Ondragon: Menschenhunger

Anette Strohmeyer

Originalausgabe

»Band 1«

IV. Auflage © 2012-2014

ISBN 978-3-942261-30-2

Cover-Gestaltung: bürosüd, München

© 2012 Psychothriller GmbH

www.psychothriller.de

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Ein Buch zu schreiben, dauert Monate. Es zu kopieren, nur Sekunden. Bleiben Sie deshalb fair und verteilen Sie Ihre persönliche Ausgabe bitte nicht im Internet. Vielen Dank und natürlich viel Spaß beim Lesen! Ivar Leon Menger

Danksagung

von Anette Strohmeyer

Allem voran möchte ich meinem Mann Daniel dafür danken, dass er mein schärfster Kritiker ist und mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Desweiteren gilt mein Dank meinen Freunden Sabine und Andreas Sommer, die sich sämtliche Rohentwürfe zu Gemüte geführt haben und immer mit guten Ratschlägen aufwarten konnten, und natürlich allen anderen Testlesern, deren Geduld ich hoffentlich nicht zu sehr strapaziert habe. Danke sage ich auch der Familie Reese/Temmen für ihre „Rundum-Beratung“ und Laurence Dietz für die Übersetzungen ins Französische.

Und last but not least danke ich Ivar Leon Menger von der Psychothriller GmbH für sein Vertrauen und seine Begeisterung.

Prolog

1835, einige Meilen südlich des Lake Kabetogama, „Raue Wasser“, an der Grenze zu Kanada unter britischer Verwaltung

Alan Parker zügelte sein Pferd und gab seinen zwei Begleitern hinter sich ein Zeichen. Der alte Fallensteller lauschte in den verschneiten Wald hinein. Wenige Schritte vor ihm lag die Lichtung, auf der die Walcotts ihr Farmland bewirtschafteten. Das Blockhaus der Farmersfamilie lag genau auf der Hälfte des Weges, den sie zwischen ihren Jagdgründen, in denen sie ihre Fallen aufstellten, und dem Handelsposten Fort Frances zurücklegten. Jedes Mal kamen sie hier vorbei und machten bei den Walcotts Rast oder übernachteten in der Scheune.

Es wurde bereits dunkel und die Sicht trübte sich. Das Blockhaus wirkte wie ein gedrungener schwarzer Klotz, der wie aus dem Nichts auf die schneebedeckte Fläche hinabgefallen zu sein schien. Licht flackerte einladend in den Fenstern, und Rauch stieg aus dem Kamin auf. Alles sah aus wie immer.

Aber irgendetwas stimmte trotzdem nicht.

Parker runzelte die Stirn und suchte nach einer Erklärung. Eine Krähe ließ in der Ferne ihren rauen Ruf erklingen. Eines der Pferde schnaubte.

Schließlich wusste er es.

„Kein Hund!“, sagte im selben Moment Two-Elk in seinem Rücken.

Parker nickte und zog seine Flinte aus dem Futteral am Sattel. Der Hund der Walcotts, eine krude Mischung aus verschiedenen Rassen, bellte für gewöhnlich, wenn sich jemand der Farm näherte. Heute war es unheimlich ruhig.

Konnte gut sein, dass die Walcotts keinen Hund mehr hatten, dachte Parker, wollte aber sicher gehen. Er spannte den Hahn seiner Flinte. Hier in den Wäldern weitab von jeglicher Zivilisation musste man mit allem rechnen.

Er trieb sein Pferd an, und im Schritt trat es auf die Lichtung. Noch immer rührte sich nichts, im Haus blieb alles ruhig.

Parkers Unbehagen wuchs. Er hob die Flinte. Two-Elk und Lacroix ließen die Packpferde mit den Pelzen zurück und scherten hinter ihm aus.

„Walcott?“, rief Parker.

Zwei Krähen flogen vom Dachfirst in den lichtlosen Himmel auf, doch Parker wandte seinen Blick nicht von der verschlossenen Holztür ab.

„John? Eleanor?“, rief er erneut.

Immer noch keine Antwort.

Die hereinfallende Nacht tauchte das Blockhaus und den Stall in blaue Schatten. Parker bemerkte, dass es wieder zu schneien begann. Lautlos tanzten die Flocken im Lichtschimmer vor den Fenstern.

Mit einem Blick verständigte er sich mit Two-Elk und glitt aus dem Sattel. Die Flinte im Anschlag näherte er sich vorsichtig der Tür, vor der ein Wirrwarr aus Spuren zu erkennen war. Parker studierte sie und lehnte sich dann seitlich gegen die Außenwand des Hauses. Seine Stirn zog sich in tiefe Falten. Zwischen den menschlichen Schuhabdrücken befand sich eine Spur, die er nicht einordnen konnte. So, als sei jemand barfuß durch den Schnee gegangen.

Jemand ohne Zehen.

