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Jim Grimsley
Dreamboy

Aus dem Amerikanischen
von Frank Heibert

Edition diá

 

 

Über dieses Buch

Der heranwachsende Nathan ist mit seinen Eltern nach unendlich vielen Umzügen in einem kleinen Nest im amerikanischen Süden gelandet. Die fromme Familienidylle ist nur Fassade. Nathans Vater, ein Alkoholiker, neigt zu Gewalttätigkeit; die hilflose Mutter verschließt davor die Augen. In dieser ausweglos und dumpf erscheinenden, für den sensiblen Nathan kaum zu verkraftenden Atmosphäre sehnt er sich nach dem um zwei Jahre älteren Nachbarssohn Roy, dessen Blicke, dessen Hilfsbereitschaft ihm auch dessen heimliche Zuneigung zu verraten scheinen. Aber Nathan ist sich seiner Sache nie sicher. Die Bedrohung durch seinen Vater wird schließlich so stark, dass er sich versteckt halten muss. Roy bietet ihm in einer Scheune »Asyl« an. Bei einem Ausflug mit Freunden entlädt sich die Anspannung in einem Ausbruch von Liebe und Gewalt.

»Dream Boy« wurde 2008 von James Bolton verfilmt und auf der Berlinale uraufgeführt.

»Hier spricht Amerika mit einer Stimme, die bei uns selten vernommen wird.« (Der Tagesspiegel)

Der Autor

Jim Grimsley, geboren 1955 in Pollocksville, North Carolina, schreibt Prosa und Theater. Seit den 80er-Jahren entstanden zahlreiche Theaterstücke (veröffentlicht im Sammelband »Mr. Universe and Other Plays«, Algonquin Books 1998), seit den 90er-Jahren schrieb er, nach seinem aufsehenerregenden Debüt »Wintervögel«, sechs Romane, zuletzt »Forgiveness« (University of Texas Press 2007) und den Erzählband »Jesus Is Sending You This Message« (Alyson Books, 2008), außerdem drei Fantasyromane (2000–2006). Werke von Grimsley wurden ins Deutsche, Französische, Spanische, Portugiesische, Niederländische, Hebräische und Japanische übersetzt. Zu den zahlreichen Literatur- und Theaterpreisen, die er in den USA und Europa erhielt, gehören vor allem der Lila Wallace/Reader’s Digest Writers Award für sein Gesamtwerk (1997) und der Academy Award in Literature von der American Academy of Arts and Letters (2005). Jim Grimsley lebt seit Langem in Atlanta, Georgia, und unterrichtet Creative Writing an der dortigen Emory University.

Der Übersetzer

Frank Heibert, geboren 1960, übersetzt vor allem aus dem Englischen und Französischen, u. a. Don DeLillo, Richard Ford, Lorrie Moore, Tobias Wolff, Neil Labute und, zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel, Yasmina Reza. 2006 erschien sein erster Roman »Kombizangen«. 2012 erhielt er den Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis für sein Gesamtwerk.

Berlin 1993

Für Frank Heibert

 

 

I

Am Sonntag spricht der Prediger John Roberts in der neuen Kirche von dem Jünger, den Jesus liebte. Er heißt Johannes, trägt also im Grunde den gleichen Namen wie der Prediger. John Roberts erzählt, wie beim letzten Abendmahl Johannes seinen Kopf zärtlich an Jesu Brust gelegt hat, er sagt, wir wissen nicht, warum die Heilige Schrift auf diesen Jünger hinweist, wir wissen nicht, warum an dieser Stelle des Evangeliums eigens erwähnt wird, dass Jesus Johannes liebte. Der Prediger umklammert den Rand der Kanzel und lässt seinen Blick verzückt durch die Luft schweifen, hoch über den Köpfen der Gemeinde, als könne er dort den Heiland sehen. Seine Stimme schwillt zu heiligem Donner, und beim Zuhören lehnt sich Nathans Vater in seiner Bank nach vorn, in den Augen schimmert eine Vision Gottes. Er denkt an Erlösung und Höllenfeuer und den Geschmack von Whiskey.

Nathans Mutter denkt an den Körper Christi und die Flügel der Engel. In der Sicherheit, in den heiligen Mauern der Kirche wird ihr leicht ums Herz. Dunkles Haar umrahmt ihr hübsches ovales Gesicht. Licht von den Buntglasfenstern tönt ihre Haut.

