Inhaltsverzeichnis

Klappentext

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Impressum

PERRY RHODAN - Die Serie

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Band 29

 

Belinkhars Entscheidung

 

von Alexander Huiskes

 

 

 

Januar 2037: Der Vorstoß in die Weiten der Milchstraße endet für Perry Rhodan und seine Gefährten mit einem Desaster. Die TOSOMA, ihr altersschwaches Raumschiff, wird buchstäblich ins Nichts geschleudert. In letzter Not erreichen die Menschen an Bord eine gigantische Station im Weltraum. Es ist das sogenannte Gespinst, der Lebensraum der menschenähnlichen Mehandor.

Perry Rhodan und seine Begleiter sind auf die Hilfe der Mehandor angewiesen. Diese haben allerdings ihre eigenen Vorstellungen darüber, wie die Bezahlung erfolgen soll. Die Spannungen spitzen sich zu, als eine Raumflotte auftaucht. Die Raumschiffe sind mit Naats bemannt, den monströs aussehenden Söldnern des Arkon-Imperiums.

Die Naats zögern nicht und eröffnen das Feuer. Als sich die Kämpfe aus dem All auf die Eiswelt Snowman verlagern, kommt es zu einer menschlichen Tragödie ...

1.

An Bord der TOSOMA

 

»Der Weltraum«, so hatte General Pounder ganz zu Beginn von Perry Rhodans Ausbildung gesagt, »ist kalt und schwarz.«

Pounder war niemals im Doppelsternsystem Beta-Albireo gewesen, sonst hätte er etwas Derartiges nie behauptet. Ein großer orangefarbener Stern und ein kleiner blauer jonglierten mit vier Planeten: einer magmaroten, im Verhältnis zu ihrer geringen Größe viel zu schweren Kugel, dicht am Flammenkern des Systems, einer wie unberührt wirkenden, weißen Welt mit zarter blauer Atmosphärehülle, einem braunschwarzen verkohlten Planeten ohne Luft und schließlich einem kleinen grauen Gesteinsbrocken weit draußen, als ob er von den exzentrischen Kräften flöhe. Im stationären Orbit um die weiße Welt leuchtete aus sich selbst heraus und in vielen Farben ein merkwürdiges Netz. Das Gespinst, eine Etappenstation für Transitionsraumschiffe, die von den Nham betrieben wurde, einer Sippe der menschenähnlichen Mehandor, die landläufig auch als »Galaktische Händler« bezeichnet wurden.

Nein, der Weltraum war nur der unaufdringliche Hintergrund für Farbspiele, die die Erde nie hervorgebracht hatte. Damit endete aber auch schon alle Verspieltheit, denn auch dieser Satz war von General Pounder gekommen: »Der Weltraum ist gnadenlos tödlich, wenn man einen Fehler begeht.«

Diese Aussage stand nunmehr im Begriff, sich zu bewahrheiten: Rings um das Gespinst hatten sich mehrere große Kugelraumschiffe gruppiert. Eines flog auf sie zu.

 

Ein jäher Ruck ging durch die TOSOMA, der Reginald Bull von den Füßen holte und gegen eine Konsole schmetterte. »Was bei allen Mausbibern der Galaxis ...?« Nur kurz verzog er schmerzerfüllt das Gesicht. »Das neue Jahr nimmt gerade richtig Fahrt auf, was?«

Rhodan warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Was verbarg Reg? Denn dass er etwas verbarg, stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Aber dies war wahrscheinlich nicht der richtige Rahmen, ihn darauf anzusprechen.

Soeben hatte das Gespinst das Expeditionsraumschiff Perry Rhodans von sich fortgestoßen. Es war damit dem Befehl gefolgt, die Verräter an das Imperium auszuliefern.

Das Imperium der Arkoniden war ein galaktisches Großreich, in das Rhodans Gefährten Thora und Crest hatten heimkehren wollen und von dem sich die Erde ein wertvolles Bündnis versprach. Nein, das neue Jahr war erst drei Tage alt und fing gar nicht gut an – aber es ließ jedenfalls keine Langeweile aufkommen.

»Die Matriarchin Belinkhar von KE-MATLON wirft uns diesem Naat und seinem angemaßten imperialen Kampfgeschwader vor«, sagte Thora gepresst, die in einem Sessel der Kommandozentrale saß und die Holos im Blick behielt. »Feiglinge, diese Mehandor.«

Perry Rhodan sagte dazu nichts, obwohl er diese Ansicht nicht teilte. Er war sicher, dass Belinkhar keine Wahl geblieben war. Elf bewaffnete arkonidische Raumschiffe waren ein gutes Argument, sich den Befehlen des Naats zu beugen, auch wenn rein formal ein Militärkommandant während Friedenszeiten einer zivilen und als neutral deklarierten Raumstation sicherlich keine Befehle erteilen konnte.