Parker verfolgte die Spur mit seinen Augen. Sie kam als blaues Band geradewegs aus dem dunklen Wald. Schweiß brach ihm unter seiner Lederkleidung aus, und er schob sich seinen Hut in den Nacken. Er konnte nicht sagen warum, aber die seltsame Fährte löste eine dunkle Angst bei ihm aus. Unwillkürlich umklammerten seine Finger den Lauf seiner Flinte fester.

Etwas war zu diesem Haus gegangen.

Etwas aus den Wäldern.

Womöglich war es noch drinnen. Dann hatte es sie bestimmt kommen gehört.

Parker spürte, dass seine Begleiter ungeduldig wurden. Er nickte ihnen erneut zu, holte noch einmal tief Luft und warf sich schließlich mit Schwung gegen die Tür. Mit einem lauten Knall flog sie auf und schlug im Innern gegen die Wand. Schnell sprang Parker zurück in die Deckung der Hauswand. Er sah, wie Two-Elk und Lacroix von ihren Pferden aus auf die helle Öffnung zielten. Licht zerschnitt die Dunkelheit und beleuchtete den zertrampelten Schnee vor der Türschwelle. Ein beißend süßlicher Geruch drang aus dem Innern des Hauses und weckte in Parker scheußliche Erinnerungen. Kaum wagte er zu atmen. Wie oft hatten sich in entlegenen Blockhäusern entsetzliche Dinge abgespielt?

‚Jetzt beweg endlich deinen hageren Arsch, alter Mann!’, mahnte er sich selbst.

Entschlossen stieß er sich von der Wand ab, drehte sich in den Eingang und ging gleichzeitig in die Knie. Über die Flinte zielend blickte er in das Innere des Blockhauses. Das Bild, das sich ihm bot, übertraf alles, was er bisher gesehen hatte.

Parker musste schlucken.

Übelkeit überwältigte ihn, als hinter ihm ein Schuss fiel.

1. Kapitel

2009, Nord-Minnesota, St. Louis County, State Forest Road

Der Motor des Ford Shelby Mustang gab ein sattes Brüllen von sich, als er das Gaspedal durchdrücke. Zufrieden stellte Paul Eckbert Ondragon fest, dass hinter ihm eine große Staubwolke von der trockenen Schotterstraße aufstieg. Geschickt wich er einem Schlagloch aus und lenkte das Auto wieder auf die Mitte der Straße, die sich durch die schier endlosen Wälder schlängelte. Seit er vor einer dreiviertel Stunde von der 53 auf die schmale Forest Route abgebogen war, war ihm niemand mehr entgegengekommen. Nicht einmal ein Holzlaster. Das faszinierte Ondragon immer wieder. Welch abgelegene Gegenden es in den USA doch gab. Hier, kurz vor der Grenze zu Kanada gab es nichts als Wald. Wald und Seen. Er fragte sich, was für Menschen das waren, die hier in den weit verstreuten Siedlungen hausten. Gottesfürchtige und hart arbeitende Bürger Amerikas? Seine Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Grinsen. Wohl eher Hillbillies!

Er wich einem weiteren Schlagloch aus. Heißes Gummi rutschte über dunklen Basaltschotter, und der unkrautüberwucherte Seitenstreifen kam gefährlich nahe. Ondragon lenkte gegen und fing das schlingernde Heck des Mustangs wieder ein. Sein Cowboystiefel trat weiter unbeirrt auf das Gaspedal. Er ließ eine Kaugummiblase platzen und drehte die Musik lauter. Hotel California von den Eagles dröhnte durch das offene Fenster in den dichten Wald und hallte von den hohen Nadelbäumen wieder zurück über das Tal.

Nach zwei weiteren Meilen machte die Straße einen Knick, das Ufer eines Sees kam in Sicht. Auf der Wasseroberfläche brach sich das Licht der Sonne wie auf zerknitterter Alufolie.

‚Hier muss es irgendwo sein’, dachte Ondragon und hielt Ausschau. Die Anfahrtsskizze lag auf dem Beifahrersitz.

Abrupt wechselte sein Fuß vom Gas auf die Bremse, und das Auto kam schlitternd zum Stehen. Der Mustang protestierte mit einem Schwall Abgasen, die nach vorne schwappten.

Eine weitere Kaugummiblase platzte, und Ondragon legte den Rückwärtsgang ein. Er fuhr hundert Meter zurück und hielt vor einem Schild.

Cedar Creek Lodge, 8 Miles sagte es in einer Schrift aus roter Farbe, die wie getrocknetes Blut aussah. Aber wo war die Abzweigung? Ondragon blickte in den Rückspiegel. Keine Menschenseele war zu sehen. Nur noch der Rest der Staubwolke, die sich allmählich auflöste. Er schaltete die Musik aus und fand sich augenblicklich in einer vollkommen anderen Welt wieder: Vögel zwitscherten und Insekten summten. Irgendwo plätscherte ein Bachlauf.

Sonst nichts.

