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PD Dr. Kay Peter Jankrift, geboren 1966, studierte mittlere und neuere Geschichte, Semitische Philologie und Islamwissenschaft; 1995 Promotion; 1997-2000 Lehrbeauftragter für Mittelalterliche Geschichte Universität Düsseldorf, seit 1998 Lehrbeauftragter für Mittelalterliche Geschichte in Münster. Seit 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart; 2002 Habilitation; seit Januar 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Zahlreiche Veröffentlichungen zur mittelalterlichen Sozial-, Kultur- und Medizingeschichte, zur Geschichte der Kreuzzüge und geistlichen Ritterorden sowie zur jüdischen Geschichte.

Zum Buch

Die großen Ärzte im Porträt

Seuchen, gegen die die Menschheit Jahrhunderte lang vergeblich kämpfte, sind seit der Entdeckung ihrer Erreger heilbar geworden. Dieser Band folgt in anschaulichen Porträts den Spuren der Frauen und Männer, deren Wirken die Entwicklung der Medizin von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert hinein geprägt hat. Über Galen von Pergamon, Avicenna und Hildegard von Bingen spannt sich der Bogen bis zu dem Nobelpreisträger Gerhard Domagk.

Kay Peter Jankrift

Die großen Ärzte im Porträt

Kay Peter Jankrift

Die großen
Ärzte im Porträt

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012

ISBN: 978-3-8438-0229-1

www.marixverlag.de

GEWIDMET

all den Ärztinnen und Ärzten, Pflegerinnen und Pflegern, die sich täglich nach Kräften um das Wohl ihrer Patienten bemühen, ohne je berühmt zu werden.

INHALT

Einführung

Stationen in der Geschichte der Medizin

Von Hippokrates bis Sir Alexander Fleming

HIPPOKRATES VON KOS (ca. 460–ca. 375 v. CHR.)

Inbegriff des idealen Arztes

GALEN VON PERGAMON (129–199/202/216)

Medizinische Autorität über fünfzehn Jahrhunderte

RHAZES. A BAKR MUimageAMMAD IBN ZAKARĪYĀ AR-RĀZĪ (865–925)

An den Quellen des Wissens

HALY ABBAS. ‘ALĪ IBN AL-‘ABBĀS AL-MAĞŪSĪ (Mitte des 10. Jh.)

Das königliche Buch

AVICENNA. A ‘ALĪ AL-imageUSAIN IBN ‘ABD ALLĀH IBN SĪNĀ AL-QĀNŪNĪ (980–1037)

Fürst der Ärzte

ABULCASIS. AL-QĀSIM imageALĀF IBN AL-‘ABBĀS AZ-ZAimageRĀWĪ (gest. um 1010)

»Behandlung mit der Hand« oder die Blüte der arabischen Chirurgie

MOSES MAIMONIDES. A ‘AMRĀN MŪSĀ IBN ‘UBAID ALLĀH IBN MAIMŪN (1135/1138–1204)

Der bedeutendste jüdische Heilkundige und Religionsphilosoph des Mittelalters

HILDEGARD VON BINGEN (1098–1179)

Prophetissa teutonica – Die teutonische Seherin

ARNALD VON VILLANOVA (ca. 1240–1311)

Magie, Medizin und Mystik

GUY DE CHAULIAC (Ende 13. Jh.–1368)

Die »Große Chirurgie«, der Schwarze Tod und der Leib des Papstes

GIROLAMO FRACASTORO (ca. 1478–1553)

Franzosenkrankheit, der Hirte Syphilos und das Quecksilber

PARACELSUS. THEOPHRASTUS BOMBASTUS VON HOHENHEIM (1499–1541)

Ein Heilkundiger im Kreuzfeuer seiner Zeitgenossen

AMBROISE PARÉ (1510–1590)

Schusswunden, Amputationen und ein mitfühlender Chirurg

ANDREAS VESALIUS (1514–1564)

Galen auf dem Seziertisch

WILLIAM HARVEY (1578–1657)

Die Entdeckung des Blutkreislaufs

JOHANN VESLING (1598–1649)

Ein Westfale im anatomischen Theater von Padua

THOMAS SYDENHAM (1624–1689)

»Der englische Hippokrates«

FRIEDRICH HOFFMANN (1660–1742)

»Hoffmannstropfen« und die Maschine Mensch

HERMANN BOERHAAVE (1668–1738)

Der bedeutendste Arzt der Aufklärung

DOROTHEA CHRISTIANE ERXLEBEN (1715–1762)

