image

DAS WAR
MEINE
RETTUNG

50 Persönlichkeiten erzählen
von Wendepunkten in
ihrem Leben.

HERLINDE KOELBL
IJOMA MANGOLD
LOUIS LEWITAN

image

INHALT

VORWORT
»Das war meine Rettung«

FERRAN ADRIÀ
»Mit siebzehn Jahren war ich weg«

NADINE ANGERER
»Meine Trainerin ließ mich links liegen«

NOBUYOSHI ARAKI
»Die Kamera hält mich am Leben«

GABRIEL BACH
»Mein Vater hatte den sechsten Sinn«

LOUIS BEGLEY
»Sie fand den Weg aus dem Labyrinth«

KARIN BEIER
»Meine Tochter hat alle Prioritäten verschoben«

NORBERT BISKY
»Ich bin davon besessen, Kontrolle über mein Leben zu haben.«

THOMAS »TOIVI« BLATT
»Die Kugel blieb in meinem Kiefer stecken«

MICHAEL BLUMENTHAL
»Der Vizekonsul gab mir ein Visum für die USA«

PHILIPPE POZZO DI BORGO
»Ich brauchte einen irren Typen wie Abdel«

MATTHIAS BRANDT
»Wir fanden eine Nähe, die anders war«

SIBYLLE CANONICA
»Mich können nur die Engel retten …«

JULIA FISCHER
»Ich werde Yakov be mir behalten«

AMELIE FRIED
»Bevor ich zur Mörderin werde, schreibe ich«

GUNTER GABRIEL
»Eine Prostituierte fing mich auf«

RALPH GIORDANO
»Der Blick meines Bruders hielt mich davon ab, abzudrücken«

NADINE GORDIMER
»Seit ich neun Jahre alt war, schreibe ich«

AXEL HACKE
»Ich bekam einen Hörsturz«

JOSEF HADER
»Ich habe mich von der katholischen Erziehung gelöst«

ROMAN HERZOG
»Man lebt von der Loyalität der anderen«

DIETER HILDEBRANDT
»Ihretwegen habe ich aufgehört«

CLAUS HIPP
»Der Betrieb war meine Kinderstube«

WOLFGANG ISCHINGER
»Kollegen sagten: Uns ist das Gleiche passiert«

WLADIMIR KAMINER
»Ich bin getürmt und habe mich krankgemeldet«

SUNG-JOO KIM
»Ich bewahre absolute Ruhe«

JOHANN KÖNIG
»Ich habe mich total in die Arbeit geworfen«

FRANZ XAVER KROETZ
»Sie wollte mich und das Baby«

KATJA KULLMANN
»Ich hab wenig gegessen und Kontakte gepflegt«

ILDIKÓ VON KÜRTHY
»Meine Freundin sagte: Atme weiter!«

JOHANN LAFER
»Ich habe gemerkt, mein Körper lebt noch«

VERA LENGSFELD
»Ich las meine Stasiakten und schrieb das Buch«

SIBYLLE LEWITSCHAROFF
»Die Straßenbahn fuhr in den Himmel«

MARIO VARGAS LLOSA
»Mein Vater verbot mir, zu schreiben«

MARGARETE MITSCHERLICH
»Ich machte eine kleine Kopfbewegung«

ARMIN MUELLER-STAHL
»Fiktive Dialoge mit dem Politbüro«

JOHN NEUMEIER
»Man muss Sympathie für den Körper haben«

HERMANN NITSCH
»Ich bin Wiener und habe getrunken«

CHRISTINE NÖSTLINGER
»Manchmal muss man eben in Therapie gehen«

KENZABURŌ ŌE
»Ohne den Schmerz hätte ich nicht geschrieben«

THOMAS QUASTHOFF
»Mein Chef nahm alles auf seine Kappe«

EDZARD REUTER
»Meine Mutter vermittelte mir: Ertrag das«

CHRISTIANE ZU SALM
»Die haben mir alle den Voge gezeigt«

FERDINAND VON SCHIRACH
»Mein Beruf war eine Art Rettung«

CORNELIA SCHLEIME
»Ich sagte, ich trete in den Hungerstreik«

DANIEL SHECHTMAN
»Meine Stärke rührt aus der Kindheit«

MARTIN SUTER
»Für meine kleine Tochter lebt ihr Bruder noch«

MICHAEL TRIEGEL
»Der Altar zwang mich fast zum Kniefall«

JAN VOGLER
»Die Wende kam, als es gefährlich wurde«

ANNE WEBER
»Der Wind fegte alle Bitterkeit weg«

ANGELA WINKLER
»Meine Mutter hat sehr geholfen«

Impressum

VORWORT

»Das war meine
Rettung«

