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ISBN: 978-3-95530-003-6


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Good girls go to heaven,
bad girls go everywhere

  1  

Das Mädchen lag seit Stunden in der Brandung, die seit dem Einsetzen der Flut den menschenleeren Strand mehr und mehr überspülte. Eine junge Balinesin, schlank, kaum mittelgroß. Auffallend schön. Ihr Haar, beinahe hüftlang und nachtschwarz, bewegte sich im Spiel der Wellen wie nasse Schlingpflanzen hin und her. An ihrem linken Armgelenk trug sie einen schweren Silberreifen mit zwei ziselierten Feuersalamandern. Auf Flores, einer der Nachbarinseln, gehörten solche Schmuckstücke zu jeder Aussteuer. Um ihre kindlich schmale rechte Fessel wand sich ein geschlungenes Silbergeflecht, das die Einstiche nur notdürftig verdeckte.

Ihr linkes Auge war zugeschwollen, ihre Wange von Schlägen gezeichnet. Der Arm war aus der Kugel gedreht. Spuren von Hieben und Quetschungen am ganzen Körper. Frische Brandmale auf ihren kleinen Brüsten.

Sie war nackt, bis auf den ausgebleichten Sarong, der um ihre Hüften geknotet war. Es war ein Doppel-Ikat aus dem Dorf Tenganan, eines der wertvollen Schutztücher mit dunkelblauen Kreuzsternen und aus Swastikas gebildeten Mäandern auf hellem Grund, die man vorzugsweise jungen Mädchen für die Aussteuer mitgab. Überall auf Bali schrieb man diesen Stoffen die nach uralten Vorlagen gewebt wurden, magische Eigenschaften zu, die ihre Träger vor Krankheit, Verfall und Befleckung schützten.

Vor bösen irdischen Feinden hatte es das Mädchen nicht bewahren können.

Man hatte sie vor kurzem hart rangenommen. Ihr Körper war noch immer angespannt, ihr Mund zum Schrei verzerrt. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, die Nägel tief ins weiche Fleisch der Ballen gegraben. Sie hatte sich lange gewehrt, um sich geschlagen, gekratzt, getreten und geschrien, bis ihr die Stimme versagt hatte.

Jetzt aber spürte sie keine Schmerzen mehr und keine Angst.

Das Mädchen war tot.

  2  

Diesmal hatte es Hanne erwischt. Aber ordentlich. Man sah es an der Art, wie sie sich tänzelnd durch die Kanzlei bewegte, mit einem sinnentleerten Lächeln, das sie unverschämt glücklich aussehen ließ. Es hielt sich hartnäckig, selbst wenn eine der anderen etwas von ihr wollte. Nicht einmal bei unangenehmen Anfragen dienstlicher Natur erlosch es.

Ihr Fuchsgesicht war heiter, und ihr kurzgeschnittenes Haar erstrahlte neuerdings in einem aufregenden Venezianisch-Rotblond. Hanne schwelgte, entgegen ihrer sprichwörtlichen Sparsamkeit, in Klamotten.

Nichts von der Stange. Alles mit Pfiff, in einem unkonventionellen, sehr femininen Stil.

Sie war unkonzentrierter als gewöhnlich, das war nicht zu übersehen. Zweimal schon hätte sie beinahe einen wichtigen Termin vermasselt. Akten stapelten sich auf ihrem Schreibtisch, und trotz erwachender Unmutsgefühle ihrer langjährig verwöhnten Mandantschaft schien sie immer weniger Lust zum Diktieren, geschweige denn zum Aufspüren steuerrechtlicher Nischen zu verspüren.

Bisweilen blieb sie mitten im Satz stecken, legte den Kopf schräg und schaute verträumt. Das war meistens, wenn irgendwo in den großzügigen Büroräumen das Telefon zu schrillen begann. In der Mehrzahl dieser Fälle bekam Anke Frey, ihre schlagfertige Azubine im letzten Lehrjahr, keine Chance, den Hörer auch nur in die Hand zu nehmen.

Keine Frage, ihre Partnerin Hanne Bromberger, mit der Sina V. Teufel schon seit mehr als fünf Jahren eine florierende Münchner Anwältinnenkanzlei betrieb, war bis über beide Ohren verliebt.

Der Glückliche: ein charmanter, ein wenig elegischer Exil-Lette mit nebulöser Vergangenheit und geschliffenen Manieren. Anregend verlebtes Gesicht, hünenhafte Gestalt. Schmale grüngraue Augen. Anfang Vierzig. Stets gehetzt, immer in Mantel und Schal, als sei er ständig auf Abruf.