Die erste promovierte Ärztin in Deutschland

EDWARD JENNER (1749–1823)

Kampf gegen die Pocken

CHRISTIAN FRIEDRICH SAMUEL HAHNEMANN (1755–1843)

Begründer der Homöopathie

IGNAZ PHILIPP SEMMELWEIS (1818–1865)

Streiter wider das Kindbettfieber

RUDOLF VIRCHOW (1821–1902)

Der Blick auf die Zelle

LOUIS PASTEUR (1822–1895)

Saurer Wein und tollwütige Hunde. Den Erregern auf der Spur

LORD JOSEPH LISTER (1827–1912)

Operationen ohne Infektionen

ROBERT KOCH (1843–1910)

Vater der Mikrobiologie

EMIL VON BEHRING (1845–1917)

»Retter der Kinder und Soldaten«

PAUL EHRLICH (1854–1915)

Immunologie, Syphilis und Salvarsan

SIGMUND FREUD (1856–1939)

Die Welt der Träume

ALBERT SCHWEITZER (1875–1965)

Ein Friedensnobelpreisträger im afrikanischen Dschungel

SIR ALEXANDER FLEMING (1881–1955)

Penizillin, die unbeachtete Sensation

Die Natur ist der größte Arzt.

(RHAZES, 865-925)

Ich darf mich keinem Menschen,
der glaubt, dass ich ihm helfen kann,
und sei es auch nur mit einem Autogramm,
versagen.
Vielleicht empfängt er davon einmal
in einer dunklen Stunde Ermutigung
.

(ALBERT SCHWEITZER, 1960)

EINFÜHRUNG

Die Sorge um Gesundheit ist so alt wie die Menschheit selbst. Jede Generation bringt ihre eigenen Heilkundigen hervor, die sich nach den Kenntnissen ihrer Zeit darum bemühen, Krankheiten zu behandeln und Schmerzen zu lindern. Dabei hat die Medizin im Laufe der Jahrhunderte große Fortschritte gemacht. Viele Infektionskrankheiten, an denen unsere Vorfahren unweigerlich starben, haben ihre Schrecken dank vorbeugender Impfungen und Antibiotika heute verloren. Doch der Kampf der Medizin geht unaufhörlich weiter. Neue Krankheiten wie AIDS oder Ebola stellen die Mediziner vor neue Herausforderungen. Noch immer sterben jährlich Tausende an den Folgen von Krebsleiden, ohne dass die medizinischen Kenntnisse der Gegenwart ausgereicht hätten, dem Tod einen mehr oder weniger langen Aufschub abzutrotzen. Dies sollte man stets bedenken, bevor man nur allzu schnell die Heilkunde früherer Epochen als »rückständig« bewertet. Denn wie auch heute noch haben Mediziner auf der Basis jeweils zeitspezifischer Lehren und Kenntnisse gewirkt. Wie werden die Menschen des 23. Jahrhunderts über unsere Medizin denken?

Dass sich die Medizin weiterentwickelt hat, verdankt sie wie jede Disziplin jenen besonderen Vertreterinnen und Vertretern des Faches, die die Grenzen des Bekannten mit ihren Ideen erfolgreich zu erweitern versuchten. Dabei stießen sie auf manche Widerstände. So wie jener Andreas Vesalius (1514–1564), der die spätantiken Lehren des Galen von Pergamon (129–199/202/216), die über mehr als ein Jahrtausend unangefochten die Grundlagen der Medizin bildeten, im wahrsten Sinne des Wortes auf den Seziertisch zerrte. Beide werden uns im Laufe dieses Buches noch begegnen. Oder die ersten Vertreter der Mikrobiologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die ihre Erkenntnis, nur unter dem Mikroskop sichtbare Kleinstlebewesen lösten Infektionskrankheiten wie etwa Typhus oder Cholera aus, anfangs gegen so bedeutende Autoritäten wie Rudolf Virchow (1821–1902) verteidigen mussten. Noch 1848 hatte Virchow bei der Untersuchung einer »Typhus«-Epidemie in Oberschlesien die Ansicht vertreten, dass die Krankheit offenbar nicht ansteckend sei. Er hat seinen Platz in diesem Werk wie auch die Begründer der modernen Bakteriologie und Mikrobiologie, Robert Koch (1843–1910) und Louis Pasteur (1822–1895).

