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Jim Grimsley
Das Leben zwischen den Sternen

Comfort and Joy

Aus dem Amerikanischen
von Frank Heibert

Edition diá

 

 

Über dieses Buch

In Jim Grimsleys zweitem Roman begegnen wir dem kleinen Danny wieder: Dan Crell ist jetzt dreißig, lebt in Atlanta und arbeitet in der Verwaltung des großen Grady-Hospitals. Dan ist ein freundlicher Mann geworden, aber es ist schwer an ihn heranzukommen. Als er und Ford McKinney, ein Arzt des Krankenhauses, sich ineinander verlieben, will er seinem Glück kaum trauen. Ford kämpft darum, Dans Vertrauen zu gewinnen, während er selbst mit seinem Coming-out gegenüber Kollegen und Familie unter Druck gerät. Der Roman spielt Weihnachten, bei Dans Mutter und ihrem zweiten Mann in North Carolina: Zum Fest der Liebe bringt der Sohn seinen Geliebten mit nach Hause.

»Hier spricht Amerika mit einer Stimme, die bei uns selten vernommen wird.« (Der Tagesspiegel)

Der Autor

Jim Grimsley, geboren 1955 in Pollocksville, North Carolina, schreibt Prosa und Theater. Seit den 80er-Jahren entstanden zahlreiche Theaterstücke (veröffentlicht im Sammelband »Mr. Universe and Other Plays«, Algonquin Books 1998), seit den 90er-Jahren schrieb er, nach seinem aufsehenerregenden Debüt »Wintervögel«, sechs Romane, zuletzt »Forgiveness« (University of Texas Press 2007) und den Erzählband »Jesus Is Sending You This Message« (Alyson Books, 2008), außerdem drei Fantasyromane (2000–2006). Werke von Grimsley wurden ins Deutsche, Französische, Spanische, Portugiesische, Niederländische, Hebräische und Japanische übersetzt. Zu den zahlreichen Literatur- und Theaterpreisen, die er in den USA und Europa erhielt, gehören vor allem der Lila Wallace/Reader’s Digest Writers Award für sein Gesamtwerk (1997) und der Academy Award in Literature von der American Academy of Arts and Letters (2005). Jim Grimsley lebt seit Langem in Atlanta, Georgia, und unterrichtet Creative Writing an der dortigen Emory University.

Der Übersetzer

Frank Heibert, geboren 1960, übersetzt vor allem aus dem Englischen und Französischen, u. a. Don DeLillo, Richard Ford, Lorrie Moore, Tobias Wolff, Neil Labute und, zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel, Yasmina Reza. 2006 erschien sein erster Roman »Kombizangen«. 2012 erhielt er den Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis für sein Gesamtwerk.

Berlin 1993

 

 

Für Carlos Daniel Schroeder

God rest ye merry gentlemen

let nothing you dismay

remember Christ the Saviour

was born on Christmas Day

to save us all from Satan’s power

when we were gone astray

O tidings of comfort and joy

comfort and joy

O tidings of comfort and joy

Dan
1

Ein Versteck finden. Die Haustür schließen, abschließen, klick. Am Ende der Einfahrt kauerte das Gepäck zwischen den Büschen, grünes Laub im Dezember. Das Haus hinter der blassblauen Tür lag leer und still. Die Reise begann. Dan suchte ein Versteck. Eine Zuflucht. Doch er ging auf die Straße, wo ein Wagen wartete. Der Fahrer, Dreadlocks und wollige Ballonmütze, stieg aus, lud das Gepäck in den Kofferraum. Dan hatte ein Taxi bestellt. Das ihn zu seinem Versteck bringen sollte. Er reichte dem Fahrer seine letzte Tasche, der nickte ihm höflich zu, Gentleman mit wippendem Wollzylinder und wippendem Haar. Dan glitt auf den Rücksitz.

Dreadlocks, breite Schultern und Wollmütze ließen sich hinter dem Steuer nieder, und der dunkle Mann lächelte samtweich. »Wo soll’s hingehen?« Stimme von sonnigen Inseln. Dan antwortete, und das Taxi fuhr an. Das Haus verschwand, verdeckt von den verschlungenen Ästen der Pekanbäume, vom dunkelgrünen Schleier der Magnolien.

Zum Flughafen. Dan verfolgte den Rhythmus der Mütze, schwarz-grün-rote Farben der Befreiung, die gegen das Wagendach hüpften. Das krause Wollgewebe verlockte zur Berührung. Dan zum Flughafen. Mit Gepäck. Vorkehrungen für eine Reise. Der Taxifahrer hatte alles verstanden, jetzt sang er leise in seinem tropischen Bariton. Dan fing Fetzen der Melodie auf.

Von Druid Hills die Ponce de Leon Avenue hinunter gen Süden, Richtung Flugplatz. Dan hörte das leise Lied wie ein Schnurren und antwortete, noch leiser, mit seinen eigenen Tönen, während die Schatten der Brücken und ausholenden Autobahnauffahrten über sein Gesicht und seine Arme schwenkten. Sie schwebten durch Atlanta in einem Kokon aus Glas und Licht, ringsum billiges Blech, geordneter Verkehr auf acht Spuren, Türme und Canyons der City hinter sich lassend.

»Sie fahren über die Feiertage nach Hause«, sagte der Taxifahrer.

»Ja.«

Der Fahrer grinste und nickte. »Alle wollen sie zum Flughafen. Schon den ganzen Tag.«

Der Wagen rauschte dahin. Einmal gab es ein Wettrennen mit einem silbernen Pendlerzug, der unbeirrbar seinem Gleis folgte, bis die künstliche Krümmung ihn außer Sicht beförderte. Dan sah das Gefälle des Asphalts neben dem geschwungenen Nacken des Taxifahrers, und er hatte das Gefühl, dass die ganze Welt zur selben Zeit in Bewegung war. Dass es gut war, über steile Abhänge zu reisen. Dass es gut war, überhaupt auf Reisen zu gehen. Manchmal. Jetzt war Weihnachten, und Dan fuhr nach Hause.

Am Flughafen. Der Doktor stand in all dem Rummel, ruhig wirkte er, in seinem schwarzen Mantel. Groß wie ein Leuchtturm. Ohne Hut. Schwarzes, glänzendes Haar. Da stand er am Bordstein inmitten von Reisenden und Gepäck. Dan hatte geglaubt, er würde sich bestimmt verspäten, das Krankenhaus würde ihn aufhalten.

Ein Versteck. Eine Zuflucht. Dan legte die Hand auf den Türgriff. Lauschte auf die Entfernung. Der Taxifahrer machte seine Tür auf und stieg aus. Dan machte seine Tür auf und stieg aus. Ein Windstoß überflutete sein Gesicht mit Kälte, während er wartete, dass der Fahrer den Kofferraum öffnete. Der Fahrer hob den Kleidersack an, der Doktor griff danach, der Fahrer warf Dan einen Blick zu, und der sagte: »Lassen Sie nur. Die Sachen gehören ihm.«

Nun grinste der Doktor und trug das Gepäck zum Check-in-Schalter direkt auf dem Bürgersteig. Dan bezahlte das Taxi, den Doktor immer im Auge, der sich geschmeidig durch die Menge bewegte. Das Gepäck war verschwunden, noch bevor Dan sein Wechselgeld eingesteckt hatte. Er nickte zum Abschied, und der Taxifahrer nickte zurück.

