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Georg Lentz

Molle mit Korn

Roman

Edel Elements

Aus der Vogelschau

Der Insulaner verliert die Ruhe nicht,
der Insulaner liebt keen Jetue nicht,
der Insulaner hofft unbeirrt,
dass seine Insel wieder’n schönes Festland wird.

Günter Neumann

Im Mai des Olympiajahres 1936 kam meine Tante Friedl aus Übersee zu Besuch. Tante Friedl hätte ich mir auf dem Titelblatt des Modejournals Berliner Hausfrau in vierfarbigem Glanzdruck vorstellen können. Sie war, was man damals ein Charleston-Girl nannte: schlank, mit langen Beinen in silbrig schimmernden Seidenstrümpfen, in jenen Flatterlook der Zwanziger- und frühen Dreißigerjähre gehüllt, den die deutsche Frau dann auf Wunsch des Führers ablegte.

Tante Friedl konnte es sich leisten, die neuen Trends zu ignorieren. Sie hatte vor ein paar Jahren nach Kanada geheiratet, »reich geheiratet«, wie meine Mutter, Minnamartha Kaiser, nie zu bemerken versäumte. Minnamartha wies so darauf hin, dass die flotte Tante uns, dem Rest der Familie Kaiser, die ihr Leben vornehmlich in der Kolonie Tausendschön am Rand der Stadt verbrachte, Vorbild und Beispiel war. »Sie hat es geschafft«, ergänzte meine Mutter dann wohl, während sie die Kuchengabel in die Cremefüllung eines Liebesknochens stieß oder ein Praliné zu den Lippen führte.

Tante Friedl war erster Klasse mit dem Luxusdampfer France bis Southampton gereist. Von England nahm sie das Flugzeug; eine Ju 52 der Lufthansa brachte sie nach Berlin-Tempelhof. Es freute sie, dass die Maschine auf den Namen Bruno Rodschinka getauft war, sie nahm es als gutes Omen, denn Bruno Rodschinka war ihr Vetter (und damit mein Onkel) gewesen. In den Pioniertagen des Luftverkehrs war er im Nebel abgestürzt, beim Anflug auf London. Ede, mein Vater, hatte sein Begräbnis in allen Einzelheiten vorausgeträumt, Tage, bevor die Nachricht uns erreichte, er konnte sogar den ungewöhnlichen Sarg beschreiben. So fiel ein Abglanz vom Ruhm des Luftpioniers auch auf uns. Ich, Karl Kaiser, acht Jahre alt, war stolz auf den toten Onkel Bruno. Minnamartha rechnete ihn schon bei Lebzeiten zu jenen Familienmitgliedern, die »es geschafft hatten«.

Drei oder vier Passagiermaschinen täglich landeten aus westlicher Richtung in Tempelhof. Sie flogen über die Kolonie Tausendschön. Wenn Tante Friedl, mit ihrem lieblichen Bubikopf, herabgeschaut hätte, würde sie uns unten stehen gesehen haben, auf dem Platz vor Ernie Puvogels Kramladen:

Meine Mutter Minnamartha, füllig, in weißer Kittelschürze, die Arme unter der mächtigen Büste verschränkt. Vielleicht, aber das konnte die Tante da oben durch das Dröhnen von drei Sternmotoren natürlich nicht hören, klingelte gerade in der Schürzentasche meiner Muttter die Eieruhr, ein amerikanisches Modell, Geschenk Tante Friedls bei einem früheren Besuch. (Die Uhr, bis sechzig Minuten einstellbar, regelte seither Minnamarthas und unser Leben im strengen Klingelrhythmus.)

Neben Minnamartha: Mein Vater Ede Kaiser. Preußischer Kurzhaarschnitt, erkaltete Zigarre im Mundwinkel. Taxenbesitzer, und damit zur Klasse der Kleinunternehmer gehörend. »Ümmerhin!«, wie man in unserer aus dem Osten stammenden Großfamilie anerkennend einräumte.

Daneben ich, Karl Kaiser, Schüler, in dunkelblauer kurzer Hose, deren Beinlinge nach damaliger Mode fast bis aufs Knie reichten, ebenfalls mit militärischem Haarschnitt, meine Abstehohren flatterten frei. Aus den aufgekrempelten Ärmeln meines hellblauen Oberhemdes ragten dünne Arme, was, neben Minnamarthas kräftiger Statur, ins Auge fiel.

Unsere Großmutter, Mittelscheitel und Dutt, runde Brille mit schwarzem Rand, geblümtes Samtkleid (Millefleur, Omamuster), wäre damals auch dabei gewesen. Sie starb 1946 kurz nach Kriegsende.

Um uns herum wären vielleicht andere Laubenbewohner versammelt gewesen: Ernie Puvogel, der Ladenbesitzer, ein kleiner, flinker Igelmensch, und seine massige Tochter Wanda. Der alte Herr Reh mit einer zahmen Dohle auf der Schulter. Sein schlaksiger Sohn Willi, damals vierzehn, der einen Tesching am Riemen über der Schulter trug. Gleich, wenn das Flugzeug am Horizont verschwand, würde er Krähen schießen gehen. Dann der starke Siegfried, der mich als Lieferant von Zigarettenbildchen in einem Abhängigkeitsverhältnis hielt, von dem meine Eltern nichts ahnten. Und ein paar kichernde kleine Mädchen, jetzt im Sommer mit nackten, braun gebrannten Oberkörpern, während die unteren Körperhälften in reichlich bemessenen Gummizugschlüpfern, Flanell, innen angeraut, steckten. Gigi hieß die dünne Rothaarige mit den geschwungenen Augenbrauen, wir nannten sie Stacks. Sie versprach, eine Schönheit zu werden. (Ihr älterer Bruder Friedrich, aktiv bei Reichswehr und Heer, imponierte uns, wenn er in voller Ausgehuniform, mit silbernen Rangabzeichen und Schützenkordel an der linken Achsel, auf Urlaub kam.) Das pummelige Ding neben Gigi nannten wir Häschen. Ihre nicht ganz unschuldigen Puppenspiele hielten uns Laubenkinder in Atem. – Hinter ihr Ingrid, Häschens Freundin (kecker Blick, feuchte Schnute), puhlte wie üblich an sich herum, ihr einer Arm steckte bis über dem Ellbogen im Schlüpfer.

Jetzt flog die Ju 52 mit Tante Friedl schon über die Bärlappstraße, die sich von der Kolonie stadteinwärts neben Bahngleisen hinzog, beides Orientierungshilfen für die Piloten, die in ihren gemächlich fliegenden Kisten den Flughafen Tempelhof ansteuerten.

Das der Laubenkolonie nächstgelegene Ende der Bärlappstraße war damals noch Sandweg, aufgewühlt von den Rädern schwerer Lastwagen, denn links und rechts entstanden Siedlungshäuser, etwa dreißig insgesamt, alle nach dem gleichen Plan. Eines davon, das war ein offenes Geheimnis in der Kolonie Tausendschön, würde der Familie Kaiser gehören.

Ein Jahr später hätte Tante Friedl, aus dem Flugzeug blickend, uns auf der Terrasse unseres schlüsselfertigen Eigenheims stehen sehen, ich in denselben blauen Hosen, die nun ein bisschen kürzer schienen, Minnamartha, die mich Menschlein nannte (»Menschlein, lass das!«), und mein Vater und Oma, beide unverändert.

