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Über dieses Buch

»Der SS-Mann hatte meine Bewacher etwas gefragt, das ich vor Aufregung nicht verstand, und einer von ihnen antwortete barsch: ›Das Früchtchen ohne Waffe ist unser, das machen wir gleich im nächsten Hof ab.‹ Wollte er auch mich erschießen? [...] Der Offizier fragte nach meinem Alter, und ich antwortete: ›Sechzehn.‹ Dass ich seit dem 18. März siebzehn war, hatte ich völlig vergessen. Dies rettete mir das Leben. Denn der Offizier drehte sich abrupt um, stampfte erregt auf und schrie die Streife an: ›Wat, so weit sind wir noch nich, dass wir schon de Schulkinder erschießen, Schweinerei, verdammte!‹«

»Ein zentraler Text aus der Randperspektive, ein zentrales Stück DDR-Kulturgeschichte.« (Frankfurter Rundschau)

Die Autorin

Charlotte von Mahlsdorf wurde 1928 als Lothar Berfelde in Berlin geboren. In jahrelanger Kleinarbeit und unter widrigen Umständen trug sie das Gründerzeitmuseum in Mahlsdorf zusammen, in dem sie lange Jahre auch lebte. 1992 wurde sie für ihre Verdienste um die Erhaltung von Kulturgütern mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Sie starb 2002 in Berlin.

Charlotte von Mahlsdorf
Ich bin meine eigene Frau

Ein Leben

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter Süß

Mit einem Fotoessay von Burkhard Peter

Edition diá

Inhalt

Über dieses Buch

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Nachwort: Betrachtung einer Unzeitgemäßen

Impressum

Dem Andenken
meiner Mutter
und meines Großonkels

1

Die dreißig Skinheads näherten sich Mahlsdorf mit Eisenstangen, Gaspistolen, Leuchtspurmunition und herausgebrochenen Zaunlatten.

Ich spähte aus dem Fenster meines Gründerzeitmuseums in den Garten. An den Wäscheleinen schaukelten Monde aus Papier im Wind. Die rund achtzig noch verbliebenen Gäste feierten ein unbeschwert-harmonisches Frühlingsfest: Die Tina-Turner-Dublette hatte sich schon abgeschminkt, auch die Bauchtänzerin wippte nicht mehr vor den Gästen, sondern stand mit ihnen an der Cocktailbar. Würstchen wurden gegrillt, Schwule und Lesben tanzten, und der Mond schien wie auf einer Kitschpostkarte durch die Bäume des Parks.

Schnell noch das Licht ausmachen und mal draußen gucken, dachte ich. Den ganzen Abend hatten meine Mitarbeiterin Beate und ich an diesem Maitag 1991 Gäste von nah und fern im Halbstundentakt durchs Museum geführt.

Die letzte Lampe kaum gelöscht, hörte ich jenes Geräusch, klirrend hell, gegen das ich seit nunmehr vierundfünfzig Jahren allergisch bin: zersplitterndes Glas. Ein junger Mann stürmte, blass wie eine Leiche, ins Museum. »Du musst die Polizei rufen!«

Die Neonazis droschen mit den Latten wahllos auf die Gäste ein. Alles ging wahnsinnig schnell. Meiner zweiten Mitarbeiterin Silvia schoss ein besonders Mutiger aus nächster Nähe mit der Leuchtpistole ins Gesicht, knapp neben das Auge. Bei einer jungen Frau aus München verfehlte das Geschoss sein Ziel nicht: Ihre Netzhaut wurde schwer verletzt. Einer Achtzehnjährigen schmetterten sie eine Zaunlatte auf den Schädel.

Geschrei und Stöhnen mischten sich in das krachende Bersten der Infostände, die die Ostberliner Schwulengruppe aufgebaut hatte, und der Musikanlage, auf die der rohe Haufen martialisch einschlug.

Die Bomberjacken stürmten die Tanzfläche. Dort stand, einem Leuchtturm gleich, ein Transvestit, im ausladenden Fummel und mit großem, rotem Schwingerhut. Sie wollten auf ihn einprügeln, zögerten aber feige, denn er hatte sich inzwischen ebenfalls mit einer Zaunlatte bewaffnet, war von gleißendem Scheinwerferlicht umhüllt und brüllte die Meute an: »Warum seid ihr so brutal?« Das wiederholte er zweimal, und plötzlich blieben sie stehen, blickten sich verwirrt an. Jemand rief: »Die Bullen kommen«, und die Jungnazis stoben auf und davon wie eine Herde in Panik geratenes Vieh. Mit ihrer Munition schossen sie noch auf den benachbarten Lumpenhof, tausend Tonnen Altpapier gingen in Flammen auf. Schreie, Durcheinanderlaufen, die Feuerwehr rückte an mit fünfzig Mann, löschte, fuhr die Verletzten ins Krankenhaus – es war ein einziges Chaos.

Mit einer eisernen Hacke in der Hand lief ich aus dem Haus. Silvia und Beate kamen mir entgegen und berichteten, es sei alles vorbei. Sie hielten mich fest und bugsierten mich wieder ins Haus. Sie wussten, wenn mir jemand unter die Hände gekommen wäre, hätte ich zugeschlagen, ohne Rücksicht auf Verluste.

Eine Stunde später ging ich mit der Taschenlampe in den Garten, sah die zerschlagenen Stände, die Flaschenscherben, den zerstörten Plattenspieler und die zertrümmerte Musikbox. Ich fegte die Scherben der Kellertürscheiben vom Parkweg und dachte: Wie sich die Bilder gleichen!

Ich fuhr mit der Straßenbahn durch Mahlsdorf-Süd Richtung Köpenick und sah aus dem Fenster: Der Lebensmittelladen Egona war ebenso zerschlagen wie das jüdische Seifengeschäft Wasservogel, auch das jüdische Kaufhaus Cohn in Köpenick hatte keine Fensterscheiben mehr. Die Straßenbahn hielt in der Altstadt, direkt gegenüber einem Textilgeschäft. Die junge Inhaberin, tränenüberströmt, fegte die Reste ihrer Habe zusammen. Drei SA-Männer standen breitbeinig neben ihr: »Du olle Judensau, jetzt lernste endlich mal arbeiten.« Ich war so wütend, krallte meine Hand um eine Haltestange in der Bahn. Sie traten die Frau mit ihren schweren Stiefeln in die Hüfte, sie fiel in die Glasscherben. Die Straßenbahn fuhr weiter. Als ich von der Schule zurückkam, waren alle Geschäfte mit Brettern vernagelt. Es war der Morgen des 10. November 1938.

