etwas schneller und klopfte dem vor ihm Gehenden auf die Schulter. Der andere drehte sich um, schaute ihn an und fragte: »Sie wünschen?«

Da lachte Duroy und sagte: »Was? Kennst du mich denn nicht mehr?«

»Bedaure, nein.«

»Georges Duroy, Husaren, sechste Kompanie.«

Da streckte ihm Forestier seine beiden Hände entgegen mit den Worten: »Hallo! Alter Knabe! Wie geht es dir?«

»Sehr gut, und dir?«

»Na, nicht so toll; stell’ dir vor, ich habe jetzt zwei Lungen aus Pappmaché; infolge einer Bronchitis, die ich mir im Jahr meiner Rückkehr in Bougival zuzog, das ist jetzt vier Jahre her, habe ich das halbe Jahr über Husten.«

»Was du nicht sagst! Dabei machst du aber einen ganz kräftigen Eindruck.«

Und Forestier hakte sich bei seinem einstigen Kameraden unter und erzählte ihm die Geschichte von seiner Krankheit, die Arztbesuche, die Diagnosen und die Ratschläge der Ärzte, die Schwierigkeit, bei der Position, die er hatte, ihre Therapieempfehlungen einzuhalten. Sie wollten, daß er im Winter im Süden lebte; aber wie sollte er das machen. Erstens war er verheiratet und zweitens Journalist und hatte eine schöne Stellung bei einer Zeitung.

»Weißt du, ich leite das politische Ressort in der Vie Française. Außerdem mach’ ich für den Salut die Berichterstattung über den Senat; und von Zeit zu Zeit arbeite ich auch noch als Kolumnist für die Literaturseite des Planète. Du siehst, ich habe meinen Weg gemacht.«

Verdutzt schaute Duroy ihn an. Er war verändert, wirkte viel reifer. Er hatte jetzt das Auftreten, die Aufmachung, die Kleidung eines gesetzten, selbstsicheren Herrn, und dazu den Bauch eines Mannes, der stets reichlich zu essen auf den Tisch bekommt. Damals war er ein dürrer Kerl gewesen, dünn und gelenkig, ein leichtsinniger Bursche, der ständig irgendwelche Flausen im Kopf hatte, für Wirbel sorgte, ein echter Hansdampf war. Innerhalb von drei Jahren hatte Paris daraus einen ganz anderen Menschen gemacht, einen beleibten seriösen Herrn mit einigen grauen Strähnen an den Schläfen, obwohl er nicht mehr als siebenundzwanzig Jahre auf dem Buckel hatte.

Forestier fragte: »Wo wolltest du denn gerade hin?«

Duroy erwiderte: »Ich? Nirgends, ich dreh’ nur eine Runde und wollte dann eigentlich wieder nach Hause gehen.«

»Nun, was hältst du von der Idee, mich in die Redaktion zu begleiten; da muß ich nur ein paar Fahnen durchschauen; und anschließend gehen wir zusammen ein Bier trinken?«

»Da mach’ ich gerne mit.«

Und mit dieser schnell sich einstellenden Vertrautheit, die es nur zwischen Klassen- und Regimentskameraden gibt, hakte sich der eine beim andern unter, und sie gingen zusammen weiter.

»Was treibst du denn so in Paris?« wollte Forestier wissen.

Duroy zuckte mit den Achseln: »Ich hungere mich zu Tode, ganz einfach. Als damals meine Militärzeit abgelaufen war, wollte ich hierherkommen, um . . . um mein Glück zu machen, oder besser gesagt, um eben hier in Paris zu leben. Und nun bin ich seit einem halben Jahr Büroangestellter bei der Eisenbahn, mit einem Jahresgehalt von fünfzehnhundert Francs, und keinen Heller mehr.«

Forestier murmelte: »Potzblitz, davon wird man allerdings wirklich nicht gerade fett.«

»Du sagst es; aber was soll ich denn machen? Ich lebe hier völlig alleine, kenne keine Menschenseele, habe nicht die geringsten Beziehungen. Was mir fehlt, ist bestimmt nicht der gute Wille, sondern schlicht und einfach die Möglichkeiten.«

