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Abt Johannes Eckert

Die Kunst, sich
RICHTIG WICHTIG
zu nehmen

Führungskompetenz aus dem Kloster

Kösel

Copyright © 2012 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag und Umschlagmotiv: Monika Neuser, München

ISBN 978-3-641-09013-5

Weitere Informationen zu diesem Buch und unserem gesamten lieferbaren Programm finden Sie unter

www.koesel.de

stab.tif

Achte auf dich selbst

Sich richtig wichtig zu nehmen, scheint manchen Führungskräften nicht schwerzufallen. Sie wissen um ihre Macht und lassen sie andere spüren. Selbstbewusst treten sie auf, treffen resolut Entscheidungen, lassen sich hofieren und zeigen auch bei anderen Gelegenheiten, wer der Chef ist. Um all das soll es in diesem Buch nur indirekt gehen, gleichsam als Negativfolie für einen verantwortungsvollen Führungsstil.

Sich richtig wichtig zu nehmen – der Titel ist doppeldeutig. Denn manchen, die unumstritten wichtig sind, fällt es im Blick auf ihre hohe Verantwortung schwer, sich nicht ständig hintanzustellen, sondern sich eben richtig wichtig zu nehmen. Ohne große Zwischenräume folgt ein Termin auf den anderen. Die Zeit ist stets knapp bemessen, sodass kaum noch Raum für Durchatmen, Nachdenken, ja sogar zum Essen bleibt. Der Arbeitstag beginnt recht früh und endet erst spät in der Nacht. Auch ins Wochenende oder in den Urlaub wird Arbeit mitgenommen, es wird ständige Erreichbarkeit erwartet, das Handy bleibt angeschaltet und E-Mails werden regelmäßig gecheckt. Der permanente, hohe Verantwortungsdruck, der auf Führungspersönlichkeiten lastet, führt häufig dazu, dass Familie, private Interessen und vieles andere zu kurz kommen. Aber als bewährte und verlässliche Führungskraft gehört es schlichtweg dazu, manchen Druck auszuhalten und gerade Stresssituationen souverän zu meistern, auch wenn der Körper andere Signale aussendet. Häufig werden jedoch diese Signale nicht wirklich ernst genommen, denn unter dem permanenten Anforderungsdruck der Alltagsgeschäfte bleibt nur wenig Zeit, auch noch an sich selbst zu denken. Die Liste der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen!

Im Blick auf die Fülle von Anforderungen und Erwartungen ist es eine hohe Kunst, sich als Führungskraft bewusst zu machen, dass man bei aller Verantwortung für andere und anderes auch Selbstverantwortung hat. Man muss sich daher im guten Sinn richtig wichtig nehmen!

»Achte also darauf, dass du dir – ich will nicht sagen, immer, nicht einmal häufig, doch dann und wann – Zeit für dich selbst nimmst! Zieh auch du selbst Nutzen aus dir, zusammen mit den vielen anderen oder zumindest nach ihnen!« (641)

Diese eindringlichen Worte sind nicht einem modernen Lebensratgeber entnommen, der stressgeplagten Managern von Zeit zu Zeit eine Auszeit empfiehlt. Sie stammen von einem Mönch des 12. Jahrhunderts: Bernhard, Abt von Clairvaux (1090–1153), der aus eigener Erfahrung wusste, wie schwer es ist, sich richtig wichtig zu nehmen.

In großer Sorge schreibt er diese Zeilen seinem Mitbruder Bernhard Paganelli (+ 1153), der 1145 überraschend zum Papst gewählt wird und sich Eugen III. nennt.

Aufgrund des umfangreichen Anforderungsprofils steht Eugen III. in Gefahr, ganz und gar aufgerieben zu werden. Wie jede Führungskraft in Top-Position leidet auch der neue Papst unter dem immensen Verantwortungsdruck. Allzu vieles lastet auf ihm allein. Wenn er nicht besser auf sich selbst achtet, droht ihm über kurz oder lang ein ›Burn-out‹. Das ist die Sorge seines Mentors Bernhard.

Diese bedrückende Erfahrung dürfte vielen bekannt sein. Doch was lässt sich dagegen tun, wenn man sich im Hamsterrad vielfältiger und umfangreicher Verantwortung befindet? Ist nicht gerade dann unabdingbar gefordert, sich selbst hintanzustellen?

