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Diese Ausgabe ist Ben und unseren großen Freunden aus dem Parlament der Bäume und dem Anhalter Garten gewidmet.

»Es zwitschert eine Lerche im Kamin, wenn du sie hörst.«

Joachim Ringelnatz

Teil I

Die Stimmen

Im Wald – am Anfang und doch schon mittendrin

Ein zwölfjähriger Junge mit wasserstoffblond gefärbten Haaren und einer Brille stand tief gebräunt auf einer Lichtung mitten im Berliner Grunewald vor einer sehr alten, halb auseinandergebrochenen Eiche und sagte wütend: »Ich hätte nie gedacht, dass ein Baum solch ein Idiot sein kann!« Dann wandte er sich ab. »Bei dem Alten ist nichts mehr zu machen. Aber du kommst mit.«

Vorsichtig zog er einen Eichen-Sämling aus der sandigen Erde.

Es begann zu regnen.

Der Junge stapfte zu einem gleichaltrigen Mädchen, das etwa hundert Meter entfernt tief über einen großen Baumstumpf gebeugt stand und so gespannt einen dicken, schwarzen Käfer beobachtete, dass sie den Jungen ebenso wie den Regen kaum bemerkte. Neben ihr verfolgte ein Hund mit Schlappohren und krummen Beinen aufmerksam die Bewegungen des Insekts.

»Es gibt Eichen, die Rassisten sind«, sagte der Junge zu dem Mädchen. »Kannst du dir das vorstellen?!«

»Hm«, murmelte das Mädchen und ließ den Käfer nicht aus den Augen. Als der Junge neben sie trat, wedelte der Hund freudig mit dem Schwanz, beschnüffelte ihn, wedelte immer heftiger und machte schließlich Anstalten, sein Bein an dem des Jungen zu heben.

»Humboldt, was soll das?!«, rief der Junge und stieß den Hund zur Seite. Der jaulte auf und verkroch sich hinter dem Mädchen.

»Was ist denn los?«, fragte sie und richtete sich auf.

»Er hat versucht mich anzupinkeln!«, rief der Junge empört. »Humboldt, mach das nie wieder, hast du gehört?!« Das Mädchen schüttelte den Kopf und betrachtete befremdet ihren Hund. Dann sog sie prüfend die Luft durch die Nase. »Komm mal näher«, sagte sie zu dem Jungen, der widerwillig einen Schritt herantrat und dabei wütend murmelte: »Wenn jetzt auch noch die Hunde anfangen ihr Bein an mir zu heben, reicht’s mir aber endgültig, das sag ich dir.«

Das Mädchen schnüffelte an dem Jungen und sagte schließlich: »Du riechst irgendwie ein bisschen wie … feuchtes Laub.«

Sie tätschelte dem Hund den Kopf. »Das hat dich verwirrt, Humboldt, stimmt’s? Deshalb hast du dich vertan. Aber das ist Florian und kein Baum. Auch wenn er so ähnlich riecht.«

Der Hund zog die Stirn kraus und schaute zerknirscht. »Er wird’s bestimmt nicht wieder tun«, sagte das Mädchen. »Es war nur der erste Moment.« »Na, hoffentlich«, erwiderte der Junge. »Wo stellen wir uns unter? Der Regen nervt.« »Ich finde ihn ganz angenehm«, sagte das Mädchen. »Ein warmer Spätsommerregen. Der schadet nicht.«

»Dir vielleicht nicht«, sagte der Junge. »Aber mir juckt er auf der Haut. Jeder Tropfen kommt mir vor wie ein Nadelstich. Oder wie eine Säure.«

Das Mädchen schlug sich vor die Stirn. »Klar!«, rief sie. »Saurer Regen! Der enthält Schadstoffe. Die bekommen Bäumen nicht. Also ist der auch nicht gut für dich. Und außerdem wäscht er dir die Tönung vom Gesicht! Lass uns schnell was zum Unterstellen suchen!« Hastig griff sie nach einem kleinen Rucksack, den sie neben sich abgestellt hatte, und lief los. Ihr Hund und der Junge rannten hinterher.