Sein Kamerad musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle, als Mann von Erfahrung, der einen anderen richtig einzuschätzen vermag; dann sagte er im Brustton der Überzeugung: »Paß mal auf, mein Kleiner, hier in Paris gilt die Devise: Frechheit siegt. Wenn einer nur mit ein bißchen Köpfchen an die Sachen herangeht, dann wird er schneller Minister als Abteilungsleiter. Großspurig mußt du auftreten und nicht lange bitten und betteln. Aber wie zum Teufel kommt es, daß du nichts Besseres gefunden hast als eine Anstellung bei der Bahn?«

Duroy antwortete: »Nun, ich habe gesucht und gesucht, aber es war einfach nichts zu finden. Aber ich habe jetzt etwas in Aussicht; ich habe ein Angebot vom Reitstall Pellerin. Da könnte ich als Reitlehrer anfangen und würde, unter Brüdern, schon meine dreitausend Francs verdienen.«

Da blieb Forestier ruckartig stehen und sagte: »Tu bloß das nicht; das ist Unfug, wo du doch deine zehntausend verdienen müßtest. Damit verbaust du dir nur deine Zukunft. In deinem Büro bist du wenigstens sicher, keiner kennt dich, wenn du stark genug bist, kannst du die Tür hinter dir zuschlagen und deinen Weg machen. Hast du aber erst einmal als Reitlehrer angefangen, ist’s aus und vorbei. Das ist ungefähr so, wie wenn du Chefober in einem Restaurant wärst, in dem ganz Paris ein und aus geht. Hast du erst einmal den besseren Herrschaften beziehungsweise ihren Söhnen Reitstunden gegeben, können sie sich später nie mehr an die Vorstellung gewöhnen, dich als ihresgleichen zu betrachten.«

Danach schwieg er einige Sekunden und überlegte, bevor er Duroy fragte: »Hast du eigentlich Abitur?«

»Nein, bin zweimal durchgefallen.«

»Das macht gar nichts, solange du dir wenigstens eine gewisse Allgemeinbildung erworben hast. Wenn in einem Gespräch die Namen Cicero oder Tiberius fallen, weißt du dann so ungefähr, um wen es da geht?«

»Ja, ungefähr schon.«

»Prima, die anderen wissen auch nicht mehr, mit Ausnahme einer Gruppe von zwanzig gebildeten Schwachköpfen; aber die sind viel zu doof, um daraus etwas zu machen. Dabei ist es ein Kinderspiel, den Eindruck zu erzeugen, viel auf dem Kasten zu haben, das kannst du mir glauben. Es kommt nur darauf an, nur ja niemals bei einem Thema so dazustehen, als hätte man davon auch nicht die geringste Ahnung. Du windest dich eben ein bißchen, umschiffst die heiklen Punkte, schlüpfst unter dem Hindernis hindurch und düpierst die anderen mit Hilfe eines passenden Lexikons. Alle Menschen sind dumm wie die Nacht finster, und im Grunde haben sie alle von nichts einen blassen Schimmer.«

Das alles sagte er mit abgeklärter Miene als jemand, der das Leben kennt, und während er seinen Blick über die vorbeigehende Menge schweifen ließ, lächelte er milde. Plötzlich aber bekam er einen starken Hustenanfall; er blieb stehen, bis der Husten sich wieder beruhigt hatte, dann meinte er deprimiert: »Ist das nicht furchtbar, daß man diese Bronchitis einfach nicht los wird? Und das mitten im Sommer! Also, im kommenden Winter gehe ich aber wirklich nach Menton, um mich zu schonen. Alles andere ist mir schnuppe; die Gesundheit geht nun mal vor.«

Sie waren nun am Boulevard Poissonnière angelangt, vor einer großen Glastür, an deren Innenseite eine aufgeschlagene Zeitung angeklebt war. Davor standen drei Passanten und lasen.