Die letzte Seite eines Magazins umgibt etwas Magisches: Denn obwohl sie ganz hinten versteckt liegt, ist sie für viele Leser der wahre Einstieg, die erste Seite, die sie aufschlagen. Erst die Titelseite anschauen, dann das Heft von hinten aufblättern und rückwärts lesen – hobbypsychologisch betrachtet kann man sagen: nicht obwohl, sondern weil die letzte Seite so versteckt liegt, ist sie so beliebt.

Als wir im Frühjahr 2007 das ZEITmagazin nach mehreren Jahren Pause wiederaufleben ließen, starteten wir auf der letzten Seite die Interviewreihe »Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt«. Jede Woche befragte ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo den ZEIT-Herausgeber Helmut Schmidt zu aktuellen und persönlichen Themen. Die Serie war schnell so beliebt, dass sie mehrfach verlängert und schließlich auch als Buch ein Bestseller wurde. Anschließend führte der Journalist und Schriftsteller Roger Willemsen, der als Interviewer der legendären Fernsehsendung »0137« in den neunziger Jahren bekannt geworden war, Gespräche mit interessanten Zeitgenossen. Als auch diese Reihe auslief, waren wir ratlos: Was sollte jetzt noch kommen?

Das war der Anlass zu einem gemeinsamen Mittagessen im Berliner Café Einstein mit mehreren Kollegen. Tanja Stelzer, Matthias Kalle, Wolfgang Büscher, Stephan Lebert und ich saßen also zusammen und dachten bei Wiener Schnitzel und Salat gemeinsam nach. Über ein paar Dinge waren wir uns schnell einig: Es sollten weiterhin Interviews geführt werden, vielleicht von mehreren Interviewern. Persönliche Themen sollten der Leitfaden sein, man sollte etwas über den Interviewten erfahren, was man noch nicht wusste – und im Idealfall Anregungen bekommen für das eigene Leben. Aber mit welchem Zugang? Es wurde ein langes Mittagessen, bis irgendwann der Satz fiel: »Das war meine Rettung«. Ja, jubelten wir, das ist es. Frau Kellnerin, die Rechnung bitte.

In den folgenden Tagen gewannen wir drei exzellente Autoren für die Reihe. Herlinde Koelbl, die als Fotografin ebenso bekannt ist wie für ihre Gespräche, etwa durch ihr Buch »Spuren der Macht«, Louis Lewitan, den Coach und Psychologen, der gerade einen Gesprächsband veröffentlicht hatte, sowie Ijoma Mangold, den Kollegen aus dem Feuilleton, der in diesen Tagen von der »Süddeutschen Zeitung« zur ZEIT gewechselt war und dessen Interviews wir seit langem schätzten. Was sollte jetzt noch schief gehen? So ziemlich alles.

Die drei Autoren, unterstützt von den ZEITmagazin-Redakteuren Christine Meffert und Jörg Burger, bekamen von möglichen Gesprächspartnern eine Absage nach der nächsten: »Zu persönlich« sei dieses Thema, hieß es, die Rettung, die man erlebt habe, sei »zu heikel«, um wirklich darüber zu reden. Wir waren so verzweifelt, dass wir sogar kurzzeitig überlegten, den Titel der Reihe zu ändern. Dann sagte auch noch ein berühmter Schriftsteller aus Süddeutschland, der sich gerne in der »Bunten« interviewen lässt, ab – mit der Begründung, das Thema sei ihm »zu nahe an Bunte«.

Es ist der Geduld und Zähigkeit von Herlinde Koelbl, Louis Lewitan und Ijoma Mangold sowie dem Fotografen Stefan Nimmesgern und der Kollegin Lara Fritzsche zu verdanken, dass Sie, lieber Leser, heute dieses Buch in den Händen halten.