Der Doktor faltete die Tickets zusammen und ließ sie in den Tiefen seines Mantels verschwinden. Fröhlich erwartungsvoll stand er da, und Dan speicherte dieses Bild, den stämmigen jungen Mann mit den ausgeprägten Gesichtszügen, das schwarze Haar perfekt gekämmt, die grauen Augen ruhig. Das Unmögliche, wartend.

»Hättest nicht gedacht, dass ich schon da sein würde, stimmt’s?«

»Nein.«

»Ich habe natürlich nicht an mir gezweifelt«, verkündete der Doktor, und sie tauchten ein in den Flughafen. Unglückliche, die keinen Doktor hatten, der ihnen die Reise organisierte, mussten Schlange stehen, um einzuchecken. »Wenn ich etwas will, dann kriege ich es auch hin.«

»Das merke ich mir.«

»Tu das.« Er lotste Dan am Ellbogen durch einen Strom von Marines auf Urlaub, enge Hosen, die verwirrt durch die Abflughalle stolperten, auf der Suche nach ihrer Fluggesellschaft.

Berührung am Ellbogen. Untypisch, in der Öffentlichkeit. Der Doktor ließ wieder los, aber es war absichtlich geschehen.

Ihr Flug ging in einer Stunde, keine Eile. Der Doktor zog seine Handschuhe aus, und starke Hände kamen zum Vorschein; er strich schwarze Härchen auf dem Handrücken glatt. Gelassen umherschlendernd, hatte der Doktor die Menge im Blick, die ganze Mittelhalle des Flughafens Hartsfield. Dan hielt sich an seiner Seite und musterte ebenso alles.

Rückzug oder Perspektivwechsel. Die Menge beobachten, darauf den Doktor beim Beobachten der Menge. Oder sich selbst beim Beobachten des Doktors, wenn es nottat. Heute war nicht einmal Dan sicher, welche Stufe der Abwehr gerade in Kraft war. Der Doktor wusste das schon gar nicht. Trotz dieser Ungewissheit, in Wahrheit ein Dauerzustand zwischen ihnen, bewegten sie sich selbstsicher, jeder auf seine eigene Weise; zwei große, düstere Männer, ihre Hände perfekt platziert. Der Doktor arrangierte es jetzt so, dass Dan vor ihm herlief, und Dan spielte mit, im vollen Bewusstsein dieser Absicht, im vollen Bewusstsein des Jungen im Doktor. Der ihn im Gehen fragte: »Hast du daran gedacht, das Haus richtig abzuschließen?«

»Der Taxifahrer musste zusehen. Ich dachte mir schon, dass ich einen Zeugen brauchen würde.«

»Seine Haare haben mir gefallen«, meinte der Doktor.

»Mir auch.« Der Blick im Nacken.

Im Strom der Menge verließen sie die Abflughalle mit ihrer weihnachtlichen Note, unübersehbar dezent, schlenderten an Kübeln mit wohlgehegten Farnen vorbei, an Geschäften, die nichts Besonderes zu erhöhten Preisen verkauften. Schlangen bildeten sich, wo die Reisenden Sicherheitskontrollen passierten, um zum Bahnsteig des Zubringerzuges zu gelangen, der zu den Abfluggates führte. Der Doktor dirigierte sie in Warteposition. Dan beschäftigte sich mit dem Riemen seiner Umhängetasche. Spürte den Doktor hinter sich. Schließlich fragte dieser, in jener Tonlage, die nur bis zu Dans Gehör reichte, keinesfalls weiter: »Wie viele Dans sind heute anwesend?«

»Nur zwei, glaube ich.«

»Zwei, das ist gar nicht so übel.«

»Könnte schlimmer sein.«

Dan legte seine Tasche flach aufs Band. Stellte sich Stifte, Pastillen, Kamm und Kaugummipapierchen unter radiologischer Bestrahlung vor. Hinter der Kontrolle hob der Doktor die Tasche vom Band. Berührte Dans Ellbogen von Neuem, schob ihn durch das Gewirr der Stimmen und Körper vorwärts, unauffällig. In aller Öffentlichkeit.

»Ford.«

Und der Doktor: »Ja?«

Dan betrachtete Fords Hand. Abwärts nun auf der Rolltreppe, umschloss sie das schwarze Laufband. »Nichts«, meinte Dan. »Ich habe nur deinen Namen gesagt.«

»Hattest du vergessen, wer ich war?«

»Nein.«

Die Stimme entfaltete sich, näher, in Dans Ohr. »Sag es noch mal.«

»Ford.«

Der Doktor lachte. Die Menge bewegte sich wie ein Wesen mit vielen Mänteln und Schals. Der Doktor schaute dem Aufmarsch der Urlaubsmenschheit amüsiert zu. Kühle Weihnachtsmusik, tausendfach destilliert zu kristallklaren Streichersätzen, umspülte sie. Der Doktor rollte die Augen gen Himmel, zu einem verborgenen Lautsprecher an der Decke, aus dem die Klangkaskade herniederrieselte, und Dan amüsierte sich. Der andere meinte: »Es weihnachtet sehr«, und sie erreichten ihr Gate, gleich hinter der Musikfontäne.

Dan wartete, nah an der Schulter des Doktors, und hörte den Mann vom Bodenpersonal fragen: »Sie reisen zu zweit?«, nach der Frau Doktor Ausschau haltend.

»So ist es.« Der Doktor blickte ihm direkt in die Augen. »Alles in Ordnung«, sagte er zu Dan, während der Mann am Schalter ihnen zusah. »Hast du Durst?«

»Allerdings.«

Der Doktor murmelte: »Reisen Sie. Zu zweit.«

Die scharlachrote Plüschbar war gut besucht, aber nicht überfüllt. Dan bemerkte zahlreiche Stoppelschnitte, als er sich in einen Stuhl mit silbernen Armlehnen sinken ließ. Der Doktor bestellte, bevor er an den Tisch kam.

Dan im Blick, zog er den Mantel aus und hängte ihn über den dritten, leeren Stuhl. Der Doktor trug kein Jackett, nur das weiße Hemd mit Krawatte. Dan genoss die Nähe. Lächelte Ford an.

Der fragte: »Bin ich schon angekommen?«

»Beinahe.«

Die Kellnerin brachte die Drinks, und der Doktor streckte sich auf seinem Stuhl. »Nur gut, dass du gar nicht erst ins Krankenhaus gekommen bist. Wie ausgestorben war es heute.«

Dan spielte mit seinem Glas. »Ist doch immer so, an Weihnachten.«

Sie stießen an und tranken. Klarer Gin, Wacholdergeschmack, Nachhitze in der Kehle. Ford gähnte, warf den Kopf zurück, sein Hals eine kraftvolle Kurve. Er schloss die Augen. »Langsam habe ich das Gefühl, hier zu sein. Oder?«

»Doch.«

»Kein Doktor mehr?«

»Nein.«

Der junge Mann lächelte. Und der Junge in ihm auch. Die Augen geschlossen, der Hals auf eine Berührung wartend, dort, am Puls. »Ich hab’s geschafft.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

»Hast du überhaupt geschlafen letzte Nacht?«

»Nein. Aber geduscht.«

»Ich dachte, es wäre nichts los gewesen.«

Ford gähnte wieder. »War es auch nicht. Aber ich hatte ein krankes Kind.«

»Schlimm?«

»Hmm.« Ein Schluck. Der Tonfall sagte: keine Fragen. »Kleiner Bursche. Neun Jahre.« Er sah Dan an, flüchtig. »Keine Sorge, mir geht’s gut.« Bloß müde, sagte der Tonfall. Der Junge wird schon durchkommen.