Zu Hause erzählte unser Dienstmädchen, wie die Nazis in den anderen jüdischen Geschäften gewütet hatten: »Herr Brauner«, sagte sie mit vor Empörung zitternder Stimme zu meinem Großonkel, »Sie machen sich ja keine Vorstellung, wie bei Tietz, bei Wertheim und Brandmann die Geschäfte zerschlagen wurden. Bei Brandmann haben sie alle Standuhren durch die Schaufensterscheiben auf die Straße geworfen. Und die SA-Männer sind mit Stiefeln in die Glaskästen und haben die Gewichte, die schweren Gewichte, auf die Zifferblätter geworfen und sich die Taschen gefüllt mit Gold und Juwelen. Das ist ja ein Verbrechen!«

Konnte das wahr sein? Die in ganz Berlin bekannte Firma Brandmann, deren Werbung ich im Radio immer mit Wonne gehört hatte, zerstört? Bim, bam!, tönte es aus dem Radio, und dann folgte die Werbung für die Brandmann-Standuhren in der Münzstraße. Wie oft gingen mein Großonkel und ich an den Auslagen vorbei, und was war ich beglückt, die schönen Uhren im Schaufenster zu sehen.

Unwillkürlich begann mein Großonkel zu flüstern: »Emmi, behalten Sie das alles für sich, wir müssen vorsichtig sein. Wer weiß, was noch alles kommt.« Ja, das war weise gesprochen von meinem Großonkel, dem ich so vieles verdanke.

In Mahlsdorf, einem verträumten Dörfchen am Ostrand Berlins, hatte ich zehn Jahre zuvor, am Sonntag, dem 18. März 1928, das Licht der Welt erblickt. Ich, Lothar Berfelde.

2

Die Berfeldes entstammen märkischem Uradel und sind erstmals 1285 in einer Chronik erwähnt. Damals gründeten sie das Dorf Berfelde, heute Beerfelde, bei Fürstenwalde. Mehrfach wandelte sich im Laufe der Jahrhunderte die Schreibweise unseres Namens, von Berfelde über Beerfelde und Bärfelde bis Baerfelde, Berfeldt und Beerfeldt. Das Familienwappen aber, ein in der Mitte geteilter Schild mit einem Stern auf blauem und einem auf silbernem Grund, blieb unverändert.

Meine Linie entstand aus einer Mesalliance: Ein Vorfahr, Offizier in der preußischen Armee, hatte Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein Fischermädchen geehelicht, was in der damaligen Zeit äußerst unstandesgemäß war. Als »verdunkelter« Adel führten wir zwar weiter unser Wappen, verloren aber das »von«.

Nachfahren derer von Beerfelde, des adligen Zweiges, mit dem ich nur noch über viele Ecken verwandt bin, besaßen bis 1907 das Schloss- und Rittergut Zuchen bei Zanow, in der Nähe von Köslin in Pommern.

Das Oberhaupt dieser Familie, Bertha von Beerfelde, Mutter von neun Kindern, hatte in ihrem Leben einen steinigen Acker zu pflügen. Ihr Mann, Rittmeister Rudolf von Beerfelde, stürzte – er war Schwedter Dragoner – bei einem Manöver und wurde von seinem Pferd erdrückt. Nach einem Brand 1905, dem Viehsterben und den Missernten im darauffolgenden Jahr entschloss sich Bertha von Beerfelde, das Gut zu verkaufen und den Erlös unter ihren neun Kindern aufzuteilen. Der Käufer, der Mühlenbesitzer aus Zanow, brachte das Geld in bar mit. Zweieinhalb Millionen Goldmark, und im Ballsaal des Schlosses nahmen Mutter und Kinder sowie Käufer und Geldbote Platz. Auch der Förster war geladen und hatte seine schussbereite Flinte geschultert, falls irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugehen sollte.

Jedes der neun Kinder bekam zweihundertfünfzigtausend Goldmark vor sich auf den Tisch gelegt, vom Rendanten abgezählt, desgleichen die Mutter. Danach erhob sie sich und ermahnte ihre Kinder: »Nun seid sparsam und wuchert mit eurem Pfunde!«

Einer ihrer Söhne, mein entfernter Onkel Hans-Georg von Beerfelde, Hauptmann im Alexanderregiment und preußischer Offizier, war zunächst glühender Nationalist und für seinen Kaiser begeistert in den Ersten Weltkrieg gezogen. Couragiert und wahrheitsliebend bis zum Fanatismus, ging ihm aber nach wenigen Jahren ein Licht auf, als nämlich die neuen Herren, der »Held von Tannenberg« Hindenburg und der eigentlich die Hebel der Macht bedienende Erste Generalquartiermeister Ludendorff, die Führung übernahmen in diesem immer aussichtsloser werdenden Krieg.

»An einem Frontabschnitt, wo es ein erfahrener Soldat schwer hat, zu kämpfen, ist es nicht ratsam, Schüler und Studenten einzusetzen, die nur drei Wochen Ausbildung haben.« Der Kaiser prüfte meinen Onkel aus kalten Augenfalten und verzog seine Mundwinkel; grimmig schaute er den an, der es in der Lagebesprechung mit dem stellvertretenden Generalstab gewagt hatte, Kritik zu üben.