Aber was ihre eigene Situation betraf, schien Thora keinen logischen Überlegungen zugänglich zu sein. Er würde wahrscheinlich niemals ihr halb entsetztes, halb hasserfülltes Gesicht vergessen, als sich von Bord des Arkonidenschiffs KEAT'ARK als Kommandant im Range eines Reekha kein waschechter Arkonide, sondern ein klobiger, grob aussehender Naat gemeldet hatte.

Er hatte vorher noch nie von den Naats gehört, obwohl sie im Imperium keineswegs Exoten darstellten, wie eine Recherche in den Datenbänken der TOSOMA ergeben hatte. Leider wusste Rhodan dadurch noch immer nicht viel über Naats, er musste sich auf sein Gespür verlassen. Und das verriet ihm, dass Novaal niemand war, der leere Drohungen ausstieß. Mit dem Zeigen der Instrumente, wie es einst die Inquisition auf der Erde betrieben hatte, würde er sich nicht lange aufhalten.

Die Matriarchin des Gespinsts hatte keinen Grund, der TOSOMA besonders wohlgesinnt zu sein, schließlich hatte Perry Rhodan versucht, sie um ihren Lohn zu bringen: Als Bezahlung für die Reparatur der TOSOMA hatte sie ein Siebtel der Besatzung für sieben Jahre als Helfer gefordert.

Rhodan hatte geglaubt, keine andere Wahl zu haben, als zum Schein einzuwilligen und in Kauf zu nehmen, die Friedenspflicht auf KE-MATLON zu brechen. Doch es hatte nichts genutzt, im Gegenteil. Ihre Lage war schlimmer geworden, nicht zuletzt durch das Auftauchen von Novaals Geschwader.

Die Holoprojektionen an der Decke der Zentrale zeigten das ganze Ausmaß ihrer Not; groß und violett eingefärbt sah Rhodan die beschädigte TOSOMA, ihr Raumschiff, den ganzen Stolz der terranischen Raumfahrer. Jede Schwäche wurde erbarmungslos mit gelber Schrift hervorgehoben und beziffert.

In einer benachbarten Projektion war die strategische Lage dreidimensional dargestellt. Farbige Linien zeigten gegenwärtige und denkbare Bewegungsvektoren, Texteinblendungen verrieten Details zu den einzelnen dargestellten Objekten, etwa die Leistungsstärke der gegnerischen Schutzschirme, die Dicke und Beschaffenheit der Panzerung oder eine aktuelle Angabe zu Energiefluss und -verteilung.

Man brauchte kein Militärgenie zu sein wie Caesar oder Napoleon, um die Situation zu analysieren: Zehntausend Jahre hatte die TOSOMA auf dem Grund des Ozeans gelegen. Obwohl sie der menschlichen Technologie um viele Jahrhunderte voraus war, war sie für ihre ehemaligen Erbauer garantiert nicht mehr state of the art.

»Ein Oldtimer mit Motorschaden gegen elf moderne Rennwagen«, fasste Reginald Bull die Situation zusammen. Er keuchte. Der bullige Mann mit dem stoppelkurz geschorenen roten Haar sah nicht gut aus: tiefe Ringe unter den wasserblauen Augen, violette Bartschatten, die Wangenknochen traten deutlich hervor. Er stemmte eine Hand in die Hüfte. »Will jemand ernsthaft auf den Oldie wetten? Verdammt, wir können ihnen nicht einmal die Ölwannen kaputt machen!«

»Was sollen wir sonst tun? Aufgeben?«, fragte Rhodan. Es widerstrebte ihm, einfach so die Flinte ins Korn zu werfen. Es musste doch eine Möglichkeit geben, das Blatt zu wenden und seinen Fehler wieder gutzumachen. Sie waren schließlich nicht die Bösewichte und Betrüger, für die sie nun wahrscheinlich in dieser Gegend des Alls gehalten wurden.