Im Augenblick Produzent, wenigstens nach seinen eigenen Angaben. Zuvor auch schon Dokumentarfilmer, Kameramann, Cutter. In seinen Anfängen Oppositioneller, Schauspieler, Bühnenbildner und wer weiß was sonst noch alles.

Offensichtlich wuselte er tatsächlich irgendwo beim Film herum, eine Branche, die Hanne zu anderen Zeiten erbarmungslos als Ansammlung professioneller Schaumschläger gegeißelt hätte. Jetzt, im Vollstadium ihres Liebesrausches, war sie sogar bereit, sich für alles zu begeistern, was mit laufenden Bildern auch nur im entferntesten zu tun hatte.

Sina Teufel fand Bill Bergis auf den ersten Blick überkandidelt, auf den zweiten eher suspekt, dann bloß noch unsympathisch. Auf keinen Fall ein Mann, der zu Hanne paßte.

Filou. Klugschwätzer. Luftikus. Schlimmer noch: Frauenbetörer. Unseriös. Einer, der künftiges Unheil als Duftmarke trug. Ihre Nase schlug Alarm. Diese Sorte kannte sie zur Genüge.

Die andere liebte und genoß. Wochenende in Wien, von wo sie mit einer überbezahlten Jugendstillampe zurückkam. Drei Tage Petersburg. Spontaner Kurztrip nach Amsterdam – Haschisch-Cafés, Grachtenrundfahrt bei Kerzenschein und anschließendes Liebesmahl im Chinatempel. Genever bis zum Abwinken. Katerfrühstück im Café Extrablatt.

Alles Dinge, die sich die grundsolide, kostenbewußte Hanne früher nie und nimmer erlaubt hätte.

»Na und?« war ihre Antwort, als Sina sie damit frozzeln wollte. »Man lebt nur einmal. Hast du mir doch seit Jahren gepredigt.« Ihr neues, atemloses Lachen.

»Gut, daß mir das noch rechtzeitig aufgefallen ist.« Ein hastiger Blick zur Uhr. Die war leicht geschwungen, sündteuer und erst gestern erstanden.

»Und wann kommt er?« fragte Sina säuerlich und bereitete sich darauf vor, den Rest ihrer Besprechung abermals zu vertagen. Lief die Sache so weiter, würden sie in ihrer Zweifrauensozietät noch die Antiverkehrsform der Aktennotiz einführen.

»Um halb sieben«, antwortete Hanne leicht verklärt.

»Wir gehen in die ›Kammerspiele‹. Penthesilea soll sehr gewagt und ziemlich schräg sein. Bill stirbt für Experimente! Aber vorher muß ich in der Theatinerstraße noch was abholen.«

Hanne, die seit Jahren nicht mehr im Theater gewesen war – und dann noch in einem zwanghaft auf modern getrimmten Klassiker! Vor wenigen Wochen hätte allein der Gedanke daran sie schaudern lassen.

Aber das war eben, bevor Mr. B. in ihr einsames Leben getreten war.

Männer! dachte Sina resigniert und starrte nach draußen, wo ein weiterer nebliger Tag über der Stadt aufzog. Der goldene Oktober, von dem Münchens Fremdenverkehrswerbung so gern schwärmte, dachte in diesem Herbst nicht daran, seinem Namen auch nur ansatzweise gerecht zu werden.

Männer! Kaum machen sie sich breit in unserem Leben, schon rasten wir Frauen aus – immer das gleiche doofe alte Spiel!

Es war nicht nur das permanente Liebesgesäusel von nebenan, das ihr – zugegebenermaßen – an die Nieren ging und sie das Alleinsein stärker als sonst spüren ließ. Hanne benutzte ihre amouröse Verstrickung – taktisch nicht ungeschickt – auch dazu, sich Dinge, die sie ohnehin nicht mochte, vom Leib zu halten.

Dazu gehörte vor allem die immer wieder zwischen ihnen diskutierte und ebensooft zurückgestellte Frage einer Kanzleierweiterung. Sollte sie jetzt endlich bei ihnen eintreten oder nicht, die junge, einsatzfreudige, engagierte Kollegin, bereit, die Ärmel aufzukrempeln und einen Teil der anfallenden Arbeit zu erledigen?

Sina Teufel blätterte mißmutig ihren übervollen Terminplaner durch, der sich jedes Jahr ganz von selbst noch mehr aufzublähen schien. Ein Konto in Liechtenstein und die Sechzigstundenwoche als Lebensziel? Magenfalten, ein paar Frust-Cocktails und Schuften bis zum Knockout, um nicht über die Schatten der Vergangenheit nachdenken zu müssen?