Dabei war Pasteur Chemiker und kein Arzt. Doch hat er die Entwicklung der modernen Medizin durch seine Entdeckungen in so herausragender Weise geprägt und erscheint in seinem Wirken so mit dem Robert Kochs verbunden, dass seine Präsenz hier mehr als gerechtfertigt erscheint. Die Person Pasteurs führt zugleich zu der berechtigten Frage nach den Auswahlkriterien für das vorliegende Werk. Es vermag keine Vollständigkeit zu bieten und kommt deshalb nicht ohne schmerzliche Einschnitte aus. Bei der Frage nach den »berühmtesten« Ärzten kommt man zunächst an jenen Personen nicht vorbei, deren Namen auch außerhalb von medizinhistorischen Fachkreisen weithin bekannt sind, so wie der legendäre Hippokrates von Kos (ca. 460–ca. 375 v. Chr.), Paracelsus (1499–1541), Robert Koch, Paul Ehrlich (1854–1915) oder Emil von Behring (1845–1917). Sie erscheinen auf Straßenschildern, zierten D-Markscheine, finden sich als Namen von Krankenhäusern und Forschungseinrichtungen oder spielen die Hauptrolle in Filmen. Dann folgen all jene Mediziner zumeist früherer Epochen, die heutigen Zeitgenossen weitgehend unbekannt sind, doch in ihrer eigenen Lebenswelt als Koryphäen galten. Stellvertretend hierfür steht etwa der im niederländischen Leiden wirkende Hermann Boerhaave (1668–1738), der zu den größten Ärzten des 18. Jahrhunderts zählt. Die weitere Auswahl wurde geleitet von der Absicht, Entwicklungsstränge der Medizin von der Antike bis in die jüngere Zeit hinein aufzuzeigen und jede Epoche durch repräsentative Vertreter aus möglichst unterschiedlichen geographischen Räumen darzustellen. Christliche, jüdische und muslimische Ärzte finden sich in dem Band nebeneinander wieder. Dass die männlichen Vertreter der Medizin dabei unverkennbar in der Überzahl sind, liegt allein in der Geschichte begründet.

Ist für Frauen ein Medizinstudium heutzutage etwas Selbstverständliches geworden, so wurde ihnen der Zugang zu medizinischer Bildung wie den Universitäten jahrhundertelang weitgehend vorenthalten. In England beispielsweise wurden Frauen zwar im Jahre 1878 zum Medizinstudium an der Universität London zugelassen, doch blieb ihnen ein Studium an den führenden Bildungsinstitutionen wie Oxford oder Cambridge auch weiterhin verwehrt. In Frankreich war der Besuch einer Privatschule Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums, so dass der Frauenanteil unter den Studierenden selbst nach ihrer allgemeinen Zulassung im Jahre 1863 gering blieb. In Deutschland mahlten die Mühlen noch langsamer. Noch 1893 sperrte sich der Reichstag gegen eine Zulassung von Frauen zum Studium, die in einer Petition mit 60.000 Unterschriften gefordert worden war. Heidelberg und Freiburg waren im Jahre 1900 die ersten deutschen Universitäten, die Studentinnen ihre Tore öffneten. Berlin folgte erst 1908. Unter solchen Umständen gelang es zuvor nur Einzelnen, die hohen Hürden in der viel stärker als heute durch Männer dominierten Lebenswelt zu überwinden und ärztliche oder wundärztliche Tätigkeit auszuüben. So wie Dorothea Christiane Erxleben (1715–1762), die im Jahre 1754 als erste Frau in den deutschsprachigen Ländern in Medizin promovierte. Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein sind es aber kaum mehr als die Namen heilkundlich tätiger Frauen, die mitunter in zeitgenössischen Quellen auftauchen. Die überlieferten Informationen reichen in den allermeisten Fällen nicht einmal zu einer fragmentarischen Rekonstruktion ihrer Lebenswege aus. In anderen Fällen macht es die Überlieferung schwierig, Fiktives und Reales zu trennen. Etwa in dem der sogenannten Trotula, Trota oder Trocta. Sie soll am Ende des 11. oder am Beginn des 12. Jahrhunderts an der berühmten Medizinschule im süditalienischen Salerno gewirkt haben. Manchen medizinhistorischen Deutungen zufolge ist sie aber lediglich die fiktive Verfasserin eines gemeinhin mit diesem Namen in Verbindung gebrachten gynäkologischen Werkes. Auf gesichertem Boden bewegen wir uns für die mittelalterlichen Jahrhunderte hingegen mit Hildegard von Bingen (1098–1179), die somit gewissermaßen stellvertretend für all die heilkundigen Frauen der Vormoderne steht, deren Spuren sich in den Nebeln der Geschichte verloren haben.