»Niemals!« Thora sprang hoch und warf herrisch den Kopf zurück – plötzlich fiel sie wieder in jenes Verhalten, das er längst abgelegt geglaubt hatte. Aber so schnell veränderten sich Menschen und Arkoniden wohl nicht. »Novaal hat uns – Crest und mich, aber wahrscheinlich auch Sie, weil Sie mit uns reisen – als Verräter bezeichnet. Wissen Sie eigentlich nicht, was das bedeutet, Sie Barbar?«

Gucky legte ihr beruhigend eine Hand auf das Bein. Von ihm ließ sie sich eine Berührung ohne Murren gefallen. Abgesehen von Crest, der sich noch auf dem Gespinst aufhielt, genoss er damit eine absolute Ausnahmestellung. »Worte sind geduldig. Du bezeichnest Perry ja auch als Barbaren, und trotzdem wachsen ihm nicht überall Haare, und er fängt an, ›br-br‹ zu sagen und zu stammeln. Daher kommt das Wort nämlich, wusstest du das?«

»Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Scherze. Wenn ein offizieller Repräsentant des Imperiums, und mag er auch ein lederhäutiger, nasenloser Naat sein, jemanden als Verräter bezeichnet, bedeutet das so viel wie ein formales Urteil. In der Peripherie des Reiches gibt es bei der Vollstreckung eines solchen Urteils kein Zaudern und keine Revision. Wenn wir uns ergeben, ist das unser Tod.«

»Bei diesem Kräfteverhältnis wäre es wahrscheinlich auch unser Tod, wenn wir uns wehrten«, gab Rhodan zu bedenken.

Sie sah ihn an, als sei die Bezeichnung Barbar noch zu schmeichelhaft für ihn. »Es gibt eine weitere Option: Flucht.«

»Und Sie verraten uns natürlich gleich, wie wir das anstellen sollen mit diesem alten Kahn!«, verlangte Bull atemlos.

»Selbstverständlich, da Sie von allein nicht darauf kommen werden. Sie, Rhodan, werden Novaal hinhalten, während ich die TOSOMA zur Flucht vorbereite. Uns genügt wahrscheinlich ein einziger Transitionssprung, damit das Geschwader unsere Spur verliert. Dann sind wir vorläufig in Sicherheit.«

»Wahrscheinlich?«, fragte Bull misstrauisch. »Vorläufig? Klingt nicht nach einem Plan, sondern nach einer Verzweiflungstat.«

»Das hängt davon ab, wie viel Zeit mir für meine Arbeit bleibt.« Sie fuhr sich mit einer Hand durch das Haar und ließ es durch die Finger gleiten. Die bleiche weißblonde Arkonidin sah atemberaubend aus – das musste man ihr lassen. Und sie schien sich ihrer Ausstrahlung nicht einmal bewusst zu sein.

»Was ist mit unseren Kameraden, die noch auf dem Gespinst sind?«, wandte Rhodan ein.

»Wir können nichts für sie tun«, antwortete sie schroff. Jeder konnte hören, dass sie das eigentlich nicht sagen wollte, und jedem war bewusst, was es für sie bedeutete.

Rhodan hakte dennoch nach. »Ihnen ist klar, dass auch Crest zurückgeblieben ist?«

»Ja.« Dieses eine Wort auszusprechen schien sie Überwindung zu kosten, aber sie sagte es. »Ja. Ja, ich weiß es!«

Rhodan nickte knapp. Er wollte nicht zusätzlich Öl ins Feuer gießen, sondern nur bewirken, dass Thora sich über die Tragweite ihres Plans im Klaren war. Crest war für sie ein so wichtiger Bestandteil ihres Lebens, dass es unendlich schwer für sie sein musste, ihn zurückzulassen – noch dazu in unmittelbarer Nähe zu einem arkonidischen Kampfgeschwader, das ganz offensichtlich keineswegs freundlich eingestellt war.

»Sie haben mich überzeugt. Versuchen wir es!«

 

»Novaal spricht!« Eine Holoprojektion des Naat-Kommandanten entstand vor Rhodan. »Sie kapitulieren?«

Perry Rhodan schwieg einen Moment und betrachtete den Naat abschätzend. Der schwarzhäutige Fremde war ... groß. Ein anderes Wort fiel ihm bei drei Metern Körperhöhe und eineinhalb bis zwei Metern Breite nicht ein: Der wanstartige Körper ruhte auf zwei kurzen Säulenbeinen und trug zwei lange Arme und einen großen, haarlosen Kugelkopf mit drei großen Augen und einem großen, dünnlippigen, ovalen Mund.

Ein Plan nahm in seinem Kopf Gestalt an, bei dem er sich darauf verließ, dass Thora kein allzu untypisches Beispiel des arkonidischen Volkes abgab.

»Ich denke nicht, dass ein Naat es sich herausnehmen kann, so mit der Besatzung eines arkonidischen Raumers zu sprechen. So tief kann das Imperium niemals sinken.«

»Ein Naat vielleicht nicht, aber ganz sicher ein Reekha,« gab Novaal ohne Zögern und ohne sichtbare Gefühlsregung zurück. »Halten Sie die TOSOMA bereit, unsere Enterkommandos einzulassen. Jeglicher Widerstand hat die Vernichtung des Schiffs zur Folge.«

»Sie brechen imperiales Recht!«, warf ihm Rhodan vor.