Vor der neuen Garage parkten Edes Taxen, Marke Adler Favorit. Blank poliert schimmerten der grüne Lack und die vorschriftsmäßigen Streifen schwarz-weißer Karos, die sich wie ein Gürtel rings um die Karosserie zogen. Mit Erdal-Prachtschwarz hatten Ede und seine Chauffeure die klappbaren schwarzen Lederverdecke der Landaulets gewichst.

Von den Laubenkolonisten wäre allerdings keiner zu sehen gewesen. Sie mieden uns nur. Dafür wären bestimmt meine neuen Spielkameraden, Gustavchen Fanselow mit seiner Schwester Agathe (ihr Vater beglückte uns Kinder durch die heiterste Handhabung von Scherzartikeln) und der blond gelockte, zum Aufschneiden neigende Othmar, bei uns gewesen.

Die Geschwister Fanselow, Gustavchen klein und rundlich, Agathe eher ein Stecken, wohnten um die Ecke. Othmar war mit seiner vornehmen Mutter (sie war am Theater) ins Haus gegenüber eingezogen. Den Vater, Typ Direktor mit Hornbrille, sah man nur sonntags, wenn er in Tennisdress und weißem Südwester den Rasen sprengte. Sie besaßen ein richtiges Esszimmer mit Büfett, über dem im Goldrahmen eine farbige Reproduktion von Gauguins Gemälde Reiter am Strand von Tahiti hing, und sie aßen so exotische Speisen wie Spaghetti mit brauner Butter und Zucker.

Die Laubenkinder, unter Führung des starken Siegfried, lauerten uns nach der Schule auf, verprügelten uns, und Ingrid drehte uns den Rücken zu und hob, in nicht misszuverstehender Geste, ihren vielfach gestopften Bleylerock, unter dem sie nichts anhatte.

Aber 1937 kam Tante Friedl nicht mehr nach Berlin. Ihr Mann, »der Kanadier«, wie er von uns genannt wurde, war Jude, und er legte Tante Friedl nahe, Deutschland zu meiden, solange die Nazis am Ruder waren. Tante Friedl schrieb nun nur noch Postkarten mit Ansichten von Quebec und Montreal, und einmal auch von Seattle. Ihre Nachrichten wurden immer spärlicher, bis sie mit Beginn des Krieges ganz ausblieben.

Der nächste Blick aus der Vogelschau (so nannten es die Verleger der neuen Luftbildpostkarten) auf die Kolonie Tausendschön wäre erst wieder nach dem Krieg lohnend gewesen, vielleicht 1948 oder 1949 aus dem Cockpit eines Rosinenbombers, der während der von den Russen verhängten Blockade zur Landung in Tempelhof ansetzte.

Lohnend allerdings um welchen Preis: Um die Verheerungen zu registrieren, die der Krieg, zwar anders als im Häusermeer der City, auch hier angerichtet hatte?

Der Mann im Cockpit hätte mich wiederum vor der Laube vierzehn stehen sehen, lang aufgeschossen inzwischen (»abgebrochener Riese«, sagten die Berliner), die Haare etwas länger, damit sie die immer noch abstehenden Ohren bedeckten, leicht schiefe Kopfhaltung als Spätfolge von Rachitis und Ernährungsmangelerscheinungen. Gekleidet in eine grüne Amijacke und olivfarbene Hochwasserhosen. An den Füßen Ringelsocken, die Schuhe säuberlich mit alten Autoreifen besohlt.

Minnamartha befand sich in einem nahen Sanatorium, »wegen der Nerven«. Ede, mein Vater, war am letzten Kriegstag im Kampf um Berlin gefallen. Seine Taxen, soweit nicht schon vorher von der Wehrmacht requiriert, hatten die Russen abgeschleppt. Oma war gestorben. Unser Eigenheim lag in Trümmern. Eine Luftmine hatte es 1944 zerstört. »Der letzte Kaiser«, wie die Laubenpieper mich nun makaber scherzend nannten (auch »Karl der Letzte« war beliebt), war wieder in die alte Laube gezogen.

Windschief und schäbig mussten jemand, der auf uns herabschaute, die Lauben jetzt vorkommen. Wo einst Tausende von Blumen die Schrebergärten leuchten ließen, standen Reihen Kartoffeln, eintönig grün, ragten Rosenkohlstrünke und Tabakpflanzen. Die Lauben, früher bunt bemalt, waren verwittert, ihre Wände silbergrau wie alte Schindeldächer. Rostig zog sich der Maschendraht zerfallener und niedergewalzter Zäune um die Parzellen. Die Fahrwege der Kolonie waren zerwühlt und verkrautet.

Puvogel, von seinem Kriegsdienst bei der Organisation Todt heil zurückgekehrt, verteilte mit Tochter Wanda kärgliche Lebensmittelrationen auf Karten. Siegfried, immer noch stark, aber zahm geworden, arbeitete als Lokführer einer Trümmerfeldbahn. Gigi, inzwischen fast so groß wie ich und schön wie Alraune, stützte ihren Bruder Friedrich, der, in schwarz gefärbter Wehrmachtsuniform, an Krücken zwischen den Lauben umherhumpelte.

Einem gestrandeten Floß glich die Kolonie Tausendschön in diesen Blockademonaten. Die Rosinenbomber dröhnten Tag und Nacht über die niedrigen Dächer. Das Geräusch ihrer Motoren erinnerte mich an jene wunderbare Zeit, als Tante Friedl die Olympiade besuchte, mit der Ju 52, die auf den Namen meines Onkels Bruno Rodschinka getauft war, über die Laube donnernd.

Die Parzellen der Tausendschönchen (wie die Bewohner der Kolonie genannt wurden) hatten seit je in der Einflugschneise gelegen.

Die Pacht war niedriger dort.

Sommer

Die Möwen sind durchaus keine
ausschließlichen Fischfresser mehr,
sondern konsumieren, da ein nicht gerade
geringer Teil der Berliner Beschäftigungen
im Möwenfüttern besteht,
von Brücken wie von Bürofenstern aus,
offenbar ohne Schaden zu nehmen, Brot.

Hans Scholz in »Berlin, jetzt freue dich«

Die Karte des Deutschen Reiches in meinem Atlas zeigte noch die Grenzen von 1938. Ich nahm den dicken Rotstift, Marke Posthorn, den ich in der Küchenschublade gefunden hatte, und malte zwei ungefähr senkrechte Linien. Teilte Deutschland in drei Teile, wie es die Sieger 1945 getan hatten. (Konferenz von Jalta.) Rechts, jenseits der Oder-Neiße-Linie, war das Land unter polnischer oder (ein Teil von Ostpreußen) unter russischer Verwaltung. Das linke Drittel, aus dem die Bundesrepublik entstehen würde, hatten die drei westlichen Alliierten in die Englische, die Amerikanische und die Französische Besatzungszone aufgeteilt. Der Brocken in der Mitte fiel an die Russen. Sowjetische Besatzungszone. (Später DDR.)

Die Vier-Zonen-Aufteilung wiederholte sich – als Sektoren – in der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin, auf meiner Karte hellrosa gedruckt. Die drei zusammenhängenden Westsektoren bildeten eine Insel im sowjetisch besetzten Gebiet. »Ein Dorn im Auge Stalins« (Minnamartha).

