cover.jpg

img1.jpg

Planetenroman

 

Band 5

 

Eisige Zukunft

 

Er befiehlt ein waghalsiges Experiment – und wird in eine kosmische Auseinandersetzung verstrickt

 

Uwe Anton

 

 

 

Das Tsunami-Projekt zur Entwicklung neuer Raumschiffe ist im fünften Jahrhundert Neuer Galaktischer Zeitrechnung eines der größten Geheimnisse der Terraner. Im Kampf gegen die negative Superintelligenz Seth-Apophis sollen Tsunami-Raumer eine wichtige Rolle übernehmen.

Doch bei einem Testflug kommt es zu einer unvorhersehbaren Katastrophe: Der terranische Kommandant eines Tsunami-Schiffes findet sich in einem völlig fremden Raum wieder. Eine verwirrende Situation erwartet ihn.

Neben menschlichen Häftlingen gibt es mehrere Gruppen von Außerirdischen, die in unvorstellbarem Chaos um ihr Überleben kämpfen. Ständig verändert sich die Umgebung, und es scheint eine Macht zu geben, die Wesen durch Kälte töten kann ...

Prolog

 

Es ist in diesem Zusammenhang durchaus nicht ohne Interesse, sich mit dem Entstehen einer Technologie zu beschäftigen, derer sich die Menschheit immer wieder (wenngleich in der Regel eher unregelmäßig und stets in größter Verschwiegenheit) bedient hat: Gemeint sind die miniaturisierte Versionen des Antitemporalen Gezeitenfeldes (»Mini-ATGs«), die es Raumschiffen ermöglichen, sich wenige Sekunden in die Zukunft zu versetzen. Damit geben sie ihnen gegenüber jedem herkömmlichen Gegner unbestreitbare Vorteile.

Selbst heute ist der Schleier der Geheimhaltung, der die ursprüngliche Entwicklung dieser Schiffe umgibt, nur schwer zu durchdringen. Die derzeit noch vielerorts geläufige Lehrmeinung ist, dass sie, seinerzeit als »Spezialflotte Tsunami« bekannt, offiziell ab etwa dem Jahr 420 NGZ zum Einsatz kamen. Deutlich besser dokumentiert ist hernach die Verbesserung der stets nur paarweise operierenden Tsunami-Schiffe zu den deutlich größeren und autark funktionsfähigen Einheiten der CORDOBA-Klasse, die ab 447 NGZ eingeführt wurde. Später kam die Umdeutung zu wissenschaftlich nutzbaren Experimentalschiffen wie der 1286 NGZ kurz im Mittelpunkt des Interesse stehenden PLICKER.

Weniger bekannt ist allerdings, dass die während des Höhepunkts der Auseinandersetzung mit der negativen Superintelligenz Seth-Apophis 120 Schiffe umfassende Flotte bereits zu Beginn des fünften Jahrhunderts NGZ längst mit 20 Experimentalraumern aktiv war. Es ist wohl korrekt, anzunehmen, dass die schon an Paranoia grenzende Angst vor den Agenten des Überwesens der Hauptgrund für die extremen Verschleierungstaktiken war.

Dokumente aus jener Zeit sind immer noch rar, und die meisten Geschichtsbände nennen den Einsatz der TS-80 im September 424 gegen einen in der Milchstraße befindlichen Geheimstützpunkt von Seth-Apophis als den ersten nennenswerten Einsatz einer Tsunami-Einheit.

Eine im Jahr 429 von Perry Rhodan persönlich angefertigte, streng geheime Aktennotiz, die als eines der wenigen Dokumente zu diesem Thema überliefert ist, gibt einen kurzen Einblick in diese Thematik. So wissen wir dadurch, dass im Jahr 403 von diesen 20 Versuchsraumern nur noch acht existierten. Der Chronist erhält zudem Rückschlüsse auf den Verbleib eines dieser Schiffe, Rückschlüsse, die, wären sie seinerzeit bereits bekannt gewesen, die Auseinandersetzung mit Seth-Apophis sicherlich in andere Bahnen hätten lenken können (s. Kapitel 1.2.7, Anhaltende Spätfolgen der Auseinandersetzung mit Seth-Apophis).

