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Friedrich Schiller

Die Jungfrau von Orleans

Eine romantische Tragödie

Reclam

Zu Schillers Die Jungfrau von Orleans gibt es in Reclams Universal-Bibliothek

• einen Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler (Nr. 15380, PDF 978-3-15-950428-5)

Erläuterungen und Dokumente (Nr. 16053)

• eine Interpretation in: Schillers Dramen in der Reihe »Interpretationen« (Nr. 8807)

1997, 2002, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Durchgesehene Ausgabe 2002
auf der Grundlage der gültigen amtlichen Rechtschreibregeln
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Made in Germany 2017
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960047-5
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-000047-2

www.reclam.de

Personen

KARL DER SIEBENTE, König von Frankreich

KÖNIGIN ISABEAU, seine Mutter

ACNES SOREL, seine Geliebte

PHILIPP DER GUTE, Herzog von Burgund

GRAF DUNOIS, Bastard von Orleans

königliche Offiziere:

LA HIRE

DU CHATEL

ERZBISCHOF VON REIMS

CHATILLON, ein burgundischer Ritter

RAOUL, ein lothringischer Ritter

TALBOT, Feldherr der Engelländer

englische Anführer:

LIONEL

FASTOLF

MONTGOMERY, ein Walliser

RATSHERREN VON ORLEANS

EIN ENGLISCHER HEROLD

THIBAUT D’ARC, ein reicher Landmann

seine Töchter:

MARGOT

LOUISON

JOHANNA

ihre Freier:

ETIENNE

CLAUDE MARIE

RAIMOND

BERTRAND, ein anderer Landmann

DIE ERSCHEINUNG EINES SCHWARZEN RITTERS

KÖHLER und KÖHLERWEIB

Soldaten und Volk, königliche Kronbediente, Bischöfe, Mönche, Marschälle, Magistratspersonen, Hofleute und andere stumme Personen im Gefolge des Krönungszuges.

Prolog

Eine ländliche Gegend. Vorn zur Rechten ein Heiligenbild in einer Kapelle; zur Linken eine hohe Eiche.

Erster Auftritt

Thibaut d’Arc. Seine drei Töchter. Drei junge Schäfer, ihre Freier.

THIBAUT. Ja, liebe Nachbarn! Heute sind wir noch

Franzosen, freie Bürger noch und Herren

Des alten Bodens, den die Väter pflügten;

Wer weiß, wer morgen über uns befiehlt!

5

Denn allerorten lässt der Engelländer

Sein sieghaft Banner fliegen, seine Rosse

Zerstampfen Frankreichs blühende Gefilde.

Paris hat ihn als Sieger schon empfangen,

Und mit der alten Krone Dagoberts

10

Schmückt es den Sprössling eines fremden Stamms.

Der Enkel unsrer Könige muss irren

Enterbt und flüchtig durch sein eignes Reich,

Und wider ihn im Heer der Feinde kämpft

Sein nächster Vetter und sein erster Pair,

15

Ja seine Rabenmutter führt es an.

Rings brennen Dörfer, Städte. Näher stets

Und näher wälzt sich der Verheerung Rauch

An diese Täler, die noch friedlich ruhn.

– Drum, liebe Nachbarn, hab ich mich mit Gott

20

Entschlossen, weil ich’s heute noch vermag,

Die Töchter zu versorgen; denn das Weib

Bedarf in Kriegesnöten des Beschützers,

Und treue Lieb hilft alle Lasten heben.

(Zu dem ersten Schäfer.)

– Kommt, Etienne! Ihr werbt um meine Margot.

25

Die Äcker grenzen nachbarlich zusammen,

Die Herzen stimmen überein – das stiftet

Ein gutes Ehband!

(Zu dem zweiten.) Claude Marie! Ihr schweigt,

Und meine Louison schlägt die Augen nieder?

Werd ich zwei Herzen trennen, die sich fanden,

30

Weil Ihr nicht Schätze mir zu bieten habt?

Wer hat jetzt Schätze? Haus und Scheune sind

Des nächsten Feindes oder Feuers Raub –

Die treue Brust des braven Manns allein

Ist ein sturmfestes Dach in diesen Zeiten.

LOUISON. Mein Vater!

CLAUDE MARIE.           Meine Louison!