Nach der Schlacht von Langemarck, bei der ein Teil der Blüte der deutschen Jugend hingemäht worden war – Berichten von Zeitzeugen zufolge hallten die grauenhaften Schreie der Jungen nach Vater und Mutter vom Schlachtfeld wider –, ließ sich Hauptmann Beerfelde bei seinem obersten Kriegsherrn melden. Den Vorzimmerdienst versah an jenem Tage Oberst Graf von Plüskow, der ihn ängstlich begrüßte: »Majestät ist nicht bei guter Stimmung. Ich hoffe, Sie haben ihm nichts Unangenehmes zu melden.« – »Nur die Wahrheit«, entgegnete mein Onkel vielsagend. Er bekam Zutritt, seine Majestät saß hinter einem mit Bronzebeschlägen verzierten Schreibtisch, breitete die Hände aus und fragte: »Na, mein lieber Beerfelde, was hat Er mir denn zu sagen?«

Mein Onkel war durchaus nicht geneigt, dem Leitspruch beim Umgang mit dem Kaiser – »Majestät braucht Sonne« – zu folgen: »Majestät, das ist kein Krieg mehr, das ist Mord!« Der Kaiser wurde puterrot, so etwas hatte noch niemand gewagt, ihm ins Gesicht zu sagen: »Beerfelde, wie kann Er denn als preußischer Offizier so etwas äußern?« Aber mein Onkel ließ sich nicht einschüchtern, der Wortwechsel wurde so scharfzüngig und das Gebrüll zwischen Kaiser und Hauptmann so laut, dass Plüskow, vor der Türe stehend, ganz weiß wurde.

Mein Onkel riss sich die Offiziersepauletten von der Litewka und warf sie Wilhelm II. vor die Füße: »Damit bin ich den letzten Tag Offizier gewesen.« – »Das ist Desertion«, schnaubte der Kaiser. Mein Onkel ließ ihn einfach stehen, stürzte hinaus und warf krachend die Tür ins Schloss. Der meinem Onkel stets wohlwollend gesinnte Plüskow schaute ihn in einer Mischung aus Entsetzen und Mitleid an: »Ich muss Sie nun verhaften lassen, Desertion bedeutet Kriegsgericht und Todesurteil.«

»Der alte Herr tat mir aufrichtig leid in diesem Moment«, erzählte mir mein Onkel später, als hätte er noch immer nicht begriffen, in welcher Gefahr er sich damals befand.

Einige Wochen nach dem Wortgefecht zwischen Kaiser und Hauptmann erschien Plüskow in der Militärstrafanstalt in der Lehrter Straße in Berlin und teilte meinem inhaftierten Onkel mit, der Kaiser sei bereit, alles zu vergessen, wenn er, Beerfelde, sich offiziell entschuldige. Wilhelm II. wollte den Vorfall nicht dramatisieren und einen seiner besten Offiziere verlieren. »Wenn sich jemand zu entschuldigen hat, dann ist es der Kaiser und nicht ich«, bekam er zur Antwort. »Was ich gesagt habe, ist die Wahrheit, und zu der stehe ich. Und dafür gehe ich auch in den Tod.«

Beerfelde nutzte die Haftzeit, um eine Broschüre zu verfassen, die unter dem Titel »Michel, wach auf!« für einen Skandal sorgte. Gestützt auf Informationen des Fürsten Lichnowsky, des früheren deutschen Botschafters in London, deckte er die Fälschungen des deutschen Weißbuches von 1914 auf, das die Ursachen des Ersten Weltkrieges in einem für Deutschland viel zu günstigen Licht darstellte. Das Deutsche Reich, eingekreist von seinen Feinden, sei in den Krieg gedrängt worden.

Einzig die Novemberrevolution 1918 verhinderte, dass mein Onkel dem Kriegsgericht vorgeführt wurde. Arbeiter stürmten das Militärgefängnis und trugen Beerfelde auf ihren Schultern aus dem Gefängnistor. Er wurde Mitglied im Revolutionskomitee und hielt schwungvolle Reden im Zirkus Busch, wo Friedrich Ebert, mehr widerwillig denn begeistert, von den Arbeitern und Soldaten zum Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten gekürt wurde.

Groß gewachsen und mit durchdringenden Augen unter buschigen Brauen, besaß mein Onkel die Ausstrahlungskraft eines Gurus. Wie allen Verkündigern haftete ihm etwas Fanatisches an. Er ging sogar so weit, ohne jede Rücksprache den Kriegsminister Scheuch verhaften zu lassen. Beerfelde vertrat die These, dass ein Kriegsminister unnütz sei, da der Krieg vorbei war. Wegen dieser Eigenmächtigkeit wurde er aus dem Revolutionskomitee ausgeschlossen – eine deutsche Revolution hatte in geordneten Bahnen zu verlaufen.

Mein Onkel zog sich in seine Wohnung zurück, wo er eine Postkarte mit dem Gedicht »Vater Unser der Revolution« entwarf und druckte. Die erste Karte schickte er dem abgedankten Kaiser nach Schloss Amerongen in Holland. Eine Antwort erhielt er freilich nicht.

Redakteur, Setzer und Drucker in einer Person, produzierte er seine eigene revolutionäre Zeitung mit dem Titel »Die Rote Fackel«. Mit dem Fahrrad brachte er sie zu den Zeitungshändlerinnen, die den Verkaufspreis von fünf Pfennigen in die eigene Tasche stecken durften. Die Quintessenz seiner Zeitungsbotschaft lautete: Christus war der erste Kommunist. Mein Onkel war der Ansicht, dass man die sozialistische Idee versöhnen sollte mit dem Christentum.

Damit setzte er sich in jenen Zeiten zwischen alle Stühle, verscherzte es sich, obwohl gläubiger Christ, mit der Amtskirche, der sein »rotes« Gedankengut suspekt war, aber auch mit den Sozialisten, die ihn für zu frömmelnd hielten.

Beim Adel hieß er nur noch »der rote Beerfelde« oder »der rote Hauptmann«. Gleich gesinnte Freunde hatte er in Helmut von Gerlach und dem Schriftsteller Ludwig Renn, der eigentlich Freiherr Arnold Vieth von Golßenau hieß und mit seinem Buch »Adel im Untergang« seinem blaublütigen Stand eine schroffe Absage erteilt hatte.

