Berni ist weg, einfach fortgelaufen, auf und davon durch ein Loch im Zaun.

Und jetzt wird er uns vermissen und nach uns suchen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

Wir sind umgezogen von einem geräumigen Haus mit großem Garten auf dem Land in eines dieser schmalen und hohen Stadthäuser mit vielen Treppenstufen und einem Handtuch von Garten. Und so haben wir lange überlegt, was mit Berni geschehen soll; denn hier holt sich sein Freiheitsdrang Beulen.

Berni ist ein schwarz-braun-weiβer Berner Sennenhund, beinahe so groβ wie ein Kalb, und er braucht entsprechend Platz im Haus und viel Auslauf drauβen. Das neue Haus ist zu klein für ihn, ganz zu schweigen von den paar Grashalmen dahinter. Und dann die vielen Treppenstufen! Die dürften ihm schwer fallen mit seinen wehen Hüften. Schlieβlich hat er schon die stattliche Zahl von acht Jahren auf seinem breiten Kreuz. In liebevolle Hände verschenken? »Nein«, sagen die Kinder; die zwar nicht mehr bei uns wohnen, aber von unseren Überlegungen erfahren haben, »das ist, als würdet ihr einen von uns weggeben!«

Doch dann kommt uns der Zufall zu Hilfe. Kurz vor Weihnachten erzählt uns der Tierarzt, mit dem ich den Fall vor längerer Zeit besprochen habe, dass im münsterländischen Borken eine nette Familie mit zwei halbwüchsigen Kindern, einem Bauernhof, viel Land und einer Haflinger-Pferdezucht gerade so einen groβen, lieben, aber wachsamen Hund suche. »Dort ist er bestimmt gut aufgehoben, ich kenne die Leute.« Also versuchen können wir es ja, vielleicht erst mal zur Probe.

Kurz entschlossen rufe ich die Familie an, ohne allerdings unsere Kinder zu informieren, und mache einen Termin für das nächste Wochenende aus, damit wir uns alle sozusagen mal beschnuppern können.

Als wir am Samstag Bernis Korb hinten in den Variant stellen, eine riesige Tüte Hundefutter daneben, bricht mir fast das Herz, als der Dicke vor Freude bellend und schwanzwedelnd hineinspringt, glücklich, dass er auf eine Reise mitgenommen werden soll. Zeli, die Dackeldame, jault wütend aus dem Haus hinter uns her, weil sie daheim bleiben muss.

Auf dem Hof in Borken will Berni dann plötzlich nicht aussteigen, und ich muss ihn an der Leine aus dem Auto ziehen. »Als ob er etwas ahnt«, geht es mir durch den Kopf. Ein sehr nettes Ehepaar begrüβt ihn und uns erfreut, und die Kinder, neun und zwölf Jahre alt, nehmen mir den Hund sofort ab. Zutraulich trottet er mit ihnen hinter uns her ins Haus. Kinder hat Berni schon immer gemocht, die spielen mit ihm, geben ihm Leckerle und Schokolade, und die schimpfen nie. Wir setzen uns mit den Eltern ins Wohnzimmer, um bei einer Tasse Kaffee zu besprechen, was zu besprechen ist. »Berni, Schokolädchen! Berni, Schmüserchen! Lieber, lieber Berni!« Die beiden Kinder, Esther und Moritz, sind in der geräumigen Diele voll beschäftigt mit dem Dicken. Und der fühlt sich natürlich bernersennenhundwohl.

So viel ungeteilte Aufmerksamkeit hat er selten. Zu Hause muss er immer alles mit Zeli teilen, und weil die eine Hundedame ist, ihr auch noch stets den gröβeren Happen überlassen. Hin und wieder taucht sein wuscheliger Kopf mit dem breiten weiβen Streifen über der dicken Nase und den braunen Tupfern darauf in der Wohnzimmertür auf. Dann kommt er zu mir, stupst mich am Arm, geht zu Dietrich, meinem Mann, legt ihm die weiβe Pfote aufs Knie, so als wolle er sagen: »Ich bin ja noch da, nur im Moment sehr beschäftigt.«

»Berni, komm!«, und er läuft wieder hinaus, um mit den Kindern im Hof herumzujagen.