Die Notizen Perry Rhodans sind selbst für seine Verhältnisse ungewohnt kurz und skizzenhaft, mehr hastig diktiert als sauber ausformuliert. Dies dürfte damit zu tun haben, dass er sie zu einem Zeitpunkt anfertigte, als er sich nach den Ereignissen um den Frostrubin und die verweigerte Antwort auf die Dritte Ultimate Frage nur kurz auf der Erde aufhielt, wohl schon im Gefühl des nahenden Abschieds, aber noch vor dem Ausspruch des Banns der Kosmokraten gegen die »abtrünnigen« Ritter der Tiefe.

Da Rhodan bereits am Tag nach dem Besuch des Yosemite-Nationalparks die Erde mit der ZUGVOGEL III verließ, könnte diese Hast das nach wie vor existierende Informationsdefizit erklären helfen.

 

(Aus: Hoschpians unautorisierte Chronik des 13. Jahrhunderts NGZ; Kapitel 1.4.11, Technologische Grundlagen und Übernahmen aus der Vor-Hanse-Zeit)

403 NGZ, im Leerraum zwischen den Sternen

40 Lichtjahre von Sol entfernt

T minus 26 Minuten

 

»Ortung«, teilte der Koco in dem Augenblick mit, in dem das Mini-ATG aktiviert wurde. »Countdown abgebrochen.«

Maikel Pasiuk sah sofort auf die Bildschirmkontrollen. Aber alle Anzeigenskalen leuchteten in beruhigendem, gleichmäßigem Grün. Auch die sekundären Regelschalter, die ganz bewusst vom Kontracomputer getrennt waren, meldeten keinerlei ungewöhnlichen Werte.

Kein Flackern, keine roten Negativanzeigen. Kein Anzeichen irgendeiner Unregelmäßigkeit.

Doch der Kommandant der TS-T8 machte sich keine Illusionen. Selbstverständlich reagierten die Positroniken wesentlich schneller, als es jedem Lebewesen möglich war. Er musste die Mitteilung auf jeden Fall ernst nehmen. Immerhin bestand keine unmittelbare Gefahr für den Tsunami; entweder der Koco oder die reguläre Bordpositronik hatten mit dem Abbruch des Manövers bereits entsprechend reagiert.

Pasiuk warf einen Blick auf den Außenbildschirm. Er zeigte sternenleere Dunkelheit. Die TS-T8 und ihr Schwesterschiff, die TS-T7, befanden sich etwa vierzig Lichtjahre von Terra entfernt – also praktisch vor der Haustür –, vom Zentrum der Milchstraße abgewandt im Leerraum zwischen unbewohnten Sonnensystemen. Obwohl die TS-T7 weniger als zwanzig Kilometer entfernt Parallelkurs hielt, war sie bei der eingestellten Vergrößerungsstufe auf dem Realschirm nicht auszumachen. Ein Blick auf den virtuellen Ortungsschirm verriet Pasiuk jedoch, dass der Begleiter noch an Ort und Stelle war.

Unsinn, mahnte er sich. Denk nach! Der Koco hat von einer Ortung gesprochen. Zwar versteht außer Thys keiner so genau, was den Kasten umtreibt, aber wäre es bei der T7 zu Komplikationen gekommen, hätte er sich schon etwas spezifischer ausgedrückt.

»Kurs halten«, ordnete er an und fügte überflüssigerweise hinzu: »ATG-Feld erst auf meinen ausdrücklichen Befehl wieder mit vollem Countdown aktivieren.« Aber seine spärliche Besatzung war nicht minder nervös als er auch.

Will ich sie beruhigen – oder mich selbst?, fragte er sich. Die Antwort blieb er sich schuldig.

»Was ist los bei euch?«, meldete sich Hector Chricon, der Kommandant der T7, über den offenen Kanal zwischen den beiden Raumern der STAR-Klasse. »Unseren Instrumenten zufolge habt ihr das ATG-Feld lediglich drei Nanosekunden lang aktiviert und seid dann wieder in die Normalzeit zurückgefallen. Erneut ein Wandlerausfall? Status?«

»Status Grün«, antwortete Hainu a Kjaschd. Der Marsgeborene war der einzige Nichtterraner der fünfköpfigen Testbesatzung. »Wir werten die Daten noch aus. Alle Systeme zeigen normal. Der Koco hat Einspruch erhoben.«

»Dann viel Spaß«, sagte Chricon. »Wir heben den Alarmzustand auf und setzen erst mal einen Kaffee auf.«

»Negativ«, warf Pasiuk ein. »Wir überprüfen sämtliche Systeme und versuchen es dann erneut. Haltet euch für den nächsten Countdown bereit.«

»Bestätigt«, sagte Chricon und verstummte. Die Verbindung zwischen den beiden Schiffen blieb natürlich bestehen.