Nathan denkt an den Körper des Nachbarjungen, das ist der Sohn des Farmers, dem das Haus gehört, das Nathans Eltern drei Wochen zuvor gemietet haben. Jesus hat ein Gesicht wie dieser Junge, ein heiteres Lächeln mit Grübchen, eine etwas zu große Nase und die gleichen starken, glatten Arme.

Prediger John Roberts sagt: »Wir wollen beten«, und Nathan senkt den Kopf wie alle anderen. Mit geschlossenen Augen stellt er sich seine Familie vor, Vater, Mutter und Sohn, ordentlich in der Kirchenbank aufgereiht. Das Gebet bedeutet, dass die Predigt zu Ende ist, und die Spannung in Nathans Unterleib lässt ein wenig nach. Der erste Tag in der neuen Kirche ist vorüber. Jetzt können sie alle aufhören zu starren. Dad rutscht ruhelos auf der Bank herum, als hätte er dasselbe gedacht. Mom seufzt, sie träumt von einem Sonntagmorgen, der niemals zu Ende geht.

Nathan stellt sich Jesu Hände vor, ausgestreckt am Holz des Kreuzes, feingliedrig und weich erwarten sie den Druck der Nägel, das erste Hervorschießen des Blutes.

Am Ende des Gottesdienstes steht der Prediger an der Tür und schüttelt den nach Hause ziehenden Gläubigen die Hand. Nathan und seine Eltern reihen sich in die Warteschlange ein. Verschiedene Kirchgänger heißen sie in der Gemeinde willkommen, wie schön, dass Sie bei uns sind, kommen Sie auch bald wieder, unsere Gemeinde wird Ihnen gefallen, wir haben gute Leute dabei. Dad ist schon zum Gebetskreis der Männer eingeladen worden, immer dienstags abends, und zum Frühstück beim Dekan am Samstagmorgen. Das wird sich hübsch zur Betrunde am Mittwoch, zum Baptistenunterricht am Sonntagabend und zum Donnerstagstreffen der Rotarier fügen.

Nach der Kirche, während sie wortlos in dem altersschwachen Buick aus der Stadt Potter’s Lake hinausfahren, ist Nathan voll atemloser Erwartung. Diesmal haben sie ein Haus auf dem Land, ein Farmhaus, das neben einem etwas moderneren Neubau am Ende eines Feldweges steht, nicht weit von dem Wald, den die Leute hier den alten Kennicutt-Wald nennen. Haus und Hof sind sauber und gepflegt, und zu der Farm gehören noch ein Weiher, eine Wiese und ein Apfelgarten. Die Farmerfamilie, Todd und Bette Connelly und ihr Sohn Roy, wohnt in dem neuen Haus nebenan. Sie sind auch aus der Kirche zurück, und Roy hat seine Sonntagskleider schon ausgezogen und steht auf dem Hof, mit dem Gartenschlauch spritzt er an der Scheune den Lehm von seinen Gummistiefeln. Auf seinem weißen T-Shirt sind rote Lehmflecken, es sieht aus wie verschmiertes getrocknetes Blut. Nathan versucht, nicht hinzustarren, aber Roy ist zwei Jahre älter und genießt überdies das Prestige, den Schulbus zu fahren und zur Baseballmannschaft zu gehören. Roy fängt seinen Blick auf. Er zögert einen Moment lang, als hätte auch er auf ein Zeichen gewartet, um etwas zu sagen. Zum Gruß nickt er.

Nach dem Sonntagsessen trinkt Dad den ganzen Nachmittag lang Moonshine Whiskey und liest im Alten Testament, im Buch der Könige und der Chronik. Er verhält sich immer still, wenn sie in eine neue Stadt ziehen. Nathan kann sich heute in Ruhe hinlegen. Mom leistet Dad in dem schattigen Wohnzimmer auf der Vorderseite des Hauses Gesellschaft. Sie stickt in Petit Point das Bekenntnis der Alkoholiker auf cremefarbenen Stoff, um den Fuß jedes Buchstabens rankt sich zur Verzierung ein Veilchen. Während sie die Nadel durch den Stoff in dem kreisrunden Rahmen sticht, behält sie Dad im Auge. Wenn Nathan vorbeikommt, schenkt sie ihm ein blasses Lächeln. Er erwidert es. Aber dann kommt immer der Augenblick, wenn sie ihm nicht länger in die Augen sehen kann. In ihrem Körbchen sucht sie nach neuem Faden. Nathan geht schweigend die schmale Stiege hinauf.