Im Frühjahr 1948 begannen die Russen, die Zufahrtswege nach Westberlin zu blockieren. Der Waren- und Personenverkehr kam zum Erliegen. Die westlichen Alliierten beschlossen, diesen von ihnen okkupierten Teil der Stadt aus der Luft zu versorgen. Das Unternehmen Luftbrücke lief an.

Ich malte einen roten Kringel um Westberlin. Ein winziger Fleck auf meiner dreigeteilten Deutschlandkarte. Dann legte ich den Stift wieder in die Schublade. Klappte den Atlas zu. Ging nach draußen. Aus westlicher Richtung donnerte ein Flugzeug heran. Rosinenbomber, im Anflug auf Flugplatz Tempelhof, amerikanischer Sektor. Nach drei Minuten würde die nächste Maschine, beladen mit Versorgungsgütern für Westberlin, am Horizont zu erkennen sein.

In diesem Augenblick sah ich Schnüffelpaule zum ersten Mal. Er lehnte an unserer Gartenpforte. Studierte das Namensschild meines Vaters, E. Kaiser, das nur noch an zwei Nägeln hing. Schnupperte an einer Crimson Rambler, der einzigen Rose, die an dem Spalier blühte, das wir einst aus Gasrohren über den Garteneingang gewölbt hatten.

Schnüffelpaule trug einen einreihigen Paletot, blank gewetzt, zwischen grau und braun schillernd. Auf dem Kopf saß wie angewachsen eine Schiebermütze.

(Beide Kleidungsstücke legte er in der Zukunft so gut wie nie ab, obwohl Sommer war; in seinem Gesicht wucherten ergraute Bartstoppeln – sie wurden nie länger und nie kürzer.)

Schnüffelpaule zog eine Pulle Korn aus der Manteltasche. »Trinkense mal«, sagte er, »janz echt. Friedensware.« Beim letzten Wort musste er brüllen, weil der nächste Rosinenbomber, eine Dakota DC 2, über die Kolonie donnerte.

Anscheinend kam Schnüffelpaule von weit her. Solche Leute brachten meistens interessante Neuigkeiten mit, und ich lud ihn ein, in die Laube zu kommen.

Er nahm ein bräunlich graues Gepäckstück auf, das neben seinen Füßen gestanden hatte, und folgte mir. Er stellte sich vor: »Alle sagen mir Schnüffelpaule. Kannste mir auch sagen.«

Wie er zu diesem Spitznamen gekommen war, fand ich viel später heraus. Jetzt war es wichtig, ihn auszuquetschen. Woher kam er? Wen hatte er alles getroffen?

Die Schnapsflasche stand inzwischen auf dem Tisch. Schnüffelpaule hatte es sich in meinem einzigen Sessel bequem gemacht, einem roten Plüschmöbel mit Troddeln und Fransen, in dem früher Großmutter immer gesessen hatte, ihre Bunzlauer Kaffeetasse zwischen den runzligen Händen.

»Ich komme von da unten«, sagte Schnüffelpaule. Damit meinte er südliche Kriegsschauplätze.

»Monte Cassino?«, fragte ich.

Er winkte ab: »Nich mit mir. In so was lass ich mir doch jar nich verwickeln. Ein Mensch der auf sich hält dreht sein Antlitz nicht in Jejenden wo jeballert wird. Jewissermaßen war ick beim Nachschub. Aber dann hamse mir hoppjenommen, die Amis. War aber nich weiter schlimm. Ehrlich jesagt, sind wir ihnen stark entjejenjekommen. Karabiner wegjeschmissen, als wir den ersten Kreppsohlenschleicher jesichtet haben. Wir mussten für die Amis Brücken reparieren. Beste Verpflejung, wenn ooch so’n Scheiß dabei, se fressen Maiskörner wie die Hühner, und Männerschutz schleppense rum im Krieg und Klosettpapier, und rosa Tabletten schmeißense in’t Wasser, det se sich nich verjiften. Aber sonst waren se mächtich anständich, auch zu paffen jede Menge. Haben wir die Brücken eben repariert. Mit Baumstämme. Motorsäge, alles war da, keine schwere Arbeit. Bisschen Stacheldraht hattense um die ollen Häuser jarniert, wo wir einquartiert waren, nur Hütten, schlimmer als in de Lausitz. Ick sage dir, die Katzeimacher da, von Wohnen verstehn se nischt, leben ja auf der Straße. Besser wars dann in Südtirol, da haben sie schöne Jebäude. Also wo wir wohnten, zogense immer bisschen Stacheldraht rum, aber mehr für die Ithaker, zur Beruhigung, damit se nich denken sollten uns wird et zu jut jehen, se waren doch Siejer, aber durften uns nicht bewachen, weil zu jemein. Wir hatten immer Amiposten, die kümmerten sich um nischt. Fressen war jut wenn auch unjewohnt, aber manchmal konnte ich orjanisieren, Spaghetti, machte jlanzvolle Soßen dazu. Also bong jelebt. Aber dann zog es mir bisschen zur Heimat.«

Schnüffelpaule nahm ab und zu einen tiefen Zug aus der Pulle, als ich Gläser hatte holen wollen, hatte er abgewinkt. Mir war es recht, ich besaß sowieso nur zwei Schnapsgläser, und die hatten Gigi und ihr Bruder mir mitgebracht.

Gigi traf ich am nächsten Tag, da hatte Schnüffelpaule sich schon bei uns in der Veranda einquartiert, auf dem Feldbett, das mein Vetter Millie 1946 beschafft hatte, als er seine eiternde Blinddarmnarbe in unserer Laube pflegte. Es sah nicht so aus, als ob Schnüffelpaule uns so bald wieder verlassen würde.

Ich erzählte Gigi von unserem neuen Gast. Gigi sah mich mit ihren grünen Augen durchdringend an: »Du willst ihn doch nicht etwa dabehalten?«

Ich malte mit der Schuhspitze Muster in den märkischen Sand. »Was bleibt mir übrig?«

Gigi wurde wütend. »Du bist wohl ’n bisschen beknackt, was? Setzt dir da ne Laus in den Pelz. Niemand kennt den. Vielleicht ist er ’n Nazi. Oder ’n Krimineller. Spinnst du denn? Komm mit, den Heini guck ich mir mal an.«

Schnüffelpaule hatte inzwischen in der Veranda seine Habseligkeiten ausgebreitet: eine schwarze, elegante Weste, Strümpfe mit Bollen so groß wie Friedensfünfmarkstücke, einen US-Schlafsack (Besitz für Deutsche verboten), ein Seitengewehr (Besitz gleichfalls verboten), ein Detektorradio, auf eine Zigarrenkiste montiert; zum Trocknen auf Zeitungspapier ausgebreiteter Machorka, zwei angeknabberte Pfeifen und eine volle Schnapsflasche. Gigi stakste in ihrem papageienbunten Kattunkleid in die Veranda, die Hände auf die Hüften gestützt, und sagte: »Wer sind Sie denn eigentlich?«

Mein Gast stand auf, machte einen Versuch, seine speckige Schiebermütze abzunehmen, aber die war wohl wirklich festgewachsen, und sagte: »Schnüffelpaule.«

Gigi musste lachen, und die Schau war verdorben. Drei Minuten später saß sie mit Schnüffelpaule am Tisch, wo er Machorka trocknete, und trank einen Korn mit ihm.