Oberhalb dieser Türe prangten, wie ein Aufruf, in großen, feurigen Lettern aus Gaslichtern die Worte La Vie Française. Und die beiden Spaziergänger gerieten plötzlich in die Helligkeit dieser drei strahlenden Worte, und nachdem sie mit einem Schlag klar und deutlich im fast taghellen Licht aufgetaucht waren, verschwanden sie gleich darauf wieder im Dunkeln.

Forestier stieß die Tür auf: »Komm nur rein«, sagte er. Duroy folgte ihm, stieg eine ebenso luxuriöse wie schmuddelige Treppe hinauf, die man von der Straße aus einsehen konnte, kam in ein Vorzimmer, wo zwei Büroangestellte seinen Kameraden grüßten; er blieb dann in einer Art staubigem und ein wenig schäbigem Wartezimmer stehen, das mit schmutziggrünem Samtimitat tapeziert war, das mit Flecken übersät und an manchen Stellen so löcherig war, als hätten es Mäuse angeknabbert.

»Setz dich«, sagte Forestier, »ich bin in fünf Minuten wieder da.« Und mit diesen Worten verschwand er hinter einer der drei Türen, über die dieser Raum verfügte.

Ein eigenartiger, ganz besonderer, unbeschreibbarer Geruch, wie er für Redaktionsräume typisch war, lag über diesem Ort. Duroy blieb bewegungslos sitzen, ein wenig eingeschüchtert, vor allem aber überrascht. Von Zeit zu Zeit sausten Mitarbeiter an ihm vorbei, die so schnell zur einen Tür hereinkamen und zu einer der anderen wieder hinausgingen, daß er nicht einmal die Zeit hatte, einen Blick auf sie zu werfen.

Mal waren es junge, sehr junge Leute, die geschäftig taten, ein Blatt Papier in der Hand, mit dem sie bei ihrem eiligen Gang herumwedelten; mal kamen Schriftsetzer ins Zimmer, unter deren tintenbesprenkeltem Arbeitsmantel aus Leinen ein weißer Kragen hervorspitzte und am unteren Ende eine Stoffhose von der Art zum Vorschein kam, wie sie in besseren Kreisen getragen wurden; diese Setzer trugen vorsichtig große bedruckte Papierbögen, frische, noch feuchte Probeabzüge. Dann und wann kam auch ein kleiner Mann herein, dessen Anzug von übertriebener Eleganz zeugte; sein Oberkörper steckte in einem zu engen Gehrock, die Beine in zu engen Hosen, die Füße in zu spitzen Schuhen, irgendein Klatschreporter, der die neuesten Abendmeldungen ablieferte.

Es kamen auch noch andere ins Zimmer, mit gravitätisch-ernstem Auftreten, mit hohen, schmalkrempigen Hüten, ganz so, als ob diese Form sie aus dem Rest der Menschheit herausgehoben hätte.

Forestier erschien wieder, mit einem großen, mageren Burschen am Arm, im Alter so zwischen dreißig und vierzig, in schwarzem Anzug und mit weißer Krawatte, er hatte sehr braunen Teint, trug den Schnurrbart spitz nach oben gezwirbelt und wirkte in seinem Auftreten hochmütig und sehr von sich eingenommen.

Forestier sagte: »Adieu, lieber Meister.«

Der andere schüttelte ihm die Hand mit den Worten: »Auf Wiedersehen, mein Lieber«, und ging dann, seinen Spazierstock unter dem Arm, pfeifend die Treppe hinab.

Duroy fragte: »Wer war das?«

»Das kann ich dir schon sagen. Das war Jacques Rival, der berühmte Kolumnist und unübertroffene Meister im Duell. Er war gerade hier, um schnell Korrektur zu lesen. Garin, Montel und er, das sind die drei führenden Kolumnisten zu den Themen des Geisteslebens und allen Gegenwartsproblemen, die wir hier in Paris haben. Der verdient dreißigtausend Francs im Jahr dafür, daß er in der Woche zwei Artikel schreibt.«

Und als sie schon dabei waren, wieder zu gehen, stießen sie auf einen kleinen, langhaarigen, dicklichen Mann mit ungepflegtem Aussehen, der schwer atmend die Stufen heraufkam.