Nun ist das Erfinden von Kolumnen und Serien im Journalismus eine merkwürdige Sache. Vor Veröffentlichung eines neuen Formats weiß man nie, ob es auf Dauer funktioniert. Wie oft gibt es scheinbar geniale Ideen, die nach wenigen Folgen öde werden, ohne dass es jemand vorausgesehen hätte. »Das war meine Rettung« gehört zur zweiten Kategorie: Eine schwere Geburt mit einem langen Leben, nun auch als Buch, dass ich Ihnen hier präsentieren darf. Auch nach drei Jahren schlagen viele ZEITmagazin-Leser die magische letzte Seite zuerst auf, um zu erfahren, wer gerettet wurde – und wie. Und ich bin ziemlich sicher, dass auch der Schriftsteller aus Süddeutschland zu diesen Lesern gehört.

CHRISTOPH AMEND

ZEITmagazin-Chefredakteur, im August 2012

FERRAN ADRIÀ

»Mit siebzehn Jahren
war ich weg«

FERRAN ADRIÀ, EINER DER BERÜHMTESTEN
KÖCHE DER WELT, ÜBER SEINEN FRÜHEN AUSZUG VON
ZU HAUSE UND SEINE BERUFLICHE PAUSE

29. September 2011
Das Gespräch führte Louis Lewitan

Herr Adrià, Sie haben drei Michelin-Sterne und zählen zu den weltweit besten Köchen. Was haben Sie als Kind gern gegessen?

Pommes!

Das hört sich ganz normal an.

Ich war ein ganz normales Kind mit einer normalen Familie und führte ein normales Leben. Sie werden nichts Seltsames in meiner Kindheit finden. Ich habe meinen Eltern keine Probleme bereitet, auch nicht in der Pubertät. Und mit siebzehn Jahren war ich weg.

Warum sind Sie so früh ausgezogen?

Weil ich Urlaub auf Ibiza machen wollte. Dafür brauchte ich Geld und fand Arbeit als Tellerwäscher. So habe ich in der Gastronomie angefangen und war zum ersten Mal frei. Das ist doch der Traum von jedem Jugendlichen.

Sie brachen damals die Schule ab. Warum?

Ich war ein guter Schüler, aber zu dieser Zeit war die Freiheit für mich wichtiger. Es war auch nie mein Traum, irgendeine Lehre zu machen. Manchmal ist das Leben doch viel leichter, als man sich das so vorstellt.

Bereuen Sie, die Schule nicht abgeschlossen zu haben?

Über das, was du nicht mehr ändern kannst, sollst du dich nicht ärgern. Wenn meine Eltern sich stur gestellt hätten und gesagt hätten, du musst weiter auf die Schule gehen, dann würden wir jetzt nicht zusammensitzen und sprechen.

Waren Ihre Eltern derart liberal, dass Sie machen konnten, was Sie wollten?

Meine Eltern waren weder konservativ noch liberal. Ihre Haltung, dass ein Siebzehnjähriger tun kann, was er will, war für Spanien 1980 allerdings ungewöhnlich. Sie war aber grundlegend für meine Karriere.

Haben Sie schon als Jugendlicher nach den Sternen gegriffen?

Nein, es kam einfach so, ich habe nicht danach gesucht. Ich konnte vielleicht davon träumen, ein guter Koch zu werden, aber das war schon das höchste der Gefühle.

Hatten Sie kein Idol?

Mein Idol war Johan Cruyff, ein Fußballer. Aber ich hatte natürlich viele Referenzen, und ich war frei, konnte meine Kreativität ausleben. Kreativität bedeutet für mich einfach nur, etwas zu tun, es ist nichts Mystisches daran.

Untertreiben Sie nicht?

Aber nein. Ich habe nie danach gestrebt, eine Revolution zu starten. Ich habe zunächst Nouvelle Cuisine gemacht. Dann habe ich von 1987 bis 1993 ein bisschen experimentiert, wie eine Nouvelle Cuisine mit spanischem, katalanischem Touch aussehen könnte. Aber dann sagte ich mir, wie langweilig, immer nur das Gleiche zu tun, und fing an, eine neue Sprache zu entwickeln, die kein Mensch verstand und für die sich anfangs nur wenige interessierten. Provokation und Humor gab es in Verbindung mit Essen nicht. Im Gegenteil, man sagte, mit dem Essen spielt man nicht.

Kennen Sie Ihre Grenzen?

Diese Sichtweise interessiert mich nicht.

Wie definieren Sie Erfolg?