Schließlich ging es bei der Wahl noch darum, ein möglichst breites Spektrum ärztlichen Wirkens mitsamt seinen jeweils zugehörigen »Ärztetypen« aufzuzeigen. Auf der einen Seite finden sich jene Berühmtheiten, die durch unermüdliche Forschung im Labor und den Unterricht ihrer Studenten ihren Teil an der Weiterentwicklung der Medizin geleistet haben. Auf der anderen Seite jene nicht weniger berühmten Vertreter, die ihr erworbenes Wissen schier unermüdlich in der alltäglichen Praxis zum Wohle der ihnen anvertrauten Patienten angewandt haben. Für sie steht gleichsam beispielhaft der Name Albert Schweitzer (1875–1965), dessen Porträtfoto den Titel des vorliegenden Buches schmückt. Einen bedeutenden Teil seines langen Lebens verbrachte Schweitzer im Dienste für die Kranken seines Spitals in Lambarene im afrikanischen Gabun. Keine freie Stunde habe er und keinen Sonntag. Aber das verstehe keiner, äußerte sich der hochbetagte Urwaldarzt 1964 in einem »Rundbrief für den Freundeskreis Albert Schweitzers« in Deutschland. Im folgenden Jahr starb er 90-jährig in Lambarene.

Da in diesem Buch die »berühmtesten« Ärzte im Mittelpunkt stehen und die Patienten mit ihrer Sicht der Dinge angesichts dessen in der Darstellung in den Hintergrund treten, scheinen ein paar grundsätzliche Bemerkungen zur Entwicklung der Beziehung zwischen Heilkundigen und Kranken unerlässlich. Über die Jahrhunderte hinweg waren das Bild des Mediziners und die Stellung des Patienten grundlegenden Wandlungsprozessen unterworfen. Zwischen dem Heilkundigen des frühen Mittelalters und dem vielfach als »Halbgott in Weiß« bewunderten Arzt liegen Welten. Gemäß den Vorschriften der Lex Visigothorum, der westgotischen Rechtsvorschriften aus dem späten 7. Jahrhundert, erhielten Heilkundige bei fehlgeschlagenen Behandlungen nicht nur keinen Lohn, war der Kranke durch ihr Wirken zusätzlich in seiner Gesundheit beeinträchtigt worden, mussten sie außerdem eine Strafzahlung leisten. Ihrer Heilkunst stand stets der Verdacht der Giftmischerei gegenüber. Mitunter büßten mittelalterliche Heilkundige ihre Behandlungsmisserfolge gar mit dem Leben wie etwa der Chronist Gregor von Tours († 593) berichtet. Überhaupt wirkte der Heilkundige nach zeitgenössischer Auffassung bis weit in die frühe Neuzeit hinein allein durch göttlichen Willen. Christus war der eigentliche Arzt. Noch im frühen 17. Jahrhundert heißt es in einer Schrift mit ärztlichen Empfehlungen zum Verhalten in Seuchenzeiten aus der Feder eines Stadtarztes im Nordwesten Deutschlands: »Medizin hilfet, wenn Gott es will. Wenn nicht, da ist des Todes viel!«. So entwickelte sich das gesellschaftliche Ansehen des Arztes erst allmählich im Zuge einer Ausrichtung der Medizin an den Methoden der aufstrebenden Naturwissenschaften. Damit wuchs zugleich die ärztliche Autorität gegenüber den Patienten, die eine andere Rolle einzunehmen begannen als in den Jahrhunderten zuvor.

Um Leben und Wirken der in diesem Buch porträtierten Vertreterinnen und Vertreter der Medizin besser verstehen zu können, sind den biographischen Abrissen stets Verweise auf berühmte Zeitgenossen und zeitgleiche Geschehnisse mit weiterführenden Erläuterungen beigegeben. Sie dienen den Leserinnen und Lesern zugleich als Orientierungshilfe für eine leichtere Einordnung der Persönlichkeiten in den übergeordneten historischen Gesamtrahmen, der sich in einem weiten Bogen vom Griechenland des 5. Jahrhunderts vor Christi Geburt bis in das Europa des 20. Jahrhunderts spannt.

Mein herzlicher Dank gebührt einmal mehr meiner Frau Isabelle, unserer Tochter Neele und unserem Sohn Raphael, ohne deren Verständnis und Zuspruch dieses Buch nicht hätte entstehen können.