Sein Zimmer in dem neuen Haus wirkt luftig und geräumig nach den Zimmern, in denen er bisher gelebt hat. Große Fenster gehen zum Haus der Connellys hinaus, über die hohe Ligusterhecke hinweg. Eine Gestalt am Fenster im ersten Stock zieht Nathans Blick auf sich.

Da steht Roy. Vielleicht ist das sein Zimmer, wo ihm die blassen Vorhänge bis zur Schulter reichen. Er hat das schmutzige T-Shirt ausgezogen und sich an den Fensterrahmen gelehnt. Ein Lächeln liegt auf seinem Gesicht, in seinen Augen eine gewisse Selbstsicherheit, als wüsste er, dass ihn jemand beobachtet. Mit hinter dem Kopf gebeugtem Arm steht er in Positur. Nach einer Weile tritt er vom Fenster zurück. Aber Nathan wartet weiter, könnte ja sein, dass er zurückkommt.

Genauso hat ihn Roy schon seit einiger Zeit beobachtet. Anfangs dachte Nathan, er würde sich das einbilden. Am ersten Morgen im Schulbus fand er es ungewöhnlich, dass Roy ihn im Übersichtsspiegel musterte. Sie hatten gerade mal Guten Morgen gesagt, Nathan war zum ersten Mal in den Bus gestiegen, und doch saß Roy da und beobachtete ihn.

Manchmal erinnert Roys Blick Nathan an seinen eigenen Vater, an den Blick seines Vaters, aber daran will Nathan lieber nicht denken und schiebt den Gedanken beiseite, bevor er noch richtig begonnen hat.

An dem Montagmorgen nach diesem ersten Kirchgang entrollt der Himmel eine graue Plane über dem flachen Land, Dunst hängt über den Feldern hinter dem Haus der Connellys. Nathan wacht früh auf und tritt ans Fenster. Das leicht geöffnete Schiebefenster lässt frische Morgenluft herein. Gelbes Licht brennt in Roys Zimmer. Im Hof parkt der Schulbus unter einem Nussbaum, braunes Laub fliegt über die orangefarbene Motorhaube. Nathan zieht sich sorgfältig an, streift ein frisches Hemd über seinen blassen Oberkörper, knöpft es zögernd zu, bleibt am Fenster stehen, damit er das andere Fenster im Blick behält. Ab und zu streift Roys Schatten über die sichtbare Wand.

Nach dem Frühstück geht Nathan schnell zu dem Bus. Roy wartet auf dem Fahrersitz, mürrisch und wachsam. Zum ersten Mal sagt er etwas, das über einen heiseren Gruß hinausgeht: »Gut, dass du früh kommst, ich fahre gern etwas früher ab als nötig.« Er errötet und schließt die Tür, während Nathan sich auf dem Sitz hinter ihm niederlässt. Es ist, als würde Nathan durch Roys Stimme auf diesen Sitz gepresst. Still hocken sie da, und Nathan betrachtet Roys Hinterkopf. Eine rote Linie zeichnet sich oberhalb von Roys Kragen ab, dann verebbt sie. Etwas ist geschehen; Nathan fragt sich, was wohl.

Er hat so ein Gefühl, als wäre da noch etwas. Eine verborgene Bewegung steckt in Roy, als würden Worte in seinem Hals aufsteigen und wieder versinken. Er lässt den Motor aufheulen und überprüft das Spiel der Gangschaltung. Dann ein fast sichtbares Kapitulieren. Er gibt es auf, nach Worten zu ringen, dreht sich um und schaut Nathan an, schaut ihn einfach nur an.

»Was ist?«, fragt Nathan.

»Nichts.« Er wendet sich hastig wieder um und manövriert den ächzenden, rumpelnden Bus vom Hof.

Die frühmorgendliche Fahrt verläuft still. An dem Feldweg namens Poke’s Road, der von dem Hof wegführt, wohnen keine Familien mehr. Auch als andere Kinder zusteigen, beobachtet Nathan Roy weiter, den Schwung seiner Schultern und die Säule seines Nackens. Roy steuert den Bus ordentlich über seine verschlungene Route. An der Schule steigt Nathan als Letzter aus. Roy fegt schon den langen Mittelgang.