35

LOUISON (Johanna umarmend).      Liebe Schwester!

THIBAUT. Ich gebe jeder dreißig Acker Landes

Und Stall und Hof und eine Herde – Gott

Hat mich gesegnet und so segn’ er euch!

MARGOT (Johanna umarmend).

Erfreue unsern Vater. Nimm ein Beispiel!

40

Lass diesen Tag drei frohe Bande schließen.

THIBAUT. Geht! Machet Anstalt. Morgen ist die Hochzeit,

Ich will, das ganze Dorf soll sie mit feiern.

(Die zwei Paare gehen Arm in Arm geschlungen ab.)

Zweiter Auftritt

Thibaut. Raimond. Johanna.

THIBAUT. Jeanette, deine Schwestern machen Hochzeit,

Ich seh sie glücklich, sie erfreun mein Alter,

45

Du, meine Jüngste, machst mir Gram und Schmerz.

RAIMOND.

Was fällt Euch ein! Was scheltet Ihr die Tochter?

THIBAUT. Hier dieser wackre Jüngling, dem sich keiner

Vergleicht im ganzen Dorf, der Treffliche,

Er hat dir seine Neigung zugewendet,

50

Und wirbt um dich, schon ist’s der dritte Herbst,

Mit stillem Wunsch, mit herzlichem Bemühn,

Du stößest ihn verschlossen, kalt, zurück,

Noch sonst ein andrer von den Hirten allen

Mag dir ein gütig Lächeln abgewinnen.

55

– Ich sehe dich in Jugendfülle prangen,

Dein Lenz ist da, es ist die Zeit der Hoffnung,

Entfaltet ist die Blume deines Leibes,

Docht stets vergebens harr ich, dass die Blume

Der zarten Lieb aus ihrer Knospe breche,

60

Und freudig reife zu der goldnen Frucht!

O das gefällt mir nimmermehr und deutet

Auf eine schwere Irrung der Natur!

Das Herz gefällt mir nicht, das streng und kalt

Sich zuschließt in den Jahren des Gefühls.

RAIMOND.

65

Lasst’s gut sein, Vater Arc! Lasst sie gewähren!

Die Liebe meiner trefflichen Johanna

Ist eine edle zarte Himmelsfrucht,

Und still allmählich reift das Köstliche!

Jetzt liebt sie noch, zu wohnen auf den Bergen,

70

Und von der freien Heide fürchtet sie

Herabzusteigen in das niedre Dach

Der Menschen, wo die engen Sorgen wohnen.

Oft seh ich ihr aus tiefem Tal mit stillem

Erstaunen zu, wenn sie auf hoher Trift

75

In Mitte ihrer Herde ragend steht,

Mit edelm Leibe, und den ernsten Blick

Herabsenkt auf der Erde kleine Länder.

Da scheint sie mir was Höh’res zu bedeuten,

Und dünkt mir’s oft, sie stamm aus andern Zeiten.

80

THIBAUT. Das ist es, was mir nicht gefallen will!

Sie flieht der Schwestern fröhliche Gemeinschaft,

Die öden Berge sucht sie auf, verlässet

Ihr nächtlich Lager vor dem Hahnenruf,

Und in der Schreckensstunde, wo der Mensch

85

Sich gern vertraulich an den Menschen schließt,

Schleicht sie, gleich dem einsiedlerischen Vogel,

Heraus ins graulich düstre Geisterreich

Der Nacht, tritt auf den Kreuzweg hin und pflegt

Geheime Zweisprach mit der Luft des Berges.

90

Warum erwählt sie immer diesen Ort

Und treibt gerade hieher ihre Herde?

Ich sehe sie zu ganzen Stunden sinnend

Dort unter dem Druidenbaume sitzen,

Den alle glückliche Geschöpfe fliehn.

95

Denn nicht geheu’r ist’s hier, ein böses Wesen

Hat seinen Wohnsitz unter diesem Baum

Schon seit der alten grauen Heidenzeit.

Die Ältesten im Dorf erzählen sich

Von diesem Baume schauerhafte Mären,

100

Seltsamer Stimmen wundersamen Klang

Vernimmt man oft aus seinen düstern Zweigen.