»Anna«, sagte er. »Ich habe keine Lust mehr auf die ganze Geschichte! Und auf die Stimmen kann ich auch verzichten!«

»Ich find’s spannend!!«, rief das Mädchen aufmunternd zurück. Die drei erreichten einen Hochsitz und kletterten hinauf. Mühelos trug der Junge den Hund auf einem Arm, während er sich mit der anderen Hand an der Leiter festhielt. Das Mädchen balancierte den Eichen-Sämling. Oben ließen sie sich schwer atmend auf die Bank im Inneren des Holzverschlags fallen. Das Dach war dicht.

Sie rubbelten sich mit einem Handtuch ab, das das Mädchen aus ihrem Rucksack holte. Danach wickelte der Junge den Sämling vorsichtig darin ein. »Jaja«, sagte er dabei, »wenn du unbedingt willst, betrachte dich als Kriegsgefangenen.«

»Was?«, fragte das Mädchen.

»Es ist nicht zu fassen: voll der kleine Rechtsextreme.« Der Junge deutete auf die kleine Eiche. »Hält sich für altdeutschen Soldaten-Nachwuchs oder so was. Zicke zacke Hühnerkacke. Aber den kriegen wir schon wieder hin.«

Er steckte das Bäumchen in den Rucksack und schaute aus der Fensteröffnung des Hochsitzes. Draußen prasselte der Regen. Florian dachte daran zurück, wie alles angefangen hatte. Kaum zu glauben, dass das erst zehn Tage her war. Es kam ihm schon vor wie eine Ewigkeit.

Allerdings war klar, dass sein Abenteuer lange nicht zu Ende war.

Florian kannte den Bunten Hof und seine außergewöhnlichen Bewohner noch nicht. Er ahnte nicht, dass er demnächst einen menschlichen Spürhund auf den Fersen haben würde. Und er hatte keine Ahnung davon, dass seine Flucht ihn bald bis auf eine spanische Insel vor der Küste Afrikas führen würde. Das war auch besser so.

Denn hätte Florian all das in diesem Moment gewusst, wäre er wahrscheinlich im Grunewald geblieben und hätte versucht Wurzeln zu schlagen. Sein grünes Wunder wäre womöglich vorzeitig zu Ende gewesen und diese Geschichte hätte nicht weiter erzählt werden können.

Leise Laute

Es begann im August, kurz nach den Sommerferien. Florian saß im Unterricht, Montag, zweite Stunde. Ein rot-schwarz gefleckter, hochbeiniger Käfer mit einem flachen Panzer lief eilig über den Tisch.

Florian kickte das Tier energisch mit dem Füller nach rechts, wo Annas Platz war. Der Käfer purzelte auf den Rücken und schlidderte strampelnd auf die andere Tischhälfte.

»Oh, die Feuerwanze!«

Anna beförderte das Insekt in eine leere Streichholzschachtel.

»Möchte mal wissen, wie sie ausgebüxt ist«, flüsterte Anna. »Schlauer, als man denkt, diese Wanzen!«

Florian nickte zerstreut. Er war mit seinen Gedanken schon wieder weit weg, hörte auch nicht mehr richtig, wie Anna noch leise sagte: »Eine sehr ausgefallene Panzerfärbung hat dieses Exemplar.«

Florian horchte woandershin. Waren da nicht eben wieder diese merkwürdigen Geräusche gewesen? Diese ganz und gar merkwürdigen leisen Laute? Die er schon in der ersten Stunde bemerkt hatte?

Er war sicher, dass er etwas Derartiges zuvor noch nie gehört hatte. Dennoch waren ihm die Geräusche auf Anhieb vertraut vorgekommen.

Florian lauschte konzentriert in sich hinein. Dabei nahm er seine Brille ab und begann am Bügel zu kauen. Das tat er immer dann, wenn er angestrengt nachdachte. Er kaute stets am linken Bügel, sodass das Horn links schon schartig war wie ein Kratzbaum, während der rechte Bügel unversehrt blieb.

Stimmen!

»Schmeckt’s, Erdmännchen?«, zischte jemand.

»Hm?« Florian brauchte eine Weile, bis er die Stimme von Victor Bayer erkannte. »Stück Brot dazu?« Victors Zwillingsbruder Vincent beugte sich vor.

Florian zog den Brillenbügel aus dem Mund, klappte die Brille auseinander und setzte sie auf. Er zeigte den Zwillingsbrüdern einen Vogel.

Da war es wieder!