In ein paar Wochen wurde sie sechsunddreißig. Sie lebte seit Jahren allein, litt in letzter Zeit wieder häufiger an Rückenschmerzen und ertappte sich dabei, Filme deshalb nicht zu mögen, weil sie eine Art Happy-End hatten. Ein Grund mehr, sich einmal zu fragen, was das Ganze eigentlich sollte.

Der nächste Anruf, den ihre Sekretärin Marina König durchstellte, verdüsterte ihre Stimmung vollends. Die junge Anwältin, die Hanne und sie einige Male getroffen hatten, sagte freundlich, aber bestimmt ab. Sie habe in der Zwischenzeit ein anderes, sehr attraktives Angebot erhalten. Dort wolle man sie unbedingt gleich haben.

»Auch gut«, erwiderte Sina kurz angebunden und legte auf. Während ein trüber Nachmittag in die Fenster kroch, versuchte sie, ihrem Miese-Laune-Anfall mit einer Aufräumaktion den Garaus zu machen. Sie hätte gar nicht sagen können, auf wen sie eigentlich so schlecht zu sprechen war.

Auf die Neue, die jetzt doch nicht kam? Auf Hanne? Auf sich selbst?

Das Stöbern im Papierkram half. Bald waren ungelesene Fachzeitschriften, Strafzettel und Rechnungen voneinander getrennt. Dann kamen die Dinge an die Reihe, die sie als »weniger wichtig« im untersten Fach abgelegt hatte. Obenauf Martins Brief.

Sina zog ihn heraus und zuckte zusammen, als sie Hanne nebenan am Telefon losprusten hörte. Soviel gelacht wie in den letzten paar Wochen hatte sie seit Jahren nicht.

Mußte Liebe schön sein!

Sie studierte die bunten Briefmarken auf dem Luftpostcouvert und fingerte nach dem blauen Blatt mit der kleinen Zeichnung. Martin hatte seit langem wieder einmal geschrieben. Diesmal aus Indonesien.

Wie ein anderes Leben kam es ihr vor. Vor dreizehn Jahren, gleich nach der Trennung von Harry, noch bevor die Scheidung ins Laufen kam, war sie von heute auf morgen in der Milbertshofener WG untergeschlüpft. Nach dem kalten Chromschick des ehelichen Domizils war die große, behelfsmäßig renovierte Altbauwohnung mit striktem Einkaufs-, Putz- und Kochplan eine anfangs zwar harte, auf Dauer aber sehr brauchbare Therapie für sie gewesen.

Zwei Frauen, drei Männer. Einer davon Martin. Ananasfrisur à la Rod Stewart, knallenge Jeans, ein schiefes, bisweilen umwerfendes Grinsen. Extrem schnell im Kopf und zärtlich noch dazu.

In langen nächtlichen Gesprächen bei grünem Tee und endlosen Lou-Reed-Songs hatte sie sich ihren Frust und ihre Verzweiflung über das Ehedesaster von der Seele geredet und in ihm einen aufmerksamen, liebevoll-spöttischen Zuhörer gefunden.

Es war nicht nur beim Reden geblieben.

Wie von selbst hatten einige dieser Unterhaltungen in den frühen Morgenstunden in seinem breiten Hochbett geendet. Obwohl Sina wußte, daß Bea, seine damalige »Hauptfrau«, nur in Berlin war, weil sie in München keinen Studienplatz bekommen hatte.

Zu einer richtigen Affäre hatte es trotzdem nicht gereicht; dazu war sie wohl zu verletzt und er zu vorsichtig gewesen. Eher hätte man es als gegenseitiges Erkennen beschreiben können, ein verwundertes Finden. Beinahe wie nach Hause kommen. Zusammen schweben, das hatten sie gut gekonnt. Und gemeinsam Blödsinn machen.

Am meisten vermißte sie noch heute die Abende, an denen sie sich kurz vor Mitternacht zu viert in seine Isetta gequetscht hatten und ins legendäre Stop in gefahren waren. Bei schalem Bier und der sicherlich miesesten Pizza der Stadt bis halb drei morgens die Szene beobachten! Ewigkeiten schienen seit jenen Tagen vergangen zu sein.

Ob Martin heute noch so trinkfest wie damals war? Den Leichtsinn hatte ihm bestimmt niemand austreiben können, da war sie sich ziemlich sicher. Nachdenklich drehte sie den Brief mit seinen großzügigen, ein wenig schludrigen Schriftzügen hin und her.