Als die Nazis die Macht usurpierten und abzusehen war, dass Deutschland remilitarisiert würde, schrieb mein Onkel, immer mehr naiver Weltverbesserer, an den »Führer«: »Wenn Sie die Wehrpflicht wieder einführen lassen, begehen Sie ein Verbrechen am deutschen Volk nach diesem furchtbaren Krieg.« Die Antwort aus Berlin ließ nicht lange auf sich warten. Sollte er seine »blödsinnigen Schreibereien« nicht einstellen, werde man ihn liquidieren, drohten die Nazis, verklausuliert, aber deutlich.

Eines Morgens im Jahre 1935 drang die Gestapo in sein Haus in Lindau am Bodensee ein, man verschleppte ihn nach München zur Vernehmung. SS-Leute schlugen und prügelten ihn, bis er das Bewusstsein verlor. Er erwachte in einer Baracke im KZ Dachau. Seine Entlassung nach vier Jahren Haft verdankte er vielleicht nur seiner internationalen Bekanntheit und der Tatsache, dass die Nazis ihn für einen im Endeffekt harmlosen Verrückten hielten.

Nach dem Krieg gründete er, inzwischen radikaler Pazifist, das »Büro für Frieden, Freundschaft und Völkerverständigung« und schrieb Briefe an Roosevelt, Truman, Churchill, de Gaulle und Stalin.

Als ich Onkel Hans-Georg in der Nachkriegszeit kennenlernte, spürte ich sofort unsere Seelenverwandtschaft. Seine Courage und Wahrheitsliebe imponierten mir, als er mir seine Lebensgeschichte erzählte. Von seiner aufbrausenden Art – einmal drohte er mir mit dem Krückstock, weil ich fünf Minuten zu spät gekommen war – habe ich allerdings nichts mitbekommen, zumindest fast nichts. Im Wesen eiferte ich seinem Bruder Curt nach, der mit zart-weiblichen Zügen ein Abbild seiner Mutter war. Er war Offizier – und Junggeselle.

3

Meine Mutter war die gute Fee in meinem Leben. Eine warmherzige, gebildete Frau mit Prinzipien. Verstieß man dagegen, wurde es ihr zu bunt, und sie haute mit der flachen Hand auf den Tisch. Nie ging sie während der Nazi-Zeit zu den Abstimmungen und Wahlen, deren Ergebnisse von vornherein feststanden. Das war keineswegs ungefährlich, aber darum scherte sie sich nicht.

Unser geistig-seelisches Verhältnis war sehr innig, von dem Tag, an dem sie mir die erste Gutenachtgeschichte vorlas, bis zu ihrem Tod im Jahre 1991. Meine Mutter hatte das, was heute vielen Menschen abgeht: angeborenes Taktgefühl. Dieses Verhalten nahm ich mit jeder Pore auf. Wenn ich recht überlege, bin ich ihr völliges Abbild. »Weißt du, Mutti«, erklärte ich ihr, als ich zwanzig war, »eigentlich bin ich deine älteste Tochter.« Zunächst lachte sie: »Ach, red nicht so einen Stuss.« Später las ich ihr Passagen aus einem Buch von Dr. Magnus Hirschfeld vor, dem berühmten Gelehrten, der in den zwanziger Jahren das erste sexualwissenschaftliche Institut in Berlin gründete. Als ihr klar war, dass ich mich vom Wesen her als Frau fühlte, sagte sie: »Weißt du, das alles ist für mich als richtige Frau schwer nachzuempfinden. Aber wenn du damit glücklich bist, dann ist das die Hauptsache.«

Schon als kleiner Junge bewunderte ich ihre schönen Kleider. Ging sie aus, trug sie oft ihr ultramarinblaues Abendkleid, und ich stellte mir vor, wie schön sie während einer Abendgesellschaft, unter einem prächtigen Kronleuchter stehend, wirkte. Sie schminkte sich nicht, puderte sich höchstens die Nase, alles an ihr war bürgerlich bescheiden und solide, wie das schlichte Collier, das sie zu besonderen Anlässen anlegte.

1902 war sie als Gretchen Gaupp in Markgröningen in der Nähe von Ludwigsburg in eine Kaufmannsfamilie hineingeboren worden. Ihr Vater starb, als sie acht Wochen alt war, und so zog ihre Mutter mit ihr zu ihrem Bruder, Josef Brauner, nach Cannstatt bei Stuttgart. Er war Automobilingenieur bei Gottlieb Daimler. Unter dem technischen Leiter Wilhelm Maybach zeichnete und konstruierte mein Großonkel 1899 einen Motor, ein Chassis und eine Karosserie, die, zusammenmontiert, den heute berühmten Namen der Tochter des Konsuls Jellinek bekamen: Mercedes.

Zu ihrer Taufe wurde meine Mutter 1902 in einem Daimler-Automobil gefahren, was in einer Kleinstadt wie Markgröningen natürlich riesiges Aufsehen erregte. Die Leute konnten sich einfach eine Kutsche ohne Pferde nicht vorstellen. Als sie das motorisierte Ungetüm über die Hauptstraße von Markgröningen knattern sahen, flüchteten nicht wenige in die Seitengassen und schrien: »Der Teufel kommt, der Teufel kommt auf einem Fuhrwerk.«

Später besuchte meine Mutter das Lyzeum, sie genoss, wie man so schön sagt, die Ausbildung einer höheren Tochter. 1923 kam sie nach Mahlsdorf und lebte mit meiner Großmutter, meinem Großonkel und dessen Schwester in einem Haushalt.

Sie hatte die Idee, auf eigenen Füßen zu stehen, was damals für eine sozial abgesicherte Frau – mein Großonkel war durchaus wohlhabend – ein Novum war. Nur arme Mädchen gingen arbeiten. Meine Mutter wollte Stenografie lernen und dann bei einem Rechtsanwalt als Sekretärin anfangen. Als sie in der Kanzlei eines Anwalts stand, um sich vorzustellen, fragte er sie: »Fräulein Gaupp, warum wollen Sie eigentlich einem mittellosen Mädchen die Stelle wegnehmen? Sie haben es doch gar nicht nötig zu arbeiten.« Und meine Mutter stimmte ihm zu, nachdem sie darüber nachgedacht hatte: »Ja, warum soll hier nicht ein Mädchen arbeiten, das den Lohn mehr braucht als ich?« Heute fasst man sich an den Kopf, aber so waren damals die Zeiten.