Glücklich zu sein. Ich stehe am Morgen auf und denke mir, ich habe schon alles erreicht, was ich erreichen konnte.

Auf dem Höhepunkt Ihrer Karriere haben Sie im vorigen Jahr verkündet, zwei Jahre zu pausieren und das elBulli später als Stiftung weiterzuführen. Warum?

Um nachzudenken. Das elBulli hat es mir nicht erlaubt. Ich hatte fünfundzwanzig Jahre lang keine Pause. Wenn der Stress so groß ist, dass man nicht mehr merkt, dass man Stress hat, hat man ein Riesen-problem. Sieben Tage die Woche arbeiten, das ist verrückt, einfach zu viel.

Ist die Umwandlung des elBulli in eine Stiftung eine Art Rettung für Sie?

Ja, meine Frau hat mich unterstützt, das war sehr wichtig für mich. Sie hat zu mir gesagt, wenn du das elBulli sterben lässt, dann bist du feige. Es wäre das Leichteste gewesen. Ich habe keine Kinder, die das Restaurant hätten übernehmen können, aber durch die Stiftung kann der Geist des elBulli weiterleben. Sie wird 2014 als kreative Denkschmiede, als interdisziplinäres Versuchslabor ihre Pforten öffnen.

Welchen Geist wollen Sie weitergeben?

Die Leidenschaft für das, was man tut. Die Bereitschaft, Risiken einzugehen, aber auch mit anderen zu teilen, wenn man genug erreicht hat. Die Stiftung wird privat finanziert, mit unserem Geld. Ich hätte mir mit dem Geld natürlich auch Ferraris kaufen können.

Warum haben Sie das nicht getan?

Weil sie mir nicht gefallen, weil ich nicht materialistisch bin. Ich reise sehr gerne, übernachte in den besten Hotels, esse in den besten Restaurants, aber das muss ja nicht wirklich sehr teuer sein. Das Wichtigste für mein Team und mich ist nicht das Geld, sondern unser Talent. Wenn wir das weiterentwickeln, dann können wir Arbeitsplätze für andere schaffen, die wiederum unsere Idee weiterentwickeln.

FERRAN ADRIÀ
geb. 1962, ist Koch und Gastronom. Er zählt zu den einflussreichsten Köchen der Gegenwart und gilt als Mitbegründer der Molekularküche. 1984 eröffnete er an der Costa Brava das Restaurant elBulli. Bei Phaidon/Edel erschien 2011 sein aktuelles Kochbuch Das Familienessen Seit 2010 betreibt er mit seinem Bruder Albert die Tapas-Bar Tickets in Barcelona. 2014 soll die Privatstiftung elBulli Foundation als kreative Denkfabrik ihre Arbeit aufnehmen.

NADINE ANGERER

»Meine Trainerin ließ
mich links liegen«

NADINE ANGERER ÜBER DIE ENTSCHEIDUNG:
HÄRTER TRAINIEREN ODER RAUSFLIEGEN

25. November 2010
Das Gespräch führte Herlinde Koelbl

Frau Angerer, wie wird man die beste Torhüterin der Welt?

Das verdanke ich ganz klar der früheren Bundestrainerin Tina Theune. Ich war anfangs nicht die geradlinigste Person, sondern liebte meine Freiheit, wollte lieber reisen und feiern. Ich habe deshalb Lehrgänge verschlafen, nicht richtig trainiert und schon mal eine Pizza vor dem Spiel gegessen. Da holte mich Tina irgendwann zu sich und sagte: Also, es gibt jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder du nimmst deinen Sport ernst und wirst die beste Torwartin der Welt – oder du fliegst raus.

Das hat gesessen?

Für eine Achtzehn-, Neunzehnjährige war das ein ganz schöner Schlag auf den Kopf. Ich war sauer und dachte mir: Was willst du, ich bring doch meine Leistung! Aber sie hatte erkannt, dass noch viel mehr Potenzial in mir steckte. Ich hatte sehr viel Talent in die Wiege gelegt bekommen und dachte mir immer: Reicht ja locker! Aber ich hatte noch nicht kapiert, dass man dafür auch arbeiten muss. Wer weiß, ob meine Karriere so erfolgreich verlaufen wäre, wenn nicht …

… Frau Theune Sie vor sich selbst gerettet hätte?