Ganz leise, kaum zu hören. Wie ein zartes Zirpen oder ein helles Murmeln. Oder ein sanftes Rascheln von Birkenblättern in einem lauen Wind. So ähnlich und doch irgendwie anders. Es war etwas, für das es keine Worte gab, und es zirpte, murmelte, raschelte nun in einem fort. Mit geschlossenen Augen hörte Florian zu. Unwillkürlich wanderte der Brillenbügel wieder zwischen seine Lippen. Der Ton klang nicht unangenehm, aber es lag etwas sehr Beunruhigendes darin. Er hörte sich an wie ein Hilferuf. Was hatte das zu bedeuten?

Florian erhielt einen Stoß und verlor fast das Gleichgewicht. Vor Überraschung biss er heftig auf den Brillenbügel.

»Hee!«, rief er empört. »Was soll das?«

Wütend drehte er sich zu Anna.

»Andere Richtung!«, zischte sie und machte eine energische Kopfbewegung. Florian drehte sich um und schaute genau auf ein Lehrerinnenkleid. Darüber begegnete er einem Gesicht, das ihn ungehalten ansah.

»Florian Erdmann!«, sagte die Lehrerin laut. »Das Mindeste, was ich erwarten kann, ist doch wohl, dass du während des Unterrichts wach bleibst!«

»Unser Erdmännchen«, spottete Vincent. »Immer für ein Schläfchen gut.«

»Und nimm bitte die Brille aus dem Mund«, sagte die Lehrerin.

Florian stellte fest, dass der Bügel verbogen war.

»Zähes Zeug, was?«, rief Victor.

»Lass die dummen Witzchen, Victor!«, sagte die Lehrerin spitz.

Victor verzog das Gesicht.

Als die Aufmerksamkeit nicht mehr auf ihn gerichtet war, atmete Florian auf. Er flüsterte Anna wütend zu: »Wolltest du mich k. o. hauen, oder was? Du hast mir den Brillenbügel verbogen!«

»Bah«, flüsterte Anna zurück. »Kau halt nicht dauernd drauf rum. Und wenn ich dich nicht geweckt hätte, würden die anderen sich immer noch über dich lustig machen.«

»Ich hab nicht geschlafen!«, verteidigte Florian sich.

»Was hast du denn sonst gemacht?«

»Ich hab …«, sagte Florian. »Ach, nichts.«

»Ach so«, sagte Anna ein wenig spöttisch. »Nichts. Das ist natürlich ganz was anderes.«

Damit war ihre Unterhaltung für den Rest des Schultags beendet. Florian lauschte bis zur letzten Stunde angestrengt dem leisesten Knacken nach. Aber es war nichts Rätselhaftes mehr zu hören.

Er fuhr mit dem Fahrrad nach Hause. Nicht weit von der Schule wurde ein Haus gebaut. Als er an der Baustelle vorbeikam, wurde gerade ein Lkw, auf dessen Ladefläche sich große Betonteile türmten, von einem Hochkran entladen. Der Wagen stand dicht neben der Linde. Zwei Männer hatten soeben eines der Betonteile am mächtigen Eisenhaken des Krans befestigt und gaben das Zeichen zum Hochziehen. Der Haken ruckte an, die Ladung schwang zur Seite und schlug gegen einen Baumstamm. Florian zuckte zusammen. Ein leiser, dumpf durchdringender Schmerzenslaut fuhr ihm in die Glieder. Erschrocken starrte er auf die Arbeiter auf dem Lkw. Sie unterhielten sich lachend. Der Fahrer las Zeitung. Die Rinde der Linde war auf einer Länge von fünfzig Zentimetern aufgerissen.

»Hee!«, schrie jetzt einer der Männer zu Florian herüber und gestikulierte. Florian guckte nach vorne, sah direkt vor sich den Bauzaun und schlenkerte im allerletzten Moment haarscharf daran vorbei.

»Augen auf, Junge!«, lachten ihm die Arbeiter hinterher.

Als er zu Hause ankam und sein Fahrrad in der Garage abstellte, war Florian immer noch so durcheinander, dass er einen von Leons Basketbällen übersah, der am Boden herumlag. Er stolperte darüber und riss eine Schubkarre und eine riesige Tüte voller Gartendünger um. Florian fand sich mit graubraunen Spänen bedeckt auf dem Boden wieder. Er nahm einen angenehmen Geruch wahr, der ihn daran erinnerte, dass er Hunger hatte.