Kay Peter Jankrift

Augsburg im März 2007

STATIONEN IN DER GESCHICHTE DER MEDIZIN

Von Hippokrates bis Sir Alexander Fleming

Im antiken »Haus der Heilkunde«

Die Anfänge unserer modernen Medizin reichen zurück bis in die griechische Antike. Das zweifelsohne bekannteste Zeugnis für diese lange Traditionslinie ist der sogenannte »Eid des Hippokrates«, die früheste Verpflichtung der Ärzteschaft zu ethischem Handeln. Die Lehren der griechisch-römischen Heilkunde bildeten für mehr als ein Jahrtausend die theoretische Grundlage der Medizin. Sie basieren auf dem großen hippokratischen Corpus, jenen Werken, deren Autorschaft zu Recht oder Unrecht dem legendären Hippokrates von Kos (ca. 460–ca. 375 v. Chr.) zugeschrieben wird, der zum Inbegriff des idealen Arztes wurde. In Ableitung naturphilosophischer Konzeptionen von den vier Elementen Erde, Luft, Wasser und Feuer entwickelte Hippokrates eine rationale Theorie der Medizin. Ihren Kern bildete die sogenannte Viersäftelehre (Humoralpathologie). Dieser zufolge werden die Elemente zu den vier Körpersäften Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle gekocht. Während es sich bei den ersteren dieser Säfte um bekannte Körperflüssigkeiten handelt, wird heute darüber gerätselt, was sich hinter der Bezeichnung »schwarze« Galle verbirgt. Sie lässt sich nach modernen medizinischen Definitionen mit keiner der im menschlichen Körper tatsächlich vorkommenden Flüssigkeiten in Verbindung bringen. Die vier Körpersäfte der hippokratischen Lehre repräsentieren zugleich jeweils Kombinationen der natürlichen Eigenschaften heiß, kalt, trocken und feucht.. So ist gemäß diesem Schema etwa das Blut heiß und feucht, die gelbe Galle heiß und trocken, die schwarze Galle kalt und trocken und der Schleim kalt und feucht.

Im 2. Jahrhundert nach Christus wurde die hippokratische Säftelehre durch den Arzt Galen von Pergamon (129–199/202/216) weiterentwickelt und verfeinert. Er fügte den Viererschemata von Elementen, Säften und Qualitäten weitere hinzu und setzte sie in einem System in Beziehung zueinander. Später wurden aus diesem hippokratisch-galenischen Denkmodell die vier Temperamente abgeleitet, die von der spezifischen Zusammensetzung der Körpersäfte bestimmt werden. Beim sogenannten Sanguiniker überwiegt das Blut (lat. sanguis), beim Phlegmatiker der Schleim (griech. phlégma), beim Choleriker die Galle (griech. cholós). Gesundheit und Krankheit wurden nach diesen Modellen gedeutet. Jede Krankheit wurde demgemäß durch ein Ungleichgewicht der Körpersäfte hervorgerufen. Standen die vier Säfte im Gleichgewicht, war der Mensch gesund. Die Deutung einer Erkrankung und ihre Behandlung leiteten sich aus diesem System ab. Durch sein Temperament war der Mensch in besonderer Weise für solche Krankheiten anfällig, die der vorherrschende Saft verursachte. Nach dieser Auffassung wurde etwa die Lepra durch ein Übermaß an schwarzer Galle verursacht. Die Natur der Krankheit galt als trocken und kalt wie der Körpersaft selbst. Leprakranke galten nach zeitgenössischer Sicht als übellaunig und hinterhältig. In dieser Zuschreibung begegnet uns der schwermütige Melancholiker. Er war durch seine seelische Konstitution mehr als andere gefährdet, an der Lepra zu erkranken.

Die Heilkunst wurde nach galenischem Denken allein durch eine Theorie der Medizin zur Wissenschaft. Alle anderen Wissenschaften, vor allem Logik, Ethik und Physik, galten als Diener der Medizin. Diese Prinzipien begründen das sogenannte »Haus der Heilkunde« mit seinen drei Pfeilern Physiologie, Pathologie und Therapie. Die Physiologie bezeichnet die Lehre und Wissenschaft von den natürlichen Lebensvorgängen (res naturales), insbesondere im Hinblick auf die Funktionen des Organismus. Ihr steht die Pathologie gegenüber, die Lehre von den krankhaften Veränderungen im Organismus (res contra naturam). Sie befasst sich – in der Gegenwart als ein medizinisches Teilgebiet – vor allem mit den Ursachen (Ätiologie), mit der Entstehung und Entwicklung von Krankheiten sowie mit deren Beschreibung (Nosologie). Die Theoriemodelle galenischer Physiologie und Pathologie blieben bis in das 17. Jahrhundert hinein nahezu unverändert gültig. Sie unterscheiden sich grundlegend von den Konzepten unserer heutigen Medizin. So war etwa der große Blutkreislauf noch nicht entdeckt worden. Nach der galenischen Vorstellung befand sich das Blut in einem geschlossenen System von Wechselbewegungen, die den Gezeiten des Meeres ähnelten.