Ich selbst, als mich in später Dämmrung einst

Der Weg an diesem Baum vorüberführte,

Hab ein gespenstisch Weib hier sitzen sehn.

105

Das streckte mir aus weitgefaltetem

Gewande langsam eine dürre Hand

Entgegen, gleich als winkt’ es, doch ich eilte

Fürbass und Gott befahl ich meine Seele.

RAIMOND (auf das Heiligenbild in der Kapelle zeigend).

Des Gnadenbildes segenreiche Näh,

110

Das hier des Himmels Frieden um sich streut,

Nicht Satans Werk führt Eure Tochter her.

THIBAUT. O nein! nein! Nicht vergebens zeigt sich’s mir

In Träumen an und ängstlichen Gesichten.

Zu dreien Malen hab ich sie gesehn

115

Zu Reims auf unsrer Könige Stuhle sitzen,

Ein funkelnd Diadem von sieben Sternen

Auf ihrem Haupt, das Zepter in der Hand,

Aus dem drei weiße Lilien entsprangen,

Und ich, ihr Vater, ihre beiden Schwestern

120

Und alle Fürsten, Grafen, Erzbischöfe,

Der König selber, neigten sich vor ihr.

Wie kommt mir solcher Glanz in meine Hütte?

O das bedeutet einen tiefen Fall!

Sinnbildlich stellt mir dieser Warnungstraum

125

Das eitle Trachten ihres Herzens dar.

Sie schämt sich ihrer Niedrigkeit – weil Gott

Mit reicher Schönheit ihren Leib geschmückt,

Mit hohen Wundergaben sie gesegnet,

Vor allen Hirtenmädchen dieses Tals,

130

So nährt sie sünd’gen Hochmut in dem Herzen,

Und Hochmut ist’s, wodurch die Engel fielen,

Woran der Höllengeist den Menschen fasst.

RAIMOND. Wer hegt bescheidnern tugendlichern Sinn

Als Eure fromme Tochter? Ist sie’s nicht,

135

Die ihren ältern Schwestern freudig dient?

Sie ist die hochbegabteste von allen,

Doch seht Ihr sie wie eine niedre Magd

Die schwersten Pflichten still gehorsam üben,

Und unter ihren Händen wunderbar

140

Gedeihen Euch die Herden und die Saaten;

Um alles was sie schafft, ergießet sich

Ein unbegreiflich überschwenglich Glück.

THIBAUT. Ja wohl! Ein unbegreiflich Glück – Mir kommt

144

Ein eigen Grauen an bei diesem Segen!

– Nichts mehr davon. Ich schweige. Ich will schweigen;

Soll ich mein eigen teures Kind anklagen?

Ich kann nichts tun als warnen, für sie beten!

Doch warnen muss ich – Fliehe diesen Baum,

Bleib nicht allein, und grabe keine Wurzeln

150

Um Mitternacht, bereite keine Tränke,

Und schreibe keine Zeichen in den Sand –

Leicht aufzuritzen ist das Reich der Geister,

Sie liegen wartend unter dünner Decke,

Und leise hörend stürmen sie herauf.

155

Bleib nicht allein, denn in der Wüste trat

Der Satansengel selbst zum Herrn des Himmels.

Dritter Auftritt

Bertrand tritt auf, einen Helm in der Hand. Thibaut. Raimond. Johanna.

RAIMOND. Still! Da kommt Bertrand aus der Stadt zurück.

Sieh, was er trägt!

BERTRAND.                 Ihr staunt mich an, ihr seid

Verwundert ob des seltsamen Gerätes

In meiner Hand.

160

THIBAUT.                 Das sind wir. Saget an.

Wie kamt Ihr zu dem Helm, was bringt Ihr uns

Das böse Zeichen in die Friedensgegend?

(Johanna, welche in beiden vorigen Szenen still und ohne Anteil auf der Seite gestanden, wird aufmerksam und tritt näher.)

BERTRAND. Kaum weiß ich selbst zu sagen, wie das Ding

Mir in die Hand geriet. Ich hatte eisernes

165

Gerät mir eingekauft zu Vaucouleurs,

Ein großes Drängen fand ich auf dem Markt,

Denn flücht’ges Volk war eben angelangt

Von Orleans mit böser Kriegespost.