»Nun, Rorvic?«, wandte Pasiuk sich an den Marsgeborenen. »Was wurde also geortet?«

A Kjaschd reagierte nicht auf die harmlose Hänselei, obwohl er ihr sonst regelmäßig mit gespielter Entrüstung oder aber einem ausführlichen Vortrag darüber begegnete, welche Verdienste die beiden legendären Mitglieder des Mutantenkorps sich um die Menschheit, das Universum und den ganzen Rest gemacht hatten; er bezeichnete sich als reinrassigen Marsgeborenen der a-Klasse und leitete seine Herkunft tatsächlich von jenem berühmten a Hainu ab, der im Psychoteam mit Dalaimoc Rorvic als Inspirator agiert hatte. Aber das war natürlich weit vor dem Jahr null gewesen, vor über vierhundert Jahren.

Allerdings war es ihm bislang noch nicht gelungen, glaubhaft zu erklären, wieso er – als angeblicher Nachkomme – den Nachnamen des längst in ES aufgegangenen Kosmogeologen als Vornamen trug.

In den offiziellen Unterlagen wurde er als Bordingenieur geführt, doch ganz abgesehen davon, dass man die T8 sowieso in keinem offiziellen Register fand, nahm er ein wesentlich breiteres Aufgabenspektrum wahr. Unter anderem zeichnete er für die Ortung und die Funkverbindungen verantwortlich.

»Nichts«, sagte er. »Weit und breit nichts als sternenleerer Raum. Von der TS-T7 abgesehen, handelt es sich bei den nächsten Objekten um die L. D. PALMER und die LOGAN DEREK. Sie sind, wie vereinbart, fast anderthalb Lichtjahre von uns entfernt.«

Pasiuk nickte. Die PALMER war ein Großraumschiff der NEBULAR-Klasse, die DEREK eine zweihundert Meter durchmessende Einheit der STAR-Klasse, also typidentisch mit der T8. Es hatte seinen guten Grund, dass die beiden Raumer einen gebührenden Abstand einhielten, und dieser ließ sich kurz und bündig mit Geheimhaltung umschreiben.

Vor genau 403 Jahren hatte Perry Rhodan die Kosmische Hanse gegründet. Offiziell galt sie als Handelsorganisation, und nur wenige Eingeweihte – darunter Maikel Pasiuk als Hanse-Spezialist – wussten, dass sie in erster Linie den Zweck verfolgte, die Galaxis auf eine Auseinandersetzung mit der geheimnisvollen, negativen Superintelligenz Seth-Apophis vorzubereiten. Die Gründung war im Auftrag der positiven Superintelligenz ES erfolgt, der Herrin der Mächtigkeitsballung, zu der auch die Milchstraße gehörte. ES lag schon seit geraumer Zeit im Konflikt mit Seth-Apophis, und die Auseinandersetzung schien nun ihrem Höhepunkt entgegenzustreben.

Einem Höhepunkt, auf den die Eingeweihten der Kosmischen Hanse seit vier Jahrhunderten warteten.

Seth-Apophis war imstande, Intelligenzwesen über unvorstellbare Entfernungen hinweg zu beeinflussen. Sie hatte zahlreiche Agenten rekrutiert, die sie zu jedem beliebigen Zeitpunkt einsetzen konnte. Vor und nach der Aktivierung wussten diese Agenten nicht, dass sie in Wirklichkeit Sklaven der negativen Superintelligenz waren. Sie benahmen sich völlig normal.

Wie sollte man den Helfershelfer eines Feindes entlarven, der selbst nicht einmal ahnte, dass er ein Helfershelfer war? Daher die Geheimhaltung. Man musste unbedingt verhindern, dass Seth-Apophis ihre Spitzel ins HQ Hanse oder gar in den STALHOF einschleusen konnte. Allerdings hatte Pasiuk den Eindruck, dass die Situation immer unhaltbarer wurde, je länger die eigentliche Auseinandersetzung sich hinauszögerte. Paranoia machte sich breit.