Die Therapie gliedert sich ihrerseits in die Diätetik, die Pharmazeutik und die Chirurgie. Obwohl nach Auffassung Galens nur eine einzige Wissenschaft vom menschlichen Körper existiert, hat diese zwei Bereiche – die Gesundheitspflege (Hygiene) und die Heilkunde (Medizin). Erste Aufgabe des Arztes ist es in diesem Ordnungsprinzip, den Körper gesund zu erhalten. Die Behandlung der Krankheiten ist dieser Gesunderhaltung nachgeordnet. Eine wesentliche Rolle spielt hierbei die Diätetik als die Lehre von der gesunden Lebensordnung und –führung. Es ist das Maßhalten, das nach galenischer Überzeugung Voraussetzung für die Gesundheitspflege (Hygiene) ist. Demnach bildet das rechtes Maß der sogenannten sex res non naturales, nämlich Licht und Luft (aer), Essen und Trinken (cibus et potus), Bewegung und Ruhe (motus et quies), Schlafen und Wachen (somnus et vigilia), Stoffwechsel (excreta et secreta) sowie Bewegungen des Gemüts (affectus animi) die Grundlage für eine gesunde Lebensführung. Kommt es zu Erkrankungen, weil sich der Lebenswandel nicht in der entsprechenden Form gestaltete, so beruht die Behandlung vor allem darauf, das Gleichgewicht der Säfte durch das vorgeschlagene Maßhalten wieder ins Lot zu bringen.

Griechisch-römische Heilkunde im 1. nachchristlichen Jahrhundert

Neben den Schriften des hippokratischen Corpus und des Galen bildeten die heilkundlichen Abschnitte der großangelegten Naturkunde des römischen Offiziers Caius Plinius Secundus († 79), besser bekannt unter dem Namen Plinius der Ältere, die umfangreiche Schrift über die Heilmittel des etwa zeitgleich wirkenden Militärarztes Pedanios Dioskurides (Mitte des 1. Jh.) sowie die Medicina des Celsus für Jahrhunderte einen wesentlichen theoretischen Baustein der Gesundheitspflege, Heil- und Arzneimittelkunde.

Die Naturalis Historia, das bedeutendste Werk des Plinus umfasst 37 Bücher, von denen mehr als die Hälfe der Beschreibung von Heilmitteln aus dem Pflanzen- und Tierreich sowie deren Wirkung gilt. Im Laufe des 4. Jahrhunderts entstand aus einem überarbeiteten Auszug des großen Textcorpus die sogenannte Medicina Plinii. In ihren drei Büchern werden Krankheiten und deren Behandlungen vom Kopfschmerz über die Gicht bis hin zu Fieber und Dermatosen beschrieben. Die Medicina Plinii erfreute sich einer weiten Verbreitung und scheint im Rang eines ärztlichen Ratgebers für den Hausgebrauch gestanden zu haben, der zur Selbstmedikation genutzt wurde. Das Werk blieb lange in Gebrauch, wobei es abermals im Laufe der 6. Jahrhunderts einige Veränderungen durch Ergänzungen aus anderen medizinischen Schriften erfuhr. Seitdem wurde es auch unter dem Namen Physica Plinii – irrtümlich auch als Plinius Valerianus – bekannt.

Nicht weniger große Bedeutung erlangte das in seiner lateinischen Übersetzung Materia medica genannte Werk aus der Feder des im kilikischen Anarzabbos geborenen Pedanios Dioskurides. Es behandelt mehr als 1000 Arzneimittel pflanzlichen, tierischen und mineralischen Ursprungs. Von Galen als richtungsweisende Grundlage anerkannt, fand die große Arzneimittelkunde des Dioskurides über rund 1600 Jahre in zahlreichen Übersetzungen, insbesondere ins Lateinische, Arabische, Hebräische und Syrische, sowie in verschiedenen Bearbeitungen und Paraphrasen Verbreitung. Erst die von dem schwedischen Botaniker und Mediziner Karl von Linné (1707–1778) aufgestellte botanische Nomenklatur verdrängte die klassische Arzneimittellehre des Dioskurides.