Als äußerst aktiver und agiler Mönch kennt Bernhard die Versuchung allzu gut, sich für eine Aufgabe ganz aufzugeben. Daher sorgt er sich als früherer Abt und Ziehvater um seinen Mitbruder. Aus diesem Grund entschließt sich Bernhard, dem neu gekürten Papst fünf Bücher zu schreiben, die er mit De consideratione – Über die Beschauung betitelt. In ihnen legt er umfangreich dar, für welche Bereiche Eugen als Papst Verantwortung trägt, auf was besonders zu achten ist, um nichts, das seiner Verantwortung anvertraut ist, aus dem Blick zu verlieren. Als erfahrener Mentor gibt er seinem ehemaligen Zögling wertvolle Tipps, wie dieser seine Führungsaufgabe sowohl souverän als auch effektiv ausführen kann, ohne dabei selbst auszubrennen oder aufgerieben zu werden. Letztlich ist es eine umfassende Anleitung, sich als Führungskraft weder durch Selbstüberschätzung noch durch Selbstunterschätzung falsch zu positionieren, sondern sich richtig wichtig zu nehmen.

Dabei spricht Bernhard aus seinem eigenen, reichen Erfahrungsschatz, war er doch selbst ein äußerst engagierter Mönch, der sich wie kein zweiter in fast alle politischen und kirchlichen Entscheidungsprozesse seiner Zeit einmischte. Ob es um Streitigkeiten zwischen Adligen ging, um anstehende Bischofsernennungen, um Vermittlung zwischen den Gegenpäpsten oder um die radikalen Ketzerbewegungen und vieles andere mehr – stets meldete sich Bernhard zu Wort, durchreiste ganz Europa, spann Fäden und nahm Einfluss auf die Geschicke seiner Zeit. Wir würden heute von einem viel gefragten, ruhelosen Manager sprechen, der von sich ganz und gar überzeugt ist und doch bisweilen an seine Grenzen stößt beziehungsweise geführt wird.

Bei all seinen umfangreichen und zeitraubenden Aktivitäten ist er immer Mönch und Abt seines Heimatklosters Clairvaux geblieben, in das er sich von Zeit zu Zeit zurückzog. Nicht von ungefähr bezeichnet sich Bernhard daher in einem Brief, den er an einen befreundeten Mönch schreibt, als ›Chimäre seiner Generation‹, die ein Mischwesen aus Löwe, Ziege und Schlange darstellt:

»Ich verhalte mich weder wie ein Kleriker noch wie ein Laie. Das Leben eines Mönches habe ich schon lange abgelegt, nicht den mönchischen Habit. Ich will euch nichts weiter über mich schreiben, was ich treibe, worum ich mich bemühe, welche Schwierigkeiten ich in der Welt habe, ja, in welche Abgründe ich geworfen bin.« (Ep 250,4 = VIII,147,2)

Nicht anders ergeht es Führungskräften heute, die unterschiedlichen Rollenanforderungen gerecht werden müssen. Auch sie sind oft genug Mischwesen, wenn von ihnen einerseits kühne Entschlossenheit, andererseits umfängliche Sorge erwartet werden und sie oft genug vor scheinbar unlösbaren Schwierigkeiten stehen. Freilich sprechen wir in diesem Zusammenhang heute lieber von Herausforderungen und Chancen!

Die umfangreichen Ausführungen Bernhards haben nichts an Aktualität verloren, sodass sie bei Managerseminaren im Kloster Andechs als Impulsgeber verwendet werden. Die Teilnehmer erleben dabei, wie zeitgemäß die Themenbereiche sind, die Bernhard anspricht. Sie sind überrascht, wie ein Mönch des 12. Jahrhunderts für sie zum Mentor werden kann. Bernhard weiß aus eigener Erfahrung, wovon er spricht. Hier geht es um echte Führungskompetenz, die der Abt von Clairvaux noch nach 900 Jahren vermittelt. Sowohl seine realistische Sicht der Dinge als auch sein Einfühlungsvermögen in die Situation eines Topmanagers wecken bei den Teilnehmern innere Betroffenheit, sodass sie sich in Papst Eugen wiederfinden können. Bernhard spricht sie an – im wahrsten Sinn des Wortes –, deshalb haben die Seminarteilnehmer immer wieder die Bitte geäußert, die Texte zu veröffentlichen und sie zeitgemäß zu interpretieren.