So ging es dann immer. Schnüffelpaule wickelte alle um den kleinen Finger. Buseberg, ein armamputierter Weltkriegsveteran, der mit seiner Holzhand einen Räuber niedergeschlagen hatte (wodurch die Laubenkolonie Tausenschön zum ersten Mal in die Zeitung kam), erschien bald jeden Nachmittag und erzählte Geschichten von der Skagerrak-Schlacht: »Werde nie vergessen, wie im Morgengrauen die Kreuzer der Wittelsbach-Klasse in Dwarslinie über die Kimm dampften …« Er hatte sich angewöhnt, mit der heilen Hand die Manschette des Hemdärmels zu fassen, symbolisch draufzuspucken und das Glacéleder seiner Holzhand zu polieren. Schnüffelpaule war ein geduldiger Zuhörer.

Nicht nur das. Sein praktischer Lebenssinn zeigte sich hoch entwickelt. Aus der Sowjetzone organisierte er einen Doppelzentner Mehl und machte mit Gigi einen Detailschwarzhandel auf. Spätabends schlichen Gestalten durch den Garten und verschwanden hinten in der Veranda, wo Paule, wegen Stromsperre beim Licht eines Kerzenstummels, seine verbotenen Geschäfte betrieb, Mehl auf der alten Waage meiner Mutter hundertgrammweise abwog und in von den Kunden mitgebrachte Beutel füllte. Dafür kassierte er Zigaretten, Süßstoff und andere, auf dem Schwarzmarkt leicht umsetzbare Gegenwerte. Auf das neue Westgeld, von den westlichen Alliierten für Berlin mit dem Überdruck »B« versehen, pfiff Paule. Und kam tatsächlich mit diesen Methoden durch. »Det Jeld hamwa nu zweimal verloren, in der Inflation und nach’m Krieg«, sagte ein Laubenwohner in Puvogels Ladenbaracke. »Und nun soll’n wa an die B-Mark glooben?«

Erst als Paule sich, viele Wochen später, wegen wieder steigender Nachfrage in der Laubenkolonie auf Hühnerfutter spezialisierte, stellte er auf normalen Zahlungsverkehr um. Die Jugoslawen warfen billige Balkan-Chesterfield auf den Markt. Folglich kippte die Zigarettenwährung.

Fast jeder hielt wieder Hühner. Überdies erfanden die Frauen auf der Basis von Roggenschrot etliche für den Menschen genießbare Gerichte. Wir liebten Frau Busebergs Kraftfrühstück. Sie rührte Schrot und Milchpulver mit Wasser an, vorausgesetzt, es gab ein bisschen Zucker zum Drüberstreuen. Auch eine Art Makronen buk Frau Buseberg aus Schrot, ein begehrtes Gebäck. Gerste ergab, geröstet, einen genießbaren Ersatzkaffee, Blockadelorche oder Schlorrendorfer genannt.

Schnüffelpaule war ein angenehmer Hausgenosse. Seit Großmutter gestorben und meine Mutter im Sanatorium war, ging es bei mir einsam zu. Ich hockte zwischen den wenigen Erinnerungsstücken an eine Zeit, als sozialer Aufstieg uns vorübergehend zu Besitzern des Eigenheims in der nahen Wohnsiedlung gemacht hatte. Aus den Trümmern unseres zerbombten Hauses hatte ich nur eine Porzellanente ohne Schnabel gerettet, eine Regulatoruhr, das Gemälde eines berühmten Malprofessors namens Müller, Titel Nackter Reiter im Gewitter, und einen Bierkrug meines Vaters, laut Inschrift ein Andenken an seine Dienstzeit als Leibgardehusar.

Gigi besuchte ich sooft wie möglich. Aber ihr kriegsbeschädigter Bruder, der mit ihr die Laube teilte, stand zwischen uns. Einst hatten Gigi und ich einander in den Wäldern am Stadtrand geliebt. Zu gefährlich schien es, dies zu wiederholen, denn russische Patrouillen durchstreiften inzwischen das Gebiet, wo amerikanischer Sektor und sowjetische Besatzungszone aneinandergrenzten.

Gigi, mager und staksig immer noch, ihr Bruder Friedrich und ich waren »menschliches Strandgut«, um sich Busebergs maritimer Ausdrucksweise zu bedienen. In seinen Augen gehörten sie alle dazu, die übrig gebliebenen Mitglieder der Laubenfamilien, und ihre Behausungen eigentlich auch, ausgespart von der Vernichtung, weil sie nicht einmal ein lohnendes Bombenziel dargestellt hatten. Wir zählten einfach nicht.

Auch jene Amerikaner, die in den ersten Wochen nach dem Einmarsch ihre Hemden bei den Laubenfrauen waschen und bügeln ließen, blieben bald weg. Mit ihren Amiflittchen zogen sie in die Siedlungshäuser, und wir waren wieder unter uns.

Schnüffelpaule hinten in der Veranda schaffte unermüdlich tauschend jene Nahrungsmittel heran, die zur Veredelung des von den Luftbrückepiloten eingeflogenen Poms unerlässlich schienen. Poms, ein gelblich weißes Kartoffelpulver, war leicht wie der märkische Sand. »Jehustet wird hier nich«, sagte Paule, »sonst fliegt uns die Wochenration weg.«

Sprüche hatte der drauf! Weil er die Klappe nicht halten konnte, trübten sich auch seine Beziehungen zu Gigi schnell wieder. Beim gemeinsamen Mehlabwiegen stellte Paule fest:

»Weesste, wo andere Weiber Titten haben, haste zwee Pickel.«

Gigi war beleidigt und schmiss ihrem Handelspartner einen Löffel Mehl ins Gesicht. »Schaff den bloß ab«, knurrte sie mich an. »Sonst hast du mich die längste Zeit gesehen!«

Sie dampfte ab, Paule kam weiß überpudert aus der Veranda. »Det schöne Mehl. Wat hat se?«

»Du hast sie beleidigt«, sagte ich. »Natürlich ist sie mickrig. Wer nicht in Berlin? Schließlich haben wir Blockade. Und nichts zu fressen, außer Poms und deinem verdammten Mehl und dem verdammten Roggenschrot, und Gigi hatte nie was zu essen, und darum liebe ich sie doch, auch wenn sie dürr ist und lang wie eine Bohnenstange, und überhaupt geht dich das einen Käse an!«

Er wedelte mit der mehlweißen Hand. »Lass mal Dampf ab, Junge. Ick wollte ihr nich beleidigen. Is ja ’n prima Hase, wa? Also, wie soll ick det wiederjutmachen. Jirlanden flechten? Soll ick ihr vielleicht ’n Poem schreiben? Ick jehe in mir!«

Schnüffelpaule ließ sich in den roten Bommelsessel fallen, es war still im Zimmer, plötzlich zog sich schnurrend der Regulator an der Wand auf, den wir aus der Eigenheimruine geborgen hatten, und schlug dreimal. Und ich sah, dass mein Freund Schnüffelpaule müde und einsam war, und ich holte die angefangene Pulle Korn aus der Veranda, und die beiden Schnapsgläser, goss ein, trank ihm zu. Er nickte und leerte das Glas in einem Zug, und seine mehligen Finger hinterließen Abdrücke an dem Glas.