»So?« Der Naat wirkte interessiert – und leicht erheitert. »Was verstehen Sie denn davon?«

»Ich spreche vom Recht an Eigentum. In unserer Kultur erlischt dieses Recht, falls sich ein Besitzer nicht länger um sein Eigentum kümmert oder ohne nachgewiesene Erben stirbt. Dieses Recht ist im Imperium verankert, nicht wahr?«

Es war ein Schuss ins Blaue gewesen, und er schien getroffen zu haben, denn Novaal zögerte kurz. Schließlich, als er wieder sprach, flüchtete er sich in eine Gegenfrage: »Was sollte das in unserer Situation für eine Rolle spielen?«

»Wir haben dieses Schiff auf dem Grund eines Ozeans gefunden. Dort hat es zehntausend Jahre gelegen, ohne dass sich jemand darum gekümmert hätte. Wir haben es geborgen und instand gesetzt, damit gehört es rechtmäßig uns.«

Rhodan sah aus den Augenwinkeln, wie Thora und Bull gemeinsam an den holografischen Bedienelementen arbeiteten. Sie verständigten sich mit Blicken und schnellen Gesten. Die beiden würden es wahrscheinlich nicht zugeben, aber wenn es darauf ankam, funktionierten sie gut als Team. Sogar, wenn einer dem anderen manchmal die Bedienfläche wegzog. Aber mit Bull stimmte etwas nicht, er wirkte verbissener als sonst.

»Das Schiff gehört dem Imperium, und das Imperium stirbt nicht, also ist Ihre Argumentation hinfällig. Außerdem haben Verräter wie Sie keine Rechte.«

Rhodan lachte spöttisch. »Sie lenken ab, Novaal. Sie wissen genau, dass diese Ausflüchte keiner Prüfung durch die Justiziare des Imperators standhalten würden. Zum Verräter am Großen Imperium kann nur werden, wer einmal dazugehört hat. Aber das trifft weder auf mich noch auf meine Besatzung zu. Ergo können wir überhaupt keine Verräter sein.«

»So?« Novaal wirkte auf einmal wachsam, seine enorme Größe und die förmlich von ihm ausgehende Düsternis ließen ein Gefühl der Bedrohung in Rhodan aufsteigen. Dieser Fremde war kein Mensch, nicht im Aussehen, nicht im Denken, nicht im Handeln. Bestenfalls war er arkonisiert worden. »Sie wollen also behaupten, dass Sie keine Arkoniden sind?«

»Wir sind Menschen.«

»Menschen ...« Novaal wälzte das Wort auf der Zunge. Er schien nachzudenken. »Nie gehört. Aber auch ein Zaliter würde gewiss behaupten, ein Zaliter zu sein, aber er ist dennoch ebenso ein Mitglied des arkonidischen Reiches, weil er von arkonidischen Kolonisten abstammt. Warum sollte sich das bei Ihnen anders verhalten? Sie sind eindeutig arkonoid.«

»Weder gehört unsere Welt zum Imperium, noch sind wir Nachfahren arkonidischer Kolonisten«, blockte Rhodan ab, ließ dem Naat aber ganz bewusst eine Lücke in der Argumentation. Es ging schließlich nicht darum, ihn wirklich zu überzeugen – auch wenn das ein wunderbarer Glücksfall gewesen wäre –, sondern ihn so lange abzulenken, bis die TOSOMA fliehen konnte.

»Verraten Sie mir: Wie sollte ein arkonidisches Schiff auf Ihrem Planeten zu finden sein, wenn dieser nicht zum Imperium gehörte?«, griff Novaal erwartungsgemäß die offene Flanke von Rhodans Argumentation an.

»Verraten dann Sie mir: Wieso haben Sie nie von Menschen gehört, wenn diese wirklich zum Imperium gehörten? Schauen Sie in Ihre Datenbanken«, versuchte Rhodan, noch mehr Zeit herauszuholen.

Reg gab ihm ein Zeichen: zwei Daumen hoch!

Thora lächelte zufrieden und bestätigte die programmierten Befehle. Das Bereitschaftssignal leuchtete. Thoras Plan würde funktionieren ...

»Ich werde ...« Novaal unterbrach sich und stand wie erstarrt, die drei großen Augen blickten auf etwas, das Rhodan nicht erkennen konnte, wahrscheinlich Meldungen seiner Ortungsabteilung. Dann ging eine merkliche Veränderung mit dem Naat vor. »Fahren Sie sofort Ihre Energieerzeuger herunter!«, befahl er barsch.

Aber da war es bereits zu spät: Die TOSOMA raste mit aufbrüllenden Impulstriebwerken los.