Große Bedeutung für die weitere Entwicklung der Medizin hatte auch das Werk unter dem Titel De medicina des Aulus Cornelius Celsus. Es schlummerte während der mittelalterlichen Jahrhunderte in einem Dornröschenschlaf, um in der Frührenaissance verstärkt aufgegriffen zu werden. Die Medicina, entstanden in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts, enthält in ihren acht Büchern einen Abriss der bisherigen Medizingeschichte. Vor allem aber behandelt sie ausführlich die Prinzipien gesunder Lebensführung und Krankheitsvorbeugung, innere Erkrankungen, Krankheitsbehandlungen und die Chirurgie. Medizinhistorisch ist das Werk auch deswegen bedeutsam, weil es sich bei ihm um die einzige vollständig erhaltene Medizinalschrift für die Zeit zwischen der Redaktion des hippokratischen Corpus und dem ersten nachchristlichen Jahrhundert handelt.

Frühmittelalterliche Klöster. Bewahrung eines antiken Erbes in Stätten des Heils und der Heilung

Mit der Beseitigung des weströmischen Kaisertums 476 im Zuge der großen Völkerwanderung und der Errichtung germanischer Nachfolgerreiche auf den Trümmern des Imperium Romanum bricht mit Hinblick auf die Überlieferung die dunkelste Zeit für die Medizingeschichte an. Die frühmittelalterlichen Jahrhunderte sind in der medizinhistorischen Forschung bis heute die am wenigsten bekannte Epoche. Angesichts der weitreichenden Beherrschung des Griechischen unter den Gebildeten während der Blütezeit Roms war die Ausformung einer eigenständigen lateinischen Medizinalliteratur weitgehend unterblieben. Der überwältigende Teil der bis zum Ende des 5. Jahrhunderts überlieferten medizinischen Fachliteratur war in griechischer Sprache verfasst. Nach der Völkerwanderung war das Griechische aber weitgehend in Vergessenheit geraten. Eine herausragende Rolle für die Bewahrung des antiken Heilwissens kam somit jahrhundertelang den Klöstern zu. Dies hat nicht zuletzt dazu geführt, dass die Phase bis nach dem Jahre 1000 oft als »Zeitalter der Klostermedizin« oder »vorsalernitanische Periode« bezeichnet wird. Mit der Einrichtung der sogenannten Medizinschule von Salerno nahe Neapel im 11. Jahrhundert wurde schließlich ein Neuanfang in der Wissensvermittlung gesetzt, der an die verschütteten antiken Wurzeln anknüpfte. Die Medizin nahm im Hinblick auf das Modell der sieben freien Künste (septem artes liberales), in die sich die mittelalterliche Wissenschaft nach den Konzepten der Zeitgenossen unterteilte, eine besondere Stellung ein. Der um das Jahr 560 geborene Enzyklopädist und spätere Bischof Isidor von Sevilla wies der Medizin den Platz einer secunda philosophia zu, einer zweiten Philosophie. Ihre Kenntnis, so Isidor, setzte die aller anderen Wissenschaften bereits voraus.