Wir beschlieβen, Berni erst einmal für zwei Wochen zur Probe dazulassen. Wenn es nicht klappt, holen wir ihn wieder ab, und wenn doch? Wir werden sehen …

Als ich ihm zum Abschied beide Arme um den wolligen Hals lege, schaut er mich fröhlich an und versteht überhaupt nicht, warum meine Augen feucht sind. »Mach’s gut, alter Junge, sei lieb und wachsam, und mach uns keine Schande!« (Als ob ein Hund das jemals tun würde!) Dann drücke ich ihm schnell einen Kuss auf sein sommersprossiges Kälbchenmaul und steige hastig ins Auto ein. Dietrich pufft ihm zum Abschied freundschaftlich in die Seite und klettert dann ebenso eilig auf den Fahrersitz. Als wir vom Hof fahren, steht der Dicke zwischen den Kindern. Sie halten ihn am Halsband fest, seine rosa Zunge baumelt lustig seitlich aus dem Maul. Er setzt felsenfest darauf, dass wir ihn bald wieder abholen. Schlieβlich war er ja schon öfter in Pension, das kennt er noch von den letzten Ferien.

Die zwei Stunden Heimfahrt legen wir völlig stumm zurück. Und erst als Zeli uns freudig kläffend umspringt, dann aber aufgeregt das ganze Auto nach Berni abschnuffelt und uns fragend ansieht, kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Mir fehlt der Dicke schon jetzt.

Am Abend lädt uns Dietrich zur Ablenkung in ein feines Restaurant ein, doch wir bekommen kaum einen Bissen hinunter.

Gleich am nächsten Tag rufe ich in Borken an. »Berni hat heute Nacht bei Esther vor dem Bett geschlafen, dann ist er mit uns durch die Felder gejagt.« Ich bin fast etwas enttäuscht, dass anscheinend alles so glatt geht. Denn mir fehlt Berni schon jetzt an allen Ecken und Enden: seine dicke Wolle unter meinen Händen, sein »Plumps« am Abend, wenn er sich vor den Kamin schmeiβt und seine Pfote und den dicken Kopf auf meine Knie legt, um energisch zum Schmusen aufzufordern.

Zeli liegt den ganzen Tag auf dem Läufer in der Diele, die Schnauze der Haustüre zugewandt und in ständiger Erwartung ihres groβen Freundes. Das Futter will ihr nicht so recht schmecken, und sie magert in den folgenden Tagen sichtlich ab. »Wenn Sie es sich leisten können«, sagt der Tierarzt, den ich um Rat frage, »dann legen Sie sich und der Hundedame einen zweiten Dackel zu.« Gewiss, das wäre zu überlegen, so ein kleiner Hund braucht nicht so viel Auslauf wie ein Berner Sennenhund; aber ich käme mir dabei wie eine Verräterin an unserem Dicken vor.

Zu Weihnachten schicken wir Berni ein Päckchen: Hundekuchen, Hundeschokolädchen, und Zeli opfert ihren angeknabberten Büffelhautknochen. Das heiβt, ich überrede sie, ihn Berni zu schicken, und knurrend gibt sie nach. Der hat sich mittlerweile sehr gut in seinem neuen Zuhause eingelebt und scheint uns nicht zu vermissen. Er ist lieb mit den Kindern, schaut Esther gern beim Striegeln der Haflinger zu und bewacht eifrig den Hof.