Thora stieß einen unterdrückten Jubelschrei aus, doch Rhodan war sich nicht sicher, ob er berechtigt war. Dieser Naat reagierte sehr schnell und gleichzeitig sehr überlegt.

»Kommandant!«, brüllte Novaal, aber Rhodan unterbrach die Verbindung.

»Und jetzt?«, fragte er und suchte Thoras Blick. Er spürte den Schweiß auf der Stirn.

Es muss gut gehen, dachte er. Es muss!

»Jetzt müssen wir es nur auf fünfzig Prozent Lichtgeschwindigkeit bringen«, sagte Thora mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen. »Los, gehen Sie schon an die Steuerung! Wir haben es längst noch nicht geschafft! Das Überraschungsmoment wird schneller enden, als uns lieb ist.«

 

Die TOSOMA entzog sich der Umklammerung der elf Kugelraumschiffe, indem sie einen Kurs einschlug, der sie im flachen Winkel über die Raumstation hinwegtrug, dicht an der Atmosphäre des Eisplaneten vorbei, über dem sie beheimatet war.

Thora kalkulierte offenbar ein, dass der Naat es nicht wagen würde, die Station mutwillig zu beschädigen, dazu war sie zu wertvoll in ihrer Funktion als Orientierungspunkt, Werft und Marktplatz. Also musste er entweder schnell hinterher – oder warten, bis die Gefahr eines Zufallstreffers gering genug war. In beiden Fällen hätte die TOSOMA ein bisschen Zeit gewonnen.

Aber konnte das reichen? Rhodan betrachtete die Ortungsbilder zweifelnd und machte sich bereit, als Pilot der Schiffspositronik jenen Anteil Unberechenbarkeit zu leihen, der die Flugmanöver von makellos zu perfekt erheben würde. Denn nur dann konnten sie dem Gegner entkommen.

»Feindliches Feuer«, meldete Gucky, der die Holobilder an der Decke genau betrachtete. »Das wird ein heißer Ritt, Freunde!«

Schneller als erhofft reagierten die Geschützleitstände des Kampfgeschwaders: Ultraheiße Glutbündel und Torpedos jagten durch den Raum der TOSOMA hinterher. Mit unmenschlicher Präzision schossen sie an der Raumstation vorbei, ohne sie zu treffen.

Die TOSOMA röhrte und brüllte, die ganze Zentrale erbebte. Was hat Thora da bloß programmiert?, dachte Rhodan. Die Arkonidin hatte alles auf eine Karte gesetzt, das war ihm klar, aber erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, mit welcher Kompromisslosigkeit.

Nie zuvor war ihm das akustische Innenleben des alten Raumschiffes derart infernalisch vorgekommen. Er wusste ebenso, dass sie alle Reserven ausnutzen und sämtliche Regelmechanismen ausschalten mussten, die für einen normalen Betrieb vorgesehen waren. Wenn sie nicht alles in die Waagschale warfen, würden sie verlieren.

Und selbst bei Ausnutzung aller Möglichkeiten – die Chancen zu entkommen standen nicht besonders gut. Bull hatte das mit seinem Oldtimervergleich auf den richtigen Nenner gebracht. Die hochtourigen Boliden des Imperiums waren der guten alten TOSOMA weit überlegen.

»Sie nehmen die Verfolgung auf«, meldete Bull gepresst. »Das ist zu früh, verdammt! Zwei idiotische Sekunden zu früh!«

Thora wandte den Blick nicht ab, den sie fest auf die Beschleunigungs- und Geschwindigkeitsangaben gerichtet hielt. »Wir können es schaffen. Rhodan, keine Ausweichbewegungen, sonst erreichen wir die fünfzig Prozent nicht schnell genug.«

Rhodan sah, wie die elf Raumer sich näher schoben – natürlich. Es waren unbeschädigte Schiffe einer wesentlich jüngeren Baureihe als die TOSOMA. Es würde knapp werden, sogar äußerst knapp.

»Schirmfeldbelastung 60 Prozent«, meldete Gucky aufgeregt. »Nein, wartet, 70, steigend. Die Jungs sind wirklich sauer.«

»Wie lange noch?«, fragte Rhodan.

»Zehn Sekunden, wenn es so weitergeht. Dann haut's uns die TOSOMA um die Ohren, spätestens!«

»Drei«, sagte Thora. Die Geschwindigkeit des Raumschiffs lag bereits bei 48 Prozent der Lichtgeschwindigkeit und nahm schnell zu. »Zwei, eins ...«

Jetzt!, dachte Rhodan noch und wappnete sich gegen den Schmerz, der mit jeder Transition einherging.

Stattdessen traf ein furchtbarer Schlag die TOSOMA, und alle Lichter gingen aus.