Forestier machte eine tiefe Verbeugung. »Das war jetzt Norbert de Varenne«, sagte er dann, »der Autor der Soleils morts, noch einer aus der Riege der Großverdiener. Für jede Novelle, die er bei uns abliefert, kassiert er seine dreihundert Francs, und keine ist länger als zweihundert Druckzeilen. Aber jetzt schnell ab ins Napolitain; ich bin schon am Verdursten.«

Sobald sie einen Platz an einem Tisch gefunden hatten, rief Forestier: »Zwei Bier.« Und er stürzte das seine mit einem Zug hinunter, wogegen Duroy sein Bock, genüßlich, Tropfen für Tropfen, in kleinen Schlucken, wie eine kostbare und seltene Sache, zu sich nahm.

Sein Kamerad sagte erst einmal eine Weile gar nichts, schien nachzudenken. Plötzlich brach er sein Schweigen: »Warum probierst du’s nicht mal mit dem Journalismus?«

Völlig überrascht schaute der andere ihn an; danach sagte er: »Aber . . . Die Sache ist . . . Ich habe noch nie auch nur eine Zeile in meinem Leben geschrieben.«

»Ach was! Probieren geht über studieren. Paß auf, ich könnte dir eine Anstellung hier bei mir verschaffen. Du müßtest für mich recherchieren, allerlei Sachen erledigen, Besuche für mich übernehmen. Für den Anfang hättest du als Gehalt zweihundertfünfzig Francs im Monat plus Spesen für Kutschenfahrten. Soll ich mit dem Chef darüber reden?«

»Aber natürlich würde mich das reizen.«

»Gut, als erstes wirst du folgendes machen: Du kommst morgen zu mir zum Abendessen; es kommen nicht mehr als fünf oder sechs Leute – Monsieur Walter, der Chef, und seine Frau, Jacques Rival und Norbert de Varenne, die du soeben gesehen hast, und dazu noch eine Freundin meiner Frau. Was hältst du davon?«

Duroy zögerte, wurde vor lauter Verlegenheit rot. Schließlich murmelte er: »Der Haken ist . . . Ich habe keinen standesgemäßen Anzug.«

Forestier war verblüfft: »Was? Du hast keinen Frack? Donnerwetter! Aber ohne den geht wirklich gar nichts. In Paris, mußt du wissen, kommst du eher ohne Bett als ohne Frack durchs Leben.«

Dann fingerte er plötzlich in seiner Westentasche herum, holte ein paar Goldstücke heraus, legte sie vor seinen alten Kameraden hin und fügte ganz freundschaftlich und herzlich hinzu: »Wenn du mal besser bei Kasse bist, kannst du’s mir ja wiedergeben.«

Duroy steckte das Geld verdattert ein und stammelte: »Du bist zu liebenswürdig; wie kann ich dir nur danken; du kannst dich drauf verlassen, daß ich ganz bestimmt . . .«

Da unterbrach ihn der andere: »Nun laß es gut sein. Du willst doch sicher auch noch ein Bierchen, oder?« Und er rief: »Ober, zwei Bock!«

Als sie dann auch diese ausgetrunken hatten, fragte der Journalist: »Na, wie wär’s, hast du Lust, noch ein Stündchen mit mir herumzuflanieren?«

»Aber gern.«

Und so spazierten sie wieder los, in Richtung auf die Madeleine.