Die neue Schule ist gewöhnungsbedürftig, wie immer. Seit das Winterhalbjahr begonnen hat, ist es schon seine zweite, aber Mom sagt, hier werden sie eine Weile bleiben. Diesmal hat Dad mir was versprochen, sagt sie. Nathan hat sich ans viele Umziehen gewöhnt und glaubt nicht daran, dass es diesmal anders wird. Also ist er wieder mal der Neue in der Schule, der hellwach an den verschiedenen Tischen in den verschiedenen Klassenzimmern sitzt und auf die üblichen Fragen antwortet. Wir haben früher in Rose Hill gewohnt, dann hat mein Dad einen Job gefunden, wo er viel unterwegs ist, er ist Vertreter für Landwirtschaftsmaschinen, er arbeitet jetzt in Gibsonville. Wir wohnen an der Poke’s Road bei Potter’s Lake. Wir sind Roys Nachbarn.

Er bleibt gelassen. Schon gibt es einzelne Gesichter, die er in den verschiedenen Klassen wiedererkennt. Einige von ihnen haben schon von den Lehrern gehört, die es wiederum von den Beratungslehrern haben, dass Nathan in Rose Hill die neunte Klasse übersprungen hat. Dass Nathan sehr klug ist. Der morgendliche Unterricht vergeht schnell, doch dann kommt das Mittagessen, das ist nicht so leicht. Er hat bisher an einem Tisch mit Kindern gegessen, die er im Spanischunterricht kennengelernt hat. Nathan ist sich nicht sicher, ob er dort gern gesehen ist, aber zumindest vergraulen sie ihn nicht. Doch beim heutigen Mittagessen, als Nathan mit seinem Tablett auf den Tisch zusteuert, taucht plötzlich am anderen Ende des Speisesaals Roy auf.

Ruhig setzt sich Nathan hin. Roy spaziert mit seinem Essenstablett auf denselben Tisch zu. Mit unruhigem Stirnrunzeln mustert er den restlichen Speisesaal, als wäre er überfüllt. Etwas verwirrt folgen ihm Burke und Randy, das ist nicht ihr übliches Revier. Roy schlüpft auf einen Stuhl, Nathan gegenüber, aber schräg versetzt; die anderen beiden folgen ihm. Roy wirft Nathan einen Blick zu, als hätte er ihn erst jetzt entdeckt: »Hey, Nathan.«

Seine Anwesenheit ist überraschend für die aus dem Spanischkurs. Roy geht in die zwölfte Klasse und ist normalerweise bei den anderen Älteren zu finden, die auf dem Raucherhof rauchen, wie Burke und Randy, die gerade über Josephine Carson und den schwarzen Schnurrbart auf ihrer Oberlippe herziehen, vom anderen Ende des Raumes deutlich zu sehen. Als Roy lacht, wird Nathan bei dem tiefen Klang seiner Stimme ganz scheu. In dem wässrigen Licht des Speisesaals wirkt Roys Gesicht voll und kräftig, seine Nase scheint fast genau die richtigen Proportionen zu haben. Er widmet sich weiter seinem Essen mit feierlichem Ernst. Nathan fummelt mit seiner Gabel herum. »Gefällt dir euer neues Haus?«, fragt Roy.

»Es ist schön. Ich habe den ganzen ersten Stock für mich.«

»Früher haben wir dort gewohnt. In dem Zimmer, was du gekriegt hast, hab ich früher geschlafen. Dann hat Dad uns ein neues Haus gebaut.« Ganz hinten in Roys Augen rührt sich etwas Unbehagliches. Tiefernst starrt er das unterteilte Plastiktablett an.

Durch diese Bemerkung hat Roy Nathan irgendwie in die Gruppe seiner Freunde aufgenommen. Burke mustert Nathan, als frage er sich, wer das wohl sein soll, bleibt aber weiterhin kommentarlos neben ihm sitzen, auf plumpe Ellbogen gestützt. Die Jungen reden, während Nathan zuhört, von ihrem Wochenende im Angelcamp am Catfish Lake, wo viele von der Highschool hinfahren, um mit ihren Freundinnen zu knutschen oder sich volllaufen zu lassen. Letzten Samstag hat Burke zu viel Bier getrunken, sich alle Kleider vom Leib gerissen und ist dann juchzend und kreischend am Seeufer entlanggerannt.