Als Leon, von dem Lärm alarmiert, aus dem Haus kam und in die Garage guckte, saß sein jüngerer Bruder zwischen den Gartengeräten auf der umgedrehten Schubkarre und machte einen ziemlich abwesenden Eindruck.

»Florian!«, rief Leon. »Alles in Ordnung?«

»Ach, du bist’s«, sagte Florian. »Weißt du, wonach es hier so gut riecht?«

»Wie bitte?«, fragte Leon.

»Der Geruch hier!«, sagte Florian nachdrücklich. »Was ist das? Was gibt’s zum Mittagessen?«

»Sag mal, bist du aufs Hirn gefallen?«, fragte Leon zurück. »Was redest du? Hier riecht’s so ähnlich wie Kuhfladen, und ich wette, das kommt von dem ganzen Düngerzeug. Hast du damit geduscht?«

Florian rappelte sich auf und klopfte sich Düngerspäne von der Kleidung. Dabei fiel sein Blick auf den Basketball und das brachte ihn auf andere Gedanken.

»Ich brech mir hier fast den Hals, nur weil du deine Bälle überall rumliegen lässt!« »Mach du lieber deine Augen auf!«, schimpfte Leon zurück. Er verzog sich kopfschüttelnd.

Florian räumte die Gartengeräte wieder an ihren Platz. Den verstreuten Dünger fegte er notdürftig zusammen und kippte ihn in einen Eimer. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er machte, dass er ins Haus kam, warf die Schultasche in den Flur, eilte in die Küche und stellte fest, dass er Riesendurst hatte. Und zwar nicht auf Cola, nicht auf Limo und auch nicht auf Apfelsaft, sondern auf Mineralwasser, und zwar auf abgestandenes! Jetzt ein schönes, fades, brackiges Glas Wasser direkt aus der Regentonne … Was für ein Quatsch. Es war sowieso nur frisches da. Besser als nichts. Florian trank eine ganze Flasche aus und ertappte sich dabei, dass er sich vorstellte, das Wasser stünde schon seit Wochen in der Gießkanne auf der Fensterbank.

Egal, jetzt war Zeit zum Mittagessen. Aber bei dem Gedanken an Essen verging ihm plötzlich der Appetit. Dabei hätte er eben noch für drei essen können – nichts Ungewöhnliches. Oft stopfte Florian alles in sich hinein, was sich auftreiben ließ, wie ein Bär vor dem Winterschlaf, und trotzdem war er stets schlank geblieben, fast dünn sogar.

Seine Oma sagte manchmal »mein Spargelchen« zu ihm. Sie war der einzige Mensch, dem er so etwas verzieh. Außer Anna vielleicht.

Wurst-oder Käsestullen, Schokolade, Pommes oder Wiener Würstchen, das alles konnte ihn plötzlich nicht mehr reizen. Dabei hätte er sich ohne Weiteres genehmigen können, was ihm nur einfiel, denn auf dem Küchentisch lagen zwei Zehneuroscheine und ein Zettel:

Hallo, Jungs! Ich komme nicht zum Kochen, weil ich überraschend in die Stadt muss. Und Frau Lewandowski kann heute leider nicht. Bitte holt euch selbst was, bis später, Mama.

Es kam ziemlich häufig vor, dass die Mutter überraschend in die Stadt musste.

Florian betrachtete wohlwollend die Zehner. Einer für Leon, einer für ihn. Endlich mal ein Lichtblick. Er konnte das Geld gut gebrauchen, da passte es umso besser, dass er kaum noch Hunger hatte. Florian sackte einen Schein ein und begnügte sich mit einer halben Schnitte Brot. Während er eine ganze Weile lustlos daran herumkaute, schlug er ein dickes Buch auf, das er vor ein paar Wochen von seinem Opa geschenkt bekommen hatte. Florian las seitdem jeden Tag darin. Bücher dieser Art waren unglaublich teuer. Es war ein richtiger Schmöker und der Titel lautete: »Bäume erkennen – Bäume verstehen«. Jede Baumart Europas wurde darin vorgestellt, mit Erkennungsmerkmalen und allem Drum und Dran.

In der dunklen Villa

Florian beeilte sich, in den Garten zu kommen. Der Garten war groß und aufgeräumt, genau wie das Haus der Erdmanns und wie der Mercedes seines Vaters. Im Urlaub machte Familie Erdmann große Reisen in aufgeräumte Hotels. Florians Mutter machte große Einkäufe, die sie sorgfältig aufräumte, und sein Bruder Leon stellte die großen Pokale, die er beim Basketball und Tennis gewann, sorgfältig in ein aufgeräumtes Regal.