Die Bar füllte sich mit Servicepersonal, das über die Feiertage nach Hause fuhr, junge Paare, Familienväter, die für ein Bierchen Urlaub von ihren Lieben genommen hatten. Zwei Buchhalter diskutierten die faszinierenden Bilanzprozeduren zum Abschluss des Steuerjahres. Über den Fernsehschirm oberhalb des Tresens flimmerten die einlullenden Bilder intensiver weihnachtlicher Nächstenliebe. Weißes Rauschen.

»Hast du mich gestern Nacht betrogen?« Ford rekelte sich immer noch auf seinem Stuhl herum.

»Sitz gerade, wenn du mit mir reden willst.«

»Antworte. Hast du mich letzte Nacht betrogen?«

»Mehrfach.«

»Ich hab dich um zwei Uhr früh angerufen, und du bist nicht drangegangen.« Ford hob den Kopf und schlug die Augen auf. »Hab’s mindestens vierzigmal klingeln lassen, also geschlafen hast du nicht.«

»Arschloch. Ich kauf uns einen Anrufbeantworter.«

»Untersteh dich.«

»Hast du mich wirklich angerufen?«

»Nein.« Leises Lachen. »Ich hatte genug damit zu tun, mich um mein Kind zu kümmern.«

»Ich habe gepackt, wie verabredet. Warum kontrollierst du mich dauernd?«

»Ich kontrolliere dich gar nicht dauernd.« Ford hob sein leeres Glas in Dans Richtung. »Ich habe immer noch Durst. Was meinst du, reicht die Zeit noch?«

»Ich glaube nicht.«

Ford rollte das leere Glas hin und her und lehnte sich über den Tisch. Dan schob sein Glas auf Fords Hand zu, und dieser nahm mechanisch an, nicht als bekäme er etwas geschenkt, sondern als übernähme er eine kleinere Firma. Der Gin wurde gekippt. Sie standen auf. Dan ließ Geld liegen. Ford ließ Geld liegen. Ford sah Dan an. »Du hättest dich ruhig von mir einladen lassen können.« Dan tat so, als hätte er nichts gehört. Der Augenblick ging vorüber, sie durchquerten die Halle, und der Lautsprecher verkündete, der Flug nach Raleigh-Durham sei fertig zum Einsteigen; Passagiere, die besondere Hilfe brauchten, und solche, die mit Kleinkindern reisten, sollten sich bitte jetzt melden.

Ford ging Dan voraus, beide Bordkarten in der Hand. »Wir sind zu zweit«, sagte er zu der ersten Stewardess im Flugzeug und trat an ihr vorbei.

Ford hatte, als McKinney, First Class gebucht. Dan hegte den Verdacht, dass die McKinneys aus Savannah, Georgia, für jede Art von Verkehrsmittel seit der Arche Noah Erster-Klasse-Tickets hatten. Und Ford war nicht nur ein McKinney, er war Ford McKinney der Dritte. Wohingegen die Crells aus North Carolina erst in jüngster Vergangenheit zur Fortbewegung auf dem Luftwege übergegangen waren, im Grunde wenig vertraut mit den meisten Formen, ja, der Vorstellung des Reisens überhaupt.

Der Doktor brachte Dan am Fenster unter und machte es sich selbst am Gang bequem. Der breite Sitz überraschte Dan, mit einem Seufzer ließ er sich in die weiche Umarmung sinken. Er spürte noch immer die warme Woge des Gins und schloss die Augen. Von ganz nah Fords Stimme. »Hier ist deine Bordkarte. Ich rufe schnell im Krankenhaus an. Fliegt ja nicht ohne mich los.«

Das Einsteigen nahm gemächlich weiter seinen Verlauf. Unverkennbar machte der leere Sitz neben Dan die Flugbegleiter nervös. Schließlich schickten sie einen los: »Kommt Ihr Bekannter zurück?«

»Ja.«

»Glauben Sie, er kommt bald? Wir schließen gleich die Türen.«

»Er musste nur einen Anruf machen.«

»Sind Sie sicher?« Der hilfsbereite, braun gebrannte Blondling musste dringend seinen gestreiften Kragen in Ordnung bringen.

»Haben Sie schon den letzten Aufruf durchgegeben?«

»Nein.« Er dachte nach. »Meinen Sie, das sollten wir tun?«

»Auf jeden Fall«, sagte Dan.

Der Blonde schlenderte von dannen. Nach einer angemessenen Schamfrist war er zurück, während die anderen Stewards die Passagiere zum zweiten Mal durchzählten, und blickte nicht minder hilfsbereit auf den leeren Sitz. »Nun. Er ist immer noch nicht da.«

»Er ist Arzt. Er hat in seinem Krankenhaus angerufen.«

»Wegen eines Patienten?«

»Ich nehme es an.«

»Sie meinen also, es wird nicht mehr lange dauern?«

»Sicher nicht, wenn er den letzten Aufruf hört.«

»Nun, den haben wir durchgegeben.« Ein Zögern. »Aber Sie gehen davon aus, dass er zurückkommt.«

Dan und der Blonde musterten einander. Dan erwiderte, eine Spur unterkühlt: »Ja. Da bin ich ganz sicher.«

»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht verärgern.«

In diesem Augenblick schlüpfte Ford an dem Steward vorbei in seinen Sitz, er roch nach dem kalten Wind der Einstiegrampe. »Ich bin durchgekommen«, berichtete er. Der Steward blinzelte. Ford rieb sich die Hände. »Es wird kalt draußen.«

Die Crew verschloss jetzt die Kabinentüren, und Ford lehnte sich zu Dan hinüber, während sich das blonde Stewardwesen zurückzog. »Siehst du? Ich hab es noch bequem geschafft.« Seine Stimme war laut genug, dass jeder ihn hören konnte.

Er war fröhlich. Das hieß, es war ein gutes Telefonat gewesen, und dem Kind ging es wahrscheinlich gut. Dan hatte gelernt, nicht nachzufragen. Doch diesmal beugte der Doktor sich ein zweites Mal herüber und sagte leise: »Dem Jungen geht es prima. Prima.«

Ford legte den Kopf an die Rückenlehne und schloss die Augen. Erschöpfter Mann, fast ein kleiner Junge, hungrig nach jedem kleinen Moment des Ausruhens.

2

Die Lichter wurden für den Abendflug gedämpft. Draußen auf dem finsteren Asphalt paradierten geheimnisvolle Lichter in Blau und Orange an dem Flugzeug vorbei, kryptische Ziffern und Buchstaben. Irgendwo in der Nähe, auf der Interstate-Autobahn, zogen Flüsse von rotem und weißem Licht Bahnen und geschwungene Bögen unter den suppigen Wolken, in die sich die Maschine gleich aufschwingen würde. Der Jet rumpelte zu seinem Startpunkt, mit aufheulenden und wieder nachlassenden Motoren.

Am Ende der Startbahn drehte der Pilot die Nase in die Beinahe-Dunkelheit. Absprungbereit. Die Maschine tat den Schritt in die Wolken, das Stöhnen des Metalls ließ nach, die Fahrgestelle knirschten an ihren Platz zurück. Das Flugzeug testete die Luft, fand, dass seine plumpe Gestalt bei dieser Geschwindigkeit ihren Sinn hatte, und stieg empor. Über die Dächer von East Point in den Himmel.