Mein Großonkel stammte aus Lettowitz bei Brünn. Seine Familie hatte in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine Spitzen- und Gardinenmanufaktur. Sein Vater war Strumpfwirkermeister und hatte sich darauf spezialisiert, Spitzen und Vorhänge zu fertigen. Dies alles, die Industrialisierung war noch nicht weit vorangeschritten, mit hölzernen Maschinen. Das Geschäft florierte, er konnte nach England reisen und stählerne Maschinen kaufen, die er auf einem doppelten Raddampfer über den Kanal transportierte. Doch 1866 fand alles ein jähes Ende, ein Feuer hatte die Fabrik zerstört, und eine Versicherung gegen derlei Unbilden war damals unbekannt. Die Familie verschlug es zunächst nach Wien, nach dem Tod seines Vaters versorgte mein Großonkel seine drei Schwestern, übersiedelte später nach Deutschland und kam 1895 zu Daimler. 1908 ging er nach Berlin und begann, bei Bergmann Elektromobile zu entwickeln.

Von konservativer Erscheinung, seine mährische Herkunft konnte er nicht verbergen, hatte er mit Nationalismus, vor allem in seiner pervertiertesten Form: dem Nazismus, nichts im Sinn. Humanistisch gebildet, er sprach Griechisch, Lateinisch und Französisch, war er überdies ein exzellenter Mathematiker. Und obwohl er völlig neuartige Automobile konstruierte und vom Fortschritt überzeugt war, blieb er in Denken, Fühlen und Aussehen immer ein Mann des neunzehnten Jahrhunderts. Ich sehe ihn noch vor mir in seinem bereits damals altmodischen Nadelstreifenanzug, mit Weste, goldener Taschenuhr an der Kette, Krawatte mit Nadel, Manschetten und Kragenknopf, Bürstenhaarschnitt und seinem Kneifer, durch den er mich mit seinen gütigen blaugrauen Augen versonnen anblickte.

Spätestens mit fünfundzwanzig musste eine Frau damals unter der Haube sein, mit dreißig galt man schon als »alte Schachtel«. 1927 beschloss mein Großonkel, eine Heiratsanzeige für meine Mutter aufzugeben.

Als vollkommen argloser Mensch war er völlig ungeeignet, den »Richtigen« für meine Mutter auszusuchen. Einen jungen Ingenieur auf seine Tauglichkeit im Konstruktionsbüro hin zu prüfen, hätte er spielend fertiggebracht. Aber um einen Ehekandidaten charakterlich einzuschätzen, dazu wusste er zu wenig vom Bösen. In jedem Menschen sah er zunächst das Gute – eine Gefahr, der auch ich hin und wieder erliege. »Doch die Verhältnisse, die sind nicht so«, wie Brecht seinen Peachum in der Dreigroschenoper singen lässt.

Verschiedene »Bewerber« meldeten sich auf die Annonce, und mein Onkel traf seine Wahl, freilich keine gute.

Nach der Heirat bezogen meine Eltern die obere Etage des Landhauses. Es war eine sehr unglückliche Ehe, denn mein Vater hatte eine Reitpeitschennatur und war ein brutaler Militarist. Schon nach einem halben Jahr wollte meine Mutter sich scheiden lassen. Mein Vater hätte sie deswegen fast über den Haufen geschossen.

Schauerliches trug sich zu: Meine Mutter traute sich nicht, meinem Vater ihre Trennungsabsichten ins Gesicht zu sagen, sie befürchtete – zu Recht – weitere Misshandlungen. So schrieb mein Großonkel mit Datum vom 2. November 1927 meinem Vater einen Brief, in dem er ihm höflich, aber bestimmt mitteilte, dass meine Mutter sich scheiden lassen wolle und er das Haus zu räumen habe.

Als mein Vater abends nach dem Dienst den Brief gelesen hatte, meine Mutter hielt sich währenddessen wohlweislich in den Räumen meines Großonkels auf, stürmte mein Vater die Treppe herunter, brüllte herum, warf meinem Großonkel den Brief vor die Füße und raste wieder nach oben, die Entreetür so zuknallend, dass die Kathedralscheibe zersprang. Wenige Augenblicke später stürzte er erneut herunter, diesmal mit seinem Revolver, meine Mutter stand in der Küche, und er schrie: »Wenn du dich scheiden lässt, drücke ich ab.« Man kann es eigentlich kaum glauben, aber er legte tatsächlich mit der Waffe auf sie an, und wäre mein Großonkel nicht gewesen, der den Arm meines Vaters hochriss, gäbe es mich wohl nicht. Noch heute steckt das Projektil in der Decke meines Geburtshauses.

4

Schon als Kleinkind empfand ich meinen Vater als Unhold, obwohl ich in meinem Kinderbettchen noch nicht wusste, wie gewalttätig er mit meiner Mutter umging. Aber auch ein Kleinkind besitzt gewisse Instinkte, und ich erinnere mich, dass ich einmal irgendeiner Nichtigkeit wegen furchtbare Prügel von ihm bezog und er währenddessen im Kasernenhofton herumschrie. Ich weinte, bekam doppelt Prügel, und er brüllte: »Ein Junge weint nicht.« Das war mein Vater, Max Berfelde.

Geboren 1888 in Frankfurt an der Oder als Sohn eines Fischermeisters, runde hundert Jahre nach jener unschicklichen Verbindung mit dem Fischermädchen, entstammte er der Lossower Linie unseres Geschlechts. Im Ersten Weltkrieg eiferte er dem adligen Familienzweig nach – der Sommerfelder Linie, der mein entfernter Onkel Hans-Georg von Beerfelde angehörte – und wurde Soldat. Nach Kriegsende arbeitete er als kaufmännischer Angestellter in einer renommierten Firma, dem Stickstoffsyndikat. Dort ereignete sich 1930 ein Vorfall, der das cholerische Wesen meines Vaters beleuchtet: Er legte sich mit einem überaus freundlichen Mitarbeiter an – so charakterisierte meine Mutter ihn jedenfalls –, griff ihn bei den Schultern und drückte ihn durch die großen Glasscheiben des Firmengebäudes. Ein Teil der Fensterhalterung stürzte mit den Splittern hinab und zerschellte auf dem Trottoir. Der Kitt konnte die schwere obere Scheibe nicht halten, sie rutschte runter und klemmte den Unglückseligen ein. Die Firma lag im vierten Stock, und er hing mit drei Vierteln seines Körpers aus dem Fenster. Die Feuerwehr rückte an, breitete ein Sprungtuch aus, während andere versuchten, den Eingeklemmten zu befreien, was auch gelang. Mein Vater wurde streng verwarnt und in eine andere Abteilung versetzt.