Der Abt von Clairvaux wird so mit seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz in diesem Buch zum Mentor und Jahresbegleiter, der Woche für Woche einen Impuls zur Standortbestimmung gibt und dadurch Führungskompetenz aus dem Kloster vermittelt, sodass mit seiner Hilfe die Kunst, sich richtig wichtig zu nehmen, gelingen kann.

Damals wie heute: Umbrüche, Krisen, Reformen ...

Bernhard lebte in einer Übergangszeit, die mit Umbrüchen, Veränderungen, Krisen und Reformbestrebungen in vielem unserer Zeit gleicht. So war auch die Schwelle vom Frühmittelalter zum Hochmittelalter durch einen tief greifenden politischen, gesellschaftlichen und damit auch kirchlichen Umbruch geprägt. Einflussreiche Fürsten, Kirchenführer und Stadtoberhäupter befehdeten sich unaufhörlich. Die Christenheit war durch ein Schisma getrennt, da sich der römische Adel und das Kardinalskollegium nicht auf einen gemeinsamen Papstkandidaten einigen konnten. Schon seit dem 8. Jahrhundert gab es Gegenpäpste und ihre Parteigänger, die eher am Machterhalt als am geistlichen Wachstum der Menschen Interesse zeigten.

In den städtischen Kathedralschulen entwickelte sich eine neue Art theologischer Denkweise, die Scholastik. Mithilfe der Vernunft wollte sie den Glauben reflektieren und verständlich machen. Auch dies führte zu heftigen theologischen Auseinandersetzungen.

Radikale Reformbewegungen forderten die Rückkehr der reichen und machtbewussten Kirche zum apostolischen Ideal der Armut. Rasch wurden diese Eiferer von amtlicher Seite als Ketzer bezichtigt und durch erbarmungslose Verfolgung bekämpft.

Auch im Mönchtum entstanden schon im 11. Jahrhundert Reformbewegungen – so zum Beispiel in Cluny –, die eine Rückkehr zum Ideal der Benediktsregel forderten. Doch mit der Zeit waren auch diese Reformer bequem geworden, sodass als Korrektiv neue Orden entstanden, wie die der Kartäuser und der Prämonstratenser.

Es waren zunächst Mönche im burgundischen Molesme, die zur asketischen Strenge der Regel Benedikts aus dem 6. Jahrhundert zurückkehren wollten. Im nahen Citeaux gründeten sie ein Reformkloster. Es sollte zur Mutterabtei der bedeutendsten Reformbewegung des 12. Jahrhunderts werden, die bald ganz Europa erfasste und zur Ausbildung des Zisterzienserordens führte.

Erfolgsrezept dieses benediktinischen Zweigordens war die strikte Rückkehr zur bedingungslosen Einhaltung der Regel Benedikts. Die Mönche sollten wieder selbst arbeiten in Haus, Garten und Feld, um durch ihre Erzeugnisse ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Schenkungen und Zehnten dagegen, wie in anderen Klöstern üblich, durften nicht mehr angenommen werden. Ein einfacher wollener, grauer Mönchshabit kleidete sie, sodass sie sich von den Mönchen im benachbarten Cluny, die vornehm schwarz gekleidet waren, schon rein optisch unterschieden. Aber auch der Genuss von Fleisch wurde, wie es die Benediktsregel vorsieht, streng verboten, sodass sich in den Zisterzienserklöstern die Fischzucht hoch spezialisiert entwickeln konnte. Strikte Einhaltung der Klausur sowie eine schlichte Liturgie prägten das gemeinschaftliche Leben.

Bewusst wurden neue Klöster nur in unwirtlichen Gegenden gegründet, gern in Tälern. Für die Mönche hieß es zunächst einmal, Wälder zu roden, Sümpfe trockenzulegen und das Land durch kräftezehrende Arbeit zu kultivieren. Künstlerische Ausschmückungen von Kirchen galten als Abgötterei und waren verpönt. Das Erfolgsrezept könnten wir mit dem Slogan ›Back to the roots! – Zurück zu den Wurzeln!‹ beschreiben. Bestimmende Größe und charismatischer Katalysator dieser Erneuerungsbewegung war Bernhard von Clairvaux.