»Bist du gerne besoffen, Nathan?«, fragt Roy.

»Nicht besonders.«

»Weil du jünger bist als wir«, stellt Roy fest. »Ich mag es auch nicht sehr. Ich kriege einen dicken Kopf davon.«

»Red nicht solche Scheiße«, sagt Burke.

»Nee, ich mein’s ernst. Ein bisschen trinke ich schon, aber ich fahr nicht drauf ab.«

Nathan isst zu Ende und steht auf. Auch Roy hat sein Tablett abgegessen, dann schiebt er es weg und streckt sich. Wie zufällig folgt er Nathan mit seinem Tablett zu der Durchreiche zur Spülküche.

Dort verkündet Roy, dass er eine rauchen will. Das sagt er so, als hätte er Nathan schon immer mit einbezogen. Hinter ihnen haben Randy und Burke Mühe, Schritt zu halten.

Im Raucherhof spricht der pummelige blonde Randy Nathan vertraulich an. Burke bleibt im Hintergrund, als ob er gar nicht richtig bemerkt, dass Nathan überhaupt dabei ist. Ein paar der Mädchen im Hof scheinen vor allem Roy im Auge zu haben, aber er zeigt an keinem von ihnen besonderes Interesse. Roy ist dafür berühmt, dass er eine Freundin von einer anderen Highschool hat, was für einen Jungen in seinem Alter den Inbegriff von Weltgewandtheit darstellt. Er steckt sich eine Zigarette an, wobei er einen Fuß auf die Kante des runden Blumenkübels aus Ziegelsteinen stellt, der vor Zigarettenstummeln überquillt. Dass er raucht, macht ihn härter, verschlossener in Nathans Augen, der danebensteht und so zu tun versucht, als gehöre er dazu. Frischer Wind fegt über die Felder und trägt dünne Erdschichten ab. Roy steht inmitten seiner Freunde; jetzt reden sie von der Rotwildsaison. Burkes Vater hat ihm ein neues Gewehr gekauft, eine Marlin 30-30. Roy hat ein anderes Modell. Beiläufig erörtern sie Vor- und Nachteile der Waffen. Sie sprechen davon, in den Kennicutt-Wald zelten zu gehen. Nichts in diesem Gespräch schließt Nathan ein, der kein Gewehr besitzt, nicht auf die Pirsch geht. Doch mit einem gelegentlichen Seitenblick sorgt Roy dafür, dass Nathan dabeibleibt, ohne Erklärung.

Als Nathan beim Mittagsgong den Schulhof verlässt, trägt er eine Wolke von Roy mit sich. Während seiner Nachmittagsstunden ist er gedankenverloren. Dank seiner Ergebnisse bei den Standardtests sitzt er nachmittags im Mathe- und Englischunterricht bei den Elftklässlern. An diesem Tag fällt es ihm schwer, aufzupassen; er denkt an Roy, wie ihm die Zigarette von der Lippe hing. Der Mathelehrer fragt Nathan, ob ihm schlecht sei, weil er sein Gesicht vor Schmerz verzieht. Die älteren Kinder, die sich über Nathans Anwesenheit ärgern, finden die Frage komisch.

Als der Tag zu Ende geht, rennt Nathan zum Bus, doch er kommt trotzdem zu spät, um den Sitz hinter Roy zu ergattern. Die Enttäuschung währt aber nicht lange. Im Lauf der Fahrt arbeitet er sich Platz um Platz nach vorne vor, voller Vertrauen auf den unweigerlichen Erfolg, denn er fährt ja bis zur letzten Haltestelle mit. Roy lenkt den Bus gekonnt von einer lehmigen Einfahrt zur nächsten, wo der orangefarbene Wagen Grüppchen in ordentlichen Kleidern und sauberen Bluejeans ablädt. Als Roy bei Hargett’s Crossroads rechts abbiegt, sind nur noch zwei andere Passagiere übrig: ein nuschelndes brünettes Mädchen namens Linette mit blauen Schmetterlingsspangen im Haar und ein älteres schwarzes Mädchen mit schlechter Haut, das direkt hinter Roy sitzt und andauernd mit ihm redet. Bald darauf steigt die nuschelnde Linette neben ihrem Briefkasten aus dem Bus und wenige Augenblicke später auch das pockennarbige andere Mädchen. Er und Roy fahren allein im Bus bis Poke’s Road und den ganzen Weg nach Hause.