Im Aufruhr lief die ganze Stadt zusammen,

170

Und als ich Bahn mir mache durchs Gewühl,

Da tritt ein braun Bohemerweib mich an

Mit diesem Helm, fasst mich ins Auge scharf,

Und spricht: »Gesell, Ihr suchet einen Helm,

Ich weiß, Ihr suchet einen. Da! Nehmt hin!

175

Um ein Geringes steht er Euch zu Kaufe.«

– »Geht zu den Lanzenknechten«, sagt ich ihr,

»Ich bin ein Landmann, brauche nicht des Helmes.«

Sie aber ließt nicht ab und sagte ferner:

»Kein Mensch vermag zu sagen, ob er nicht

180

Des Helmes braucht. Ein stählern Dach fürs Haupt

Ist jetzo mehr wert als ein steinern Haus.«

So trieb sie mich durch alle Gassen, mir

Den Helm aufnötigend, den ich nicht wollte.

Ich sah den Helm, dass er so blank und schön

185

Und würdig eines ritterlichen Haupts,

Und da ich zweifelnd in der Hand ihn wog,

Des Abenteuers Seltsamkeit bedenkend,

Da war das Weib mir aus den Augen, schnell

Hinweggerissen hatte sie der Strom

190

Des Volkes, und der Helm blieb mir in Händen.

JOHANNA (rasch und begierig darnach greifend).

Gebt mir den Helm!

BERTRAND.                    Was frommt Euch dies Geräte?

Das ist kein Schmuck für ein jungfräulich Haupt.

JOHANNA (entreißt ihm den Helm).

Mein ist der Helm und mir gehört er zu.

THIBAUT. Was fällt dem Mädchen ein?

RAIMOND.                                                  Lasst ihr den Willen!

195

Wohl ziemt ihr dieser kriegerische Schmuck,

Denn ihre Brust verschließt ein männlich Herz.

Denkt nach, wie sie den Tigerwolf bezwang,

Das grimmig wilde Tier, das unsre Herden

Verwüstete, den Schrecken aller Hirten.

200

Sie ganz allein, die löwenherz’ge Jungfrau,

Stritt mit dem Wolf und rang das Lamm ihm ab,

Das er im blut’gen Rachen schon davontrug.

Welch tapfres Haupt auch dieser Helm bedeckt,

Er kann kein würdigeres zieren!

THIBAUT (zu Bertrand).                    Sprecht!

205

Welch neues Kriegesunglück ist geschehn?

Was brachten jene Flüchtigen?

BERTRAND.                                        Gott helfe

Dem König und erbarme sich des Landes!

Geschlagen sind wir in zwei großen Schlachten,

Mitten in Frankreich steht der Feind, verloren

210

Sind alle Länder bis an die Loire –

Jetzt hat er seine ganze Macht zusammen

Geführt, womit er Orleans belagert.

THIBAUT. Gott schütze den König!

BERTRAND.                                           Unermessliches

Geschütz ist aufgebracht von allen Enden,

215

Und wie der Bienen dunkelnde Geschwader

Den Korb umschwärmen in des Sommers Tagen,

Wie aus geschwärzter Luft die Heuschreckwolke

Herunterfällt und meilenlang die Felder

Bedeckt in unabsehbarem Gewimmel,

220

So goss sich eine Kriegeswolke aus

Von Völkern über Orleans’ Gefilde,

Und von der Sprachen unverständlichem

Gemisch verworren dumpf erbraust das Lager.

Denn auch der mächtige Burgund, der Länder-

225

Gewaltige hat seine Mannen alle

Herbeigeführt, die Lütticher, Luxemburger,

Die Hennegauer, die vom Lande Namur,

Und die das glückliche Brabant bewohnen,

Die üpp’gen Genter, die in Samt und Seide

230

Stolzieren, die von Seeland, deren Städte

Sich reinlich aus dem Meereswasser heben,

Die herdenmelkenden Holländer, die

Von Utrecht, ja vom äußersten Westfriesland,

Die nach dem Eispol schaun – Sie folgen alle

235

Dem Heerbann des gewaltig herrschenden

Burgund und wollen Orleans bezwingen.

THIBAUT. O des unselig jammervollen Zwists,

Der Frankreichs Waffen wider Frankreich wendet!