»Was könnten wir denn jetzt anstellen?« fragte Forestier. »Man sagt zwar, für einen Flaneur in Paris gibt’s immer was zu tun; aber das stimmt nicht. Ich jedenfalls, wenn ich am Abend einen Bummel machen möchte, ich weiß nie, wo ich hingehen soll. Eine Runde im Bois de Boulogne, das hat nur Reiz in Gesellschaft einer Frau – aber so eine hat man nicht immer gleich bei der Hand. Das andere Standardschema ›Fein essen gehen mit Musikunterhaltung‹, das gefällt vielleicht meinem Apotheker samt seiner Frau Gemahlin, aber doch mir nicht! Also, was kann man schon machen? Nichts! Was hier fehlt, ist ein Sommergarten, so etwas ähnliches wie der Parc Monceau mit abendlicher Öffnung, wo man unter Bäumen lustwandelnd sehr gute Musik hören und nebenbei Erfrischungsgetränke zu sich nehmen könnte. Also nicht eigentlich ein Vergnügungspark, sondern eben ein Flaniergarten; der Eintritt müßte einigermaßen teuer angesetzt werden, damit auch die hübschen Damen der Gesellschaft kämen. Man würde auf elektrisch beleuchteten Sandwegen herumgehen und sich nach Gusto niedersetzen, um sich die Musik eher aus der Nähe oder aus der Ferne anzuhören. Bei Musard, da gab’s früher mal so etwas in der Art, aber das ging doch zu sehr in die Richtung Tanzlokal und Kneipe; außerdem war es viel zu eng, zu hell, was fehlte, war eine gewisse schummrige Atmosphäre. Drum bräuchte man dafür einen großen Park mit viel Platz. Das wäre eine tolle Sache. Aber sag, wohin würdest du denn gern gehen?«

Duroy war so verlegen, daß er mit der Sprache nicht gleich herauswollte; schließlich gab er sich doch einen Ruck und sagte: »Weißt du, was ich noch nie gesehen habe, das ist das Folies-Bergère. Ehrlich gesagt, so etwas würde mich reizen!«

Sein Kamerad rief: »Was, das Folies-Bergère? Ach du meine Güte! Da ist es jetzt so heiß wie auf einem Grill. Aber na gut, von mir aus; es ist ja schon immer ganz amüsant dort.«

So machten sie also auf den Absätzen kehrt und marschierten ab in Richtung Faubourg-Montmartre.

Die hellerleuchtete Fassade des Etablissements warf ein grelles Licht auf die vier Straßen, die hier zusammenliefen. Die Schlange der Fiaker wartete auf Kundschaft.

Forestier wollte schon hinein, als Duroy ihn festhielt mit den Worten: »Warte, wir haben ja noch gar nicht gezahlt.«

Worauf der andere nur wichtigtuerisch versetzte: »Wer mit Forestier kommt, zahlt hier nicht.«

Als sie am Einlaß ankamen, grüßten die drei Kontrolleure Forestier. Der mittlere von ihnen gab ihm die Hand. Der Journalist fragte:

»Haben Sie eine anständige Loge für uns?«

»Aber sicher, für Sie doch immer, Monsieur Forestier.«

Er nahm den Coupon, den sie ihm reichten, stieß die lederummantelte Flügeltür auf, und schon waren sie mitten im Saal.

Eine wie feiner Nebel im Saal hängende Tabakwolke verhüllte die entfernteren Teile, die Bühne und die andere Seite des Saales, und dieser Rauch, der ständig in dünnen weißlichen Fäden von allen Zigarren und Zigaretten, die all diese Leute rauchten, aufstiegen, sammelte sich an der Saaldecke und bildete unter der weiten Kuppel, um den Lüster herum, oberhalb der mit Zuschauern gefüllten Galerie des ersten Stocks, so etwas wie einen wolkenumkränzten Himmel aus Rauch.

Im großzügigen Eingangskorridor, der zu der kreisförmigen Wandelhalle führt, in der das Rudel der aufgedonnerten leichten Mädchen herumpirscht und sich unter die dunkle Masse der Männer mischt, nahm eine Gruppe von Frauen die Neuankömmlinge vor einem der drei Büffets in Empfang, wo drei schwergeschminkte abgetakelte Schönheiten thronten, die Getränke und Liebe feilboten.

Die hohen Spiegel hinter ihnen spiegelten ihre Rücken und die Gesichter der vorbeigehenden Gäste.