Irgendwann nach ihrem Auszug aus der WG war der Kontakt loser geworden. Schließlich hörten sie nur noch sporadisch voneinander, von immer längeren Pausen unterbrochen. Ganz aus den Augen verloren hatten sie sich allerdings nie. Die innere Verbundenheit aber, die sie einmal gespürt hatten, war um einiges schwächer geworden.

So hatte Sina nie begriffen, warum Martin seine vielversprechende Unikarriere als Soziologe plötzlich abgebrochen hatte, um als braver Lektor in einem Frankfurter Verlag unterzukriechen.

Wenig später war er dann auf den Ferntrip gekommen. Eine Reise nach der andern, die meisten nach Asien, von wo aus er bunte Karten und kurze, lustige Briefe schickte, die irgendwo anfingen und gleichermaßen unvermittelt wieder abbrachen. Zwischen den Luftpostblättern waren häufig seine talentierten Aquarelle von Traumlandschaften, die mehr als einmal Fernwehanfälle in ihr hervorgerufen hatten.

Dann wieder Sendepause, monate-, manchmal jahrelang. Martin schien nicht mit einer Antwort zu rechnen, da er oftmals auf einen Absender verzichtet hatte. Das war diesmal anders.

Martin Stegmann,
Nirvana Beach, Kuta, Bali, Indonesia
.

Alles ordentlich aufgeführt, wie es sich gehört.

Bin schließlich auf Bali gelandet, liebe Freundin, und werde hier endlich Wurzeln schlagen. Ein Engel lebt an meiner Seite, die Papayas sind kürbisgroß, und Du solltest keinesfalls sterben, ohne den Sunset von Kuta gesehen zu haben!

Sina, ganz im Ernst: Was hältst Du von real estate unter Palmen? So sieht jedenfalls mein Lebenstraum aus: »Martins Nirvana-Club«, wie klingt das in Deinen juristisch verbildeten Ohren? Spitze, was???

Warum kommst Du nicht einfach mal vorbei und hängst Deinen Luxuskörper in die Sonne? Alles da, was der Mensch braucht – lauschige Losmen, türkisblaues Meer, anmutige Menschen, kühle Drinks. Sogar die Kühe sehen aus wie Gazellen!

Mit einem Wort: Zum Verrücktwerden schön ist es hier!

Alles Liebe von Deinem alten Martin

Spinner! dachte Sina, wider Willen ein bißchen gerührt. Und neidisch. Jetzt war selbst der gelandet. Soviel Glück um sie herum war wirklich kaum zu ertragen.

Als hätte sie die dunklen Gedanken gespürt, stand Hanne in der Türe. Sie trug ein schickes schwarzes Kostüm, das in Schnitt und Material an die vierziger Jahre erinnerte.

»Geht’s dir gut?« fragte sie besorgt. »Du siehst so spitz um die Nase aus.«

Sina zuckte die Achseln. »Mußt du nicht längst los?« »Du hast nicht zufällig Lust mitzukommen?« schlug Hanne vor. »Wir haben noch eine Karte übrig, weil Bills Freund gerade abgesagt hat. Oder willst du dich lieber wieder mit deinem Kater zu Hause einigeln?« Der letzte Satz kam aggressiv.

»Getroffen«, grinste Sina zurück. Hannes Single-Rettungsprogramm war zu offensichtlich. Man konnte ihr schlechtes Gewissen kilometerweit riechen.

»Du weißt doch, wie bedingungslos Taifun auf seine ruhigen Abende vor dem Kamin besteht.«

»Man könnte meinen, daß du auf die sechzig zugehst und nicht erst lächerliche Paardreißig zählst«, parierte die andere. »Du wirst noch richtig wunderlich, wenn du so weitermachst!«

Eine Wolke Eternity blieb hinter ihr zurück.

Jetzt wurde es wirklich ernst. Sogar ihr Parfum hatte

sie in den letzten Wochen gewechselt.

Das Katzenklo zu Hause stank zum Gotterbarmen. Taifun kauerte auf der Sofalehne, keine Spur stolzer Miniatur-Langhaarpanther, sondern ein heißes, kläglich miauendes Häuflein Elend. Sein Freßnapf war unberührt, das Wasserschälchen bis zum letzten Tropfen geleert. Sina schalt sich für ihre Unaufmerksamkeit. Sie hatte im Streß des morgendlichen Aufbruchs das Wichtigste vergessen. Nirgends schlabberte er so gern wie aus dem halbeingelassenen Bidet.

Er hechtete in ihren Schoß und begann mit dem »Liebesding«. Das war der Milchtritt, den er seit kleinsten Katertagen nie verlernt hatte. Nachdem ihr Angorapulli in Nabelhöhe gründlich vollgesabbert war, begann er zu schnurren, und sie atmete auf. So dramatisch schien seine Malaise doch nicht zu sein.