Kein Autolärm, keine Hochhäuser, keine Leuchtreklame, kein Starbucks. Es war eine Welt, die dem Kosmos, in dem er lebte, so fern war wie ein fremder Planet. Nur dass hier keine grünen Männchen hausten, sondern Hirsche und Hillbillies.

„Kommt fast dasselbe bei raus“, dachte Ondragon laut und fuhr wieder an. „Die Abzweigung kommt bestimmt noch.“

Er behielt Recht. Nach dreihundert Meter sah er sie. Holpernd bog der Mustang auf die Straße ein, die in einem noch schlechteren Zustand war als die vorherige. Ondragon fluchte und lenkte seinen schmucken Oldtimer, der genauso wenig in diese Gegend passte wie der dunkelgraue Anzug, den er trug, um die Schlaglöcher herum. So würde es eine Ewigkeit dauern, bis er die Lodge erreichte.

„Ich hätte doch den Shuttleservice in Anspruch nehmen sollen.“ Sehnsüchtig wünschte er sich ein kühles Bud, fischte sich stattdessen eine lauwarme Wasserflasche vom Rücksitz und trank sie mit drei großen Zügen leer.

„Kein Vergleich!“, stieß er noch immer durstig aus und wollte die Flasche schon aus dem Fenster werfen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Diese Flasche kam aus einer anderen Welt. Sie war ein Ufo. Sie hatte hier nichts verloren.

Plötzlich kreuzte etwas seinen Weg - etwas Großes, Graues. Erschrocken trat Ondragon auf die Bremse und verschluckte dabei seinen Kaugummi. Als der Mustang endlich stand, drehte Ondragon sich um und sah nach hinten auf die Straße.

Da war nichts, nur aufgewirbelter Staub. Stirnrunzelnd blickte er wieder nach vorn. Er hatte doch eindeutig etwas gesehen. Und es war viel zu groß gewesen, um einfach so zu verschwinden. Wo war es hin? Ein Knacken drang an sein Ohr, und Ondragon wandte den Kopf. Aufmerksam suchte er das undurchdringliche Gestrüpp zu seiner Linken ab. Dort drüben zwischen den Sträuchern und den silbrigen Stämmen der Pinien bewegte sich etwas. Oder war es nur der Wind, der durch das Geäst strich und die Schatten tanzen ließ? Ondragon schnalzte mit der Zunge. Jedenfalls war es jetzt fort. Was immer es auch gewesen sein mochte.

„Scheißwald!“

Er gab wieder Gas. Wahrscheinlich war es ein Elch gewesen. Hoffentlich war er bald da. Sonst würde er es sich doch noch anders überlegen.

Eine halbe Stunde später erreichte er endlich den Parkplatz vor der Lodge. Er parkte den Mustang neben vier Offroadern, einem staubigen Pickup mit der Aufschrift Cedar Creek Lodge und einem roten Prius ein. Verdammte Ökoschüsseln! Sie machten ihm immer ein schlechtes Gewissen.

Mit einem missbilligenden Blick auf den Toyota zog Ondragon den Schlüssel aus dem Zündschloss und stieg aus. Es war bereits gegen Abend, und der Parklatz war in violette Schatten getaucht. Der Wald atmete abendliche Kühle aus. Nur auf den Dächern der Gebäude und den Spitzen der Douglasien glomm noch das rötlichgoldene Licht der untergehenden Sonne. Allerdings würde es noch mindestens vier bis fünf Stunden dauern, bis sie tatsächlich verschwunden wäre. Die Tage in diesen Breiten waren im Sommer lang und im Winter verdammt kurz. Ganz anders als in Kalifornien, wo die Tage immer schön gleich waren. Ondragon öffnete den Kofferraum und nahm zwei große Reisetaschen heraus, dabei fiel sein Blick auf den länglichen Metallkoffer. Ihn würde er vorerst im Auto lassen. Vielleicht würde er ihn gar nicht brauchen. Er schlug die Kofferraumklappe zu und fuhr zusammen. Ein junger Kerl stand neben dem Mustang und piff durch die Zähne. Er hatte einen Dreitagebart und einen leichten Silberblick.

„Wow, ein 67er Shelby GT 500 Fastback! Solch ein Zuckerstück bekommt man hier nicht oft zu sehen. Wie viel macht er denn so?“

„Zweihundert Meilen die Stunde!“

Wieder ein Pfiff. „Darf ich?“

Ondragon nickte. Silberblick fuhr andächtig über die mattschwarze Oberfläche. Eine Sonderanfertigung aus L.A. wie auch das Interieur. Ondragon kannte die Typen von West Coast Customs persönlich.

Der Kerl ging einmal um das Auto herum und öffnete seinen Mund zu einem breiten Grinsen.

„Eine heiße Lady. Wirklich!“

„Danke.“

Silberblick kam wieder bei ihm an.