Im Januar ziehen wir dann um in die Stadt. Nachdem wir uns einigermaβen eingerichtet haben im neuen Haus, will ich unsere neue Telefonnummer nach Borken durchgeben. »Es ist etwas Schreckliches passiert«, fällt mir Esther sofort aufgeregt ins Wort, »Berni ist abgehauen und spurlos verschwunden, wahrscheinlich durch ein Loch im Zaun!« Mir bleibt der Atem stehen. Das habe ich insgeheim befürchtet, dass er vielleicht doch versuchen wird, zu uns zurückzukehren; denn länger als drei Wochen haben wir ihn nie in Pension gelassen, und nun sind schon zwei Monate vergangen. Was soll ich bloβ tun? Esthers Vater hat den Hörer übernommen: »Wir sind sofort losgefahren und haben nach ihm gesucht, aber keine Spur. Die Polizei ist benachrichtigt, unser Tierheim hält Augen und Ohren offen. Auβerdem steht am Wochenende eine Suchanzeige in der Zeitung. Mehr können wir im Moment nicht machen. Vielleicht findet er ja auch von alleine zurück.«

Und wenn nicht? Ich beschlieβe, zusätzlich alle Tierheime, Fundbüros und Polizeidienststellen zwischen Borken und unserem alten Wohnort zu benachrichten.

Doch alles ist vergeblich.

Auch eine Anzeige in einer überregionalen Zeitung bleibt ohne Echo.

In der Zwischenzeit sind zwei Wochen vergangen. Wo mag Berni sein? Wohin will er? Ob er uns sucht? Ob ihm kalt ist? Ob er Hunger hat? Wasser gegen den Durst wird er ja drauβen finden. Hoffentlich machen ihm seine schlimmen Hüften bei dem Sauwetter nicht zu schaffen, nasskalt wie es im Moment ist.

Ach Berni!

Als acht Wochen alter Welpe war Berni zusammen mit Dietrich zu uns gekommen. Er betrat unsere Wohnung halb ängstlich, halb neugierig, mit einem Ungewissen Wedeln der weiβen Schwanzspitze. Und dann machte er sich in der Küche gleich über Lucis Fressnapf her, unserer damaligen altehrwürdigen Rauhhaardackeldame. Später knallte er sich in ihr Körbchen, für das er schon jetzt viel zu groβ war. Die Kinder adoptierten das ulkige Wollknäuel auf der Stelle, und mir blieb danach nichts anderes übrig, als das Gleiche mit seinem Herrchen zu tun. Bloβ Luci zeigte beiden die restlichen Zähne. Sie litt demonstrativ unter dem angeblichen Liebesentzug, da sie unsere Aufmerksamkeit nun mit dem Knäuel teilen musste; sie beschloss, ihn zu ignorieren, wo sie nur konnte, um ihn nicht beiβen zu müssen, denn das zog regelmäβig strenge Verweise nach sich.

Dann trat eines Tages Sohn Christoph dem Riesenbaby aus Versehen auf eine der weiβen Vorderpfoten. Berni heulte herzzerreiβend, und Luci musste ihm umgehend tröstend die lange Zunge um die Ohren schlagen. Von da an waren sie ein Herz und eine Seele. Und Dietrich eroberte sich seinerseits die Gunst der Dackeldame langsam, aber sicher, indem er, so oft er konnte, mit beiden Hunden im nahen Wald spazieren ging. Da wurde gerast, gejagt, getobt und vor lauter aufregenden Spuren und Düften das Gehorchen vergessen. Auβer Atem und völlig erschöpft kamen die drei stets bei uns an.

Berni entwickelte sich im Lauf der Zeit zum Halbstarken, der nur Faxen im Kopf hatte; die betagte Luci riss er einfach mit. Sie wurde wieder richtig jung durch ihn. Ich dagegen alterte zusehends. Kam ich abends von der Arbeit heim, musste ich ramponierte Kissen flicken, angebissene Teppichfransen reparieren, zerkratzte Möbel aufpolieren, und aus bis dahin noch tadellosen Handtüchern, Unterhosen und T-Shirts Lappen schneiden, weil diese beim Zerreiβspiel von den beiden Hunden zerfetzt worden waren. Das Schlimmste aber war, wenn ich, mit Blumenstrauβ und Putzlappen bewaffnet, bei meiner Nachbarin unter uns um Verzeihung bitten musste, weil Berni mal wieder auf den Balkon gepinkelt hatte und das Geschäft durch den freihängenden Abfluss auf die nachbarliche Freiluftkaffeetafel getröpfelt war. Bevor er allerdings zum wirklichen Ärgernis wurde, beschlossen sein Herrchen und ich, die Familien gewissermaβen zusammenzuschmeiβen und auf dem Land ein groβes Haus mit Garten zu bauen.