Er schien ein Mann ohne Geschichte zu sein. Nicht einmal Spuren existierten von seinen engsten Verwandten, keine Fotos, keine Briefe, keine Aufzeichnungen. Ein Mann ohne Vergangenheit oder einer, der die Vergangenheit verdrängt hatte, weil sie an seiner Seele nagte. Ein einziges Mal, in einem Anflug von Vertrautheit, erzählte er mir an der Milchrampe in Motzen von seinen Eltern. Seine Mutter war offenbar ein Teufel in Menschengestalt gewesen. Einem Fischerlehrjungen rannte sie wegen einer vermeintlichen Verfehlung nach, die Axt wie eine Rachegöttin hoch in der Hand. Das vierzehnjährige Bengelchen sprang vor Schreck in die Oder. Sie konnte nicht schwimmen, stand auf der letzten Planke, vor Wut außer sich mit den Füßen aufs Holz stampfend, und warf dem Jungen die Axt hinterher. Nur knapp verfehlte sie ihr Ziel. Ihr Mann, Fischermeister Wilhelm Berfelde, war hingegen ein ruhiger und bedächtiger Zeitgenosse. Hing der Haussegen schief, fuhr er mit seinem Kahn hinaus und fand in der Natur seinen Frieden.

Mein Vater zog als einfacher Soldat in den Ersten Weltkrieg, sein Ehrgeiz ließ ihn von einer militärischen Laufbahn als Unteroffizier träumen. Doch als der Krieg zu Ende ging, war er noch immer einfacher Soldat, und ich nehme an, dass hier der Bruch in seinem Leben liegt. Da er auf dem Exerzierplatz nicht kommandieren konnte, verlegte er ihn in unser Haus. Wir waren seine Rekruten, die er nach Herzenslust schinden konnte. Sein Ton war ausnahmslos dem Kommiss entlehnt: »Hier befehle ich«, und seine eng stehenden Augen – ihre Farbe weiß ich nicht mehr, denn ich mochte ihn nie anschauen – flackerten wie in einem Anflug von Wahnsinn.

Bereits als kleiner Junge fragte ich mich verzweifelt, wie ich meiner Mutter nur beistehen konnte. Als Kind weiß man ja nicht, dass man später kräftiger wird und selbst etwas tun kann.

Die Geräusche, die vom ersten Stock in die untere Etage drangen, gruben sich mir unauslöschlich ein: sein kläffendes Gebrüll, das Poltern umgestoßener Eichenstühle, wenn mein Vater meine Mutter durchs Zimmer stieß, ein dumpfes Klatschen, wenn er ihrer habhaft geworden war und sie schlug.

Denke ich an meine Kindheit zurück, so wundert es mich manches Mal, dass ich nicht völlig verblödet bin, so oft wie mein Vater mir mit seinen Pranken zusetzte.

Schon Ende der zwanziger Jahre hatte er sich den Nationalsozialisten angeschlossen und bezeichnete sich stolz als »alten Kämpfer«. Nach der »Machtergreifung« der Nazis brachte er es bis zum politischen Leiter in Mahlsdorf – bis wahrscheinlich selbst den Nazis sein unbeherrscht-cholerisches Verhalten zu viel wurde und sie ihn ablösten.

Seine Manie, mich zu einem »jungen Kämpfer« zu erziehen, musste ich von frühester Jugend an erdulden. Diese reichte bis zu absurden Korrekturen meines Äußeren: Kringelten sich beispielsweise durch den Regen meine Haare zu kleinen Löckchen, befahl er mir, den Kopf ins kalte Wasser zu stecken und die Haare glatt zu kämmen. Sie mussten kurz und gescheitelt sein: Militärschnitt.

Ich aber war kein »junger Kämpfer«, fühlte mich nicht einmal als Junge. Nein, ich war ein Mädchen. Ich entsinne mich einer großen Soiree mit Damen und Herren des gehobenen Standes. Die vornehmen Frauen hatten sich prächtig herausgeputzt, mit Colliers, Ketten und Armbändern behängt. Ich saß auf dem Schoß einer weitläufigen Verwandten, Tante Anni nannte ich sie immer, und bewunderte ihre Kleidung und ihr Geschmeide. Ich bin ein kleines Mädchen, sagte ich mir, und später werde ich genauso aussehen und mich genauso bewegen wie diese Frauen.

An meinen Mitschülerinnen interessierten mich eigentlich nur die Kleider. Spielte ich zusammen mit ihnen und ihren Puppenstuben oder sie bei mir mit meinen Puppenmöbeln, dachte ich immer: Mein Gott, was hat die für ein süßes Miederchen an, was für einen hübschen glockigen Rock. Oder die Bordüren!

Jungen interessierten mich erotisch mehr – bei ihnen schaute ich gerne auf die Figur oder registrierte sofort, wenn jemand süß aussah –, bei Mädchen hingegen achtete ich immer darauf, was für Schuhe sie trugen, welche Strümpfe, wie ihre Kleider geschnitten waren. Und immer wieder sagte ich mir: Na, zu blöd, warum kann ich nicht so etwas tragen, so ein Trachtenmiederchen, schwarz und grün abgesetzt, vorne zum Schnüren mit Bänderchen und mit kleinen Messingspitzen dran?

Wurden zu Hause die Familienalben mit Fotos herausgeholt, auf denen die Verwandten in stolzer Pose an der Galerie lehnten oder an den Blumentischen aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, blickte ich automatisch auf die drapierten Damen und vor allem auf ihre stramm taillierten Kleider. In so etwas wollte ich herumlaufen. Später habe ich mir diesen Wunsch erfüllt.