Sie schob ihn ein Stück beiseite und beäugte ihn kritisch. Seine Nase war eindeutig kühler geworden, und er sah, von der Seite betrachtet, beinahe zufrieden aus. Hatte er ihr wieder eine seiner gelegentlichen Lektionen in puncto Pünktlichkeit und Fürsorge erteilen wollen?

Vorsichtig hob sie ihn hoch und legte ihn in seine Schlafmulde, hoch oben auf dem verschwenderisch ausgestatteten Kratzbaum. Mit einem kleinen Quäken ließ er sich die Verlagerung gefallen.

Dann machte sie sich an die Arbeit. Nachdem die Wohnung halbwegs aufgeräumt, das Katzenklo wieder sauber war und sie sich gerade mit einem Glas Rotwein auf dem Sofa niedergelassen hatte, läutete es. Einmal, dann dreimal.

»Ja?!« raunzte sie in die Haussprechanlage. Es gab kaum etwas, das sie weniger ausstehen konnte, als unangemeldete Besucher.

Ein Scharren an der Türe.

»Ich wußte, du würdest zu Hause sein!« Vor ihr stand mit breitem Lächeln Carlo van Rees.

»Komm rein«, sagte sie nicht gerade begeistert und fuhr sich unwillkürlich mit den Fingern durch die Haare. »Warum hast du nicht vorher angerufen?« Ihre Stimme klang widerborstig. Auch zehn Jahre dickste Freundschaft waren kein Grund, ihre ungeschriebenen Regeln zu mißachten. »Mir ist überhaupt nicht nach Menscheln zumute!«

»Eben drum. Ich hatte nicht die geringste Lust auf eine intelligente Ausrede. Der Prophet und der Berg –du erinnerst dich dunkel?«

Er hielt ihr eine große Papiertragetasche unter die Nase, der köstliche Gerüche entströmten. Dann war er schon an ihr vorbei und begann, an dem großen Tisch in der Nische zu hantieren.

»Wo sind die Kerzen?« strahlte er. »Bleib, wo du bist! Ich finde mich zurecht!«

»Darf ich fragen, was das werden soll?« fragte sie, noch immer krätzig.

»Überraschungsparty!«

Er linste anzüglich zu ihrem Rotweinglas und dem Teller mit dem müden Knäckebrot, von dem sie nicht einmal abgebissen hatte. »Alles von dem einzig genießbaren Chinesen Münchens! Oder soll ich meine Delikatessen aus dem sagenumwobenen Tai Tung gleich wieder einpacken? Du weißt doch, daß es quasi unmöglich ist, am Friedensengel einen Parkplatz zu ergattern!«

»Nein, du widerliche alte Nervensäge«, sagte sie und mußte wider Willen lächeln. »Wer könnte dir widerstehen?«

Dennoch wollte während ihres Mahls nicht die gewohnte heitere Stimmung aufkommen. Sina war schweigsam, Carlo blieb ungewöhnlich ernst. Kein gespieltes Jammern über die zu gute Auftragslage, keine Bonmots über die Niederungen der Therapeutenszene. Selbst hauchdünne Frühlingsrollen mit scharfer Füllung, Ente Kantoneser Art und frische Lychees schienen seine Nachdenklichkeit nicht wirklich zu vertreiben. Über seinem Rotweinglas musterte er sie immer wieder kritisch.

»Du mußt wieder anfangen, große Träume zu träumen, meine Schöne«, sagte er schließlich. »Irgend etwas läuft bei dir schief. Und das schon verdammt lange.«

Sie rauchte und hielt den Mund.

»Es nützt nichts, dem Leben davonzulaufen«, bohrte er weiter. »Damit machst du nichts besser. Auch dein durchaus nicht untalentiertes kriminalistisches Dilettieren in jüngster Zeit ist kein geeigneter Ersatz fürs Dabeisein.« Er deutete hinüber zum Kater, der es sich auf seinem Designersakko bequem gemacht hatte und faul zurücklinste. »Und der schon gar nicht!«

Sina sah ihn schweigend durch große, gleichmäßige Rauchringe an.