BERTRAND. Auch sie, die alte Königin, sieht man,

240

Die stolze Isabeau, die Bayerfürstin,

In Stahl gekleidet durch das Lager reiten,

Mit gift’gen Stachelworten alle Völker

Zur Wut aufregen wider ihren Sohn,

Den sie in ihrem Mutterschoß getragen!

245

THIBAUT. Fluch treffe sie! Und möge Gott sie einst

Wie jene stolze Jesabel verderben!

BERTRAND. Der fürchterliche Salisbury, der Mauren-

Zertrümmerer, führt die Belagrung an,

Mit ihm des Löwen Bruder Lionel,

250

Und Talbot, der mit mörderischem Schwert

Die Völker niedermähet in den Schlachten.

In frechem Mute haben sie geschworen,

Der Schmach zu weihen alle Jungfrauen,

Und was das Schwert geführt, dem Schwert zu opfern.

255

Vier hohe Warten haben sie erbaut,

Die Stadt zu überragen; oben späht

Graf Salisbury mit mordbegier’gem Blick,

Und zählt den schnellen Wandrer auf den Gassen.

Viel tausend Kugeln schon von Zentners Last

260

Sind in die Stadt geschleudert, Kirchen liegen

Zertrümmert, und der königliche Turm

Von Notre Dame beugt sein erhabnes Haupt.

Auch Pulvergänge haben sie gegraben

Und über einem Höllenreiche steht

265

Die bange Stadt, gewärtig jede Stunde,

Dass es mit Donners Krachen sich entzünde.

(Johanna horcht mit gespannter Aufmerksamkeit und setzt sich den Helm auf.)

THIBAUT. Wo aber waren denn die tapfern Degen

Saintrailles, La Hire und Frankreichs Brustwehr,

Der heldenmüt’ge Bastard, dass der Feind

270

So allgewaltig reißend vorwärts drang?

Wo ist der König selbst, und sieht er müßig

Des Reiches Not und seiner Städte Fall?

BERTRAND. Zu Chinon hält der König seinen Hof,

Es fehlt an Volk, er kann das Feld nicht halten.

275

Was nützt der Führer Mut, der Helden Arm,

Wenn bleiche Furcht die Heere lähmt?

Ein Schrecken, wie von Gott herab gesandt,

Hat auch die Brust der Tapfersten ergriffen.

Umsonst erschallt der Fürsten Aufgebot.

280

Wie sich die Schafe bang zusammendrängen,

Wenn sich des Wolfes Heulen hören lässt,

So sucht der Franke, seines alten Ruhms

Vergessend, nur die Sicherheit der Burgen.

Ein einz’ger Ritter nur, hört ich erzählen,

285

Hab eine schwache Mannschaft aufgebracht,

Und zieh dem König zu mit sechzehn Fahnen.

JOHANNA (schnell).

Wie heißt der Ritter?

BERTRAND.                      Baudricour. Doch schwerlich

Möcht er des Feindes Kundschaft hintergehn,

Der mit zwei Heeren seinen Fersen folgt.

JOHANNA.

290

Wo hält der Ritter? Sagt mir’s, wenn Ihr’s wisset.

BERTRAND. Er steht kaum eine Tagereise weit

Von Vaucouleurs.

THIBAUT (zu Johanna). Was kümmert’s dich! Du fragst

Nach Dingen, Mädchen, die dir nicht geziemen.

BERTRAND. Weil nun der Feind so mächtig und kein Schutz

295

Vom König mehr zu hoffen, haben sie

Zu Vaucouleurs einmütig den Beschluss

Gefasst, sich dem Burgund zu übergeben.

So tragen wir nicht fremdes Joch und bleiben

Beim alten Königsstamme – ja vielleicht

300

Zur alten Krone fallen wir zurück,

Wenn einst Burgund und Frankreich sich versöhnen.

JOHANNA (in Begeisterung).

Nichts von Verträgen! Nichts von Übergabe!

Der Retter naht, er rüstet sich zum Kampf.

Vor Orleans soll das Glück des Feindes scheitern,

305

Sein Maß ist voll, er ist zur Ernte reif.