3

Kurz darauf brachte der Steward ihnen Drinks. »Die hab ich bestellt, als ich vom Telefonieren zurückkam.«

»Aha.«

Ford beäugte die Ginfläschchen, dann Dan. »Hab ich was falsch gemacht?«

»Nein.«

»Alles in Ordnung«, sagte Ford. »Oder?«

Dan streifte Fords Handflächen mit den Fingerspitzen.

Der Jet war durch die Wolken gebrochen, in einen friedlichen Himmel; Reiseflughöhe zweiundzwanzigtausend Fuß, Flugzeit etwa vierzig Minuten, und das Wetter in Raleigh-Durham war klar und kalt.

»Hast du deine Mom angerufen?«, fragte Ford.

»Sie hat mich angerufen. Heute früh.«

»Glaubt sie, dass ich wirklich komme?«

»Ich weiß nicht mal, ob ich es selber glaube.« Im gedämpften, warmen Kabinenlicht konnten sie einander anschauen. Das Gesicht des anderen. Fords klare Kiefer, die dunkle Bartlinie, sein verletzlicher Mund mit der vollen Unterlippe und die kräftige, gerade Nase. Dunst und Nebel als Augen. Dans Weichheit, darunter Stahl, kindlich und tödlich zugleich. Moosaugen. Üppige Lippen, Widerspruch zur Strenge des Übrigen.

»Du machst dir doch keine Sorgen, alter Junge?«, erkundigte sich Ford.

»Nenn mich nicht alter Junge.«

»Deine Mutter mag mich. Du brauchst dir nicht die geringsten Sorgen zu machen.«

»Ich bin nur vier Jahre älter als du, also bitte. Deine Mutter hat übrigens auch angerufen.«

»Ach ja?« Ford war auf der Hut. »Hat sie mit dir geredet oder wieder so getan, als wüsste sie nicht, wer du bist?«

»Eigentlich war sie ganz nett. Sie fragte, wie es mir geht und so. Das hat sie noch nie.«

»Aber sie hat nichts wegen Weihnachten gesagt.«

Diesmal beugte sich Dan zu Ford hinüber. Der kahl werdende Herr im Gang gegenüber schaute schnell weg. »Ich glaube, sie hat getan, was sie konnte. Sie meinte, ich wüsste ja, dass du Weihnachten nicht nach Hause kämst.« Die Stille neben ihm gefror. Dan sprach weiter. »Ich habe gesagt, so einfach wäre es wohl nicht. Aber ich wüsste, dass du nicht hinfahren wolltest.«

Ford berührte geistesabwesend seine Unterlippe mit dem Ginglas. Dan sprach weiter. »Als Nächstes hat sie gefragt, ob ich wüsste, wo du wärst, und ich antwortete, du kämst mit mir nach Hause.«

Ford setzte das Glas ab, und das Gewicht seiner Hand legte sich auf Dans Arm. »Und sie?«

»Gar nichts. Tat so, als hätte sie es nicht gehört, und sagte, sie hoffte, du würdest zu Weihnachten wenigstens anrufen. Dann hat sie mir ein frohes Fest gewünscht und behauptet, das Hausmädchen würde sie rufen, und das war’s.«

Der Mann auf der anderen Seite des Gangs beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Ford ließ seine Hand liegen und sah den Mann direkt an; der wandte seinen Blick schnell wieder ab. Ford brummte: »Geschieht ihr recht, dass sie es weiß.« Er überlegte. »Ob sie es wohl meinem Vater erzählt?«

Die Frage erforderte keine Antwort. Der junge Mann spielte mit den Fingerspitzen am Ärmel von Dans Pullover herum. Berührungen. Nie zuvor in der Öffentlichkeit. Der Junge im Mann hatte wohl Angst. Der Junge, der zu Weihnachten immer nach Hause gefahren war, nach Savannah, fragte sich wohl, wer sich jetzt um ihn kümmern würde. Jemand muss doch für den Jungen sorgen. Doch wo war der Junge zu finden? Wo sollte man ihn zu fassen kriegen? In diesem großen Körper.

Ford kippte seinen Sitz weiter nach hinten, streckte sich aus, lauschte dem monotonen Heulen der Turbinen. Und bald gab der Flugkapitän bekannt, man werde in wenigen Minuten in Raleigh-Durham landen. Ford warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sagte: »Wir brauchen doch nicht heute Abend zu fahren, oder? Wir holen einfach den Wagen ab und legen uns schlafen.«

»Wie du willst.«

»Das will ich.« Ford drehte sich auf die Seite, zu Dan. Dan dachte, das ist mein Versteck. Diese McKinney-Mauer. Doch irgendetwas gab ihm ein unbehagliches Gefühl. Und so schaute er zum Fenster hinaus, während das Flugzeug sank, und Ford fragte: »Was war das eben?«

»Was?«

»Was du gerade gedacht hast. Das gefiel mir nicht.«

»Nichts«, antwortete Dan. »Ein bisschen Angst.«

»Heb dir die für morgen auf.«

Baumwipfel, Dächer, die sich zum Fenster emporreckten.

»Hey.« Fords Stimme in seinem Ohr, hungrig. »Ich sagte, heb sie dir für morgen auf. Geht das nicht? Heute Nacht brauchst du doch keine Angst zu haben. Stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Nur wir beide. Heute Nacht. Ja?«

»Ja.«

Fords Atem auf seiner Wange. »Wie viele Dans sind da? Jetzt gerade?«

»Einer«, antwortete Dan und sah Ford in die Augen, gerade als die Stewardess um Fords Oberkörper herum nach den beiden Gläsern griff. Sie war deutlich verblüfft über ihre Nähe. »Nur einer«, wiederholte Dan. Und dachte, Zuflucht. Nicht Versteck. Diese Mauer, Ford, war Zuflucht und würde es bleiben. Das hatte nicht gestimmt an dem Gedanken.

Ein übermütiges Lächeln spielte über Fords Gesicht, als er zum Fenster sah, auf die Lichter am Boden, auf die Hand seines Gefährten. Er schwelgte in ungehörigem Verhalten, öffentlicher Annäherung. Und lächelte das neue Lächeln, bis sie gelandet waren.

4

Der Mietwagen war reserviert, Ford kümmerte sich um die Formalitäten, während Dan auf das Gepäck wartete. Eine Zeitung klatschte gegen die Glaswand der Gepäckausgabe, flach gepresst vom scharfen Wind. Das Gepäck rollte so langsam wie erwartet heran, doch selbst nachdem er es bekommen hatte, wartete Dan noch lange an dem verabredeten Ausgang, bis Ford, wieder ganz förmlich in seinem schwarzen Mantel, eine blaue Limousine auf der anderen Seite der Glasscheibe parkte.

Dan ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder, den Geruch von neuem Vinyl in der Nase, und öffnete Ford die Tür. Zwei Herren in mittleren Jahren kamen vorbei, eindeutig Geschäftsleute auf dem Weg nach Hause; hinter ihnen, zögernd, ein einzelner, schlaksiger Mann in ihrem Alter, der in der windigen Nacht verloren wirkte.

Ford schwang sich hinters Steuer, strich sich über die Haare, suchte nach den Schlüsseln. Obwohl er am liebsten den Wagen irgendwo abgestellt und geschlafen hätte, ignorierte er seine Müdigkeit und verließ den Flughafen in Richtung Highway, ein Muster an Disziplin, mit vorgerecktem Kinn.

»Bist du überhaupt wach genug zum Fahren?«, fragte Dan.