Zerreißprobe zwischen aktivem und zurückgezogenem Leben ...

Bernhard trat ca. 1112 als junger Adliger im Alter von 22 Jahren mit 30 Gefährten in das burgundische Reformkloster Citeaux ein. Unter seinen Gesinnungsgenossen befand sich mit Ausnahme seines jüngsten Bruders fast die ganze Verwandtschaft. Der Bruder kam erst später mit dem Vater nach.

Der beeindruckende Klostereintritt Bernhards ist in der Ordensgeschichte bis heute einmalig und zeigt, welch charismatische Führungspersönlichkeit er gewesen sein muss, der andere für seine Ideen zutiefst begeistern sowie lebensbestimmend motivieren konnte.

Im Blick auf den ›Masseneintritt‹ würden wir heute von einer ›feindlichen Übernahme‹ sprechen. So kam es auch bald, drei Jahre später, im Jahr 1115, schon zur Neugründung des Klosters Clairvaux, dessen Gründerabt Bernhard im Alter von 25 Jahren wurde. Zeit seines Lebens ist er Abt von Clairvaux geblieben. Immer wieder hat er Bischofsernennungen, die ihm angetragen wurden, abgelehnt. In der Kunst wurde er daher mit der Mitra, der Bischofsmütze, zu Füßen dargestellt. In den 38 Jahren, in denen Bernhard bis zu seinem Tod das Kloster Clairvaux als Abt leitete, gründete er von dort aus 69 ›Tochterklöster‹, 75 ›Enkelklöster‹ und 22 ›Urenkelklöster‹, also insgesamt 166 neue Niederlassungen, wie wir die Gründungen heute bezeichnen würden. Dazu gehörten auch bestehende Klöster, die sich durch die Vermittlung Bernhards der Reformbewegung von Citeaux anschlossen.

Binnen weniger Jahre erstreckte sich das zisterziensische Netzwerk über den ganzen Kontinent von Portugal bis Polen, von Nordengland bis Sizilien. Die Reformbewegung von Citeaux war zum global agierenden Konzern geworden, der an allen Orten mit einer Niederlassung präsent war. Dabei war es der Ordensleitung wichtig, dass die einzelnen Klöster eng miteinander verbunden blieben. Für die damalige Zeit, die nicht über die heutigen Verkehrs- und Kommunikationsmöglichkeiten verfügte, war dies eine Meisterleistung.

Im Schnitt gründete Bernhard alle drei Monate ein Kloster oder gliederte ein bestehendes dem Verband von Citeaux an, sodass wir von einem überaus erfolgreichen ›Unternehmer‹ und einer beeindruckenden charismatischen ›Führungspersönlichkeit‹ sprechen könnten. Mit seinen 166 Filialkonventen bildete Clairvaux knapp die Hälfte der damals 344 bestehenden Zisterzienserklöster mit etwa 11.600 Mitgliedern. Nicht zu Unrecht wird das 12. Jahrhundert ›Bernhardinisches Jahrhundert‹ genannt.

Doch Bernhard konzentrierte sich keineswegs nur auf seinen Orden, sondern setzte sich bedingungslos für eine umfassende Reform von Kirche und Gesellschaft ein – selbstredend nach seinen Überzeugungen und Vorstellungen. Ruhelos bereiste er den Kontinent, stritt mit Königen und Fürsten, Päpsten, Bischöfen und Äbten, besuchte Klöster, suchte die Konfrontation mit bedeutenden Theologen und Professoren, knüpfte Verbindungen und Netzwerke und bestach durch seine großartige Redekunst. Fast 500 Briefe von ihm sind erhalten, dazu noch ein umfangreiches theologisches Werk mit zahlreichen Traktaten und Predigten. Für den ebenfalls neu entstandenen Templerorden schrieb er die Ordensregel. Von einem großen Selbstbewusstsein geprägt, wusste er Macht bewusst einzusetzen. Zweifellos war er die bestimmende Autorität seiner Zeit.