Ja. Sie hat mich tatsächlich eine Zeit lang links liegen lassen, um mir zu signalisieren, dass sie es ernst meint. Da wurde mir dann klar, dass Fußball das ist, was ich wirklich von Herzen gern mache. Ich habe den Trainingsaufwand verdreifacht, bin früher schlafen gegangen, habe mich vernünftig ernährt – und eben alles getan, was zum Leistungssport gehört.

Sie haben Ihre Freiheit aufgegeben und sich der Disziplin unterworfen?

Hmm, widerwillig. Was ich überhaupt nicht mag, ist ein fester Tagesplan: 10 Uhr Frühstück, 10.30 Uhr Training, 13.30 Uhr Mittagessen … Das ist überhaupt nicht meine Lebensphilosophie.

Sie leben aber nun seit rund fünfzehn Jahren nach Plan. Ist das nicht schizophren?

Genau das ist es. Ich komme mir manchmal vor wie in einem Hamsterrad.

Wie würde die andere Hälfte in Ihnen leben, wenn sie die Freiheit dazu hätte?

Die andere Hälfte würde mit dem Rucksack durch die Welt reisen, mit Haien tauchen, mit dem Fallschirm vom Hochhaus springen.

Was reizt Sie daran, mit Haien zu tauchen?

Vielleicht bin ich adrenalinsüchtig.

Wollten Sie nie ausbrechen aus Ihrem Leben nach Plan?

Das tue ich auf Turnieren regelmäßig. Dann packe ich einfach meine Siebensachen und gehe mal zwei, drei Stunden alleine weg. Andererseits merke ich auch, wie diese feste Struktur mich verändert hat. Im Urlaub in Afrika bin ich jeden Morgen pünktlich um zehn frühstücken gegangen. Aber ich bin mir sicher, dass ich das wieder ablegen werde, sobald ich dieses Zeitmanagement und dieses Vorgegebene und die Kontrolle von oben hinter mir habe.

Warum lassen Sie sich so ungern kontrollieren?

Weil ich lieber selbst die Kontrolle habe und es ganz schlimm finde, wenn jemand versucht, mich zu besitzen. Vielleicht bin ich deshalb Torwart geworden. Einzelkind, Einzelkämpfer, Torwart, das passt zusammen.

Sie haben bereits mit fünf Jahren Fußball gespielt – in einer Jungenmannschaft

Ja, weil es keine Mädchenmannschaft in meiner Nähe gab. Bis ich zwölf war, habe ich mit den Jungs trainiert.

Hat Sie das besonders geprägt?

Jungs diskutieren anders, vielleicht bin ich deshalb heute sehr direkt und manchmal etwas undiplomatisch. Aber eigentlich war ich für die Jungs immer die Prinzessin. Die waren echt süß zu mir. Ich wurde nie gefoult und durfte immer zuerst duschen.

Als Torfrau sind Sie jetzt auch ein bisschen die Prinzessin.

Würde ich nicht so sehen. Aber die Torhüterin hat natürlich eine Sonderstellung. Sie muss der Mannschaft hinten Sicherheit vermitteln. Wenn sie nervös ist, ist gleich die ganze Mannschaft verunsichert. Natürlich hat man als Torhüterin auch mal Zweifel, aber man darf sie nicht zeigen, da muss man eine gute Schauspielerin sein. Manche sagen sogar, ich sähe im Tor viel größer aus. Das ist die Ausstrahlung, die man hat.

Es gibt ja immer diese Gerüchte, dass es im Fußball mehr lesbische Frauen gibt als anderswo. Wie stehen Sie zu diesem Thema?

Ich persönlich bin da offen, weil ich der Meinung bin, dass es nette Männer und nette Frauen gibt, und weil ich eine Festlegung generell total albern finde.

Und Sie können beide Seiten leben?

Auf jeden Fall.

NADINE ANGERER
geb. 1978, zweimalige Weltmeisterin, spielt beim Fußballbundesligisten 1. FFC Frankfurt. Sie bestritt über 100 Länderspiele und ist Kapitänin der Nationalmannschaft.

NOBUYOSHI ARAKI

»Die Kamera hält mich
am Leben«

NOBUYOSHI ARAKI ÜBER DEN TOD SEINER FRAU
UND SEINE KREBSERKRANKUNG

12. August 2010
Das Gespräch führte Herlinde Koelbl

Herr Araki, für Ihr Buch Sentimental Journey haben Sie Ihre Frau jahrelang fotografiert, auch beim Sex, während ihrer Krankheit und während des Sterbens. Wie war das für Sie, als der Tod in Ihr Leben eingegriffen hat?