»Wenn es nicht so weit ist.« Ford griff in seine Brusttasche und gab Dan einen zusammengefalteten Zettel. »Hier, da haben wir ein Zimmer, wo immer das ist. Unser Freund von der Autovermietung sagt, es liegt an der I-40 Richtung Osten, zwischen hier und Raleigh.«

»Klingt ziemlich schickimicki.«

»Es ist ein Bett zum Schlafen. Und sie haben meine Kreditkartennummer. Lass uns bitte nicht diskutieren, wenn wir ankommen.«

Trotzdem schwang mit, dass er mit einer Auseinandersetzung rechnete, aus Erfahrung. Wie in der Bar des Flughafens beim Hinlegen des Geldes. Doch Dan sagte nur: »Ich hab auch keine Lust zu streiten.«

Die nächtliche Fahrt dauerte lange genug, um sie in einen merkwürdig dämmrigen Zustand zu versetzen, schläfrige Sprachlosigkeit, die anhielt, bis sie auf dem Hotelparkplatz ankamen. Ford erledigte die Anmeldung, Dan trug das Gepäck zwischen zwei Reihen junger Magnolien hindurch in die Eingangshalle, einen weiträumigen, luftigen Käfig aus Glas und Stahl; die Fenster waren vollgehängt mit grünen Kränzen samt roten Schleifen, und kleine weiße Lämpchen umrahmten die Spiegel. Der gebremste Weihnachtsschmuck machte den Raum sogar eine Spur gemütlich. Dan hegte keinen Zweifel, dass diese Sorte Hotel der Mindeststandard war, den die McKinneys niemals unterschritten. Um die Rezeption zu erreichen, überquerte man ein Teppichbodenmeer, vorbei an einer hohen, vollen Douglaskiefer, die ebenfalls mit weißen Lämpchen und mit goldenen Kugeln behängt war. Der Empfang war in strahlendes Licht getaucht. Doch der Doktor hatte der Rezeption schon den Rücken zugekehrt und kreuzte die Halle, knapp am Baum vorbei, »Weihnachten ist die Hölle«, und griff nach seinem Teil des Gepäcks.

Ihr Zimmer lag im dritten Stock, geräumig und pfirsichfarben, gesichtslose Kommoden, Sessel und funktionale Lampen, aber das Bett war McKinney-Format, ein Hektar Matratze unter karierter Tagesdecke. Nur ein Bett, registrierte Dan, und erwischte Ford dabei, wie er ihn verstohlen beobachtete: »Ich habe verlangt, was wir brauchen. Ein Kingsize-Bett.«

»Aha.«

»Bist du stolz auf mich?« Ein ganz kleines Lächeln.

»Allerdings.« Dan setzte sein Gepäck ab. Die Tür schloss sich schützend hinter ihnen. Dan warf seinen Mantel über einen Stuhl. Ford nestelte an den Mantelknöpfen, den Zimmerschlüssel in der Hand. In seinem Gesicht spiegelte sich, wie viel ihm dieser Augenblick bedeutete. »Ich muss das Auto wegfahren. Hast du Hunger?«

»Wenn ich anfange, darüber nachzudenken, bestimmt.«

»Ich schau mal, was es unten gibt.« Aber sie blieben reglos stehen. »Warst du das, im Flugzeug?«, fragte Dan.

»Ja. Das war ich.«

»Und jetzt? Hier?«

»Ja. Gefällt er dir, der neue Ford?«

»Das Einzige, was mir nicht gefällt, ist die Vorstellung, dass du mir noch lieber werden könntest als sowieso schon.«

»Na, dann kann ich ja beruhigt das Auto wegfahren. Leg mir doch was raus, was ich anziehen kann.«

Die Stille, nachdem er draußen war, bot sich als Versteck an. Dan entfaltete sofort Aktivitäten, hievte den teuren Koffer auf einen Sessel und suchte Sachen aus, die das Jungenhafte betonen sollten, schwarze Jeans und ein Sweatshirt von der Uni Chapel Hill, Turnschuhe. Er hängte den Kleidersack in den Schrank und öffnete das Gewirr aus Riemen, Reißverschlüssen und Druckknöpfen, packte aus, was sie für die Nacht brauchten. Ford traf Dan beim Arrangieren von Jacken und Hemden auf Kleiderbügeln an.

Dan berührte die weiche Wolle des Mantels. Ford hielt ganz still, fast ohne zu atmen. Schmale Hände strichen über seine runden Schultern, der schwere Mantel glitt über den kräftigen Rücken. Ford erstattete Bericht: »Unten ist ein Restaurant. Und eine Bar, die haben aber nur Sandwiches. Etwas weiter weg, an der Einfahrt, liegt ein Café, wo es Waffeln gibt.«

»Ich finde bestimmt was im Restaurant, und du?«

»Sowieso.«

Dan zog die Krawatte aus dem Kragen. Ford machte den obersten Hemdknopf auf.

»Musst du im Krankenhaus anrufen?«

»Nicht sofort.«

Dan betrachtete diesen Oberkörper und zeichnete den Umriss der Brust nach. Er wusste, dort drinnen war der kleine Junge und sagte: Such mich. Ford lachte behaglich und kam näher: »Wen haben wir denn da?«

»Danny Crell.«

»Netter Kerl«, sagte Ford. Danach nichts mehr. Er schloss die Arme um seinen Freund. Dan hatte sich gefragt, ob Ford ihn wohl küssen würde – manchmal mochte er das nicht, aber heute tat er es. Jetzt konnte Dan die Verkrampfung spüren, den Schmerz, der tief in seinem Freund steckte, der mit jedem Atemzug aus ihm strömte, ohne nachzulassen. Heute Abend kam der verwirrte Junge zum Vorschein, gegenwärtiger als der Doktor, gegenwärtiger noch als der Freund. Dan berührte ihn im Nacken, übernahm die Führung.

»Ich habe dir was zum Anziehen aufs Bett gelegt.«

Einen Augenblick lang wollte Ford ihn nicht loslassen, hielt sein Gesicht weiter an das andere gepresst. Dann trat er ans Bett und beugte sich über das zusammengelegte Sweatshirt. Als sich Ford wieder umdrehte, die Hand an seinen Hemdknöpfen, starrte er auf den Boden, als wäre der Doktor irgendwo in dieser Kehrtwendung verloren gegangen. Langsam knöpfte er das Hemd auf.

Unter dem weißen Stoff des T-Shirts zeichneten sich Schultern, Brust und Bauchmuskeln ab: Produkt langen Trainings. Ford streckte die Arme und stand da, leise lachend, mit leicht geöffnetem Mund, auffordernd. Der Anblick dieses Körpers beschleunigte Dans Pulsschlag.

Als Ford ihn näher kommen sah, zerrte er das T-Shirt über den Kopf und zog den anderen zu sich heran. Dan schmiegte sich an die warme bloße Brust mit den weichen schwarzen Härchen im Tal zwischen den beiden Muskelflächen und den aufgerichteten, dunklen Brustwarzen. Früher hatte ihn diese Landschaft erschreckt, diese vollkommene Ausprägung McKinney’scher Eigenschaften, unverhüllt durch Kleidung. Und immer noch war er gebannt, wenn er Fords nackten Körper berührte, die Bewegung innerhalb der Bewegung seiner Muskeln verfolgte. Dieser Körper wollte ihn.

Ihre Nähe war von Anfang an hart erkämpft. Immer wieder, wenn sie Brust an Brust dastanden, empfanden sie Frieden an allen Fronten, fast unerwartet. Diese Nähe, die zugelassene Berührung, die Liebe mit den Fingerspitzen, das waren Siege, jedes Mal. »Kein T-Shirt«, flüsterte Ford, »und das bei diesem Wetter«, ließ Dans Hemd fallen und zog ihn an sich. Dans Lachen pustete Ford in den Nacken. Der umschlang den schmaleren Freund mit seinen Armen. Dan fühlte Fords Hände an seinem Rücken hinuntergleiten, in seine Hosen hinein, streichelnd. Die beiden standen da, eine Masse, ein Gleichgewicht.