„Sie sind sicher Mr. On Drägn. Darf ich Ihre Taschen nehmen?“

„Das heißt Ondragon!“ Er hasste es, wenn man seinen Namen falsch aussprach. „On-dra-gon. Betonung auf der ersten Silbe. Das ist kein amerikanischer Name.“

„Echt? Trotzdem cool.“ Silberblick zog sich die rote Baseballkappe mit dem verwaschenen Chicago Bulls Logo zurecht. Wenigstens hatte er Geschmack bei der Wahl seines Basketballteams bewiesen.

„Und wer sind Sie?“, fragte Ondragon.

„Oh, ‘tschuldigung, wie unhöflich von mir. Ich bin Peter Parker.“

„Wollen Sie mich verarschen, Mann!“ Ondragon wurde langsam ungehalten. Was war das für eine Lodge, die sich solche Angestellte leistete? Vielleicht sollte er sein Vorhaben doch noch einmal überdenken, bevor er sein Geld hier investierte.

„Äh, wieso?“ Silberblick schob sich verlegen die Ärmel seines karierten Hemdes hoch. Jetzt sah er so aus, als wolle er dem Holzfällerriesen Paul Bunyan Konkurrenz machen!

„Schon mal was von Spiderman gehört?“ Ondragon tippe sich mit seinem schmalen, langen Zeigefinger an die Stirn.

Der silbrige Blick seines Gegenübers blieb leer, nahm dann aber doch einen Ausdruck des Begreifens an. „Ach, Sie meinen den Typen, der sich in Spiderman verwandelt. Ja, der heißt genauso wie ich!“ Ein halbdebiles Grinsen folgte.

„Nicht zu fassen. Ihre Eltern waren wohl Fans?“

„Keine Ahnung. Mein Urgroßvater hieß so. Gab es damals schon Spiderman?“ Er kratzte sich unter seiner Baseballkappe am Kopf. „Egal. Nennen Sie mich einfach Pete. Das ist mir sowieso viel lieber. Darf ich jetzt Ihre Taschen hinauf zum Empfang tragen?“

Ondragon zögerte kurz, überließ Pete dann aber das Gepäck.

„Bitte folgen Sie mir, Mr. On Drägn.“

Ondragon rollte mit den Augen und folgte dem seltsamen Faktotum zu der Lodge hinauf. Mal sehen, welch merkwürdige Gestalten sich noch hier herumtrieben.

Die Lodge lag etwas oberhalb des Parkplatzes auf einer gut getrimmten Wiese, die hier in der Wildnis so unpassend wirkte wie ein Jäger im Seidenkimono. Der große Blockhauskomplex bestand aus einem dreistöckigen Mittelbau mit sechseckigem Grundriss und einem holzschindelgedeckten Dach, das wie die Spitze eines Kristalls aussah. Von diesem zentralen „Turm“ aus knickten zwei flachere Wohnflügel nach hinten ab. Dahinter tat sich freies Gelände auf.

Die Cedar Creek Lodge war zwar nicht so luxuriös wie die berühmte Cirque Lodge in Utah, dafür aber auch nicht von Paparazzi belagert. Für den Großteil der Skandalfotografen lag die Lodge einfach zu tief in den Wäldern. Deshalb galt: Je abgelegener der Ort, desto geschützter war man vor den Kameraaugen dieser Meute und der klatschhungrigen Welt. Sein Aufenthalt hier würde ihn viel Geld kosten, dachte Ondragon, aber es war auch eine letzte Chance. Und er hoffte, dass es das wert war. Immerhin besaß Dr. Arthur, der Leiter der Klinik, einen ausgezeichneten Ruf.

Mit einem Sprung nahm er die oberste Stufe zum Eingangsportal und schritt durch die Tür, die Pete ihm bemüht galant aufhielt. Sie betraten einen kleinen Empfangsbereich. Aufmerksam blickte Ondragon sich um. Im gedämpften Licht stand eine lederne Sofagarnitur vor einem Kamin, über dem ein riesiges Elchgeweih hing. Auf einem aus skurril verdrehten Wurzeln zusammengezimmerten Tisch warteten einige Hochglanzmagazine darauf, von entspannten Händen durchgeblättert zu werden, und auf dem Holzfußboden lag ein dicker, grüngemusterter Teppich, der wohl das Pendant zum Rasen draußen bilden sollte. Pendleton-Wolldecken auf den Sofas und elektrische Windlichter an Schmiedehaken an den Wänden machten den Eindruck von einer gemütlichen Jagdhütte in den Bergen vollkommen. Genau, was Ondragon sich erhofft hatte. Behagliches Ambiente mit einer Prise Wildnis. Er wandte sich dem Empfangstresen zu, der geradeaus neben einer weiteren Glastür eingelassen war und den Rest des Gebäudes vor dem Zutritt unbefugter Gäste abschirmte. Eine junge, blonde Frau, die aussah wie aus dem Prospekt, erschien dahinter und lächelte ihn an.

„Willkommen in der Cedar Creek Lodge, Mr. Ondragon. Ich bin Sheila.“

Wenigstens sprach sie seinen Namen korrekt aus. Wahrscheinlich war sie über all seine Eigenheiten gründlich gebrieft worden. Es ging aufwärts mit dem Personal! Wohlwollend lächelte Ondragon zurück.