2.

Auf dem Mars

 

Siehe: Dies ist der Mars ...

Der vierte Planet des Sonnensystems, der nächstäußere nach der Erde und dank seiner – wenn auch dünnen – Atmosphäre grundsätzlich lebensfreundlich, hat nur ein Zehntel der Erdmasse, ein Viertel der Erdoberfläche und den halben Durchmesser der Erde aufzuweisen, ist aber eineinhalbmal so weit entfernt von dem wärmenden Feuer der Sonne und wird von doppelt so vielen Trabanten umkreist.

Und dennoch fasziniert der Mars die Menschen seit jeher. Seine dominierenden Farben, Rot und Orange, wie Blut und Glut, brachten die Wissenschaft auf den Gedanken, ihn nach dem römischen Kriegsgott zu benennen und seine beiden Monde Furcht und Schrecken zu taufen – Phobos und Deimos. Tatsächlich sind Feuer und Feuchtigkeit keine Merkmale, die ihn auszeichnen würden: Der Mars ist ein kalter Planet, gemessen an der Erde: in Äquatornähe 20 Grad am Tag, aber bis zu minus 85 Grad des Nachts, im Durchschnitt minus 55, wobei es im Süden deutlich wärmer sein kann als im Norden.

Und wer einmal seine trockenen Ebenen und kargen Gebirge gesehen, einmal den Geschmack von Staub auf der Zunge gefühlt hat, bei jedem Atemzug der gefilterten, angereicherten, aufbereiteten Luft, der sich dennoch nie vertreiben lässt, weil er so allgegenwärtig ist, der ahnt, woran es dem Mars mangelt: an Wasser.

Obwohl es Wasser gibt. Die Polkappen speichern es, und im Sommer geben sie es als Wasserdampf teilweise wieder in die Atmosphäre ab. Doch das reicht nicht, um aus der roten Staubwüste eine fruchtbare Welt zu machen.

Dies zu schaffen, das ist das Privileg, das sich die Menschheit – auch dank der arkonidischen Technologie, die sie so überraschend anvertraut bekam – erwarb.

Siehe: Dies war der Mars ...

 

Der große, hagere Mann saß gefesselt in dem Marsmobil, das mit unbekanntem Ziel durch den Untergrund des Arsia Mons fuhr.

Ich, Cyr Aescunnar, Historiker, Wissenschaftler und Forscher, sitze gefesselt unter Beobachtung einer seltsamen Kreatur und kutschiert von einem Nichtmenschen in einem Beetle, der mich unter einen Vulkan des Planeten Mars bringt.

Hätte jemand das vor zwei Jahren erzählt, er hätte es für glatt gelogen gehalten. Vier Unmöglichkeiten in einem einzigen Satz – was für eine Münchhausen-Orgie!

Auf dem Mars!

Unter einem Vulkan hindurch!

Chauffiert von einem taubstummen Bewohner des Wega-Systems!

Bedroht von einem merkwürdigen Marswesen!

Trotz seiner prekären Lage musste Aescunnar lächeln. Die fünfte Lüge lag so offen zutage und allem zugrunde, dass keiner sie mehr wahrnahm: sein eigener Name. Denn er war nicht als Cyr Aescunnar geboren worden, er war irgendwann erwacht und hatte gewusst, dass dies sein Name war, in jener tiefen Weise, die es nur manchmal gibt, wenn Name und Sein eins sind.

Und doch waren alle fünf Lügen wahr, selbst wenn ihm diese Wahrheiten unglaublich vorkamen.

Das Marsmobil holperte durch die Dunkelheit, von der die Scheinwerfer immer nur kurz den Schleier nahmen: grober, poröser Stein, immer wieder durchbrochen von Tunneln. Wohin brachten sie ihn?

Dank der transparenten Kuppel kam Aescunnar sich vor, als fiele die Dunkelheit über ihn her, griffe mit ihren Tintenfingern nach ihm. Nur die blasse, indirekte Beleuchtung durch die Instrumente machte so etwas wie optische Wahrnehmung überhaupt möglich.

Und die Beine taten ihm weh. Die Bubbles, wie die Marsmobile oder Beetles mitunter auch genannt wurden, brachten das Beste aus terranischer und ferronischer Technologie zusammen, aber da Ferronen stämmiger und weniger groß als Menschen waren, wackelte er einerseits auf dem Sitz hin und her und fühlte sich andererseits im Beinbereich beengt und unbequem. Außerdem spürte er das Gewicht des Raumanzugs, allen Erleichterungen zum Trotz, die dieses moderne Kleidungsstück ihm bot. Fünfzig Kilogramm waren eben fünfzig Kilogramm, egal, was ihm die Naturwissenschaftler von dem Unterschied zwischen Masse und Gewicht erzählen mochten. Doch nicht nur das reine Gewicht – oder eben die Masse, wen scherte es? – drückte ihn nieder, auch der Ausblick in die nähere Zukunft.