Der erste, lange Akkord verklang, sie ließen los und schlugen die Augen auf. Hitzige, feuchte Gesichter. Alles sagte, keine Eile, ihr bewegt euch in einer anderen Zeit. »Oh«, stieß Dan leise hervor, »das hast du mit jemand geübt.«

»Stimmt«, sagte Ford, »und es hat doch was gebracht, findest du nicht?« Er strich sich durchs Haar, holte tief Luft.

»Haben wir Kondome da?«

»Dumme Frage.«

Ford gluckste und machte einen Schritt am Koffer vorbei, ohne Ziel, wandte sich wieder um. Sein nackter Oberkörper, bloße Spannung und Bewegung, und der halb aufgerichtete Schwanz, unter dem Stoff der Hose pulsierend.

Dan ließ die Hose zu Boden rutschen und trat aus den Hosenbeinen. Als er mit einem Streicheln die Härchen auf seinen Beinen glättete, fühlte er sich einen Augenblick lang schön. Seine Finger glitten über Ford, hinab bis zur kühlen Schnalle des Gürtels. Ford zuckte zusammen, seine Nasenflügel weiteten sich, als nehme er Witterung auf. Dan kniete nieder und liebkoste Fords Schenkel, die Wölbung seiner Erektion unter dem Stoff, richtete sich, am Körper des anderen entlang, wieder auf, ließ seine Lippen kurz über Brustwarzen und weiche Härchen spielen. Seine Hand schlängelte in Fords Hose, fand den warmen Schwanz und knetete ihn. Ford riss Dan an sich, ihr Atmen wurde schärfer. Sie lehnten sich an die Wand, Fords feuchter Mund an Dans Schlüsselbein, atemlos, dann auflachend, so sacht, wie sein Körper sich bewegte, wie Dan ihn streichelte. Elektrisiert. Schweißgebadet, schaukelnd und drängend, verloren sie sich, die Zeit sprang nurmehr in Herzschlägen und Atemstößen voran. Sie keuchten in ihren Zärtlichkeiten wie spielende Kinder, befreiten sich schließlich von den restlichen Kleidern, erkundeten ungezügelt den Körper des anderen.

Und sie erprobten, nicht länger behutsam zu sein, es nicht länger bei leichter Berührung zu belassen. Sie lagen auf dem Bett. Ford ausgestreckt, die Arme ausgebreitet, einladend, der Schwanz, leicht gebogen in die Luft gereckt. Dan erhob sich über dem anderen, nahm Fords Ständer in die Hand, liebkoste die Spitze langsam und ausgiebig; der Schaft wurde härter, und Ford streckte sich ihm entgegen, lachte das Lachen, das sich nicht einüben lässt. Sie fanden Gleitgel und Kondome, verzögerten und erhitzten sich. Murmellaute der Lust. Neues Terrain, immer noch. Was sie daran erinnerte, warum sie heute Nacht hier waren, warum Ford Dan nicht ein weiteres Mal allein fortlassen wollte über Weihnachten. Für dieses Gefühl, und für das Recht darauf, hatten sie im Feuer beieinandergelegen, Seite an Seite. Heute Nacht bumsten sie wie die Wilden und kamen, und es war gut.

5

Ford hatte sich an Dan gekuschelt, den Kopf an seine Brust geschmiegt. Lange lag er dort, dösend, murmelnd, schließlich wach, mit einem Ruck. Er reckte und streckte sich über Dan hinweg: »Wenn wir nicht gleich das Licht anmachen, schlafe ich ein.«

»Das Restaurant hat bestimmt schon zu, wetten?«

»So spät ist es gar nicht«, sagte Ford, »es fühlt sich bloß so an.«

Nur ungern entwirrten sie ihre Glieder. »Ich muss im Krankenhaus anrufen«, sagte Ford, blieb aber trotzdem liegen. Dan merkte, wie er nach Worten suchte. »Dieses Jahr haben wir es richtig gemacht.«

»Allerdings.«

Die Dusche tat gut. Während Dan sich abtrocknete, hörte er, wie Ford mit Russell Cohen, einem Kollegen, die Behandlung diskutierte. Ein angespanntes Gespräch über Einschnitte und Drainagen. Morgen sollte bei dem Kind eine zweite Computertomografie des Kopfes vorgenommen werden.

»Ein Glück, dass Russell Dienst hat«, meinte Ford nachher. »Der Junge ist okay. Nicht berauschend im Augenblick, aber okay.« Er stellte das Telefon weg. »Ich sollte nicht davon reden.«

»Mich stört es nicht.«

»Das hat mein Vater immer mit Mutter gemacht, seine Fälle erörtern.« Ford griff nach den schwarzen Jeans. Das Sweatshirt behielt er in der Hand. »Hast du meinen neuen Seidenpulli eingepackt?«

Den hatte Dan ihm geschenkt. Ford streifte das weiche Blassblau über. »Was hast du eigentlich mit den Katzen gemacht?«

»Beim Tierarzt in Pension gegeben.«

Ford setzte sich hin, um seine Turnschuhe zuzubinden. »Ich verstehe nicht, warum du nicht einfach was zu fressen für sie stehen lassen kannst.«

Hätte es die Katzen nicht gegeben, wäre Dan schon sechs Monate früher in Fords Haus in Druid Hills eingezogen, jedenfalls behauptete Ford das.

»Beim Tierarzt sind sie sicherer.«

»Und was kostet das?«, fragte Ford, als er seine Brieftasche einsteckte.

»Nicht viel.« Kleine Schärfe im Ton. »Das kann ich mir leisten.«

Schweigen. Ford schlang seine Arme um Dan und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich kann’s mir auch leisten. Das meinte ich doch gar nicht.«

Die Wärme des Körpers, die Dan umhüllte, erinnerte ihn daran, dass er laut Verabredung in Sicherheit war. »Einen Zehner die Nacht«, antwortete er. »Sie sitzen in einem Käfig.«

Die einsame Kellnerin lud sie, mit einem schweifenden Blick über die leeren Tischreihen, ein, sich ihren Lieblingsplatz im Restaurant selbst auszusuchen. Ford entschied sich für einen Tisch am Fenster, wo der Wind gegen die große Glasscheibe anblies, durch die Baumwipfel peitschend. Unter ihnen, im Golfstrom des Highways, strömte der Verkehr gemächlich dahin. »Wir müssen in der Nähe von Raleigh sein«, meinte Dan.

»Am Stadtrand.« Ford lehnte sich zurück und rieb sich unter der Seide den Bauch. »Wie lange fahren wir von hier?«

»Drei Stunden ungefähr.« Dan schlug die Speisekarte auf.

»Wir könnten ausschlafen.«

Dan hörte es kaum. Der Gedanke an das, was drei Stunden entfernt lag, traf ihn wie ein kalter Schlag. Morgen fahren wir zum Haus meiner Mutter. Morgen. Dan suchte nach etwas Ablenkendem und nahm sein Wasserglas zu Hilfe.