»Du bist viel zu gut, Mädchen, um nur vom Rand aus zuzuschauen. Es hilft alles nichts, glaub mir! Du mußt dich schon selbst ins menschliche Getümmel stürzen. So richtig mit Herz-Schmerz und allem!«

»Einfach schrecklich, diese Therapeutenbesserwisserei!« murmelte sie. »Wird ja von Jahr zu Jahr übler!«

»Wer, wenn nicht dein alter, väterlicher Freund Carlo, sollte dir den Kopf waschen? Sonst traut sich ja keiner, einen Piep zu sagen. Feige kuschen sie alle vor dir, vor der attraktiven, aggressiven, aber einsamen Frau Doktor mit dem schnellen Mundwerk!«

»Du wirst meine Krallen gleich in deinem Fleisch spüren!« Sina V. Teufel saß wie auf dem Sprung. »Einfach abends reinschneien! Und dann noch reihenweise dumme Sprüche ablassen!«

Aber Carlo war durch nichts zu bremsen.

»Tag und Nacht diese verbiesterte Arbeiterei! Es ist bereits ein Alarmzeichen zweiten Grades, deinem besten, einzig wahren Freund ständig abzusagen – zwei geschlagene Monate waren wir nicht mehr zusammen essen! Was ist los mit dir, Gesine Valerie? Lebendig begraben, oder was? Nicht einmal von einem gutaussehenden Nichtsnutz in deiner Nähe hat man in der letzten Zeit gehört! Wann genau war noch mal dein letzter Urlaub?« Sein Ton klang streng.

Sie zuckte die Achseln.

»Ich jedenfalls kann mich nicht mehr daran erinnern. Einfach mal wieder ausspannen, Sina! Seele baumeln lassen und über ein paar Dinge nachdenken.«

»Keine schlechte Idee«, erwiderte sie zu seiner Überraschung und ging hinüber zum Fenster, von dem aus man an wolkenlosen Tagen einen malerischen Blick über die Dächer Neuhausens hatte. »In den Flieger und nichts wie los! Was hältst du vom Osten? Genauer gesagt Südostasien?«

»Hat sich dort unten vielleicht einer deiner abgelegten Renzos oder Markus-Mäuschen breitgemacht?« fragte er prompt zurück. »Oder sonst ein hübscher Fatzke, ein Tom oder Fred oder Mike, den du bislang vor mir verheimlicht hast? Wenn nicht: Im Prinzip gut, aber ein bißchen weit!«

»Das ist es ja, was mir so gut daran gefällt!« Ihre dunklen Augen funkelten. »Viele der frühen Reisenden dachten nicht im Traum daran, von paradiesischen Inseln überhaupt noch mal zurückzukehren. Paß auf, Carlo, vielleicht geht es mir ähnlich, wer weiß!«

Plötzlich schien sie es eilig zu haben, ihn loszuwerden. Brummig, weil er den Großteil seiner Argumente für sich behalten mußte, schnappte sich Carlo den Abfall und ging.

»Einen alten Kerl wie mich so schlecht zu behandeln«, maulte er beim Abschied. »Wenn du für nächste Woche keinen Termin für eines unserer Testschlemmeressen frei hast, bleibe ich hier im Treppenhaus und heule die ganze Nacht wie ein verstörter sibirischer Schlittenhund!«

»Mittwoch«, versprach sie schnell und schob ihn aus der Türe. »Mittwoch abend. Ganz bestimmt.«

Auch die sonst probate Badewanne half nicht entscheidend weiter. Als sie anschließend ihre Bikinis vor dem großen Spiegel probierte, fand sie ihre blasse Haut herbstmüde und unansehnlich. Was war los mit ihr?

Zum erstenmal, seitdem sie die Dreißig überschritten hatte, ballte sich der kommende Geburtstag als schwarze Wolkenfront vor ihr zusammen. Sechsunddreißig – und was dann? Wieder ein festliches Abendessen mit Carlo, in einem der zahllosen schicken Münchner Lokale?

Oder lieber Familienfeier mit ihrer Freundin Friederike, bei der sie das Regal mit den Alkoholika nicht aus den Augen lassen durfte und stundenlang gegen den Weltschmerz der anderen anstrampeln mußte? Variante drei wäre die Kanzleifeier im trauten Kreis der Damen. Mit Hannes schwimmendem Blick, Marinas versteckten Seufzern, Tillys abgenudelten Sprüchen und Ankes rotzigen Kommentaren?

Allein der Gedanke daran weckte alle Fluchtinstinkte in ihr. Aber was, zum Teufel noch mal, war plötzlich anders als bisher? Und was sollte sie auf einer tropischen Insel, wo Kühe wie Gazellen aussahen? Martin und seine maßlosen Übertreibungen – wahrscheinlich würde er ihr mit seinem Engel an der Seite schon nach wenigen Tagen unsäglich auf den Geist gehen!

Wie ein fleischgewordener Widerborst kroch sie in ihr Bett. Taifun, der die kritische Lage witterte, dachte nicht daran, sich heute nacht um die Eroberung des Kopfkissens zu bemühen.