Das frühmittelalterliche Abendland war geprägt von der Kultur der Klöster als geistiger Zentren. Wie auch die Kathedralschulen spielten die Klöster eine Hauptrolle beim Kopieren überlieferter Schriften und der Bewahrung des antike Erbes mittels Übersetzung. Dabei wurden die Texte interpretiert und mit christlichen Vorstellungen überformt. Neben dem Gleichgewicht der Säfte spielte göttliches Wirken eine zentrale Rolle für die Gesundheit. Der Aspekt von Krankheit als Sündenstrafe gewann an Bedeutung. Der Arzt vermochte ohne himmlischen Beistand keine Heilung herbeizuführen. Und Christus, der Christus medicus, wirkte als der höchste aller Ärzte. Richtungsweisend für die Bewahrung des antiken Heilwissens, seine Nutzbarmachung nach christlichen Wertvorstellungen und den Umgang mit den Kranken spielte dabei zunächst das 529 durch Benedikt von Nursia gegründete Kloster Montecassino. Benedikt erhob in seiner für die Mönchsgemeinschaft geschaffenen Regel, der Regula Benedicti, die Fürsorge für Kranke, Schwache und Arme nach dem christlichen Gebot der Nächstenliebe zu einer Grundlage klösterlichen Lebens. Klöster waren zugleich Stätten des Heils wie Stätten der Heilung. Die Pflege der Seele, die Cura animae, wurde dabei gleichrangig mit der des Körpers, der Cura corporis, gesehen. Die Grundlage hierzu bildeten die Ausführungen im 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums: »Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank und ihr habt mich besucht. […] Ich war hungrig, und ihr habt mich gespeist.« Im 36. Kapitel der Benediktsregel gibt der Ordensgründer umfangreiche Anweisungen für den Umgang mit den kranken Mitbrüdern. Darin heißt es: »Die Sorge für die Kranken muss vor und über allem stehen: Man soll ihnen so dienen, als wären sie wirklich Christus; hat er doch gesagt: Ich war krank, und ihr habt mich besucht, und: Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan. Aber auch die Kranken mögen bedenken, dass man ihnen dient, um Gott zu ehren; sie sollen ihre Brüder, die ihnen dienen, nicht durch übertriebene Ansprüche traurig machen. Doch auch solche Kranke müssen in Geduld ertragen werden; denn durch sie erlangt man größeren Lohn. Daher sei es eine Hauptsorge des Abtes, dass sie unter keiner Vernachlässigung zu leiden haben. Die kranken Brüder sollen einen eigenen Raum haben und einen eigenen Pfleger, der Gott fürchtet und ihnen sorgfältig und eifrig dient. Man biete den Kranken, sooft es ihnen gut tut, ein Bad an; den Gesunden jedoch und vor allem den Jüngeren erlaube man es nicht so schnell. Die ganz schwachen Kranken dürfen außerdem zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit Fleisch essen. Doch sobald es ihnen besser geht, sollen sie alle nach allgemeinem Brauch auf Fleisch verzichten. Der Abt sehe es als eine Hauptsorge an, dass die Kranken weder vom Cellerar noch von den Pflegern vernachlässigt werden. Auf ihn fällt zurück, was immer die Jünger verschulden.« (Zitiert nach: Birgit Frohn, Klostermedizin, München 2001, S.18 f.)

Für die kränklichen und schwachen Brüder galten im klösterlichen Alltag besondere Bestimmungen. Lautete die Devise des Ordensgründers auch »Bete und arbeite« (ora et labora), galt dies durchaus in Abstufung des körperlichen Vermögens. Stehen die Ausführungen zum Umgang mit kranken Mitbrüdern auch im Mittelpunkt der Regel, so existieren doch auch Bestimmungen zum Verhalten gegenüber Gästen. Arme und Fremde sollten gemäß der Regel mit besonderer Herzlichkeit aufgenommen werden, denn mit ihnen werde Christus selbst aufgenommen.

Der Klosterplan von Sankt Gallen und die klösterliche Krankenversorgung

Eindrücke einer idealtypischen Klosteranlage mit ihren verschiedenen Möglichkeiten zur Unterbringung Kranker und Bedürftiger vermittelt der berühmte Klosterplan von Sankt Gallen, der um 820 auf der Insel Reichenau im Bodensee entstanden ist. Bei der Betrachtung fällt zuerst die große, im Westen von zwei Rundtürmen flankierte Klosterkirche ins Auge. Um den Kernbereich des Klosters herum, dessen Betreten den Mitgliedern der Mönchsgemeinschaft vorbehalten war, findet sich eine Anzahl weiterer Gebäude. Darunter auch die Hospitalanlagen im Osten und Westen. Der Sankt Gallener Plan erlaubt dabei eine Unterscheidung dreier in ihrem Zuschnitt unterschiedlicher hospitalischer Einrichtungen: Im Südwesten das sogenannte Hospitale Pauperum, das zur Aufnahme von Armen, Pilgern und sonstigen Bedürftigen bestimmt war, im Nordwesten das Hospitium für gehobenere Gäste, die zu Pferde ankamen, schließlich im Osten des Klausurbereichs das sogenannte Infirmarium, das allein den kranken Mitbrüdern vorbehalten war. Das Infirmarium glich einem Kloster im Kleinen mit speziellen Zusatzeinrichtungen. In der Regel verfügte das Infirmarium über eine eigene Küche für die Kranken und einen zugehörigen Speisesaal, eine eigene Kapelle sowie Bade- und Aderlasseinrichtungen. Darüber hinaus gab es eine Unterkunft für den Arzt und eine Apotheke. Die Lagebezeichnungen änderten sich entsprechend in die entgegengesetzte Richtung, wenn der Kreuzgang anders als im Sankt Gallener Klosterplan im Norden der Kirche angelegt war. In diesem Fall läge das Hospitale Pauperum