Nach vier Jahrhunderten der Geheimhaltung, des Verschweigens und des Wissens um eine eigentlich unlösbare Situation war man immer schneller geneigt, auch dort Feinde zu sehen, wo es eigentlich gar keine gab. Hinzu gesellte sich Betriebsblindheit: Pasiuk befürchtete, dass sie irgendwann die tatsächlichen Feinde gar nicht mehr bemerken würden.

Die Verantwortlichen wollten also vermeiden, selbst aufgrund so spärlicher Indizien wie augenscheinlich unerklärlicher Schiffsbewegungen den geringsten Argwohn nicht eingeweihter Kreise zu erwecken. Abgesehen von Rhodan, dessen engsten Mitarbeitern und einigen Hanse-Sprechern wusste niemand etwas von der Position, ja nicht einmal von der Existenz der Tsunami-Testschiffe.

Offiziell wurden sie als ganz normale Raumer der STAR-Klasse geführt. Das waren sie auch, wäre das ATG nicht gewesen.

Das Antitemporale Gezeitenfeld beruhte im Prinzip auf dem von Geoffry Abel Waringer verifizierten Zeitfeld der Bestien aus M 87. Pasiuk war zwar Techniker und kein Historiker, hatte sich bei der Vorbereitung der Tsunami-Testflüge jedoch ausführlich mit allen Aspekten der hier zum Einsatz kommenden Technologie vertraut gemacht.

Im 35. Jahrhundert war das damals noch existierende Solare Imperium immer heftiger werdenden Angriffen der Antisolaren Koalition ausgesetzt gewesen. Die Gegenspieler des Imperiums – der Carsualsche Bund, das Imperium Dabrifa und die Zentralgalaktische Union – waren heutzutage zwar nur noch Fußnoten in den galaktischen Geschichtsbüchern, hatten die Menschheit seinerzeit jedoch in einen verheerenden Bürgerkrieg zu stürzen gedroht. Rhodan hatte ihnen ein Schnippchen geschlagen, indem er das Sonnensystem überraschend mit einem ATG-Feld umhüllt und damit um fünf Minuten in die Zukunft versetzt hatte, wodurch es praktisch unangreifbar geworden war. Pasiuk wusste sogar noch das genaue Datum: Am 10. November 3430 war das ATG-Feld aktiviert worden.

Ebenfalls unter Waringers Führung war dieses Prinzip erneut weiterentwickelt worden. Nun waren allerdings keine fünf Minuten mehr projektiert, sondern lediglich eine bis zwei Sekunden. Doch diese Zeitversetzung genügte, um die Tsunamis für die Ortung anderer Schiffe praktisch verschwinden zu lassen und damit unangreifbar zu machen.

Herbeigeführt wurde diese Zeitversetzung durch Mini-ATGs, die Waringer – natürlich – mithilfe der Siganesen entwickelt hatte. Geplant war ein jeweils paarweises Operieren der Tsunamis. Das eine Schiff verfügte über das Antitemporale Gezeitenfeld, das andere nicht. Die Wissenschaftler und Feinmechaniker von Siga waren auch federführend bei der Entwicklung der Transmitterschaltungen gewesen, die es erst ermöglichten, dass der im Schutz des ATG befindliche Raumer jederzeit die Funk- und Transmitterverbindung mit seinem Schwesterschiff aufrechterhalten konnte. Im Frühstadium der Versuchsreihe war dieser Kontakt auf nicht einmal zwei Kilometer beschränkt gewesen, ein allein schon aus flugtechnischen Gründen völlig ungenügender Wert.

Mittlerweile hatte Waringer jedoch Geräte konstruiert, die ein Zehnfaches dieser Entfernung ermöglichten. Als Pasiuk das letzte Mal mit dem Wissenschaftler gesprochen hatte, hatte der sich äußerst optimistisch darüber geäußert, die Reichweite noch einmal um die Hälfte auszudehnen, also auf etwa dreißig Kilometer.