Es wäre der Augenblick gewesen, Paule nach seinem Woher zu fragen, Auskunft zu erheischen über sein Leben, aber ich ahnte, es würde keinen Sinn haben, ein Mann wie er kam nirgendwoher, und eines Tages würde er wieder gehen, nirgendwohin, wenigstens symbolisch. Ich wusste, er besaß keine Zuzuggenehmigung für den amerikanischen Sektor von Berlin, war nirgends gemeldet, von keinem Arbeitsamt erfasst, und woher er sich die Lebensmittelmarken verschaffte, Karte I, Schwerarbeiter, 2451 Kalorien täglich, wollte ich auch lieber nicht wissen. Unsere Karten III für Otto Normalverbraucher waren zwar echt, aber weit weniger wirksam, wenn wir damit in Ernie Puvogels Gemischtwarenladen kamen. »So kleine Portionen kann ich gar nicht schnippeln«, grollte dann Wanda, Puvogels riesige Tochter, hinter dem mit Wachstuch überzogenen Behelfstresen, und sie sah mich an, als wolle sie mich wieder in eine Pfütze stoßen, wie sie es damals getan hatte, als sie den schwächlichen Knaben Karl Kaiser samt Persilpaket auf Tauchstation befördert hatte.

Einmal hatte ich Puvogel gefragt, ob denn Schnüffelpaules Schwerarbeitermarken echt seien. Puvogel hatte seine kleinen Igelaugen gerollt und mir lapidar Auskunft gegeben: »Da kannste einen drauf lassen!

Auch Paules UNRRA-Ausweis, von den Vereinten Nationen für Displaced Persons erfunden, Menschen also, denen ihre Nationalität, ihr Vaterland, durch Kriegsfolge abhandengekommen war, hielt ich für eine Fälschung. Paule wedelte gerne damit, allerdings ohne ihn aufzuklappen. »Hier seht ihr meine Existenzberechtigung«, sagte er dann. Polen besaßen diesen Ausweis, wenn sie aus jenen Gebieten stammten, die jetzt zu Russland gehörten, Volksdeutsche aus Rumänien, Ukrainer, die als Hilfswillige zur Wehrmacht gehört hatten und nicht mehr zurückkonnten. Als Displaced Person genoss der Mensch der Nachkriegszeit Vorteile. Zum Beispiel durfte er sich frei in den drei Westzonen bewegen, was den besiegten Deutschen nur mit schwer zu erlangenden Passierscheinen der Alliierten vergönnt war. Wer traute auch schon Menschen, in deren behelfsmäßige Personalausweise eingedruckt war: Inhaber behauptet Deutscher zu sein?

Schnüffelpaule zu den normalen Existenzen zu zählen, wäre auf jeden Fall verwegen gewesen. Seine Kleidungsstücke hingen an ihm wie das Federkleid am Vogel, nur ein einziges Mal hatte ich ihn seinen Mantel ablegen sehen, als er sich eines Augustabends zu meiner Überraschung unter der Pumpe im Garten wusch. Die Mütze behielt er allerdings auch dabei auf. Unter dem Mantel trug er ein bräunlich verfärbtes Makohemd und – das verblüffte – knallrote Hosenträger.

Rund um die Uhr brummelten die Dakotas und Skymaster über unsere Köpfe hinweg, von Westen kommend, Richtgeschwindigkeit 270 Stundenkilometer, die Landeklappen schon draußen, tausendzweihundert Flüge täglich, alle dreizehneinhalb Kilometer eine Maschine, und die Tage reihten sich zu Wochen und die Wochen zu Monaten.

Schnüffelpaule hatte jetzt mit Ukrainern, ebenfalls Displaced Persons, einen Minischwarzmarkt am Bahnhof Düppel aufgezogen, aus der Zone besorgte Lebensmittel wanderten gegen Gold und Wertsachen in die Taschen der Hungrigen. Nicht immer ging es ehrlich zu. »Sie bescheißen wie die Raben«, sagte Paul. »Einer hat präparierte Kondensmilchbüchsen. Angebohrt, Milch raus, Wasser rein, und wieder zugelötet. Mich würde es nicht wundern, wenn dem mal eener uff die Rübe haut.«

Im Garten wuchsen ein paar Reihen Kartoffeln, die Gigi gelegt hatte, solange wir Saatgut bekommen hatten, da hatte sich Ernie Puvogel im Frühling genial gezeigt. Saatgut hatte er in Hülle und Fülle besorgt. Aber jetzt, als die Kartoffeln baldige Ernte verhießen, sahen wir auch, wie manch begehrlicher Blick Vorübergehender über den Gartenzaun schweifte.

Gigi berief einen Rat ein. Puvogel kam, die massige Wanda, Buseberg mit seiner Holzhand aus Weltkrieg eins, Friedrich mit steifem Bein von Weltkrieg zwei, und noch ein paar andere Übriggebliebene der Kolonie Tausendschön. Auch Schnüffelpaule nahm teil.

»Wache schieben«, sagte Friedrich. »Wir sind es ja gewöhnt.«

»Du mit deinem steifen Bein?«

»’nen Knüppel kann ich auch noch schwingen.«

Wir teilten die Wachen ein. Zu zweit sollten sie durch die Kolonie patrouillieren, Diebe verscheuchen, Diebesgut sicherstellen. »Eine Töle fehlt«, sagte Schnüffelpaule. »Wir müssten ne Töle haben, ne möglichst scharfe. Die würde den Klauern schon in ’n Arsch beißen.«

Gigi warf mit einer Kopfbewegung ihre Haare in den Nacken. »Woher willst du einen Hund nehmen? Die sind längst alle im Kochtopf verschwunden. Und außerdem frisst ein Hund, und wir haben ja nicht genug für uns. Du weißt doch selbst, Paule, wie schwierig es ist, auch nur einen Kohlkopp nach Berlin reinzuschmuggeln. Erst geben die Bauern nichts her, und dann beschlagnahmen die Vopos alles.«

»Nich bei mir«, sagte Paule. »Nich bei mir. Bisher habe ick noch alles rinjekriecht. Aber du hast recht. Töle is nich.«

Buseberg meinte: »Ich kann ja meinen Haken anschrauben, statt der Holzhand. So’n Haken macht schöne Schrammen.« Der alte Mariner war stolz auf seinen Patentarbeitshaken, System Masters, den er jetzt meistens statt der glacélederüberzogenen Holzhand anschnürte, und es war zu erwarten, dass er damit gegebenenfalls auch zupacken würde.

»Also sind wir uns einig«, sagte Gigi. »Ich mache einen Wachplan.«

Willi Reh, Sohn des inzwischen gestorbenen Altkommunisten Reh, hatte seit der Kesselschlacht von Bialystok und Minsk einen Lungensteckschuss und krächzte deshalb schon wie sein Vater: »Schreib det man uff«, sagte er. »Sonst verjessen wa det.«

Gigi versprach es.

Ich ging mit Gigi und Friedrich rüber in ihre Laube, wir wollten ein Stück Papier und einen Bleistift suchen und den Wachplan aufschreiben. Immer, wenn ich die Wohnstube der Geschwister betrat, fiel mir ein, wie Gigi und ich an einem der letzten Kriegstage auf dem Teppich geknutscht hatten, Friedrichs zerschmettertes Bein und seine Krücken vor Augen, er war, am Tisch sitzend, eingeschlafen. Und auch Gigi musste immer wieder daran denken, ich sah es an ihren Blicken.