5

Mit fünf oder sechs spielte ich lieber mit altem Kram als mit richtigem Spielzeug. Sicher, ich hatte von meiner Mutter Puppenmöbel bekommen, mit denen ich gern herumhantierte, und auch die Blecheisenbahn, die mein Großonkel mir geschenkt hatte, machte mir Freude. Aber viel schöner fand ich es, alte Uhren, Petroleumlampen, Bilder oder Leuchter meines Großonkels sauber zu machen und anzuschauen.

Mit einem Schulfreund streifte ich durch Mahlsdorf. Wo heute die neue Schule steht, türmte sich damals ein ungemein ergiebiger Müllhaufen mit all dem Hausrat, der in den Augen der Leute unmodern geworden war. Eines Tages kam ich freudestrahlend nach Hause, hatte ich doch eine unbeschädigte Telleruhr ergattert. Sie sah aus wie ein blau-weiß bemalter Porzellanteller mit römischem Zifferblatt. Dahinter befand sich ein einfaches Blechgehäuse mit einem Unruhwerk. Das wusste ich damals natürlich nicht, meine Uhrmacherkenntnisse waren gleich null. Aber als ich daran herumwerkelte, tickte sie plötzlich wieder.

Meine Sammelleidenschaft erwachte wie von selbst, niemand hatte mich dazu angehalten. Meine Mutter tolerierte sie, dachte sicher, wenn das Kind Spaß dran hat, warum nicht. Mein Großonkel fand sie sogar gut, hoffte wahrscheinlich, ich träte als Konstrukteur eines Tages in seine Fußstapfen. Aber bald merkte er natürlich, dass sich mein Interesse mehr häuslichen Dingen zuwendete. Eines Tages, als ich wie so oft direkt nach der Schule begann, Möbel zu reinigen und Staub zu wischen, bemerkte er: »Nun bist du ja schon wieder beim Staubwischen.« – »Ja«, erwiderte ich, »das ist auch nötig, damit alles sauber wird.« Mein Großonkel schaute mich nachdenklich an, doch dann hellten sich seine Züge auf: »Ja, Kind, du hättest 1900 als Mädchen leben müssen, dann hätte ich dich als Dienstmädel engagiert. Du wärst ’ne Perle gewesen!« Er lachte übers ganze Gesicht, und ich glaube, dass er schon früh gemerkt hat, dass dieser Knabe eigentlich ein Mädel war.

Mein Interesse an Möbeln war geweckt, auch wenn ich die verschiedenen Stilrichtungen noch nicht auseinanderhalten konnte. Aber für Gründerzeitmöbel entwickelte ich schnell einen sechsten Sinn. Säulen, gedrechselte Füße, hier noch ein Holzkügelchen und da noch eins – ich war hin und weg! Damals war eine gute Zeit zum Sammeln von Gründerzeitmöbeln. Den Leuten waren »Staubfänger« wie Muschelaufsätze und verzierte Türmchen lästig geworden. Man richtete sich, wenn man das nötige Kleingeld hatte, neu, »modern« ein, zerhackte die alten Möbel und warf die Kleinteile in den Ofen. Die weniger Betuchten nahmen zumindest die Aufsätze ab und brachten sie auf die Halde.

Für mich war das die Gelegenheit, und mit klopfendem Herzen sortierte ich den Müll. Hatte ich etwas Schönes entdeckt, musste ich nur noch meine Mutter rumkriegen: »Ach Muttichen, bitte.« Dann nickte sie mir zu: »Na gut, schaff es schon rauf zu deinem ganzen Kram.« Und ich brachte freudestrahlend das jeweilige Prunkstück hoch auf den Boden, wo ich meine Schatzkammer eingerichtet hatte.

Ich klingelte bei unseren Nachbarn und selbst bei Leuten, die ich gar nicht kannte. »Haben Sie nicht ein altes Grammophon, einen alten Trichter?« Schon als Kind war mir klar: Zu einem Grammophon gehört ein Trichter. Deshalb interessierten mich neumodische Geräte nie. Und so ist es noch heute: Musik muss für mich, auch wenn das verrückt klingt, aus einem Trichter kommen!

Bei einer Uhr, einem Haus, einem Möbel suche ich immer nach dem Angesicht. Lieblos gestalteten Gegenständen vermag ich nichts abzugewinnen.

Mein Begehren verwunderte zwar viele, bei denen ich klingelte, aber oft bekam ich etwas – mehr als einmal wurde ich allerdings rausgeschmissen. Die Leute dachten wohl, ich wolle sie auf den Arm nehmen mit meinen immer gleichen Fragen nach alten Dingen.

Mit Vorliebe sammelte ich »Kramagen«, wie mein Großonkel sie nannte, hauptsächlich alte Schlüssel, die zu keinem Schloss mehr passten. Überhaupt Schlüsselbunde: Die waren für mich etwas Herrliches! Ich polierte sie und steckte sie in die Vordertasche meiner Schürze. Die damals sehr modischen Knabenschürzen mit Bänderchen waren kreuzweise über dem Rücken an Knöpfen festgemacht und sahen eigentlich aus wie Mädchenschürzen. Deshalb mochte ich sie auch so gern leiden.

Die Schürzenmanie ist bis heute geblieben. Als ich größer war, gab es keine Schürzen mehr für Jungs, und so nahm mich mein Großonkel an der Hand und erklärte ganz selbstverständlich: »Na ja, müssen wir eben eine Mädchenschürze kaufen.«

Mein Vater hatte wohl eigene Vorstellungen, wie ein »echter« Junge aussehen sollte, und ich verstieß irgendwie dagegen: zu hübsch, zu zierlich, meine Gesichtszüge sensibel, und eine mädchenhafte Zartheit verlieh mir einen weichen Ausdruck.