Tsunami, dachte Pasiuk. Eine plötzliche Meereswelle, die durch Veränderungen des Meeresbodens entstanden war und verheerende Wirkungen an den Küsten gehabt hatte. Seit Jahrhunderten – seit NATHAN die Wetterkontrolle Terras vornahm und den Planeten unter genauer Beobachtung hielt – waren solche Flutwellen nicht mehr vorgekommen oder zumindest so rechtzeitig erkannt worden, dass die Auswirkungen begrenzt werden konnten. Doch der Name stand für das Prinzip: urplötzliche, völlig überraschende Eingriffe, gegen die kein Schutz möglich war. Genau wie es auf der Erde jener grauen Vorzeit der Fall gewesen war, als die Technologie der Menschheit noch nicht von den Errungenschaften der degenerierten Arkoniden beeinflusst gewesen war, die den Planeten der Unsterblichkeit gesucht hatten und auf dem irdischen Mond gestrandet waren.

Ein Prinzip war allerdings noch keine brauchbare Technologie. Die Testreihe der Tsunamis hatte anfangs zwanzig umgerüstete Schiffe der STAR-Klasse umfasst, von denen zurzeit jedoch nur noch acht Exemplare existierten. Die Verantwortlichen hatten kein Hehl daraus gemacht, dass es – gerade bei den ersten Testflügen – zu Katastrophen gekommen war, die zahlreiche Intelligenzwesen das Leben gekostet hatten. Ganz im Gegenteil, sie hatten die freiwilligen Besatzungen rückhaltlos über die vorhandenen Risiken informiert.

Zudem war vorgesehen, die geplante Mannschaft von etwa vierzig Personen auf das absolute Mindestmaß zu reduzieren, das noch einen geordneten Testablauf gewährleistete. Dabei waren den Positroniken weitergehende Kompetenzen zugestanden worden, als es an Bord eines Raumschiffs der STAR-Klasse normalerweise der Fall war.

Die Besatzung der TS-T8 bestand aus fünf Personen. Neben Maikel Pasiuk als Kommandant befanden sich die »Bordingenieure« Hainu a Kjaschd und Sha Baker sowie der »wissenschaftliche Leiter« Garsten Braun an Bord – in Wirklichkeit hochqualifizierte Polytechniker, die sich seit diversen Jahren mit der Tsunami-Technik befassten und im Notfall problemlos den mehr oder weniger zufällig verteilten Aufgabenbereich eines anderen Besatzungsmitglieds hätten übernehmen können. Und natürlich Farell Thys – die einzige Ausnahme an Bord, was die umfassenden Kenntnisse über die Einsatzbereiche betraf ...

Das Risiko wird gebündelt, dachte Pasiuk. Anstatt es auf vierzig Besatzungsmitglieder zu verteilen, wird es auf fünf Hanse-Spezialisten konzentriert. Aber die potenziellen Gefahren sind uns allen bekannt. Wir haben sie freiwillig in Kauf genommen.

Ich bin weniger ein Test- als ein Risikopilot, gestand sich Pasiuk ein. Da hat es schon einmal einen gegeben, fügte er erheitert hinzu.

Er riss sich zur Ordnung. Das Gespräch, auf das dieser Gedanke sich bezog, gehörte nun wirklich nicht hierher. Es gab dringendere Probleme.

»Was hast du geortet, Rorvic?«, wiederholte Pasiuk.

Der Marsgeborene hatte nicht nur optisch sämtliche Anzeigen kontrolliert, sondern bereits eine Computersimulation des Countdown bis zum plötzlichen Abbruch ablaufen lassen. Er war hoch konzentriert bei der Sache – so aufmerksam, dass er weder auf die Hänselei reagiert noch Pasiuks erste Anfrage beantwortet hatte.

»Nichts«, sagte er und zuckte hilflos mit den Achseln über der vorgewölbten Tonnenbrust. »Der Countdown verlief völlig planmäßig über T minus zwei Minuten. Das ATG-Feld wurde aktiviert, und die Positronik bestätigt, dass die T8 planmäßig zeitversetzt wurde ... genau drei Nanosekunden lang. Keine besonderen Vorkommnisse ... bis das Manöver aufgrund einer übergeordneten Prioritätsanweisung des Koco abgebrochen wurde. Die Bordpositronik hat keinerlei Gründe für den Abbruchbefehl feststellen können.«