Friedrich war ein Problem. Viele Mädchen gab es nicht, die sich in einen mit einem steifen Bein verknallten, obwohl Friedrichs Rente einen bedeutenden finanziellen Rückhalt darstellte, seit sie in B-Mark ausgezahlt wurde. Aber mit den Dollars der Amis, mit Whiskey und Zigaretten konnte auch seine verheißungsvolle B-Mark nicht konkurrieren. »Guck sie doch an, die Flittchen«, sagte Friedrich erbost. »Für den hinterletzten Nieselpriem aus Texas machen sie die Beine breit. Eine haben sie neulich ins Krankenhaus eingeliefert, weil sie sich ne Coca-Flasche unten reingesteckt hat, und die ging nicht mehr raus. Sie mussten einen Glaser holen, der hat die Flasche angebohrt, dann zischte Luft rein, und wupps …«

»Bist du besoffen, Friedrich?«

»Was denn! Besoffen! So geht es doch zu bei den Amis. Die brauchen doch nur zu winken. Ich möchte mal wissen, wie unsere Mädchen hier sich benehmen würden, wenn die ihre Dollars zücken. Erinnerst du dich an Ingrid?« Ich lachte. »Die würde einen Puff aufmachen. Mit einem Ami wäre die nicht zufrieden. Wie die damals den Rock hochgehoben und mir ihren blanken Hintern gezeigt hat …«

»Schad’t dir gar nichts. Warum musstet ihr auch in die Siedlung ziehen? Mann, Karl, das haben wir euch alle übel genommen. Aber lass mal. Vergessen. Schwamm drüber. Kriegst du noch das Zitrone-Banane-Lied zusammen, das Ingrid immer gesungen hat?«

»Ich weiß nicht. Zitrone, Banane, die Mädchen hab’n ein Loch. So ähnlich ging es.«

Friedrich lachte. »Dann wurde sie Blitzmädchen. Um ein Haar hätten amerikanische Panzer sie geschnappt. Sie war im Raum Merseburg im Einsatz, als General Patton mit seinen Sherman-Tanks anrückte.«

»Wo ist Ingrid jetzt? Hast du von ihr gehört?«

»Im Westen. Die kommt nicht wieder. Die nicht, und auch Häschen nicht. Häschen ist verschollen. Keine Nachricht. War ein süßes Ding.«

Friedrich stand auf. Begann, im Zimmer umherzuhinken. »Sie kommen alle nicht wieder. Und andere Mädchen … kennst du eine, die in einer Laubenkolonie wohnen will? Höchstens eine mit Buckel.«

»Was soll man bloß mit dir machen«, sagte Gigi.

Draußen, im Garten, als sie mich zum Tor brachte, meinte sie: »Ich kann doch nicht aus Mitleid mit meinem Bruder pennen!«

»Vielleicht findet sich eine. Unverhofft kommt oft«, sagte ich, einen Lieblingsspruch meiner Großmutter zitierend.

Aber ich wusste, solche Banalitäten waren kein Trost. Nicht für Gigi, die sich Sorgen um ihren Bruder machte. Sie war jetzt manchmal ruppig, legte sich immer wieder mit Schnüffelpaule an, der geduldig die nächste Mehlladung in die Visage erwartete, und nannte Ernie Puvogel einen »Blockadeiltis«, weil er versuchte, ihr eine Tüte klebriger Fondants statt der erwarteten Zuckerzuteilung anzudrehen.

»Pennste noch mit ihr?«, fragte Paule mich schließlich.

Ich zuckte die Schulten. Gigi wackelte mit ihrem kleinen Hintern unter dem dünnen Kattunfetzen, dass ein Eremit weich geworden wäre. Aber wenn ich auch nur meinen Arm um sie legte, sagte sie: »Lass mich …«

Es war eine schwierige Zeit. Ich saß nächtelang bei Kerzenlicht mit Schnüffelpaule am Verandatisch. Mit drei unvollständigen Kartenspielen spielten wir unendliche Partien Leben und Tod, ein primitives Spiel, bei dem immer die höhere Karte sticht. Stumpfsinnig. Interessant wird es nur, wenn zwei gleiche Karten kommen. Paule beschiss, dass die Heide wackelte, er ließ Karten in seine speckigen Ärmel rutschen, schummelte Asse sofort wieder nach oben und kassierte blitzschnell Stiche, die ihm gar nicht gehörten.

Ich ließ ihn gewähren. Unsere Partien dauerten trotz seiner Manipulationen manchmal bis zum Morgen, und durchs Seitenfenster sahen wir Willi Reh mit Buseberg oder die anderen Wachen vorbeigehen. Manchmal winkten wir sie herein und gaben ihnen einen Schnaps.

Schnüffelpaule und ich schoben immer zusammen Wache. Die Nächte waren kühl. Um warm zu bleiben, gingen wir schnell, durcheilten die langen Wege, die sich zwischen den Kleingärten der Kolonie zu Kilometern addierten.

Nirgends brannte Licht. Wir stolperten in den tiefen Wagengleisen, die sich immer wieder neu im Sand bildeten.

»Eins bleibt mir nebulös«, keuchte Paule. »Es jibt kaum Autos. Hier in der Kolonie fahren schon gar keene. Also, woher kommen die Rillen?«

Gleich hinter Puvogels Barracke lag ein verlassenes Grundstück, mit einer düsteren Laube drauf, die früher dem einzigen Nazi der Kolonie, Herrn Gallert, gehört hatte. Gallert war verschollen. Die Tausendschönchen mieden das Grundstück. Hohes, trockenes Gras und Brennnesseln und Brombeeren wucherten. Kinder machten einen großen Bogen. Nicht einmal die Kaninchenzüchter schnitten dort Futter. So wuchs wirklich Gras über diese Zeugnisse jüngster Vergangenheit, die nur wenige Quadratmeter der Kolonie Tausendschön hatte erobern können.

Bei unseren Rundgängen zeigte ich Paule die Stelle am Eingang der Kolonie, wo die Tausendschönchen im Krieg ihren Splittergraben gebaut hatten, Versammlungsort der Laubenbewohner bei vielen Luftalarmen.

»Is jarnischt mehr zu sehen«, sagte Paule. »Siehste, det wundert mir immer wieder. Drei Jahre is det bloß her, und du kannst dir det nich mehr vorstellen. Hier sehe ick doch nur Sand, wie überall auf diesem Platz. Infolgedessen denke ick, du spinnst.«

»Puvogel und Siegfried haben den Graben zugeschaufelt. War nicht so einfach. Erst mussten sie die Betonbohlen abtragen.«

»Und wo sind die?«

»Sieh dir mal den Gartenweg zu Puvogels Laube an. Der Rest liegt unten drin.«

Schnüffelpaule schüttelte den Kopf.

Ich verzichtete darauf, ihm zu schildern, wie wir gleich nach dem Krieg auch den Splittergraben im Laubengarten wieder zugeschüttet hatten, ein unterirdisches Bauwerk, das ich mit Ede errichtet hatte. Das Holz, mit dem wir die Wände abgestützt hatten, war im ersten Kriegswinter in die Kochmaschine gewandert. Jetzt wuchs Kohl auf der Stelle. Wenn mir einer erzählt hätte, dass sich dort ein Splittergraben befunden habe, hätte ich es nicht geglaubt.