Doch nun wurde er erst recht zum Rabauken. Kein Zaun war ihm zu hoch, um abzuhauen, keine Öffnung zu klein, um durchzukriechen. Zur Not buddelte er sich gemeinsam mit Luci unter der Einzäunung einfach ein Loch. Er klaute den Bauarbeitern in der Umgebung unserer Neubausiedlung die Butterbrote und schleppte leere Joghurtbecher und Schlimmeres in unseren Garten, die Dackeldame ständig im Schlepptau. Da beide anschlieβend immer in die Waschküche kamen, zum Säubern wie zur Strafe, bellten sie sich schon von weitem Mut an; ich brauchte dann nur noch das Gartentor zu öffnen. Sie sausten dann gleich von selbst zur Waschküchentür, und ich verdonnerte sie dann zu Arrest, in der Gewissheit, dass sie schon wüssten, warum.

Als in jenem Jahr das Obst reif zu werden begann, streunte Berni ständig durch unseren und des Nachbars Garten und fraβ alles, was angestochen auf der Erde lag, um uns dann wenig später mit einem entzückenden Dünnpfiff zu beglücken.

Eines Tages hörte ich Dietrichs Stimme aus der Vordiele: »Nun sag schon, wo du hingeschissen hast, du Stinktier. Ich riech’s doch, also wo ist das Malheur?« Ich eilte umgehend hinzu und half mitsuchen. Und siehe da, das Missgeschick klebte von innen an der Haustür, ungefähr in der Höhe von Bernis Allerwertestem. Wir brachen in lautes Gelächter aus, und er zog beleidigt ab in die Waschküche.

Nach dorthin verzog er sich auch, sobald es irgendwo knallte, sei es ein Feuerwerk an Silvester oder die Knallerei, wenn Kinder zur Karnevalszeit mit ihren Platzpatronenschieβeisen herumballerten. Dann kam er angewetzt, weil das Krachen ihn in den Schoβ der Familie, respektive in ein schützendes Versteck in unserer Nähe trieb. Am ärgsten aber war es bei Gewitter. Das roch er schon, auch wenn noch kein Wölkchen am Himmel zu sehen war. Schon der erste Donnerschlag lieβ ihn vor Panik durchs Haus, ja sogar aus dem Haus rennen und drauβen irgendwo Unterschlupf suchen. Eines Tages türmten sich schon frühmorgens am Himmel schwarze Wolkenberge, und bald kam aus der Ferne leises Donnergrollen. Berni lief mir unruhig und aufgeregt hechelnd nach und trat mir ständig in die Hacken. Als ich dann die Haustüre öffnete, um drauβen das groβe Garagentor zu schlieβen, flitzte er an mir vorbei und war blitzschnell verschwunden. Alles Rufen und Locken war vergebens, er tauchte nicht wieder auf. Also machte ich schnell die Garage dicht und rannte allein ins Haus zurück, da die ersten Blitze über den dunklen Himmel zuckten und bereits dicke Regentropfen auf den Garagenvorplatz klatschten.

Als das Krachen des Gewitters nach einer Stunde langsam in der Ferne verschwand und das Rauschen des Regens nachlieβ, trommelte ich alle Kinder zusammen, und wir machten uns auf die Suche nach Berni. Wir kehrten in Haus und Garten das Unterste nach oben und umgekehrt, doch der Dicke blieb verschwunden. Selbst Lucis Jagdhundnase spürte ihn nicht auf. Erst am Abend, als Dietrich nach Hause kam und seinen Wagen in die Garage fahren wollte, fanden wir ihn beim Öffnen des Garagentors im offen stehenden Kofferraum meines Autos. Er wedelte zaghaft mit der weiβen Schwanzspitze und hechelte uns um Vergebung bittend an. Da hatte ich doch in meiner eigenen Furcht vor dem Unwetter rasch das Tor zugeschlagen und das zitternde Fellbündel einfach übersehen.