Ich zog die Schulkleider meiner Mutter an, Kleider aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Fein säuberlich geordnet und gepackt lagen sie in Truhen auf dem Hausboden. Als ich mich vor dem Spiegel drehte und wendete, war mein Entzücken groß. Das meines Vaters freilich nicht. Als er mich in diesem unmännlichen Aufzug sah, ging er mit der Reitpeitsche auf mich los, riss mir die Kleider vom Leib und brüllte: »Du bist kein Mädchen, du sollst einmal Soldat werden.« Sieben oder acht war ich damals.

Mit unschöner Regelmäßigkeit verging sich mein Vater mit der Gerte an mir. Einmal wurde es selbst der Haushälterin zu viel, und sie versuchte, ihn zu beschwichtigen: Das Kleideranziehen sei doch nur ein Spiel. Daraufhin wütete er: »Und wenn ich den Jungen totschlage! Diese Macht habe ich, schließlich bin ich der Erziehungsberechtigte.« Die Haushälterin widersprach, er schlug auch sie.

Mein Großonkel nahm mich zu sich in das Erdgeschoss des Mahlsdorfer Hauses. Ich stattete mein Kinderzimmer so aus wie eine Hausfrau die gute Stube um 1890: ein hübsches Jugendstilvertikow, eine Waschtoilette, einen Kleiderschrank, eine zierliche Kommode, den unvermeidlichen Regulator und einen Trumeauspiegel mit Säulen. In der Etagere, einem kleinen, von gedrechselten Säulen getragenen Regal, standen meine Bücher, auf dem Tisch lag eine rote Plüschtischdecke, darauf eine Visitenkartenschale aus versilbertem Messingblech, und auf einem weiteren Tischchen stand eine pompöse Salonpetroleumlampe. Einen Kronleuchter kaufte ich beim Trödler, eine elektrifizierte Gaskrone aus Messing mit Alabasterkugeln – mein kleines Reich.

Der Trumeauspiegel stand früher in den Haushalten zwischen den Fenstern. Ein Spiegel, der links und rechts gerillte Lisainen besaß, mit Konsolen oder Säulen. Oben auf dem Gesims thronte, der Neorenaissance-Mode gemäß, ein Muschelaufsatz, links und rechts auf Pfosten gedrehte Holzkugeln. Der Spiegelrahmen stand auf einer Konsole, ebenfalls mit gedrechselten Säulen.

Nicht jeder nannte am Ende des neunzehnten Jahrhunderts schon eine Standuhr sein Eigen, und so musste eine Wanduhr herhalten, ein Regulator, meist ein langer Glaskasten mit Säulen an den Seiten. Über dem Gesims steckte ein Aufsatz mit gedrechselten Holzkugeln oder einem gegipsten Adler, mit Politur auf Nussbaum gefärbt. Unten befand sich ein geschwungenes Konsol mit hängenden Kugeln als Abschluss und in ihrem Innern ein weiß emailliertes Zifferblatt mit römischen Zahlen samt Messingpendel.

Solche Uhren sammelte ich als Kind. Im Laufe meines Lebens wurden es dreihundertsechsundachtzig.

Im geräumigen Haus meines Großonkels nahm meine Sammlung mit den Jahren immer mehr Platz ein. Ich füllte Keller, Boden und sogar den angrenzenden Stall mit meinen Schätzen. Mit meinem Großonkel als Verbündetem gelang es mir, meine Leidenschaft weitgehend vor meinem Vater zu verbergen. Boden, Keller und Stall betrat er nie, da die Räume meinem Großonkel vorbehalten waren. »Das wollen wir alles vor ihm verstecken«, raunte dieser mir mehr als einmal verschwörerisch zu.

Zwar konnte ich nachmittags meist nach Herzenslust in alten Dingen stöbern, aber am Vormittag musste ich wie alle anderen in die Schule. Und – ach – da war nun doch vieles nicht nach meinem Geschmack. Natürlich gab es Probleme mit Mitschülern. Viele, die auf forsch und kernig machten, verachteten mich goldblondes Lockenköpfchen. Ich wurde verhauen, nur weil ich Haarspangen trug. »Siehst ja aus wie ein Mädchen«, hänselten sie mich. Ich war verwundert: Ich hatte ihnen doch gar nichts getan. Warum wollten sie mir Böses? Erst später spürte ich die Wand, die unsichtbar zwischen mir und vielen Menschen steht.

Noch viel ärger war der allwöchentliche Sportunterricht. Der interessierte mich überhaupt nicht! Ob wir nun Fußball spielten, in der Sandgrube weitsprangen oder an Stangen hochkletterten – alles Nonsens in meinen Augen. »Ach Gott«, sagte der energische, aber verständnisvolle Sportlehrer, »wenn ich dich so sehe! Wie die Jungfer, die zum Balle geht, schaust du aus, deine Beine kriegst du nicht auseinander, und über den großen Bock da willst du doch bestimmt nicht springen.« Er hatte es erfasst.

In einer anderen Stunde spielten wir Fußball auf einem Sportplatz. Natürlich war es nicht das runde Leder, das mich faszinierte – mein Gott, war das albern, das Hin- und Herschießen des Balles, das Gerenne, die unruhigen und hastigen Bewegungen –, sondern ein alter Eisenbahnwagen, etwa von 1870, am Rande des Spielfeldes. In diesem Gepäckwagen ohne Räder zogen wir uns um. Als ich mich in ihm umsah, befand ich mich im Geiste schon auf großer Fahrt, stellte mir den Dampf vor und die Lokomotive, die diesen Wagen früher gezogen hatte. Doch dann scheuchte uns der Sportlehrer raus, und wir mussten diesem Ball nachjagen. Klar kriegten alle mit, dass ich ständig in die verkehrte Richtung schoss und nicht wusste, worum es ging. Ist doch ganz egal, dachte ich, wo der Ball reingeht, Hauptsache, er geht irgendwo rein. Der Sportlehrer guckte indigniert, schnippte mit dem Finger, um mich zu sich zu rufen, und fragte: »Macht dir das Fußballspielen eigentlich Spaß?« – »Nee«, antwortete ich, »ich säße viel lieber in dem schönen Eisenbahnwagen.« Und, tatsächlich, der hübsche Mann mit der Trillerpfeife zeigte Gespür und ließ mich meiner Wege gehen.