Dabei lebte er als Mönch und Staatsmann in der Spannung von beschaulichem und aktivem Leben, die für ihn bisweilen zur Zerreißprobe werden konnte. Seine persönliche Frömmigkeit zeichnete sich durch eine innige Christusbeziehung aus, die ihm – trotz aller Belastung und Ruhelosigkeit – Kraft gab. Auch darin zeigt sich sein überaus temperamentvoller Charakter.

Aufgrund seiner glühenden Rhetorik wurde er Jahrhunderte später bei seiner Erhebung zum Kirchenlehrer mit dem Titel ›doctor melifluus‹ – ›honigtriefender Lehrer‹ geehrt. Auch aufgrund seines immensen Fleißes, der dem der Bienen gleichkam, erhielt er diesen Ehrentitel.

Freilich ist Bernhard kein unumstrittener Heiliger. So predigte er erfolgreich den II. Kreuzzug, wobei er sich deutlich gegen die damit verbundenen Judenverfolgungen in den Städten des Reiches aussprach. Er konnte die Massen für dieses abenteuerliche Unternehmen begeistern, das dann später kläglich scheitern sollte.

Unerbittlich verfolgte er die Albingenser, eine Reformbewegung in Südfrankreich, die von kirchlicher Seite als Ketzer verurteilt wurden, und polemisierte, wo er nur konnte, wortgewaltig gegen sie. Er suchte die Konfrontation und wählte bisweilen zweifelhafte Mittel wie Intrigen und Verleumdungen, um Gegner wie den großen Gelehrten an der Pariser Universität Petrus Abelard (1079–1142), dem Bernhard theologisch nicht gewachsen war, ins Hintertreffen zu bringen.

Was ein Papst erwägen sollte ...

1145 kam es zur überraschenden Wahl Eugens III. Zunächst war Bernhard darüber nicht sehr erfreut, da er Eugen für dieses hohe Amt für nicht ausreichend qualifiziert und von zu geringem Format hielt. Zugleich aber entdeckte Bernhard mit seinem ausgeprägten machtpolitischen Instinkt, welche Chancen ihm nun für seine Reformideen eröffnet werden könnten. Durch den Papst konnte er noch besser und mit höchster Autorität die Geschicke seiner Zeit mitbestimmen.

Daher ist sein Werk De consideratione – Über die Erwägung wie folgt zu beurteilen: Zum einen wurde es aus echter Sorge geschrieben und sollte Eugen helfen, seiner hohen Verantwortung gerecht zu werden. Zum anderen bot es Bernhard die Möglichkeit, direkt auf den Papst Einfluss zu nehmen.

Schon der Titel verrät, dass Bernhard strukturiert Orientierung geben will. ›Considerare‹ heißt ›betrachten, beschauen, überlegen, erwägen, bedenken, beherzigen‹. Etymologisch kommt es wohl aus der Seemanns- oder Auguralsprache. ›Con-sidus‹ – ›mit den Sternen‹, die dem Seemann bei nächtlicher Fahrt Orientierung geben, verirrt man sich nicht, sondern gelangt sicher ans Ziel. Nichts anderes ist Bernhards Anliegen mit seinen Empfehlungen, die er Eugen ans Herz legt.

Vier Verantwortungsbereiche

Dabei hat Bernhard sein Werk gut strukturiert. Nach einer Art Bestandsaufnahme, also die Achtsamkeit für sich selbst, sind es für ihn vier Bereiche, die der Papst als oberster Hirte in den Blick nehmen und immer wieder erwägen soll.

Zunächst sich selbst: Wer ist er? Was ist er? Wie ist es dazu gekommen? Die ausführliche, kritische Selbstbesinnung als Ausdruck der Eigenverantwortung steht also am Beginn der Erwägungen Bernhards, die er dem Papst mit eindringlichen Worten ans Herz legt. Eugen steht an erster Stelle: Er soll sich selbst richtig wichtig nehmen!

Dann sollte der Papst reflektieren, wer unter ihm steht, für wen er Verantwortung trägt. Auch hier nimmt Bernhard alle Bereiche kritisch unter die Lupe.

Als dritte Perspektive empfiehlt der Abt von Clairvaux den wachsamen Blick auf das Umfeld, also wer neben dem Papst steht und mit ihm Verantwortung trägt. Äußerst realistisch warnt Bernhard vor unguter Einflussnahme und vor Günstlingswirtschaft.