Für solche Fälle gab es schließlich das ruhige, gemütliche Plätzchen neben dem Kamin.

  3  

Erst im Flieger fand sie Zeit zum Atemholen. Sie stöpselte den Discman auf die Ohren, der Kunstführer Bali lag griffbereit. Zur Einstimmung bestellte Sina Champagner, den eine der rehäugigen Stewardessen im knöchellangen Balmain-Kostüm servierte. Natürlich lächelnd.

Singapore Airlines. Schon der Name allein Klang wie eine Verheißung.

Nach den ersten Schlucken dachte sie an das Telegramm, mit dem sie Martin ihr Kommen avisiert hatte. Dann an die vergangenen hektischen Tage, die wie im Nu verflogen waren. Und schließlich an den halben Aufstand, den ihre spontane Buchung in der Kanzlei hervorgerufen hatte.

»Das kannst du nicht bringen!« protestierte Hanne voller Empörung. »Bill und ich wollten doch über Allerheiligen eine Wien-Woche einlegen!«

»Und Ihre ganzen Termine?« So begann Tilly Malornys Wehklagen, die sich wie stets in akuten Krisen auf ihre Position als Bürovorsteherin berief. »Sie stürzen uns ins Chaos!«

»Haben Sie gar keine Angst, so allein in den Tropen?« lautete Marina Königs nicht gerade ermutigender Beitrag.

»Aber doch nur bis zur Schmerzgrenze von Dreißig! Danach ist Sense. Mach dir lieber keine falschen Hoffnungen!« Typisch Anke, die ihr Recht auf Dauerfrechheit aus dem Umstand ableitete, daß sie Friederikes Tochter war und Sina ihr quasi schon die Windeln gewechselt hatte.

Sina war ungerührt geblieben.

Zu vieles mußte vor ihrer Abreise noch geregelt werden: Termine umorganisieren, Mandanten vertrösten und neu motivieren. Außerdem hatte sie ihren Freund und Kollegen Louis Levin als Vertretung benachrichtigt, Taifun standesgemäß untergebracht, Resochin besorgt und sich in letzter Minute die Spritze gegen Hepatitis A verabreichen lassen.

Auf Carlos nachdrückliche Empfehlung hin bestand ihr Gepäck für den Hinflug nur aus einer mittelgroßen Reisetasche, in der weitere Falttaschen untergebracht waren. »Für Beutezüge. – Ich bin sicher, du wirst diverse balinesische Kunstschätze entdecken. Und denk dran, Sina, das Zauberwort auf allen fernen Inseln heißt shipping! Man freut sich beinahe noch mehr, wenn man die feinen Teilchen sechs Wochen später zu Hause Stück für Stück aus der Holzwolle schälen kann.«

Sie war also für alle Eventualitäten gerüstet. Sonnencreme, Kamera, Reiselektüre und Tarotkarten steckten im Handgepäck, neben Indonesisch für Globetrotter und Martins Rückantwort, die nicht lange auf sich hatte warten lassen.

Toll, daß Du Dich so spontan aufraffen kannst! Du kommst gerade in unsere heiße Planungsphase! Habe Dir ein traumhaftes Zimmer im Rama Ocean View reservieren lassen, nicht weit von unserem Domizil entfernt. Bring ordentlich Kohle mit, wenn Du Dein gigantisches Schwarzgeld sicher und gewinnbringend investieren willst – lohnt sich auf alle Fälle! Bin für jeden Betrag offen und dankbar.

Hole Dich selbst am Flughafen ab. Falls ich im Behördenkram steckenbleibe (kann hier manchmal sein!), komme ich abends in Dein Hotel!

Kuß Martin

P.S. Sri freut sich auch schon sehr auf Dich!

Das war mehr als zehn Tage her. Auf ihre knappe Bestätigung hin hatte er sich nicht mehr gemeldet. Typisch Martin, dachte sie amüsiert und schämte sich ein wenig über ihre eigene Pingeligkeit. Mußte wohl was mit ihrem Beruf zu tun haben. Sie kannte mehrere Kollegen, die ähnliche Auswüchse an sich beobachtet hatten.

Schon beim Kapitel über das in vielen balinesischen Dörfern noch verbreitete Zahnfeilen beim Pubertätsbeginn war sie eingeschlafen. Ein paarmal kam sie während der langen Nacht hoch, um festzustellen, daß auch die hübschesten Stewardessen kein echter Ersatz für fehlende Beinfreiheit waren. Dann ließ sie sich wenigstens mit einem der kühlen Getränke trösten, die auf Tabletts gereicht wurden, und versuchte, wieder ins Reich der Träume zu flüchten.