Forestier ging durch diese Gruppen hindurch, und als einer, der hier Anrecht auf Rücksicht genießt, kam er schnell vorwärts.

Er wandte sich an eine der Logenschließerinnen: »Zur Loge siebzehn, bitte?«

»Hier lang, bitte.«

Und sie wurden in einer kleinen nach vorne offenen, rot ausgeschlagenen Kammer aus Holz untergebracht, in der sich vier Stühle von gleicher Farbe befanden, die so eng zusammengepfercht waren, daß man sich nur mit Mühe an ihnen vorbeibewegen konnte. Die beiden Freunde nahmen Platz, und rechts und links von ihnen, in langer Reihe von einem Ende der Bühne bis zum anderen, enthielt eine Serie von lauter gleichen Boxen Leute, die genauso wie sie dasaßen und von denen nicht mehr als Kopf und Brust zu sehen war.

Auf der Bühne zeigten gerade drei junge Männer in engen Trikots, ein großer, ein mittelgroßer und ein kleiner, ihre Künste am Trapez.

Als erster trat der große mit schnellen Trippelschritten vor, verbeugte sich lächelnd zum Publikum, und warf eine Kußhand in die Menge.

Unter dem Trikot zeichneten sich die Arm- und Beinmuskeln deutlich ab. Er plusterte seinen Brustkasten mächtig auf, um den etwas vorspringenden Bauch zu kaschieren, und sein Gesicht ließ ein wenig an einen Frisörgesellen denken, denn er hatte einen genau abgezirkelten Mittelscheitel, der seine Haare exakt in zwei gleiche Hälften zerteilte. Er erreichte das Trapez mit einem eleganten Sprung und, indem er sich mit den Händen festhielt, drehte er sich im Kreis und sah aus wie ein in Bewegung versetztes Rad. Dann hielt er sich nur mit den Händen an der Stange fest und streckte eine Zeitlang Arme und Körper kerzengerade horizontal in den freien Raum hinaus.

Danach sprang er auf den Boden, verbeugte sich unter dem Beifall des gesamten Saals erneut mit einem Lächeln und während er auf die Bühnendekoration zuging, präsentierte er bei jedem Schritt seine muskulösen Beine.

Dann trat der zweite, der weniger groß und etwas stämmig war, vor und zeigte seinerseits das gleiche Kunststück, das schließlich auch noch der dritte vorführte, stets vom prasselnden Beifall des Publikums unterstützt.

Aber Duroy schenkte dem, was sich da auf der Bühne abspielte, nicht sonderlich viel Beachtung. Immer wieder drehte er sich um und schaute auf die große, volle Wandelhalle hinter ihm, in der Männer und Frauen auf und ab gingen.

Forestier sagte zu ihm: »Schau dir nur das Volk da im Parkett an. Nichts als gewöhnliche Leute mit Frau und Kind, lauter Hohlköpfe, die hierherkommen, um zu gaffen. In den Logen die begüterten Flaneure von den Boulevards, ein paar Künstler, ein paar halbseidene Damen; und hinter uns die komischste Mischung, die es in ganz Paris gibt. Was sind das für Leute? Da ist alles dabei, alle Berufe, alle Kasten, aber die meisten davon stammen schon aus dem Abschaum der Bevölkerung. Da hast du alle Sorten von Angestellten, Angestellte aus Banken, Kaufhäusern, Ministerien, Reporter, Zuhälter, Offiziere in Zivil, fein herausgeputzte Gecken, die gerade vom Restaurant oder nach der Oper hierhergekommen sind, bevor sie dann noch auf einen Sprung ins italienische Theater wechseln, und dann gibt’s noch eine ganze Menge zweifelhaftester Leute, die jeder Beschreibung spotten. Was die Frauen betrifft, eine einzige Sorte: die Frau, die im Café Américain soupiert, die Dame, die normalerweise einen oder zwei Louis verlangt, hier nach einem Ausländer Ausschau hält, der bereit ist, fünf Louis springen zu lassen, und die ihre Stammkunden informiert, wenn sie frei ist. Man kennt sie alle, schon seit zehn Jahren, sie tauchen Abend für Abend auf, das ganze Jahr hindurch, immer an den gleichen Orten, außer wenn sie mal gerade wieder im Gefängnis von Saint-Lazare sitzen oder in Lourcine ihre Syphilis kurieren lassen.« Duroy hörte ihm nicht mehr zu. Eine dieser Frauen hatte sich mit den Ellbogen an ihrer Loge aufgestützt und schaute ihn unverwandt an. Es war eine üppige Braunhaarige mit weißgeschminktem Körper, mit schwarzen, mit Farbstift auf mandelförmig getrimmten Augen, die von riesigen künstlichen Augenbrauen eingerahmt wurden. Ihre allzu volle Brust spannte die dunkle Seide ihres Kleides; und ihre wie eine Wunde rot angemalten Lippen verliehen ihr eine animalisch-wilde, übertrieben-feurige Note; ihre Aufmachung löste dennoch beim Betrachter eine starke Erregung aus.