Zum Schluss, wenn es hell wurde, machten Paule und ich noch einmal die große Runde außen um die Kolonie herum. Dort verlief ein schmaler Trampelpfad, so schmal, dass die von Tau feuchten Unkrautbüschel unsere Hosenbeine streiften. Schnell waren sie bis zum Knie patschnass.

Einmal sagte Schnüffelpaule: »Kiek mal! Da looft doch einer weg!« Wir rannten los, aber im Zwielicht des beginnenden Morgens hatten wir uns wohl getäuscht. Oder war es doch so weit, dass die Leute aus den Siedlungshäusern bei uns, den Laubenpiepern, zu klauen versuchten? Sie waren miserabel dran in der Bärlappstraße, ein Haus zu unterhalten kostet eine Menge Geld, die Ernährer fehlten meistens, viele waren noch in Gefangenschaft, andere hatten es als ehemalige Nazis schwer, wieder Fuß zu fassen.

»Jetzt bettelnse um Persilscheine«, pflegte Buseberg zu sagen, »vorher hamse uns eins auf’n Dutt jekloppt, weil wir nicht in der Partei waren.«

Mit Schriftlichem standen die Tausendschönchen sowieso auf dem Kriegsfuß. Also verfassten sie schon aus diesem Grund keine Persilscheine für die Nazis aus den Siedlungshäusern.

Mitten zwischen den unzerstörten Eigenheimen der Goldfasanwitwen lag die Parzelle mit unserer Ruine. Inzwischen war auch die Giebelwand eingestürzt, die damals, nach der Luftmine, als Einzige stehen geblieben war. Schutt war wieder in die Löcher gerutscht, die entstanden waren, als man uns Verschüttete ausgegraben hatte. Nichts mehr war zu holen dort unten. Ein paar Flaschen Opekta Einmachhilfe, die wir im Keller gelassen hatten, waren von schnapssuchenden Russen verkonsumiert worden, mit unbekannten Folgen.

Brennnessel drüber! Sie wucherten auch hier, überzogen die Trümmer. Nur wenige hundert Meter lag das Grundstück von der Laubenkolonie ab. Aber die paar Mal, die Gigi, Paule und ich uns aufrafften, um zu schauen, ob sich irgendetwas verändert hatte, schien es uns, als unternähmen wir eine Expedition in weit entfernte Gegenden.

Auch mir war die Welt der Siedlungshäuser, waren die Menschen hier fremd geworden, obwohl ich doch jahrelang, bis zur Bombenkatastrophe, zwischen ihnen gelebt hatte. Jetzt merkte ich, dass ich dahin gehörte, wo ich als Kind mein Vorstadtleben, vor unserer Siedlungshausepoche, begonnen hatte: in die Laubenkolonie. Sie war sichere Zuflucht, die Menschen hier waren mir vertraut mit ihrer Wachheit, ihrer Unbestechlichkeit. Mit ihrem totalen Mangel an politischem Opportunismus, der sie davor bewahrt hatte, den braunen Verführern hinterherzulaufen.

Ausnahmen gab es wenige. Eigentlich nur jenen Herrn Gallert, dessen verlassene Laube auf uns bei nächtlichen Wachgängen so unheimlich wirkte. Als SA-Sturmführer hatte er damals in seinem Garten einen Fahnenmast errichtet, an dem er die Hakenkreuzflagge hisste, in der Erwartung, dass die Laubenpieper sie grüßen würden. Sie gingen aber einfach anders herum, und Gallert stand belämmert da, in voller Uniform, allein gelassen.

Meine Großmutter nannte ihn nur den ollen Döskopp: »Geh mal Persil holen. Aber mach, dass du nicht beim ollen Döskopp vorbei musst.« – »Der olle Döskopp steht schon wieder im Jarten. Muss Führers Jeburtstag sein.« – »Heute habe ich den ollen Döskopp noch jar nich jesehen. Sind die Nazis nich mehr am Ruder?«

Großmutter machte ihre Bemerkungen, indem sie listig mit den Augen blinzelte, immer in der Hoffnung, dass sich jemand von ihr provoziert fühlte. Manchmal wurde die Hoffnung erfüllt. Minnamartha, meine Mutter, sagte dann:

»Oma, verbrenn dir nicht den Mund. Sonst kommst du nach Oranienburg.«

Jetzt saß Minnamartha in der Klapsmühle Waldesruh an der Potsdamer Chaussee. Heim für harmlose Fälle. Ich besuchte sie fast jeden Sonntag, mit dem Fahrrad, das Schnüffelpaule aus zahlreichen »gefundenen«, Einzelteilen zusammengesetzt hatte.

Das Sanatorium lag sehr hübsch in einem Kiefernwäldchen, von hohen Hecken umgeben. Vom Eingang aus konnte man den T 34-Panzer sehen, den die Russen bei der Autobahnauffahrt Dreilinden auf einen Denkmalsockel gehievt hatten, das Kanonenrohr gen Westen gerichtet, wo ihre ehemaligen Verbündeten, die Amerikaner und Engländer sich überlegten, ob sie nicht einen Fehler gemacht hatten, als sie die Eroberung der Reichshauptstadt den Russen allein überließen.

Die Pflegerinnen hatten alle einen Blick ewigen Erbarmens drauf, einigen traten vor lauter Mitleid mit ihren Bekloppten die Augen aus den Höhlen. Sie sprachen leise, wie in einer Aussegnungshalle, und huschten lautlos umher. Im Park ergingen sich die Patienten, auch hier waren die Wege von schulterhohen Hecken eingefasst, man sah, wie abgeschnitten, nur die Köpfe, einige mit Schwesternhauben, manche mit Schlafmützen und Pudelmützen, eine Afrika-Korps-Mütze sah ich sogar einmal wandeln, und mehr oder weniger schüttere Lockenköpfe weiblicher Patienten, manche mit Lockenwicklern. Wenn man um Ecken bog, sah man die vollständigen Gestalten, in Bademänteln mit großblumigen Mustern oder in Streifenpyjamas.

Mir schienen die Patienten normaler als die Schwestern mit ihrem Caritasblick. Verblüffend war nur, dass sich alle hier wie in Zeitlupe bewegten, so, als hätten sie Angst, anzustoßen und zu zerbrechen.

Minnamartha fand ich bei schönem Wetter auf ihrem Lieblingsplatz, ganz hinten in der Ecke des weitläufigen Parks, wo nur noch wenige Spaziergänger vorbeikamen. Gewöhnlich häkelte sie oder las in einem Buch, aber zwischendurch streifte ihr Blick immer wieder durch eine Lücke in der Hecke über das Land außerhalb des Sanatoriums. »Du kommst schon bald wieder hier raus«, sagte ich dann tröstend, wenn ich mich neben sie setzte. Aber sie meinte: »Lass mich man hier. Ich bin hier gut aufgehoben. Muss mich um nichts kümmern. Sie fragte nach unserem Haus, denn sie hatte verdrängt, dass es in Trümmern lag. Ich erfand Geschichten von meinem Leben im kaiserschen Eigenheim, es fiel mir schwer, ihre Fragen zu beantworten, alles war mir doch sehr fern gerückt.