Was hatten Hetcher und das unheimliche Geschöpf, das Tweel genannt werden wollte, mit ihm vor? Worum ging es ihnen? Doch nicht etwa um ihn als Person, schließlich hatte er sich ihnen gegenüber nichts zuschulden kommen lassen, jedenfalls nichts, woran er sich erinnert hätte. Ihr Handeln musste also Ursachen haben, die aus ihnen selbst kamen. Erst hatten sie ihn umbringen wollen, nun anscheinend nicht mehr. Sie verloren nicht einmal ein Wort darüber, keine Geste verriet so etwas wie Bedauern oder Einsicht. Wussten die beiden überhaupt, was sie taten? Welches Ziel sie ansteuerten?

Er saß da in dem schwachen bläulichen Licht und hörte seinen Atem. Wie laut und schwer er klang unter dem Raumhelm, war ihm bisher nicht aufgefallen. Überhaupt: Alles klang irgendwie verzerrt und dumpf. Wie sehr sehnte er sich danach, wieder frische Luft im Gesicht zu spüren, das Gefühl von Weite um sich, mit einem Wort: Freiheit.

»Sind wir bald da?«, fragte er, um das Schweigen zu durchbrechen, das sich so unbehaglich anfühlte, weil es seine Ungewissheit verstärkte.

Er hörte ein tiefes Zischen wie von einer großen Schlange. Der Ton hob und senkte sich leise. Ein elastischer Schnabel rüsselte neben seinem Kopf, zum Glück außerhalb des Schutzanzugs. Eine vierzehige Kralle grub sich ihm in die Schulter, presste den dicken, nachgiebigen Stoff zusammen. Ein Geräusch, das entfernt an das Rascheln von Blättern erinnerte, ertönte. Ob dieses Ding ... Tweel es von sich gab?

Im Spiel aus Licht und Schatten glitt sein Blick an den Fingern entlang, die dürren Arme empor und bis in das Gesicht des ... Geschöpfs. Es sah sich mit ruckenden, wippenden, vogelartigen Bewegungen seines Kopfes nach allen Seiten um. Es sagte nichts. Sprach es überhaupt? Es starrte ihn reglos an, dann wanderte sein Blick auf einen Punkt zu, an dem Cyr Aescunnar Hetcher wusste.

Er drehte sich wieder um. Hetcher sah ihn an, seine Finger in eifriger Bewegung: Hab keine Angst, verkündeten sie. Wir wollen dir nichts Böses.

Der Historiker war keineswegs beruhigt. Wir? In welcher Beziehung stand der stumme Ferrone zu dem – nun: Marswesen, dass er das Zeichen für wir verwendete?

»Was wollt ihr denn überhaupt? Hetcher, bei unserer Freundschaft, sag es mir, bitte.«

Natürlich konnte Hetcher nicht sprechen, denn er war taubstumm. Cyr Aescunnar vermochte mittels eines selbst entwickelten Programms mit dem Ferronen tatsächlich zielgerichtet zu kommunizieren. Dabei hatte er erlebt, dass Hetcher mehr als ein Faktotum war, das sich nur nützlich machte, indem es die einzelnen Installationen auf dem Mars kontrollierte. Niemand war auf die Idee gekommen, Hetchers Beobachtungen ernst zu nehmen, ja sie überhaupt erst anzufordern. Was für eine Vergeudung ...

Das ist schwierig zu erklären, aber einfach zu verstehen, antwortete Hetcher. Du musst es erleben. Ich darf es dir nicht sagen. Ich kann es nicht. Ich will es nicht.

Aescunnar rutschte nervös hin und her. Solche Aussagen beruhigten ihn überhaupt nicht. Tweel beugte seinen Hals nun so, dass der Kopf mit den bunten Federn direkt vor seinem Gesicht pendelte. Täuschte er sich, oder lachte das Marswesen ihn aus? So jedenfalls wirkte der Ausdruck. Leider verdeckte es dabei die Sicht auf Hetcher. Er scheuchte das Wesen mit den Händen aus dem Gesichtsfeld und nahm dessen ärgerliches Zischen und Fauchen in Kauf. War es wirklich intelligent?

»Wer oder was ist Tweel? Das kannst du mir doch wenigstens verraten. Man wird doch seinen Beinahe-Mörder kennen dürfen.«

Hetcher machte eine Gebärde der Hilflosigkeit, dann gestikulierte er: Hab einfach noch ein wenig Geduld. Unsere Fahrt ist bald zu Ende. Ich muss jetzt weitersteuern, der Weg ist nicht ganz einfach.