Mit dem Kopf rief sie eine ihrer Freundinnen herbei, die gerade vorbeikam, eine vom Typ her Blonde, die ihr Haar rotgefärbt trug; auch sie war mit rundlichen Formen ausgestattet. Und zu der sagte sie, so laut, daß man es weit im Umkreis hören konnte: »Sieh mal, ist der nicht süß; wenn der von mir was wollte, für zehn Louis würde ich nicht nein sagen.«

Forestier drehte sich um und klopfte Duroy schmunzelnd auf den Schenkel: »Hör mal, du bist gemeint. Du kommst aber gut an, mein Lieber. Alle Achtung!«

Der ehemalige Unteroffizier war feuerrot angelaufen; und ganz automatisch befingerte er seine zwei Goldstücke in der Westentasche.

Mittlerweile war der Vorhang auf der Bühne wieder heruntergegangen; das Orchester spielte jetzt einen Walzer.

Duroy sagte: »Wollen wir nicht eine kleine Runde auf der Galerie drehen?«

»Ganz wie du willst.«

Sie verließen ihre Loge und wurden sogleich vom Strom der herumgehenden Gäste mitgeschleift. Gedrängt, geschoben, eingezwängt, hin und her gestoßen, suchten sie sich ihren Weg durch ein Heer von Hüten. Und in Zweiergruppen zirkulierten auch die Mädchen, sie durchquerten unbehindert diese Männermassen; sie glitten an den Ellbogen, den Brüsten, den Rücken so behende vorbei, wie wenn sie, ganz gemütlich, bei sich zu Hause wären; inmitten dieses Stroms von Männern bewegten sie sich wie Fische im Wasser.

Begeistert schwamm Duroy in diesem Strom mit, sog wie im Rausch die von Tabak, männlichen Ausdünstungen und Nuttenparfum geschwängerte Luft in sich hinein. Forestier dagegen schwitzte, bekam Atemnot und mußte immer wieder husten.

»Gehen wir doch mal in den Garten«, schlug er vor.

Und so wandten sie sich nach links und kamen in eine Art Wintergarten, in dem zwei große kitschige Fontänen für eine etwas bessere Atmosphäre sorgten. Unter in Zierkübeln postierten Eiben und Thujen saßen Männer und Frauen an Metalltischen und tranken.

»Noch ein Bier?«

»Aber gern.«

Sie nahmen Platz und schauten in die vorüberflanierende Menge.

Von Zeit zu Zeit ließ sich einer dieser Nachtfalter bei ihnen nieder und fragte mit dümmlichem Lächeln: »Na, wozu laden Sie mich ein, meine Herren?« Und wenn Forestier dann lapidar antwortete. »Zu einem Glas Wasser vom Brunnen«, verzog sie sich wieder und maulte leise: »Geh zum Teufel, Mistkerl!«

Aber auch die vollbusige Braune, die sich gerade an die Loge der beiden Kameraden gelehnt hatte, tauchte wieder auf und stolzierte, bei der dicken Blonden untergehakt, provozierend herum. Das waren zwei Frauenzimmer, die wahrlich bestens zusammenpaßten, ein schönes Pärchen.