„Wenn Sie bitte hier unterschreiben möchten.“ Sie tippte mit einem passend zum Teppich grünlackiertem Fingernagel auf ein Formular. „Dann kann ich Ihnen Ihre Zimmerschlüssel aushändigen. Außerdem ist es notwendig, dass Sie mir Ihren Autoschlüssel überlassen.“

Ondragon hielt mitten in seiner Unterschrift inne. „Meine Autoschlüssel?“ Auf Sheilas Gesicht erschien ein Lächeln, und er sah, dass sie einen künstlichen Brillanten auf ihrem Eckzahn hatte. „Es ist Teil des Programms. Sie sollen sich ganz darauf einlassen.“

„…und nicht mittendrin abhauen?“, ergänzte er säuerlich.

„Nun, ja. Wir haben hier einige schwierige Fälle und ...“

„... ich bin solch ein schwieriger Fall?“

Sheila sah ihn an. „Das wird Dr. Arthur beurteilen.“

Ondragon biss sich auf die Zunge. Er würde sich zusammenreißen müssen, wenn er das hier durchziehen wollte. Aber er war es nicht gewohnt, dass ihm jemand sagte, was er zu tun hatte. „Schon verstanden. Aber bewahren Sie den Schlüssel gut auf. Wenn mein Baby nur den Hauch eines Kratzers abbekommt, dann mache ich Sie dafür verantwortlich!“ Sein Finger stach ihr entgegen.

„Der Autoschlüssel kommt in unseren Tresor.“ Mit ihrem hübschen Kinn machte Sheila eine Bewegung in Richtung des Büros hinter sich. „Ich versichere Ihnen, dass sich niemand Ihrem Auto auch nur nähern wird.“

Ondragon warf einen Blick auf Pete, der schräg lächelte.

„Nun gut. Hier, bitte“, sagte er zähneknirschend. Doch bevor er den Autoschlüssel über den Tresen schob, entfernte er den Anhänger. „Mein Talisman“, sagte er und steckte ihn schnell zurück in seine Hosentasche. Er fing Sheilas belustigten Blick auf und ärgerte sich erneut. Er wusste, dass ein pink emailliertes Herz mit einem Bären darauf nicht gerade imagefördernd war, aber dieses verdammte Ding hatte ihm schließlich einmal das Leben gerettet!

Sheila nickte und nahm den Schlüssel des Mustangs in Verwahrung. „Hatten Sie eine gute Anreise?“

„Wie man’s nimmt. Schlechte Straßen und Viehzeugs, das einem vor’s Auto springt.“

„Ja, in den Wäldern hier rings herum wimmelt es nur so von wilden Tieren. Elche, Hirsche, Bären und so weiter. Aber keine Angst, die sind ungefährlich.“

„Sehe ich aus, als hätte ich Angst?“, fragte Ondragon barsch.

Sheila blinzelte indigniert und betrachtete skeptisch seinen schicken Anzug. „Da wäre noch etwas. Dr. Arthur legt Wert auf eine störungsfreie Atmosphäre in der Lodge. Seine Gäste sollen sich uneingeschränkt entspannen können. Dazu ist es Voraussetzung, dass Sie mir auch Ihr Handy aushändigen, sofern Sie eines mitgebracht haben.“

Ondragon hob überrascht die Augenbrauen, aber insgeheim hatte er eine solche Maßnahme von Seiten der Klinik geahnt. Mit einem zerknirschten Gesichtsausdruck griff er in die Innentasche seines Jacketts, zog ein Blackberry heraus und schob es über den Tresen. Sheila sah ihn unverwandt an.

„Das zweite bitte auch!“, sagte sie im besten Drillsergeant Ton und mit ausgestreckter Hand.

Mist! Ondragon fischte das iPhone aus seiner Hosentasche.

„Und ich darf während der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal draufsehen?“

„So ist es.“ Ihre Augen verrieten eindeutig Befriedigung, auch wenn sie versuchte ernst zu bleiben. Nur widerstrebend überließ er ihr den Sieg und legte das Mobiltelefon in ihre Hand. Die grünen Fingernägel schlossen sich darum wie die Blatthälften einer fleischfressenden Pflanze um eine Fliege.

„Danke, Mr. Ondragon! Haben Sie einen Computer dabei? Ein Netbook oder Ähnliches? Internet ist nämlich auch tabu.“

„Nein, ich habe keinen. Ich arbeite ausschließlich über mein iPhone, wenn ich unterwegs bin.“ Ondragon warf ihr einen grimmigen Blick zu.

„Gut, dann wird Pete Ihnen jetzt Ihr Zimmer zeigen. Dr. Arthur empfängt Sie morgen früh um zehn Uhr in seinem Büro im zweiten Stock. Sie sind bereits bei ihm angemeldet. Um sieben Uhr gibt es Abendessen im Lakeview Salon im hinteren Gebäudeteil. Wenn Sie Fragen haben, dann wenden Sie sich an mich oder Pete. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt.“

Ondragon sparte sich seinen bissigen Kommentar, der ihm auf der Zunge lag, und zwinkerte Sheila stattdessen kumpelhaft zu.