Selbst beim Zwischenstopp in Singapur, wo alle Reisenden wie eine Herde Schlafwandler in den aufgemotzten Flughafenpalast getrieben wurden, um den Anschluß nach Denpasar auf dem Nachbargate zu erreichen, wachte sie nicht richtig auf.

Sie landeten auf Bali, als die Sonne wie ein riesiger Feuerball ins Meer sank. Sinas Kopf brummte, und ihre Fesseln hatten nach knapp sechzehn Stunden in der Luft geradezu elefantöse Ausmaße erreicht. Sie packte ihre Siebensachen zusammen und verfluchte ihre Kneif-Jeans, mit denen sie dem heimatlichen Wolkenbruch entflohen war. Zum Glück steckten bequeme Seidenhosen in ihrer Reisetasche. Sie konnte es kaum noch erwarten.

Zuvor aber waren jede Menge Einreiseformalitäten zu erledigen. In der Warteschlange hatte Sina ausreichend Gelegenheit, den spröden Charme des offensichtlich neu erbauten Flughafens zu genießen. Es roch nach Beton und frischem Holz, und wenn die automatischen Glastüren aufgingen, kam ein Schwall lauer Tropennacht herein, gewürzt mit einer ordentlichen Prise Benzindunst.

Vor den Türen ballten sich Horden von Taxifahrern, bemüht, potentielle Kunden durch Rufen, Pfeifen und ausgiebiges Schnalzen auf sich aufmerksam zu machen.

Sina reckte den Hals, um im Gewühl Martins blonden Schopf zu entdecken, der die kleinen Balinesen ein ganzes Stück überragen müßte. Schließlich gab sie es auf und konzentrierte sich auf das Förderband, das den Wartenden Taschen und Koffer mit vehementer Zentrifugalkraft entgegenschleuderte.

Martin war nicht gekommen.

Es nutzte nichts, immer wieder nach links und rechts zu starren. Zudem stand sie ausgesprochen ungünstig. Sina spürte, wie leise Enttäuschung in ihr hochkroch, ein fades Gefühl der Besserwisserei, das sie selbst nicht leiden konnte.

Am wenigsten bei Urlaubsbeginn.

Kurz entschlossen überantwortete sie ihre Tasche, die sie bislang tapfer gegen alle Avancen verteidigt hatte, einem der zahllosen Taxifahrer und stieg in sein Auto ein.

Schlitten wäre sicherlich der richtigere Begriff gewesen. Er fuhr einen uralten roten Chevy, dessen Fond wie ein Schiffsrumpf hin- und herschwankte und der offenkundig bessere Zeiten gesehen hatte.

»Sie kommen von Deutschland?« Seine Stimme war leise und angenehm.

»Ja«, erwiderte sie, überrascht über seine akzentfreie Aussprache.

»Wohin Sie möchten?«

»Hotel Rama Ocean View«, antwortete sie. »In Kuta. Eine genauere Adresse weiß ich nicht. Ich hatte einen Freund erwartet. Aber er war wohl verhindert.«

»Bitte keine Sorge«, sagte er. »Kenne ich aus der Tasche. Ich Sie bringe gut und sehr schnell.«

Dann schwieg er. Sie fuhren auf einer breiten Umgehungsstraße, die wie der gesamte Flughafentrakt ebenfalls neu aussah. Am Straßenrand standen windschiefe Hütten, die eher Verschlägen ähnelten, und ein paar zerzauste Palmen. Tropen ärmlich, wie sie es befürchtet hatte.

»Keine gute Gegend«, sagte der Fahrer, als hätte er ihre Gedanken gespürt. »Wohnen nur Menschen da, die ihre Familien verloren haben. Verstehen Sie, was ich will sagen? Arme Leute. In Bali Familie bedeutet alles.«

»Und wenn man sich nicht mit seinen Verwandten versteht? Ich meine, wenn es einmal Krach gibt?«

Er lachte. »Dann man muß sprechen«, sagte er. »Manchmal lange. Und verhandeln, bis sich einig wird. Es gibt fast immer eine Lösung.«

»Wieso sprechen Sie so gut Deutsch?«

Er schien in seinem abgewetzten Sitz ein Stück zu wachsen. »Ich lerne«, erwiderte er bescheiden. »Ich mag Europäer. Besonders Menschen, die von Deutschland kommen. Viele freundlich und höflich.«

Könnte ich so nicht sagen, dachte Sina. Aber vielleicht treffe ich meistens die verkehrten.

»Sie sind wegen Ferien hier?«