Schließlich darf der Papst nicht vergessen, dass er auch sich selbst zu verantworten hat. Als vierten Schritt gilt es daher, darauf zu achten, wer über ihm steht, wem er sich zu verantworten hat. In all seiner Geschäftigkeit sollte Eugen nie den Blick auf den Schöpfer und Vollender vergessen.

Diese vier Verantwortungsbereiche behandelt Bernhard in seinem Werk De consideratione. Manche Ausführungen mögen heute überholt sein. Andere dagegen haben nichts von ihrer Aktualität verloren, sodass sie nach wie vor Führungskräften wertvolle Impulse zur Selbstreflexion geben können. So ist Bernhard schon vielen Verantwortungsträgern zum wertvollen Ratgeber und Mentor geworden.

Dank und Ausblick

In Dankbarkeit sei dieses Buch den Verantwortungsträgern des Bauunternehmens Josef Hebel gewidmet, die nunmehr seit 16 Jahren sich dem ›Wertemanagement in der Bauwirtschaft‹ verpflichtet haben und seitdem jährlich mit ihren Lebenspartnern zu einem Reflexionstag ins Kloster Andechs kommen. Gemeinsam durften wir in all diesen Jahren aus dem reichen Schatz christlicher Ethik und benediktinischer Spiritualität schöpfen, sodass letztlich auch dieses Buch entstehen konnte.

Von Herzen sei an dieser Stelle auch Frau Michaela Breit vom Kösel-Verlag gedankt, die mit Rat und Tat liebenswürdig und kompetent dazu motivierte, die Führungskompetenz Bernhards in einem Kalenderbuch gleichsam häppchenweise zu erschließen.

900 Jahre nach Bernhards spektakulärem Klostereintritt erscheint nun dieses Buch. In der intensiven Beschäftigung mit seinem Werk De consideratione ist mir der Abt von Clairvaux als Mensch und Mitbruder gerade auch in seinen Widersprüchlichkeiten und seinem Ringen nähergekommen. In seinen Ausführungen wird einerseits spürbar, wie sehr sich Bernhard nach dem Ideal sehnt und dieses immer wieder einfordert. Andererseits verliert er dabei nie die Realität aus dem Blick und bietet keine einfachen Patentrezepte als Lösungsvorschläge an. Bernhard bleibt auch im Blick auf seine Möglichkeiten Realist, der aus eigener Erfahrung weiß, wie schwer es ist, umfassender Verantwortung gerecht zu werden, eben auch für sich selbst. Das bedeutet tagtäglich neu anzufangen, Hand anzulegen und an sich zu arbeiten, damit die Kunst ansatzweise gelingt, sich nicht auf Kosten anderer oder seiner selbst, sondern sich zum Segen richtig wichtig zu nehmen, ut in omnibus glorificetur Deus (RB 57,9)!

Ein Jahresbegleiter

Auf die 52 Kalenderwochen des Jahres wurden ausgewählte Texte Bernhards (Sämtliche Werke, herausgegeben von Gerhard B. Winkler; siehe Quellenverzeichnis, S. 182) aufgeteilt. Sie entsprechen der Abfolge des ursprünglichen Werkes. Im ersten Teil (bis S. 71) thematisiert Bernhard im Ursprungstext die vielfältigen Belastungen des Papstes. In den folgenden vier Teilen (S. 73–181) werden die vier Verantwortungsbereiche beleuchtet.

Nach jedem Abschnitt gibt es aktualisierende Gedanken zur Vertiefung, die gleichsam den Brückenschlag ins Heute erleichtern sollen.

Da Samstag und Sonntag vermutlich mehr Zeit zur Verfügung steht, wird vorgeschlagen, die beiden einleitenden Texte an diesen beiden Tagen erstmals zu lesen. Zur Vertiefung und Vergegenwärtigung kann selbstredend die Lektüre jeden Tag wiederholt werden.

Je eine Impulsfrage dient dann zur täglichen Reflexion von Montag bis Samstag. Für den Sonntag gibt es einen Vorschlag, etwas für das eigene Wohl zu tun.

So hilft Bernhard über das Jahr hinweg, vieles in den Blick zu nehmen, das nicht nur ein Papst erwägen sollte, und wird zum erfahrenen Mentor in der Kunst, sich richtig wichtig zu nehmen.