„Na dann, bis später“, sagte er und drehte sich zu dem Kofferjungen um. Mit beschwingtem Schritt ging er davon. Unauffällig strich er dabei, eine Hand in der Hosentasche, über sein drittes Handy.

Während er Pete die Treppe hinauf in den dritten Stock folgte, musterte er den Hillbilly von hinten. Er mochte so um die fünfundzwanzig sein und hatte die Figur einer Vogelscheuche. Die ausgeleierte Jeans schlabberte um seine Beine, als wären sie aus biegsamem Bambus. Ondragon fragte sich, ob er noch andere Aufgaben hatte, als das Gepäck der Gäste zu tragen.

„Woher kommen Sie denn, wenn ich fragen darf?“, erkundigte sich Pete und drehte sich im Gehen zu ihm um.

„Aus L.A.“

„Da kommen viele unserer Gäste her. California - Home of fruits and nuts!“ Pete kicherte und klang dabei wie eine schnatternde Ente. Ondragon bekam die Assoziation von Duffy Duck und Elmer Fudd, dem Jäger, nicht mehr aus dem Kopf.

Oben angekommen wandte Pete sich nach links und stakste in seinen ausgelatschten Jagdstiefeln einen langen, mit Teppich ausgelegten Flur entlang, der von geschmackvollen Sitzgruppen aufgelockert wurde. Auch hier bestanden die Wände aus geschälten Baumstämmen, die allerdings in regelmäßigen Abständen von weinroten Türen unterbrochen wurden. Hier und da hingen einige Bilder. Im Vorbeigehen betrachtete Ondragon ein teuer gerahmtes Ölbild, das Indianer zeigte, die sich als Wolf getarnt im Schnee an eine Gruppe Kavallerie-Soldaten heranschlichen. Ein anderes hatte eine wildromantische Blockhütte im Wald als Motiv.

Eine der Türen öffnete sich, und ein Mann in einem peinlichen Designer-Freizeitanzug trat heraus auf den Flur.

„Hey, Mr. Shamgood, wie geht’s?“, grüßte Pete ihn im Vorbeigehen und tippte an den Schirm seiner Baseballkappe.

„Danke, scheint, mein Tag wird immer besser!“ Mr. Shamgood ließ anzüglich die Augenbrauen tanzen und sah dabei Ondragon von unten bis oben an.

„Na, dann ...“ Pete schlurfte weiter, doch Ondragon konnte deutlich spüren, wie Mr. Shamgood ihm interessiert nachsah. Er meinte sogar ein leises Pfeifen zu hören. Ärgerlich biss er die Zähne zusammen.

„So, Mr. On Drägn, da wären wir. Das ist Ihr Zimmer, Nummer 6.“ Pete öffnete die Tür, trat ein und stellte die Taschen auf eine große Holztruhe am Fußende des Bettes. Ondragons Blick fiel sofort auf den Balkon und die grandiose Aussicht.

„Wow!“, sagte er, öffnete die Balkontür und ging hinaus.

„Nicht schlecht, was? Das ist der Little Moose Lake.“ Pete trat neben ihn und zeigte auf den klaren Bergsee, aus dem rundgeschliffene Felseninseln mit Kiefernbewuchs ragten. Schilf und mächtige Weißkiefern säumten die Ufer.

„Der See hat die Form einer Gurke und ist zweieinhalb Meilen lang, und manchmal kommen tatsächliche Elche, um hier zu fressen. Meist in der Dämmerung. Außerdem kann man prima angeln. Wenn Sie Ausrüstung dafür brauchen - die Cedar Creek Lodge hat alles da, was das Anglerherz begehrt. Wenden Sie sich an mich oder Frank, das ist der Gärtner.“

Ondragon hasste Angeln. Reine Zeitverschwendung, wenn man den Fisch im Supermarkt nebenan kaufen konnte oder noch besser, gleich fertig zubereitet im Restaurant.

„Das dort drüben ist übrigens der Mount Witiko.“ Pete wies mit dem Daumen auf eine bizarre Felsformation.

„Witiko“, wiederholte Ondragon und blickte auf den beinahe schwarzen, in zwei Spitzen gespaltenen Gipfel, der sich zwischen zwei flacheren Bergkuppen aus dem undurchdringlichen Grün des Waldes erhob. Möglicherweise vulkanischen Ursprungs, dachte er.

„Ist’n indianischer Name, von den Ojibway. Und der Berg ist einer ihrer heiligen Orte. Sie halten dort Rituale ab und so’n Zeugs. Falls es Sie interessiert, in der Bibliothek der Lodge finden Sie alle möglichen Karten und Bücher über die Wälder und die Indianer.“

Ein unerwartetes Kribbeln jagte über Ondragons Rücken. Bibliothek! Wenn du wüsstest, Bürschchen!