So schwindelte ich jeden Sonntag. Eine halbe Stunde. Eine ganze. Ich war froh, wenn Minnamartha das Thema wechselte, was plötzlich geschah: »Die Enke«, sagte sie einmal, »die Enke war ja eine Person! Das kannst du dir nicht vorstellen. So was!« Wer die Enke sei oder war, fragte ich, aber sie ging nicht darauf ein: »Die hat den König ausgemistet, sage ich dir. Karl, lass dich bloß nicht ausnehmen von den Weibern. Du bist immer so gutmütig. Die Enke hat nur für ihre unehelichen Kinder gesorgt, die Bastarde, der König musste zahlen. Und Güter hat sie gehabt, viertausendfünfhundert Taler Einnahme im Jahr, denke mal, das war damals viel Geld. Brauchst du Geld? Junge, verdienst du denn was? Hast du Arbeit? Arbeit ist das Wichtigste. Und die Gesundheit. Schau mich an. Ein Wrack. Ja, ein Wrack. Musst nichts sagen. Mit mir ist es bald vorbei. Und jetzt ist sie tot. Oder ist ihr Mann tot? Ach, ich bringe alles durcheinander. Willi Reh soll ja zurück sein aus Russland. Ja, man hört so manches hier. Die Enke, also, ein Aas, sage ich dir. Hat den König immer verführt, der hatte ja nichts zu sagen. Sie hat Preußen regiert. Dat Beest! Oma hat auch immer gesagt, wenn die Enke nicht gewesen wäre, hätte es Hitler vielleicht gar nicht gegeben. Es war ja eine richtige Weiberwirtschaft am Hof.«

Ich konnte Minnamartha nicht folgen. Wer war die Enke? Dann warf ich einen Blick auf das Buch, das umgedreht auf der Bank lag, Geschichten vom preußischen Hof, und ich wusste, es handelte sich um die Mätresse Friedrich Wilhelms des Zweiten, Trompeterstochter Wilhelmine Enke, später Madame Ritz, dann Gräfin Lichtenau. Das Buch stammte aus der Anstaltsbibliothek. Die Ereignisse hatten im achtzehnten Jahrhundert stattgefunden, aber für Minnamartha war die Zeit geschrumpft, sie regte sich über Frau Enke auf, als habe sie gestern zwischen uns gefummelt und gelebt.

Nach einer Weile kam gewöhnlich eine Pflegerin, die raunte: »Es ist Zeit …« Ich stand dann auf und verabschiedete mich, ging zurück zum Haupttor zwischen all den Köpfen, die über den Hecken tanzten und den Schwesternhauben, die wie Kranichflügel hingen, und auch meine Schritte waren gedämpft durch den rötlichen Teppich von Kiefernnadeln auf den Wegen.

Schnüffelpaule empfing mich dann mit neugierigem Stechblick unter seinem Mützenschirm hervor. »Warste wieder da?«, fragte er. Musterte mich, als müsste ich selbst was abbekommen haben in der Klapsmühle. Wir wussten noch nicht, dass innerhalb eines Jahres ein weiterer lieber Patient, mein Schulfreund Othmar, dort Quartier beziehen würde.

Wir bastelten einen von Paules UNRRA-Kameraden eingetauschten Volksempfänger zurecht, hörten AFN, American Forces Network in Europe, optimistische Leute arbeiteten dort, für die Amis war die Welt ganz schön in Ordnung. Zu den materiellen Tröstungen durch Luftbrückenpoms und Trockenei gesellten sich nun akustisch die Andrew Sisters, General Lucius D. Clays Durchhalteansprachen an die Berliner (»We will stay in Berlin whatever happens. The Russians …«) und die optimistische Melodie von Chattanooga Choo-Choo. Drauf machten die Hamsterfahrer schnell einen deutschen Text:

Verzeihn Sie, mein Herr,
fährt hier der Zug nach Kötschenbroda?
Ja, heute vielleicht. Wenn die Kohle noch reicht.
Für uns ist das Reisen wirklich gar kein Problem,
wer nicht sitzen kann, na der bleibt eben stehn,
und in Wusterhausen
lässt du dich entlausen …

Die Amis hatten an den Grenzen ihres Sektors Entlausungsstationen eingerichtet, wo sie die Reisenden einfingen und ihnen mit einem Blasebalg DDT-Puder in die Ärmel und in den Kragen pusteten. »Is mir einmal passiert. Mir schaudert heute noch«, schüttelte sich Schnüffelpaule. »Allerdings fällt mir ein: Wir haben nüscht mehr auf de Stulle, Frühkartoffel noch nicht zu ernten, Mehl alle, Jerste knapp, wat soll wer’n? Da muss sich Paule wieder uffn Puffa schwingen.«

Schnüffelpaule traf in den nächsten Tagen seine Reisevorbereitungen, indem er sich Säcke nähte, die an Schnüren über der Schulter oder auf dem Rücken zu tragen waren. Er ergänzte seine Sammlung falscher Papiere durch neue abenteuerlich bestempelte Propuske und Passierscheine, einige in kyrillischer Schrift, zauberte Reisemarken für Unterwegsverpflegung herbei.

»Wohin willst du?«

»In die Zauche. Die denken hier alle, da wächst nischt, hamse sich aba jeirrt. Also, erst mal fahr ick Königsweg, mitm Rad, wa? Durch’n Wald, da wer’nse mich schon nich hoppnehmen. Von Nowawes denn mitn Zuch, Richtung Brandenburg. Und links schwenkt marsch, bin ick in Belzig und mitten in de Zauche. Ick kenne da paar Bauern, die ham jenuch zu mampfen, aba wat se nich ham bringt ihnen Paule, nämlich det is Süßstoff. Auf Süßstoff stehnse, det vaschachern se wieder an die Iwans. Wat die mit machen, weeß ick nich, is mir ooch wurscht. Also verlasst euch uff mir.«

Schnüffelpaule klemmte sich Fahrradklammern an die Hosenbeine und strampelte los, Richtung Nowawes. Gigi und ich sahen ihm hinterher. »Wenn das man gutgeht«, sagte Gigi. Sie drehte sich um und stakste in die Veranda. »Junge, ist das ein Saustall hier. Dass ihr so leben könnt?« Sie deutete auf den Verhau, den Schnüffelpaule hinterlassen hatte, halb gefüllte Säcke, in Zeitungspapier Gebündeltes, Inhalt undefinierbar, ein Knäuel verfilzte Decken auf dem Feldbett, Machorkavorräte und Amizigaretten in Schachteln und Schächtelchen. An einer Schnur quer durch den Raum ein grünes Amimilitärhemd zum Trocknen und Tabakblätter von den Stauden hinter der Laube; Süßstoffvorräte für Jahrhunderte, ein kleines Stück Butter in einer Schüssel mit kühlem Pumpenwasser, Stein gewordenes Salz, eine leere Sardinendose, ehemalige Wollsocken, ein schütterer Pelzkragen, Ohrenklappen, das Detektorradio, Stearinkerzenstummel. Gigi schüttelte den Kopf. »Anstecken müsste man das alles. Verbrennen. Dass ihr so leben könnt?«

»Was heißt ihr? Paule lebt so.«

Gigi schüttelte den Kopf. »Du bist auch nicht viel besser. Die Ratten werden euch annagen. Jetzt hilf mir mal, dass wir Ordnung in den Schweinekoben bringen.«

Ich half ihr, den Chimborasso draußen aufzuschichten, in der Sonne. Murrte ein bisschen: »Du könntest dich ja um uns kümmern. Warum ziehst du nicht hierher? Platz ist genug.«