Bald war die gertenschlanke Kellnerin zurück, und Ford bestellte sein Abendessen. Marlene mit der komplizierten Frisur – gebürstet, geliert, gesprayt und glasiert – schrieb langsam und verschaffte Dan auf diese Weise genügend Zeit, selbst auszuwählen. Nach einigen Erläuterungen zu den Salatsoßen stach Marlene wieder in See, die Frisur im Kielwasser.

Dan gefiel, wie die Seide Fords Oberkörper betonte; die Ärmel waren über die Ellbogen hochgeschoben und legten lange, haarige Unterarme frei. Einen Augenblick lang tauchte die Vision dieses großen McKinney im Haus seiner Mutter wieder auf, lebhaft. Winzige Zimmer, einfache Stühle.

Doch er hatte versprochen, bis morgen nicht daran zu denken. Die Belohnung für diesen stoischen Aufschub saß unübersehbar im Seidenpulli vor ihm. Und sagte: »Einer der Jungs auf Station hat heute von dir gesprochen.«

»Ach ja?«

»Die Schwestern haben ihn mitgenommen, um dich singen zu hören. Beim Weihnachtskonzert. Es hat ihm sehr gut gefallen.«

»Ich hatte das Gefühl, es klang fürchterlich.« Dan freute sich trotzdem.

»Die Krankenschwestern haben gesagt, du hättest gut gesungen. Ich hatte ein so schlechtes Gewissen, dass ich es nicht mehr geschafft habe.«

»Dafür konntest du doch nichts.«

»Aber da habe ich dich zum ersten Mal gesehen. Vor Ewigkeiten, als ich noch Student war. Kaum zu glauben, dass das drei Jahre her ist.« Das historische Datum, das sich am Silvesterabend zum zweiten Mal jähren würde, hatte erst recht keiner von ihnen erwähnt: ihre erste gemeinsame Nacht, ein Jahr später. »Du hast ›God Rest Ye Merry Gentlemen‹ gesungen. A cappella. Aber alles in Moll. So einen traurigen Klang hatte ich noch nie gehört. Du bist mir unter die Haut gegangen.« Das kam mit einem Gesichtsausdruck tiefen Schmollens. Etwas darunter versuchte, an die Oberfläche zu kommen. »Ich glaube, schon an dem Tag habe ich etwas über dich begriffen.«

»Was denn?«

»Es hat damit zu tun, wo du herkommst. Was du leisten kannst. Meine Leute könnten sich nie da hinstellen und eine neue Melodie für ein Lied erfinden, wie du es getan hast. Wir hätten es sauber vom Blatt gesungen. Aber du hast etwas genommen, das ich mein Leben lang kannte, und hast etwas Neues daraus gemacht. Niemand, den ich kannte, konnte so was. Deshalb habe ich mich an dich erinnert.«

Es hat damit zu tun, wo du herkommst. Der Satz hallte nach, als Marlene das Abendessen servierte. Ford faltete seine Serviette mit beiläufiger Präzision auseinander und hielt beim Essen seine Ellbogen in tadelloser Position. In solchen Momenten fühlte sich Dan wie eine schlechte Imitation. Trotz des Kompliments hatte er das Gegenteil gehört. Es gab so viele Dinge, die Ford und seine Familie nicht tun konnten, nicht tun wollten. Man wusste doch nie, wann man übereinanderstolpern würde.

Doch heute Abend beunruhigte ihn selbst dieser Gedanke kaum. Sie aßen ihren Salat und tranken ihr Mineralwasser. Zufrieden. »Ich wünschte, ich wüsste, warum es manchmal so leicht ist. Sich so nahe zu sein.«

»Für uns sollte es leicht sein«, meinte Ford, »nach zwei Jahren.«

»Für meine Eltern war es nach achtzehn Jahren nicht leicht.«

Ford schob seinen Salatteller in die Mitte des Tisches. »Wir sind nicht deine Eltern. Oder meine. Außerdem«, jetzt ganz vorsichtig, »bin ich auch nicht Ross. Ich bin kein bisschen wie er. Und es würde mich sehr wundern, wenn ich es jemals würde.«

Dan unterdrückte die körperliche Reaktion, die dieser Name augenblicklich in ihm hervorrief. »Du weißt überhaupt nichts von Ross.« Nonchalant Salat aufspießend.

»Deine Mutter und ich haben einmal von ihm gesprochen, am Telefon. Sie hat mir genug erzählt, dass ich verstehen konnte, warum du nicht über ihn sprichst. Sie sagte, er hätte sie an deinen Vater erinnert. Und du hättest ihr genau das auch mal gesagt. Sie meinte, sie wäre froh gewesen, als du dich von ihm getrennt hättest.«

Es dauerte einen Moment, bis Dan antwortete. »Du bist erstaunlich.«

»Warum? Weil deine Mutter mit mir redet? Sie ist erstaunlich. Du siehst ja, wie meine Mutter dich behandelt.«

»Nun gut, dann wollen wir mal festhalten, dass ich nicht finde, dass du Ross oder meinem Vater auch nur ein bisschen ähnelst. Abgesehen davon, dass sie beide groß und gut aussehend waren.«

Ford errötete und lachte. »Die Gemeinsamkeit macht mir wohl nichts aus.« Er blickte hinaus. Wind in den Bäumen. Luft, die Luft bewegte. »Ich wünschte, ich fühlte mich immer so«, setzte er wieder an. »Ich möchte Ford sein, wenn ich bei dir bin. Nicht der Doktor, nicht Ross, nicht dein Vater. Nur Ford.«

Dan brachte es nicht fertig, seinem Freund in die Augen zu sehen, und studierte stattdessen, wie das Öl von einem ganz bestimmten Salatblatt auf den eckigen Salatteller herabtropfte. Schließlich sagte er: »Jetzt bist du auch Ford.«

»Ich weiß. Und oben im Zimmer war ich Ford. Und auf dem Flug die ganze Zeit. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl.«

»Weißt du, warum ich manchmal Angst vor dir habe? Es liegt an deiner Familie.«

Fords Kiefer rückte in eine störrische Haltung. »Meine Familie kann uns überhaupt nichts anhaben.«

»Doch. Natürlich kann sie das. Wenn sie ihre Meinung über mich nicht ändert. Es tut dir auch jetzt weh, an diesem Weihnachtsfest.«

Wie recht er hatte, war unübersehbar in Fords Zügen. Schweigend saßen sie da, während die wundersame Marlene die Hauptspeisen brachte, garniert mit einer Entschuldigung für die Verspätung: Der Koch sei an Feiertagen lustlos. Als sie weg war, sagte Ford: »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wirklich nicht. Was du und ich miteinander tun, ist einfach nicht Teil ihrer Welt.«

Es hat damit zu tun, wo du herkommst. »Es wird wohl nicht viel geben, das dich und mich verändern könnte, wenn wir nicht verändert werden wollen. Das habe ich bisher noch nie von jemandem sagen können. Ich habe es jedenfalls noch nie gesagt. Aber wir kommen aus so unterschiedlichen Familien.«

»Ach, und das heißt, eines Tages werden wir auch etwas anderes wollen? Ich heirate zum Beispiel eines dieser Mädchen aus Savannah, von denen mein Vater andauernd redet?«

»Ich weiß nicht, was es heißt. Ich sage es nur.«

»Dan, du machst da zu viel draus. Mein Vater ist reich, klar, meine Familie hat Geld, klar. Jetzt, wo mein Großvater gestorben ist, habe ich auch Geld. Aber das heißt doch nicht, dass ich einen Blick auf das Haus deiner Mutter werfe und schreiend die Flucht ergreife.«