Pete plapperte munter weiter. „Die Geschichte dieser Gegend ist Dr. Arthurs Hobby. Is‘ nich‘ mein Ding, aber ich guck mir manchmal die gruseligen Bilder in den Büchern an. Speziell die vom Bergmonster.“ Der Kofferjunge gluckste und rückte seine Baseballkappe zurecht. Schien eine Angewohnheit von ihm zu sein. „So, ich muss dann mal wieder nach unten, Sheila wartet auf mich. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt, Mr. On Drägn.“

Pete ging zur Tür.

„Ach ja, bevor ich’s vergesse!“ Er wandte sich noch einmal um. „Auf dem Nachttisch liegen die Golden Rules. Dr. Arthur will, dass jeder Gast sie liest und sich natürlich auch daran hält.“ Der Hillbilly grinste und verschwand.

Eine Weile stand Ondragon noch auf dem Balkon und betrachtete den Mount Witiko, der sich schwarz auf der glatten Wasseroberfläche des Sees spiegelte. Dann ging er wieder hinein, zog sein mit rotem Satin gefüttertes Jackett aus und sah sich in dem Zimmer um, das für die nächsten Wochen sein Domizil sein sollte. Das breite Bett war aus entrindeten Holzstämmen gezimmert, genauso wie der Tisch mit den zwei Stühlen. In der Ecke am Panoramafenster stand ein schwerer Ledersessel mit einem kleinen, runden Beistelltisch aus dunklem Nussholz und einem elektrischen Windlicht darauf. In der anderen Ecke neben der Tür stand ein wahrer Koloss von einem Schrank: Antikbeize und handgeschmiedete Angeln. Ondragon drehte den großen Schlüssel im Schloss und öffnete ihn. Mehrere Ablagefächer, eine Kleiderstange und ein Tresor mit Eingabetasten. Kein Fernseher! Ondragon wusste noch nicht, wie er das finden sollte. Er schloss den Schrank wieder und wandte sich um. Über dem Bett hing ein hellblauer Wandteppich im Stil der Westküstenindianer mit einem weißen Raben darauf. Er trug den Mond in seinem Schnabel. Alles wirkte rustikal, gleichzeitig aber auch edel und lud zum Wohlfühlen ein. Mal sehen, wie lange er es hier aushielt.

Ondragon fragte sich, wie viele „Gäste“ sich außer dem offensichtlich stockschwulen Mr. Shamgood hier wohl noch aufhielten. Er beschloss, sich bei Sheila danach zu erkundigen. Schließlich wollte er wissen, mit wem er es zu tun hatte, wenn er sein privates Problem hier behandeln ließ.

Er warf einen kritischen Blick in das großzügige Bad. Es war hübsch in Hellblau und Braun gefliest mit Holzablagen und glänzenden Messinghaken. Eine beindruckende Emailbadewanne auf Löwenfüßen kauerte unter dem Fenster wie ein weißes Untier. Ondragon sah die dicken, weichen Stapel frischer Handtücher und freute sich schon jetzt auf eine heiße Dusche nach den Abendessen. Er ging zurück ins Zimmer und setzte sich auf das Bett. Sein Blick fiel in den Spiegel, der ihm gegenüber hing.

Für Außenstehende wirkte sein Gesicht braungebrannt und vital, und seine grünen Augen leuchteten angriffslustig unter den breiten, dunklen Brauen hervor, deren Wirkung er sehr genau kannte, wenn er sie spielen ließ. Aber er sah auch deutlich die müde Blässe hinter dem kalifornischen Teint und die dunklen Ringe unter seinen Augen. Seine Sorgenfalten auf der Stirn wurden immer tiefer. Kritisch blieb sein Blick an seiner Nase hängen. Die meisten Frauen fanden sie attraktiv, doch für ihn war sie viel zu spitz. Er sah damit aus wie ein altkluger Vogel. Doch die Nase verschärfte seine entschlossene und energische Ausstrahlung, die er in seinem Job benötigte, und deshalb hatte er sich mit ihr arrangiert. Seine Schultern und Arme unter dem taillierten, auberginefarbenen Hemd waren muskulös vom vielen Training, das er sich zur Entspannung gönnte. Krav Maga und Kendo. Aber auch manchmal eine Runde Streetball in Venice auf der Standpromenade - dem härtesten Basketballcourt der Welt.

Alles in allem wirkte er wie ein sympathischer Kerl Anfang Vierzig, erfolgreicher Unternehmer mit kleinen Spleens. Ganz normal eben. Was aber die Wenigsten wussten, und was er auch immer sorgsam zu verbergen suchte, war sein messerscharfer Intellekt, der ihn von normalen Menschen deutlich abgrenzte; besonders seine zwanghafte Besessenheit für analytische Gedankenspielchen. Die Zentrifuge nannte er es selbst, und er konnte nichts dagegen tun, wenn sie erst einmal lief. Egal, was er betrachtete, er musste es augenblicklich in seine molekularen Einzelteile zerlegen, musste die wahre Struktur dahinter erkennen, den geheimen Antrieb. Maschinen, Menschen, Politiker ... Probleme. Es war eine regelrechte Sucht, eine dunkle Wissenschaft, die nur schwer zu beherrschen war. Aber deswegen war er nicht hierher gekommen.