Jetzt, da es so weit ist, sitzt Nathan verdattert da. Er taxiert die wenigen verbleibenden Sitze zwischen sich und Roy. Roy schaut ihn im Übersichtsspiegel an. Schließlich sagt er: »Warum kommst du nicht hierher?«

Die Frage hallt. Nathan begibt sich hinter den Fahrersitz. Eine leichte Färbung steigt über Roys Kragen hoch. Nathan lehnt sich an die Metallstange hinter Roys Sitz und hängt da, Kinn am Rückenpolster. Der orangefarbene Bus rumpelt den Feldweg entlang.

Ein friedliches Gefühl. Sie können miteinander schweigen. Nathan freut sich. Wenn Poke’s Road doch nur länger wäre.

Roy parkt den Bus an der Scheune und bleibt einen Moment sitzen. Sein Gesicht strahlt in Nathans Augen etwas Merkwürdiges aus, zeigt Regungen, die Nathan nie bei einem Älteren erwartet hätte. Roy lauscht aufmerksam, als warte er auf irgendein Signal. Als brauche er etwas und könne es nicht sagen. Nathan zögert auch, lässt sich Zeit dabei, seine Bücher zu stapeln, sie sorgfältig auf Kante zu legen und der Größe nach zu ordnen. Roy greift nach seinen Büchern und meint: »Ich habe außer meinen Hausaufgaben noch so viel zu tun, es ist zum Verrücktwerden.«

»Du musst arbeiten?«

»Ja, für meinen Dad. Hier gibt es immer was zu erledigen.« Roy schneidet eine Grimasse und nimmt seine zerfledderten Hefte und seine Jacke. »Außerdem muss ich in Englisch einen Aufsatz schreiben und habe überhaupt keine Lust.«

»Ich bin gut in so was.«

»Ehrlich?«

»Ich mag Englisch.«

»Dann komme ich nachher rüber, und du kannst mir helfen. Es geht um Eisenbahnen. Der Aufsatz, meine ich.«

Nathan kann das Angebot kaum glauben. Wieso will Roy Zeit mit ihm verbringen? Roy lässt ihn als Ersten aussteigen, aber sie trödeln auf dem kurzen Weg zum Haus. Roy meint, vielleicht kann er ja Nathan bei anderen Sachen helfen, Mathe zum Beispiel, da ist er nämlich ziemlich gut. Wo Nathan den anderen Kindern in seinem Alter voraus ist, kann er die Hilfe eines Älteren vielleicht gebrauchen. Das erwähnt er nebenbei, als wäre es ihm zufällig eingefallen. Sie werden nachher zusammen lernen, nach dem Abendessen, das steht fest. Da ist etwas an ihrer Verabredung, das Nathan glücklich und ängstlich zugleich macht.

Die Angst kommt von einem Bild seines Vaters. Das Bild hat gefährliche Ursprünge, es kommt aus Zonen der Erinnerung zu Nathan, die er selten aufsucht. Die Erinnerung ist sein Vater, der in einer Tür steht, in Rose Hill, und bei diesem Blick muss er an Roy denken.

Später steht Nathan an seinem Zimmerfenster und beobachtet Roy, wie er mit aufgeknöpftem Hemd und hochgekrempelten Ärmeln zwischen Scheune und Schuppen hin- und hergeht, seine Haut leuchtet, als strahle der Schein eines Feuers durch seinen Oberkörper und seine Gliedmaßen nach außen. Er räumt die Scheune auf, stapelt verrostete Benzinkanister und alte Kisten auf die Ladefläche des Pick-ups, türmt mit der Mistgabel schmutziges Heu zu feuchten Haufen. Er bewegt sich mühelos von einer Aufgabe zur nächsten, als wäre er niemals müde. Sein Anblick strömt wie kühles Wasser durch Nathans Bauch.

Das ist ein neues Gefühl, nicht wie Freundschaft. Wie gar nichts anderes. Nathan hat schon viele Freunde gehabt, vor allem, bevor seine Eltern anfingen, ständig umzuziehen. Dieses Gefühl ist merkwürdiger, es zwingt Nathan dazu, sich an Dinge zu erinnern, die er vergessen will.