»Es ist kein Haus. Es ist ein Wohnwagen. Sie haben was angebaut, ein paar Zimmer und eine kleine Terrasse. Aber es ist ein Wohnwagen.«

»Na und?«

Dan spürte, wie er rot wurde. Ford beobachtete ihn aufmerksam. Dan sagte: »Ich glaube, das ist es. Ich glaube, ich habe Angst, du wirfst einen Blick auf meine Familie und bist im Nu über alle Berge. Oder auf hoher See. Oder im Hinterland oder wo.«

»Das werde ich nicht tun. Kindskopf.«

6

Während der Fahrt im Aufzug lehnte sich Ford an Dan und schloss die Augen. Dan führte ihn bei der Hand durch den leeren Korridor, angelte den Zimmerschlüssel aus seiner Tasche. Ford stolperte dramatisch zum Bett und ließ sich quer darüberfallen. Das Schlafbedürfnis des Doktors war seit je ein beliebter Anlass für Witze zwischen ihnen. Im Krankenhaus kam er kaum zur Ruhe, auch nicht bei Schichten von zweiunddreißig oder achtundvierzig Stunden; wenn er zu Hause war, schlief er fast nur. Dan setzte sich neben Ford, beobachtete ihn, lauschte den Veränderungen seines Atems; bald würde er einschlafen. Dan machte Ford die Schuhe auf, und Ford rührte sich mit einem Murmeln. Dan zog ihn mit eingeübten Bewegungen aus. Mit blinzelnden grauen Augen murmelte Ford Gute Nacht, eine Entschuldigung, eine Liebkosung, und legte seine Hände einen kurzen Augenblick lang auf die Schultern des Freundes. Dan las noch eine Weile. Als Fords Atem das Gleichmaß eines Wellengangs erreicht hatte, legte sich Dan zu ihm.

Im Dunkel des frühen Morgens, aus dem Tiefschlaf erwacht, hörte Dan, wie Ford gedämpft mit Russell telefonierte, der immer noch Dienst hatte. Fords Stimme, kühl und klar, verriet nichts von seiner Müdigkeit. Der Junge hatte eine beträchtliche Menge Blut verloren. Dan konnte nicht alles verstehen, was gesagt wurde, aber er hatte ein Gefühl, dass dieses Kind Bluter war und Ford sich auch deshalb solche Sorgen machte.

»Alles in Ordnung?«

»Der Junge hat eine schlimme Nacht gehabt. Aber Russell sagt, er schafft es.«

Dan schloss die Augen und kehrte in das Land der Schatten zurück, die friedliche Wärme und Nähe lullten ihn wieder ein, fort aus der Welt von 8:37 morgens. Während es draußen dämmerte, dösten sie in den Tag hinein, die ungewohnte Ruhe genießend, ohne Wecker. Vormittage im Bett waren selten. Dan ließ sich treiben, mal träumend, mal halbwach; zuweilen war er sicher, in Fords Haus zu sein, wo der kranke Junge weinte, ganz in der Nähe, in einem Zimmer, das er noch nie gesehen hatte und nicht finden konnte, obwohl er das Kind deutlich hörte; in diesem Halbschlaftraum war er selbst es, Dan, der blutete und seine Spritze brauchte, doch Ford war schon ins Krankenhaus aufgebrochen …

Bald sank Dan tiefer ins Reich der Träume.

Die Bilder wurden lebhafter, deutlicher. Er stand in Fords Haus, wartend, kurz nach Sonnenaufgang, und der Junge weinte. Aus seiner hellen Stimme klang hohle Kälte und Einsamkeit, ein Vibrieren, immer wieder abgerissen durch leise Schluchzer. Auf der Arbeitsplatte in der Küche lagen die Apparaturen eines Bluters, die Ampullen mit Gerinnungsmitteln, Spritzen, Alkoholtupfer, Butterflykanülen, eine Abbindemanschette – für den Jungen? Für Dan?

Das Schluchzen ließ nicht nach, und Dan durchsuchte das ganze Haus, folgte dem Klang der Stimme. Eine Zeit lang vermutete er, es sei sein Bruder Grove; plötzlich war er sich sicher, es sei Ford; dann Ross; schließlich war er überzeugt, er selbst sei es, der irgendwo weinte, ein kleinerer, jüngerer Danny, und Dan der Ältere müsse ihn finden. Doch der Junge und sein Weinen waren immer im nächsten Raum, und Dan irrte von Zimmer zu Zimmer durch das kinderleere Haus.

Endlich wachte er auf. Große Arme umschlangen seine Hüften, und etwas Vertrautes, Fleischiges presste sich gegen seinen Rücken. Keine Worte. Aber der weiche, langsame Druck von Fords Schenkeln gegen Dans Rücken machte deutlich genug, dass Dan heute nicht zusehen musste, wie Fords Morgenständer im Badezimmer verschwand, ein Opfer des krankenhäuslichen Dienstplans.

Die beiden frühstückten am selben Tisch im Restaurant, belgische Waffeln und Kaffee, und fragten sich, wie Marlenes Frisur wohl die Nacht überstanden hatte. Doch die Frühstücksschicht war mit einem matten koreanischen Teenager unter einem glänzenden Pagenschnitt besetzt.

»Hast du deine Medikamente eingepackt?«, fragte Ford bei der zweiten Tasse Kaffee. »Ich habe sie im Koffer nicht gesehen.«

»Sie sind in einem Extrakoffer«, sagte Dan. »Im Schrank. Warum?«

»Nur um sicherzugehen«, meinte Ford.

Auf dem Highway wimmelte der Verkehr, Automobile aller Farbschattierungen und Marken verschmolzen zu gleichen Stromlinien, wanden sich innerhalb der Asphaltgrenzen der Autobahn, nur hochglanzpoliert, nicht mehr durchströmt von leuchtenden magischen Lichtflüssen wie in der Nacht. Ford war voll morgendlicher Ruhe, ein lässiger junger Mann in Jeans und Sweatshirt. Das war der richtige Ford für die erste Begegnung mit seiner Mutter. Er hatte noch einmal im Krankenhaus angerufen, was er Dan verschwiegen hatte, aber Dan wusste es trotzdem. Der kranke Junge hatte die Nacht überlebt.

Ford
7

Östlich von Raleigh waren sie unterwegs, ihr Wagen rollte wie schwerelos durch das flache Farmland mit seinen armseligen Bauernhäusern und winterkargen Kiefernwäldchen. Doch Ford kam es so vor, als läge Savannah am Ende dieser Reise, nicht Wickham in North Carolina und Dans Familie. Die ebene, spröde Landschaft erinnerte ihn an das Revier seiner eigenen Kinderjahre. Über ihnen gleißte weiß und kahl der Winterhimmel, die Morgensonne darin ein sengendes Zyklopenauge, in das der Wagen sich kopfüber bohrte. Am Straßenrand, hinter den schmucklosen, Fast-Food-übersäten Vorstädten von Raleigh, standen die Indizien des untergegangenen Handels früherer Generationen – die kleinen hölzernen Läden an den Straßenkreuzungen, befleckt mit gemalten Pepsi-Cola-Werbungen; die allgegenwärtigen, verrosteten Schilder der Quaker-State-Ölgesellschaft, nahezu verschwunden hinter braunem Unkraut; hölzerne Scheunen zum Tabakbeizen, die sich halb verrottet über die ordentlichen, metallischen Silos neigten, durch die sie ersetzt worden waren. Das stille Land erzählte Ford mehr von Kargheit als von Frieden. Während er das Auto immer tiefer in die Wälder des Ostens steuerte, behielt er Dan im Auge.