Natürlich war ich in diesem Moment sehr emotional. Aber wenn man eine Kamera in die Hand nimmt, blendet man die eigenen Gefühle ein bisschen aus. Durch die alltägliche Handlung des Fotografierens wurde auch dieser Verlust fast zu etwas Alltäglichem.

Das heißt, die Kamera hat Sie sozusagen gerettet vor der elementaren Erschütterung?

Ich möchte es ein bisschen anders ausdrücken. In mir gibt es zwei Persönlichkeiten. Ich bin wie der Clown, der lächelt und innerlich traurig ist. Die Kamera ist mein Make-up. Es könnte sein, dass sie die Traurigkeit versteckt hat. Aber man sieht sie auf den Bildern wieder. Darin offenbart sich mein Inneres.

So wie in Ihren frühen Blumenbildern, die eine große Düsternis und Vergänglichkeit zum Ausdruck bringen?

Für mich hat der Moment, in dem die Blume zu verwelken anfängt und sozusagen der Tod eintritt, am meisten Ausstrahlung und ist geradezu erotisch. Das trifft auch auf den Tod meiner Frau zu. Er ist für mich die Spitze der Schönheit. Und auch die Spitze des Lebens. Das ist der Moment, den ich mit meinen Bildern festhalten möchte.

Was meinen Sie mit Spitze des Lebens?

Der Tod ist der Höhepunkt, sozusagen der Orgasmus des Lebens. Man bekommt plötzlich so ein sanftes Gesicht, wenn man gestorben ist. Alles Leben wird mit dem Tod ewig. Wenn jemand stirbt, zeigt sich sein ganzes Leben in konkreter Weise. Das bedeutet für mich das Gleiche, wie dass man ewig leben wird. Und dass meine Frau gestorben ist, bedeutet für mich nicht, dass man getrennte Wege geht, sondern dass man für immer zusammen ist.

Die Liebe wird also verewigt durch die Bilder?

Fotos zu machen bedeutet für mich zu lieben.

Haben Sie selbst Angst vor dem Tod?

Ich habe keine Angst, aber ich mag ihn nicht. Wenn man stirbt, ist natürlich alles vorbei. Das heißt, solange ich lebe, werde ich meine Frau weiterlieben. Wenn auch ich sterbe, wird das aufhören. Deshalb möchte ich nicht sterben.

Und die Kamera hält Sie am Leben?

Ja, richtig. Sie ist meine Lebensversicherung. Nachdem meine Frau gestorben war, hatte ich eine gewisse Traurigkeit in mir. Und je mehr Fotos ich machte, desto größer wurde diese Traurigkeit. Deshalb habe ich versucht, lachende Gesichter einzufangen. Das Gesicht einer Toten mag das beste Porträt ergeben, aber es ist ein Objekt, etwas Festes, Starres. Fotos von fröhlichen Gesichtern dagegen haben etwas Lebendiges. Die Kamera ist aber nicht nur meine Lebensversicherung. Früher war sie auch ein Phallus, und ich ging sehr offensiv mit ihr um. Im Moment ist sie ein Sarg.

Ein Sarg?

Ich bin relativ nahe dran, im Sarg zu landen. Denn ich habe Krebs und schreite langsam voran in Richtung Spitze, wie ich heute von meinem Arzt erfahren habe. Und deshalb versuche ich nicht, das perfekte Foto zu machen, sondern ein bisschen davon abzuweichen, weil es das Ende bedeuten würde. Auch in diesem Sinne ist die Kamera meine Rettung. Sie hilft mir, dem Tod noch ein bisschen Lebenszeit abzutrotzen.

Sie sind berühmt geworden durch Bilder von gefesselten Frauen. Die Kamera sei auch ein Phallus, sagten Sie gerade. Wann fühlen Sie sich lebendiger – wenn Sie Sex mit einer Frau haben oder mit der Kamera in der Hand?

Wenn ich die Kamera in der Hand halte. Und noch lebendiger fühle ich mich, wenn ich Frauen fotografiere. Früher hat es mich sehr stimuliert, einfach den Auslöser meiner Kamera zu drücken, das hat etwas Warmes in mir beschworen. Jetzt bin ich sehr kühl dabei. Und das bedeutet: Je öfter ich den Auslöser drücke, desto näher komme ich meinem Tod.