Nach einiger Zeit zieht er sich vom Fenster zurück, legt sich aufs Bett und kritzelt lustlos an den Hausaufgaben. Er wünscht sich, das Abendessen wäre schon vorbei. Die arithmetischen Zeichen ziehen sich bedeutungslos über die Seiten seines Buches. Wenn er sich zu konzentrieren versucht, ergeben die Textaufgaben manchmal einen Sinn. Er liest einen langen Absatz, denkt darüber nach, merkt, dass er sich an kein Wort erinnern kann, und steht schließlich auf, um zum Fenster zu stapfen und vorsichtig durch den Vorhang zu lugen.

Roy steht unten. Er wartet an der Hecke, als hätte er Nathan gerufen. Er trägt eine Holzkiste voller Einmachgläser mit staubigen Deckeln voller Spinnweben. Nathan schiebt den Vorhang langsam auf. Roy winkt ihm zu, ohne Scheu oder Überraschung. Nathan unterdrückt seine erste Regung, sich abzuwenden oder zu tun, als sei er aus einem anderen Grund ans Fenster getreten. Roys freundliches Lächeln verstört ihn zutiefst. Es ist, als wüsste er, was Nathan denkt und fühlt. Er setzt die Kiste auf der hinteren Veranda ab und dreht sich um. Geht zur Scheune, um weitere Gläser zu holen. Nathan beobachtet ihn unverwandt, solange es hell ist.

Mom ruft Nathan zum Abendessen, und er kommt von oben herunter, als tauche er in einen dunklen Tümpel ein. Unter Wasser isst er, was seine Mutter gekocht hat. Heute Abend lässt Dad das Essen ausfallen, er muss noch spät arbeiten. Heute Abend kann Nathan schmecken, was vor ihm steht.

Danach kommt Roy über den Hof zu Nathans Haus, damit er ihm bei den Hausaufgaben hilft. Nathan sitzt an seinem Schreibtisch, warmes Licht von einer Arbeitslampe scheint auf sein Grammatikbuch. Er hat seine Satzbäume fertig. Im Flur sind Schritte zu hören, und als sich Nathan umdreht, lehnt Roy in der Tür. Er hält die Schulbücher umklammert, als würde er sie am liebsten mit seinen großen Händen zerquetschen: »Hab dir ja gesagt, dass ich komme.«

»Ich weiß. Ich hab schon gewartet.«

Das gefällt Roy. »Bestimmt kein Problem?«

»Ich habe meine Aufgaben fertig gemacht, während du mit deiner Arbeit beschäftigt warst.«

Er hat geduscht und trägt ein weißes Baumwollhemd, das er bis oben hin zugeknöpft hat. Die Aftershave-Wolke riecht durchdringend. »Miss Burkette sagt, du bist ziemlich gut in Englisch, obwohl du jünger bist als ich.« Vorsichtig tritt er ein, legt seine Bücher aufs Bett und reibt sich die Fingerknöchel. »Ich hasse es, wenn ich was schreiben soll.«

»Ich mag es ganz gerne.«

»Ich soll was über Züge schreiben.« Roys Augenbrauen verdichten sich zu einem scharfen schwarzen Strich. Er schlägt sein Heft auf der Bettdecke auf, und Nathan setzt sich neben ihn auf die weiche Matratze. Miss Burkette hat seiner Klasse aufgegeben, einen Aufsatz von sieben Absätzen über ein vorgegebenes Thema zu schreiben: »Eisenbahnen in den Vereinigten Staaten«. Roy hat den Band Q-R der World Book Encyclopedia mitgebracht, und er zeigt Nathan die Sätze, die er aus dem Stichwort Railroad abgeschrieben hat.

Nathan betrachtet das Geschriebene und fragt nach den Fakten für den Aufsatz. Unter diesen Umständen fällt das Reden leicht, und das Gespräch wirkt auf Nathan genauso ungezwungen wie vorher ihr Schweigen im Bus. Sie diskutieren den Aufsatz voller Ernst und einigen sich darauf, dass Roy eingrenzen muss, was er über Eisenbahnen sagen will. Er muss sich für einen bestimmten Aspekt entscheiden. Roy sucht sich Dampfmaschinen als Ausgangspunkt aus, und bald schon schreibt er unter Nathans Aufsicht Worte aufs Papier. Er wirkt irgendwie verblüfft, dass der Aufsatz tatsächlich zustande kommt, und Schritt für Schritt treffen sie alle notwendigen Entscheidungen.