Der Koco war eine weitere Schutzvorkehrung, die das Leben der Besatzung – und sicher auch die materiellen Aufwendungen, die in jeden einzelnen Tsunami geflossen waren – vor unnötigen Gefahren bewahren sollte. Nach den ersten fehlgeschlagenen Testflügen war solch ein Gerät in jeden Tsunami eingebaut worden, auch in die Schiffe, die über kein ATG verfügten. Es handelte sich dabei um eine unabhängige Positronik, einen sogenannten Kontracomputer. Der Koco berechnete ständig alles unter der Annahme der entgegengesetzten, hochgradig unwahrscheinlichen Voraussetzungen. Seine primäre Aufgabe bestand im Prinzip darin, alles anzuzweifeln und – rechtzeitig – zu reagieren.

Der Koco war also eine letzte Kontrollinstanz, dessen Befugnisse über die der Positronik und der Besatzung hinausgingen. Er brauchte einen Abbruch der Mission nicht erst zeitraubend bestätigen zu lassen. Dadurch wurden Sekundenbruchteile – Nanosekunden, korrigierte Pasiuk sich – gespart, die im Ernstfall über Leben und Tod der Besatzung entschieden.

Normalerweise störte der Koco den Bordbetrieb nicht. Er meldete sich erst, wenn im routinemäßigen Ablauf einer Operation aufgrund von gefährlichen Unwahrscheinlichkeiten besondere Reaktionen notwendig wurden, also nur, wenn er aufgrund seiner Berechnung eine Gefahr erkannte, die weder die Bordpositronik noch die Besatzung rechtzeitig wahrnehmen konnte.

Ein narrensicheres Schutzsystem, dachte Pasiuk. Doch die Sache hat einen Haken.

Aufgrund seiner abstrusen Grundprogrammierung – er war gewissermaßen die Kraft, die stets das Böse sieht und stets das Gute schafft – konnte der Koco nicht auf normale Art und Weise mit den verantwortlichen Kommandooffizieren kommunizieren. Seine verbalen Äußerungen beschränkten sich auf ein absolutes Minimum – wie eben auf die gerade erfolgte Warnung »Ortung!«. Der Koco wurde von einem mit dieser besonderen Programmierung vertrauten Spezialisten bedient, dem Koco-Interpreter, dessen Aufgabe es war, die Bedenken der Spezialpositronik den anderen Besatzungsmitgliedern zu verdeutlichen.

Und deshalb war Farell Thys die Ausnahme an Bord. Er war Koco-Interpreter, kein Polytechniker. Er hätte – zur Not – vielleicht eine Transmitterverbindung zur TS-T7 herstellen oder einen Notruf aussenden können, war aber unschlagbar, wenn es galt, die Instruktionen und Aussagen des Kontracomputers in für Normalsterbliche verständliche Begriffe umzuwandeln.

Bislang hatten sich jedoch etwa achtundneunzig Prozent aller vom Koco eingeleiteten Vorgehensweisen als schlichtweg überflüssig erwiesen. Zwei Herzen schlugen in Pasiuks Brust. Zum einen war er aufrichtig dankbar, dass eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme dazu beitragen sollte, weitere Verluste zu verhindern. Zum anderen kam er sich wie ein Bewohner jenes Dorfes vor, dessen Hirtenjunge zum achtundneunzigsten Mal zu den Hütten stürmte und »Ein Wolf! Ein Wolf!« rief.

Der Testflug des Gespanns TS-T7 und TS-T8 diente in erster Linie dazu, Probleme im Zusammenspiel zwischen der ATG-Technik und dem Koco auszuräumen.

»Also?« Pasiuk wandte sich an Farell Thys und versuchte dabei bewusst, jegliche Untertöne aus seiner Stimme zu verbannen. Wenn ausgerechnet jetzt wirklich ein Wolf die Schafe riss ...

Thys sah von seiner Instrumentenkonsole auf. »Der Koco hat ein Phänomen angemessen, auf das ich mir nicht den geringsten Reim machen kann. Eine Strukturerschütterung ... allerdings so kompliziert oder übergeordnet, dass er die Daten nicht deuten kann.«

»Farell«, fragte Pasiuk, »was interpretierst du?«

Der Interpreter schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, antwortete er. »Wollte ich dich bluffen, würde ich etwas von einem mehrdimensionalen Riss im Raum-Zeit-Gefüge erzählen, dem wir uns genähert haben. Mindestens fünfdimensional, aber mit hauptsächlich vierdimensionaler Konzentration. Aber ich bin eine ehrliche Haut. Ich habe nicht die geringste Ahnung, weshalb der Koco das Manöver abgebrochen hat.«

»Aber da war irgendetwas«, sagte Pasiuk.