Glauben Sie, dass Sie früher mehr Energie hatten?

Körperlich gesehen nimmt sie ab. Ich kann keine Liegestütze mehr und kriege keinen mehr hoch.

Und wenn Sie feststellen, dass Ihre Lebensenergie und auch die Energie in Ihren Bildern abnehmen, macht Sie das traurig?

Dann lege ich mich auf den Rücken und schaue angestrengt in den Himmel, damit nicht meine Tränen herunterfallen. Mein ganzes Inneres ist nass von Tränen. Aber genauso gut könnte ich mich einfach als Bettnässer bezeichnen. Das ist meine Art von japanischem Humor. Der Humor des Clowns, der lacht und innerlich traurig ist.

NOBUYOSHI ARAKI
geb. 1940, Sohn eines Schuhverkäufers, ist einer der bekanntesten Fotografen Japans. Er begann seine Karriere als Werbefotograf und hat mehr als dreihundert Bildbände veröffentlicht. Berühmt wurde er durch seine Aktfotos von gefesselten Frauen.

GABRIEL BACH

»Mein Vater hatte den
sechsten Sinn«

DER EICHMANN-ANKLÄGER GABRIEL BACH
ÜBER SEINE JÜDISCHE FAMILIE, DIE DEN NAZIS
IN LETZTER MINUTE ENTKAM

7. April 2011
Das Gespräch führte Herlinde Koelbl

Herr Bach, Sie sind 1938, zwei Wochen vor der Reichspogromnacht, in die Niederlande geflohen. Nur einen Monat bevor dort die Deutschen einmarschierten, wanderten Sie nach Palästina aus – und zwar auf dem Schiff Patria, das auf der nächsten Fahrt dann gesunken ist. Warum, glauben Sie, sind Sie immer rechtzeitig entkommen?

Also, dass jemand über mein Schicksal bestimmt hätte, das kann ich nicht glauben. Ebenso wenig, dass ich es verdient hätte, von einem Herrgott beschützt zu werden, während es die Millionen jüdischer Kinder, die umgekommen sind, nicht verdient hätten. Nein, es war einfach Glück. Und in gewisser Weise hat mich auch der britische Premierminister Neville Chamberlain gerettet.

Wie das?

Mein Vater war Generaldirektor in der Schwerindustrie. Als die Tschechei-Krise ausbrach, nahm uns die Gestapo unsere Pässe weg, damit er als kriegswichtige Person das Land nicht verlassen konnte. Erst nach der Kapitulation Chamberlains im Münchner Abkommen bekamen wir sie wieder zurück. Wenn Chamberlain heute kritisiert wird, bin ich rational damit einverstanden. Aber ich bin dann ganz still, weil uns das wahrscheinlich gerettet hat.

Wie alt waren Sie, als Sie Deutschland verließen?

Elf. Und ich erinnere mich noch genau, wie an der holländischen Grenze SS-Leute in den Zug kamen und sagten: Familie Bach, raus! Wir mussten in einer Baracke die Koffer öffnen, und sie warfen alles in eine Ecke. Erst als sich der Zug wieder in Bewegung setzte, durften wir gehen. Wir liefen dem Zug nach, und ein SS-Mann trat mich in einen gewissen Körperteil. So wurde ich mit einem Fußtritt aus Deutschland hinausbefördert.

Wie lange blieben Sie in Holland?

Noch bis zum März 1940, weil mein Vater die ganze Familie retten wollte. Und das ist ihm auch gelungen. Er hat alle Onkel, die in Dachau und Buchenwald waren, herausgeholt und ihnen Einreisebewilligungen für Palästina verschafft.

Dann verdanken Sie und Ihre Familie die Rettung auch ihm?

Ja, er hat die Dinge vorausgesehen. In Israel sagten die Leute, mein Vater habe einen sechsten Sinn, wann man sich absetzen muss. Aber es war eben auch Glück. Hitler hatte den Einmarsch in Holland siebenmal verschoben. Bevor er beim achten Mal wirklich einmarschierte, hatten wir Holland soeben verlassen.

Vor genau fünfzig Jahren waren Sie stellvertretender Staatsanwalt im Eichmann-Prozess. Sie beschrieben das als traumatisches Erlebnis.