„Nein, Paul Eckbert, wir sind hier, um ehrlich zueinander zu sein“, sagte er laut. „Du siehst ganz schön beschissen aus, mein Lieber. Wenn ich dich nicht besser kennen würde, würde ich sagen, du hättest dringend Urlaub nötig. Urlaub von dir selbst.“ Er bleckte die weißen Zähne und streckte sich die Zunge raus. „Scheißkerl!“

Er spürte das in die Lodge geschmuggelte iPhone in seiner Hosentasche vibrieren. Das Display zeigte die Nummer seiner Assistentin an.

„Ja, Charlize, was gibt’s?“

„Oh, du hast Empfang!“

„Das wundert mich auch in dieser Einöde.“

„Paul, ich mache es kurz, wir haben eine Anfrage aus Japan hereinbekommen.“ Obwohl ihre Stimme einmal ins All und zurück geschossen wurde, vernahm er deutlich den tiefen, sinnlichen Klang. Eine plötzliche, beinahe schwermütige Sehnsucht überkam ihn.

„Yakuza?“, fragte er.

„Nein.“

„Dann lass Dietmar ran.“

„Der ist gerade in Dubai und unabkömmlich. Sheikh Al-Mazoum fordert seine volle Aufmerksamkeit.“

„Ach, Charlize, dann denk dir was aus. Ich kann jedenfalls nicht. Du weißt doch ...“ Tatsächlich war seine Assistentin die Einzige, die den Grund für seinen Aufenthalt in der Cedar Creek Lodge kannte. Und Ondragon fragte sich noch immer, ob es klug gewesen war, sie einzuweihen. Charlize war integer, keine Frage, und sie würde sich eher einen Finger abhacken, als Firmengeheimnisse auszuplaudern. Aber was dachte sie jetzt wohl von ihm? Wenn sie seinen Tick vorher nur für einen Spleen gehalten hatte, dann musste sie doch jetzt denken, er wäre völlig plemplem.

„Ist gut, Chef, ich kümmere mich darum, mein Japanisch ist sowieso besser als deins.“

Ondragon musste grinsen. Charlize Tanaka war wirklich ein Glücksgriff gewesen. Seit fünf Jahren assistierte ihm die zweiunddreißigjährige Brasilianerin mit japanischer Abstammung und war aus der Firma nicht mehr wegzudenken. Sie war Spitzenklasse im Recherchieren und eignete sich hervorragend für pikante Spezialaufträge, die nur eine Frau erledigen konnte. Sie war eine Femme fatale im fatalsten Sinne. Und Ondragon musste sich in ihrer Gegenwart ständig an seine eigene oberste Regel erinnern: Keinen Sex mit Angestellten.

„Wie ist es denn da so in der Einöde, Chef?“

„Bisher ... öde. Halte mich auf dem Laufenden, Charlize. Sayonara!“

Sayonara, Chef.“

Ondragon legte das Handy in die Nachttischschublade und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen, schwarzen Haare.

Es war paradox. Er verdiente sein Geld damit, anderer Leute Probleme zu lösen; äußerst diffizile Angelegenheiten, die häufig ungewöhnliche Maßnahmen erforderten. Er selbst war noch nie zimperlich gewesen, und seine brutale Genauigkeit und schonungslose, direkte Art hatten ihm bereits in den ersten Jahren seiner Tätigkeit einen unauslöschlichen Namen in der Welt dies- und jenseits der Legalität verschafft. Er fand immer eine Lösung, die seine Kunden zufrieden stellte. Probleme - das waren seine Leidenschaft, seine Magie. Ondragon stieß ein trockenes Lachen aus. „Nur mein eigenes Problem, das bekomme ich nicht in den Griff!“ Er streckte seinem Spiegelbild mit einem sarkastischen Grinsen eine Hand hin. „Gestatten, Ondragon Consulting, ich löse Ihre Probleme, schnell, zuverlässig und sauber, aber fragen Sie nicht nach meinen eigenen!“ Er seufzte, nahm sich das Halfter mit der Sig Sauer ab und legte es zu dem Telefon in den Nachttisch. Ein Mann wie er hatte nicht nur Freunde.

Sein Blick fiel auf einen Stapel mit losen Papieren, der von einer Banderole zusammengehalten wurde. Golden Rules stand auf dem obersten Blatt - offenbar eine spezielle Ausfertigung eigens für ihn. Er schaute auf seine Uhr am Handgelenk. Noch zwanzig Minuten bis zum Abendessen. Er entfernte die Banderole, legte das Deckblatt beiseite und begann zu lesen.