Sie lächelte, als sie Duroy wiedersah, als ob ihre Blicke schon intime Geheimnisse ausgetauscht hätten; dann schnappte sie sich einen Stuhl, setzte sich in aller Ruhe vor ihn hin und hieß auch ihre Freundin Platz nehmen; dann bestellte sie mit resolutem Tonfall: »Ober, zwei Grenadines.« Verdutzt sagte Forestier: »Ja, wie hätten wir’s denn hier eigentlich?«

Sie erwiderte: »Es ist dein Freund, der mich anmacht. Das ist wirklich ein hübscher Bursche. Ich glaube, für den würde ich sogar die verrücktesten Sachen machen!«

Duroy war so verschüchtert, daß er kein Wort herausbrachte. Er zwirbelte seinen Schnurrbart wieder auf und brachte nicht mehr als ein einfältiges Lächeln zustande. Der Kellner brachte die Säfte, die die Frauen mit einem Zug austranken. Dann standen sie wieder auf, und die Braune sagte mit einem freundschaftlichen Kopfnicken, während sie ihm gleichzeitig mit ihrem Fächer einen Klaps auf den Arm gab, zu Duroy: »Danke, mein Kater. Sehr gesprächig bist du aber nicht.«

Und mit wackelndem Po zogen sie wieder ab.

Da mußte Forestier lachen. »Sag mal, alter Knabe, ist dir überhaupt klar, wie sehr du bei den Frauen ankommst? Hör zu, das mußt du ausnützen. Das kann dich noch weit bringen.« Er schwieg eine Sekunde, und dann fuhr er im träumerischen Ton derer, die gerade laut denken, fort: »Es immer noch so, daß man es mit ihnen am schnellsten zu etwas bringt.«

Und als Duroy immer noch wortlos dasaß und schmunzelte, fragte er: »Willst du noch bleiben? Ich für meinen Teil geh’ jetzt nach Hause, mir reicht’s.«

Der andere murmelte: »Ja, ich bleib’ noch ein wenig. ’s ist ja noch nicht allzu spät.«

Forestier erhob sich: »Na dann, adieu, bis morgen. Und vergiß nicht! Rue Fontaine, Nummer siebzehn, halb acht.«

»Abgemacht, bis morgen, danke.«

Sie schüttelten sich die Hand, und der Journalist entfernte sich.

Kaum war er verschwunden, da fühlte sich Duroy frei und befühlte von neuem freudig die Goldstücke in seiner Tasche. Dann stand er auf und arbeitete sich, nach allen Seiten spähend, durch die Menge hindurch.

Er hatte sie bald ausgemacht, die zwei Frauen, die blonde und die braune, die immer noch im Stile stolzer Bettlerinnen durch den Strom der Männer segelten.

Er ging schnurstracks auf sie zu, aber als er sie erreicht hatte, verließ ihn sein Mut wieder.

Die Braune sagte zu ihm: »Na, hast du jetzt die Sprache wiedergefunden?«

Er stammelte nur: »Verflixt«, ohne irgendein anderes Wort herauszubringen.

Eine Weile standen sie so da, alle drei, wie angewurzelt, brachten so den Betrieb in der Wandelhalle zum Stehen, langsam bildete sich um sie schon ein kleiner Menschenauflauf.

Da fragte sie ihn abrupt: »Na, kommst du mit zu mir?«

Zitternd vor Begierde antwortete er dreist: »Ja, aber mehr als einen Louis habe ich nicht in der Tasche.«

Sie lächelte gelassen: »Ach, das macht nichts.«

Und zum Zeichen, daß er nun ihr gehörte, nahm sie ihn beim Arm.

Als sie aus dem Folies-Bergère hinausgingen, rechnete er sich aus, daß er sich mit den übrigen zwanzig Francs noch gut und gern einen Abendanzug für den nächsten Tag leihen konnte.