Mit ihrer Sichel wird die Jungfrau kommen,

Und seines Stolzes Saaten niedermähn,

Herab vom Himmel reißt sie seinen Ruhm,

Den er hoch an den Sternen aufgehangen.

310

Verzagt nicht! Fliehet nicht! Denn eh der Rocken

Gelb wird, eh sich die Mondesscheibe füllt,

Wird kein engländisch Ross mehr aus den Wellen

Der prächtig strömenden Loire trinken.

BERTRAND. Ach! Es geschehen keine Wunder mehr!

JOHANNA.

315

Es geschehn noch Wunder – Eine weiße Taube

Wird fliegen und mit Adlerskühnheit diese Geier

Anfallen, die das Vaterland zerreißen.

Darnieder kämpfen wird sie diesen stolzen

Burgund, den Reichsverräter, diesen Talbot

320

Den himmelstürmend hunderthändigen,

Und diesen Salisbury, den Tempelschänder,

Und diese frechen Inselwohner alle

Wie eine Herde Lämmer vor sich jagen.

Der Herr wird mit ihr sein, der Schlachten Gott.

325

Sein zitterndes Geschöpf wird er erwählen,

Durch eine zarte Jungfrau wird er sich

Verherrlichen, denn er ist der Allmächt’ge!

THIBAUT. Was für ein Geist ergreift die Dirn?

RAIMOND.                                                              Es ist

Der Helm, der sie so kriegerisch beseelt.

330

Seht Eure Tochter an. Ihr Auge blitzt,

Und glühend Feuer sprühen ihre Wangen!

JOHANNA.

Dies Reich soll fallen? Dieses Land des Ruhms,

Das schönste, das die ew’ge Sonne sieht

In ihrem Lauf, das Paradies der Länder,

335

Das Gott liebt, wie den Apfel seines Auges,

Die Fesseln tragen eines fremden Volks!

– Hier scheiterte der Heiden Macht. Hier war

Das erste Kreuz, das Gnadenbild erhöht,

Hier ruht der Staub des heil’gen Ludewig,

340

Von hier aus ward Jerusalem erobert.

BERTRAND (erstaunt). Hört ihre Rede! Woher schöpfte sie

Die hohe Offenbarung – Vater Arc!

Euch gab Gott eine wundervolle Tochter!

JOHANNA. Wir sollen keine eigne Könige

345

Mehr haben, keinen eingebornen Herrn –

Der König, der nie stirbt, soll aus der Welt

Verschwinden – der den heil’gen Pflug beschützt,

Der die Trift beschützt und fruchtbar macht die Erde,

Der die Leibeignen in die Freiheit führt,

350

Der die Städte freudig stellt um seinen Thron –

Der dem Schwachen beisteht und den Bösen schreckt,

Der den Neid nicht kennet, denn er ist der Größte,

Der ein Mensch ist und ein Engel der Erbarmung

Auf der feindsel’gen Erde. – Denn der Thron

355

Der Könige, der von Golde schimmert, ist

Das Obdach der Verlassenen – hier steht

Die Macht und die Barmherzigkeit – es zittert

Der Schuldige, vertrauend naht sich der Gerechte,

Und scherzet mit den Löwen um den Thron!

360

Der fremde König, der von außen kommt,

Dem keines Ahnherrn heilige Gebeine

In diesem Lande ruhn, kann er es lieben?

Der nicht jung war mit unsern Jünglingen,

Dem unsre Worte nicht zum Herzen tönen,

365

Kann er ein Vater sein zu seinen Söhnen?

THIBAUT. Gott schütze Frankreich und den König! Wir

Sind friedliche Landleute, wissen nicht

Das Schwert zu führen, noch das kriegerische Ross

Zu tummeln. – Lasst uns still gehorchend harren,

370

Wen uns der Sieg zum König geben wird.

Das Glück der Schlachten ist das Urteil Gottes,

Und unser Herr ist, wer die heil’ge Ölung

Empfängt und sich die Kron aufsetzt zu Reims.

– Kommt an die Arbeit! Kommt! Und denke jeder

375

Nur an das Nächste! Lassen wir die Großen,

Der Erde Fürsten um die Erde losen,

Wir können ruhig die Zerstörung schauen,

Denn sturmfest steht der Boden, den wir bauen.

Die Flamme brenne unsre Dörfer nieder,

380