Farell Thys nickte.

»Wenn da irgendetwas war«, warf a Kjaschd ein, »muss die Bordpositronik es ebenfalls angemessen haben. Der Koco geht zwar immer von der schlimmsten Voraussetzung aus, arbeitet aber nur aufgrund der Werte, die die Sensorbänke einspielen. Und diese Werte müssen auch der Positronik vorliegen. Aber meine Simulation hat keinerlei Unregelmäßigkeiten festgestellt.«

»Der Koco hat das Manöver nach drei Nanosekunden abgebrochen«, sagte Pasiuk nachdenklich. Dieser Zeitraum war – für einen Menschen oder Marsgeborenen – unfassbar kurz. Vielleicht auch für eine Positronik, außer, sie war eigens darauf programmiert, Ausschau nach gefährlichen Unwahrscheinlichkeiten zu halten. »Ist es möglich, dass die Positronik in dieser kurzen Zeit die mögliche Gefahr nicht erkannt hat?«

»Werte sind Werte«, sagte Thys. »Wenn du mich fragst, ob der Koco eine Raum-Zeit-Verzerrung angemessen hat, die wir selbst verursacht haben, muss ich dir sagen ... vielleicht ja, vielleicht auch nicht.«

»Meine Positronik hat nichts festgestellt«, bestätigte a Kjaschd indirekt die Worte des Interpreters.

Bordingenieur hin, wissenschaftlicher Leiter her, Pasiuk war der Kommandant der TS-T8 und hatte die Entscheidungen zu treffen. Es gab drei Möglichkeiten. Entweder der Koco hatte zum neunundneunzigsten Mal »Wolf!« gerufen. In diesem Fall konnte er anordnen, das ATG-Feld mit dem planmäßigen Countdown von zwei Minuten erneut aufzubauen.

Oder der Koco hatte eine Gefahr erkannt, die der regulären Bordpositronik und damit erst recht den Besatzungsmitgliedern entgangen war. In diesem Fall musste er die PALMER informieren, die die Mission der TS-T8 aus sicherer Entfernung überwachte. Der Kommandant der PALMER würde über ein mehrfach gesichertes Relaissystem Kontakt mit dem HQ Hanse aufnehmen und Waringer Bericht erstatten.

Der Wissenschaftler würde sich mit Rhodan und den anderen Eingeweihten beraten, wahrscheinlich die Rückkehr der kleinen Tsunami-Flotte nach Terra beordern und Schiffe in diesen Sektor schicken, die alle Messdaten des Koco überprüfen würden. Die fünf Besatzungsmitglieder würden mehrere Simulationen des Vorfalls durchspielen und danach Landurlaub bekommen. Nach mehreren Wochen würden sie die Mission dort wiederaufnehmen, wo sie sie abgebrochen hatten.

Oder aber ... der Koco hatte die Zeitversetzung abgebrochen, weil er aufgrund seiner verqueren Programmierung tatsächlich etwas festgestellt hatte, das der regulären Bordpositronik entgangen war. Das hieß ... dort war etwas, das aus dem normalen Raum-Zeit-Kontinuum nicht anmessbar war und sich erst bei einer Zeitversetzung offenbarte. Als Hanse-Spezialist kannte Pasiuk zumindest einen Teil der Gründe, die Rhodan zur Initiierung des Projekts Tsunami bewogen hatten. Und falls dort etwas war, mochte es sich um das handeln, worauf die Eingeweihten seit dem Jahr null warteten. In diesem Fall war es seine Pflicht, mit fundierteren Erkenntnissen nach Terra zurückzukehren, als ihnen zurzeit vorlagen.

Und falls der Koco die Gefahr beim ersten Mal erkannt hatte, würde er sie auch beim zweiten Mal rechtzeitig erkennen und den Zeitrücksturz einleiten.