Aescunnar versuchte noch mehrmals, Hetcher dazu zu bewegen, ihm etwas darüber zu verraten, was eigentlich auf dem Mars vorging, aber der Ferrone drehte sich einfach wieder der Steuerung zu. Er schwieg nun auch mit den Händen und konzentrierte sich darauf, den Beetle durch das Felsgestein zu steuern.

Tweel drängte sich neben den Menschen. Es beäugte ihn misstrauisch und belustigt zugleich, aber es tat nichts. Als ob es auf etwas wartet ...

Cyr Aescunnar wurde nervös.

Immer tiefer drangen sie in den Untergrund des Mars vor, Sand wandelte sich zu Stein, und die Temperaturen kletterten etwas nach oben. Der Beetle kroch mit weniger als zwanzig Stundenkilometern durch die ewige Dunkelheit. Manchmal zogen interessante Felsformationen so schnell vorüber, dass er sie nicht genauer in Augenschein nehmen konnte, aber etwas daran wirkte künstlich. Nicht auffällig, aber so, dass es seinem scharfen Auge nicht verborgen blieb. Ob er die Stellen wiederfinden würde, indem er den Speicher des Beetles kopierte?

Falls ich dazu überhaupt komme ...

 

Irgendwann, das Zeitgefühl war Aescunnar komplett verloren gegangen, verlangsamte Hetcher die Fahrt. Dann blieb der Beetle vollends stehen: Das Schaukeln hörte auf, und das Licht der Scheinwerfer blieb konstant auf eine Stelle gerichtet.

Sie rissen ein weiteres Marsmobil aus dem Kavernendunkel. Die Kuppel stand offen, nichts Lebendes regte sich dort, aber es waren auch keine Leichen zu sehen. Wo steckte die Besatzung – und was suchte sie an diesem Ort? Bei so wenigen Menschen auf dem Roten Planeten dürften irgendwelche Gänge unter einem Vulkan nicht von primärem Interesse sein, zumal die Marsmission zunächst ausloten sollte, inwiefern sich der Planet zur Gestaltung von menschlichen Lebensverhältnissen eignete. Sein Erstaunen fasste Aescunnar in einer Frage zusammen: »Ein Bubble! Wie kommt es hierher?«

Vermutlich auf demselben Weg wie wir, antwortete Hetcher trocken. Wir werden es uns ansehen, das dauert nicht lange. Willst du dir derweil die Füße vertreten?

Aescunnar nickte nur, so überrascht war er von diesem Angebot. Solange er nicht aus der Kanzel hatte fliehen können, hielten sie ihn gefesselt, und nun, in scheinbarer Freiheit, ließen sie ihn frei? Das passte nicht zusammen. Etwas passte nicht, das spürte er. Was ging auf dem Mars vor?

Um das zu beantworten, musste er einem Pfad vieler anderer Fragen folgen, die scheinbar in völlig unterschiedliche Richtungen führten.

Da war zum Ersten Hetcher: Welches Geheimnis verbarg sich hinter dieser auf den ersten Blick pittoresken Figur? Er war bestimmt schon auf mehreren Wegawelten gewesen und kannte die Bedingungen erfolgreicher Planetenformung. Was also tat er hier, wenn er ausschließlich so scheinbar unwichtige Dinge verrichtete wie Wartungsarbeiten? Und nach seinem überraschenden Verhalten der letzten Stunde stellten sich grundsätzlichere Fragen: Was wusste er über den Mars, das kein anderer auch nur ahnte? War er wirklich so ahnungslos, was das Schicksal des Bubbles und seiner Besatzung betraf? Und ... in welcher Beziehung stand er zu Tweel?

Tweel wiederum bildete einen ganz eigenen Fragenkomplex: Auf dem Mars konnte so etwas nicht leben. Um ehrlich zu sein: Es schien ihm ausgeschlossen, dass überhaupt eine weiterentwickelte Lebensform an diesem Ort existierte. Wenn dem so wäre, müsste er Tweel für eine Ausgeburt seines Geistes halten, für eine Illusion. Das konnte er nach seinen Erlebnissen mit der Kreatur allerdings nicht. Es sei denn, er verlöre schlicht und ergreifend den Verstand. Blieb also nur die Annahme, dass Tweel wirklich existierte. In diesem Falle war es kaum vorstellbar, dass es sich um ein Einzelwesen handeln sollte. Folglich konnte es noch mehr Geschöpfe wie Tweel geben. Hatte vielleicht ein Rudel den Beetle überfallen?

Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Hetcher ihm die Fesseln löste. Komm, sagte er.

freundliche