Mom bringt ihnen Eistee, und als sich Roy bei ihr bedankt, errötet sie, als wäre diese Anerkennung schon zu viel. Sie bewegt sich, als wäre sie am liebsten unsichtbar, genau wie immer, und zugleich weckt Roy unverkennbar ihre Neugier. Als sie sich nach unten zurückzieht, nehmen die beiden den Tee als Anlass für eine Pause. Der Abend ist geradezu samtig; Nathan öffnet das Fenster und atmet tief durch. Roy steht auf und reckt sich. Er trinkt seinen Tee und betrachtet die halb fertige Seite auf der Bettdecke, nachdenklich und still. »Sollte mir wohl peinlich sein, dass ich mir von einem Kleinen wie dir bei den Hausaufgaben helfen lasse.«

Nathan antwortet hitzig: »In Englisch sitze ich in der elften Klasse. Das ist nur ein Jahr unter dir. Ich bin kein Kleiner mehr.«

Roy wirkt verwirrt über das, was er gesagt hat. Er errötet ein bisschen und überlegt es sich noch einmal. »Ich habe es nicht böse gemeint. Ich wollte nur sagen, dass du jünger bist als ich, das ist alles.« Seine Miene hellt sich auf. Er rückt näher an Nathan heran, der merkt, wie sein Körper reagiert, ganz schwer wird und auf Roy zuzusinken scheint. Der spricht ruhig und gelassen weiter. »Jedenfalls vielen Dank für die Hilfe.«

»Das mache ich gerne.«

»Du bist ziemlich klug, stimmt’s? Sagen die anderen alle. Ich meine, ich bin nicht blöd oder so. Aber du bist anders.«

Nathan weiß nichts zu entgegnen. Aber Roy lächelt immer noch. »Wir könnten doch Freunde sein, Nathan. Was meinst du?«

Seine Kehle ist trocken, und plötzlich hat er furchtbare Angst. »Ja. Das würde mir gefallen.«

»Es wird dir hier draußen gefallen. Im Sommer ist es total ruhig. Kein Mensch unterwegs.«

»Kann man in den Wald gehen?«

Roy lacht, als verstünde sich die Antwort von selbst. »Klar. Ich bin die ganze Zeit draußen. Es gibt ein paar Stellen, die sind super, Indianerhügel und Plätze zum Zelten und ein Geisterhaus und so. Zeig ich dir alles.«

»Bestimmt musst du im Sommer viel arbeiten. Ihr habt ja einen Hof.«

»Ja, aber das geht schon. An der frischen Luft arbeite ich gerne. Hast du schon mal auf einem Hof gelebt?«

»Nein. Bisher haben wir meistens in der Stadt gewohnt. Aber diesmal wollte mein Dad aufs Land.«

»Und warum hier? Kein Mensch zieht nach Potter’s Lake.«

Nathan spürt, wie er rot wird. »Mein Dad hat einen Job gefunden. Bei Allis Chalmers in Gibsonville.«

Einen Moment lang befürchtet er, Roy könnte irgendwelchen Klatsch gehört haben. Ein Luftzug fährt durch Roys dünnes schwarzes Haar. Das Licht von der Lampe zeichnet eine geschwungene Augenbraue nach, betont eine Lippe, den Schwung des Kiefers, eine überschattete Wange. Er würde gut aussehen, wäre da nicht seine Nase. Vielleicht sieht er auch so gut aus. Er sieht, dass Nathan ihn beobachtet, und es gefällt ihm; er drückt die Schultern durch und spannt die Kiefernmuskeln an. »Diesen Schulkram magst du, wie?«

»Och ja. Meistens.«

»Das will mir nicht in den Kopf, wie einer die Schule mögen kann.«

»Besser, als die ganze Zeit zu Hause zu sitzen«, sagt Nathan, und Roy lacht leise. Er beugt sich zu Nathan. Dessen Atem hängt zwischen ihnen beiden.

»Du bist also ein kleiner Stubenhocker, was? Na, das kriegen wir hin.«