»Ich schlage vor«, sagte Thys, »wir brechen den Restflug ab und informieren die PALMER. Soll Waringer sich doch darum kümmern.«

Ja, Waringer ... wenn sie ihn und womöglich noch einen der Siganesen an Bord hätten, die die Systeme entwickelt hatten und sich blind mit ihnen auskannten ...

Macht es mich betroffen, fragte sich Pasiuk, dass Waringer auf Terra sitzt und versucht, aus läppischen zwanzig Kilometern dreißig zu machen? Dass nicht er seine Haut riskiert, sondern ich? Der Mann ist nicht ersetzbar, sagte er sich. Ich schon. Ich kann kein Zeitfeld der Bestien weiterentwickeln.

Natürlich hatte er nicht vor, ein vermeidbares Risiko einzugehen. Aber er vertraute Waringers Einfallsreichtum. Der Koco war narrensicher und würde beim geringsten Hauch einer Gefahr die Mission abbrechen.

»Negativ«, sagte er. »Alarmzustand Rot. Überspielung sämtlicher Daten des Bordcomputers und Kocos an die TS-T7. Wir wenden und fliegen auf exaktem Kurs zurück. Aktivierung des ATG genau zwei Minuten, bevor wir die Position erreichen, an der der Koco die Mission abgebrochen hat. Auf drei Nanosekunden genau.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Hector, hast du alles mitbekommen?«

Chricon bestätigte. Er hatte das Gespräch an Bord der Zentrale der TS-T8 verfolgt. »Du gehst also davon aus, dass sich dort etwas befindet?«, vollzog er Pasiuks Gedanken nach.

»Entweder das, oder der Koco hat erneut falschen Alarm gegeben.«

»Systemüberprüfung?«, fragte Pasiuk.

»Alle Systeme grün«, meldete Sha Baker.

Pasiuk überprüfte die Daten, die von der Bordpositronik kamen. Alle Werte lagen im Normalbereich. Als das Schiff in einer langgezogenen Kurve wendete, glaubte er, das Vibrieren des Antriebs zu spüren.

Selbsttäuschung ... Er schüttelte den Kopf und betrachtete dann sein Spiegelbild auf der matt glänzenden Oberfläche einer Konsole. Blaue Augen, vielleicht eine Spur zu scharf geschnittene Züge mit hohen Wangenknochen, ein markantes Kinn, dunkelblondes kurzes Haar. Er wäre nicht imstande gewesen, sein Gesicht mehr als nur oberflächlich zu beschreiben oder einen Ausdruck darauf zu finden. Es zeugte nicht von besonderen Eigenschaften oder Erfahrungen, die er gemacht hatte. Nichts ließ sich aus ihm lesen. Abgesehen von einem Grübchen am Kinn kam es ihm völlig ... normal vor. Einigermaßen gerade Nase, einigermaßen ebenmäßige Züge. Es war eben sein Gesicht.

Bei seiner Gestalt wäre es etwas anderes gewesen. Er hätte sich als klein und drahtig bezeichnet, als sportlich. Doch seine dahingehenden Ambitionen hatten einen Dämpfer bekommen, als er sich innerhalb eines Dreivierteljahres bei sportlichen Veranstaltungen zweimal das rechte Knie gebrochen hatte. Auch den modernen Regenerationstechniken waren Grenzen gesetzt. Der Arzt hatte ihm nach dem zweiten Unfall jeglichen Leistungssport verboten. Die Aussicht, seine Karriere als Hanse-Spezialist wegen eingeschränkter Bewegungsfähigkeit des rechten Beins aufgeben zu müssen, hatte ihn zur Vernunft gebracht. Seit dieser Zeit hielt er sich zwar körperlich fit, ging aber keine Risiken mehr ein.

»Berechnete Position erreicht«, meldete die Bordpositronik. »Countdown auf zwei Minuten beginnt ... jetzt.«

Pasiuk sah sich in der Zentrale um. Da die TS-T8 ein umgebauter Raumer der STAR-Klasse war, deutete auf den ersten Blick nichts darauf hin, dass es sich zugleich um ein Testschiff handelte. Die neu eingebauten Komponenten der ATG-Technologie fügten sich harmonisch in das Gesamtbild ein und wirkten, als hätten sie schon immer an Ort und Stelle gehört.

»T minus neunzig Sekunden.«