Mitten auf der Rasenfläche hinter dem Haus stand ein alter, dunkelblättriger Ahorn mit dichter Krone und einem Stamm, fast so mächtig wie eine Litfaßsäule. Florian schwang sich geschickt hinauf und verschwand im dunklen, unterseits purpurnen Blätterdach des Baumes, das so dicht war, dass kaum ein Tropfen Regen durchkam. Ein Kleiber begleitete ihn, ein kleiner Vogel, den Florian »Panzerknacker« nannte, weil er um die Augen einen schwarzen Streifen hatte wie eine Räubermaske. Der Panzerknacker lief mühelos senkrecht neben ihm am Stamm hoch.

Der Ahorn war Florians Lieblingsbaum. Und das kleine Baumhaus, das er sich in der Krone gebaut hatte, war sein Lieblingsplatz. Ungefähr in eineinhalb Meter Höhe gabelte sich der Stamm in drei Hauptäste, von denen jeder einzelne noch mächtig dick war. Ein paar Meter höher wuchsen starke Seitenäste, die hervorragend als Fundament geeignet waren.

Florian hatte Bretter darübergelegt, zusammengeschraubt und mit Kokosseilen an den Ästen befestigt. Schrauben und Nägel verwendete er niemals an Stamm und Ästen, er wusste, dass sie den Baum verletzen würden. Er hatte vier Eckpfosten gesetzt, sie durch kleine Wände aus Holz verbunden und darüber eine Zeltplane so aufgespannt, dass zwischen den Wänden, der Plane und zwischen den Blättern hindurch ein Rundblick in die Umgebung blieb. Wenn die Strahlen der Abendsonne im Sommer flach auf die dunkelgrüne Oberseite der Blätter trafen, begann ihre Unterseite in einem wunderschönen, rötlichen Farbton zu leuchten und das Baumhaus tauchte in ein verzaubertes Dämmerungslicht. Deshalb nannte Florian es die dunkle Villa, aber das war sein Geheimnis. Nicht einmal Anna hatte er den Namen verraten.

In der dunklen Villa überließ Florian sich seinen Gedanken, die ihn mal hierhin, mal dorthin führten und oftmals weit weg.

Der hölzerne Boden war mit allem möglichen Kram übersät: Decken und Kissen, stapelweise Bücher, getrocknete Blätter, Zeichnungen von Blüten, leere und volle Packungen von Erdnussflips und Chips und andere Dinge lagen kreuz und quer herum.

Nachdem Florian an diesem Nachmittag hinaufgeklettert war, griff er aus Gewohnheit als Erstes nach einer Tüte Erdnussflips, riss sie auf und steckte ein paar in den Mund. Sie schmeckten nicht. ›Merkwürdig‹, dachte er, ›die sind doch noch ganz frisch. Frisch? Alt und zersetzt wäre besser. Wie gekrümelte Pappe. Was für ein Quatsch!‹ Er schichtete die Kissen übereinander und streckte sich aus. Ein leichter Windzug ließ Blätter leise rascheln, ein Zweig streifte sachte über die Plane, der Panzerknacker pickte darauf herum und wippte mit seinem kurzen Schwanz.

Der Ärger des Vormittags begann langsam von Florian abzuperlen wie Wassertropfen von einem Blatt mit Wachsschicht. Er streckte sich ächzend noch einmal und seufzte wohlig.

Ein seichter Windzug strich durch die Krone, und einige kleinere Äste rund um das Baumhaus neigten sich wie zur Begrüßung.

Florian entschied sich für eine Unterhaltung. ›Ich werde erzählen, was ich am Vormittag erlebt habe‹, dachte er. Hier oben dachte er oft in einer speziellen Art.

Die Erwiderung lautete wie immer: Gern. Andere Leute reden mit Autos, Puppen oder Haustieren. Florian redete mit dem Ahorn, der ihm ebenso geduldig zuhörte, wie er sein Haus trug. Natürlich sprach er nicht wirklich, sondern in Gedanken, und natürlich antwortete der Baum nicht in der menschlichen Sprache, sondern baumhaft: mit der Zeichnung seines Stammes, mit der Ausrichtung seiner Äste, mit der Bewegung von Zweigen und Blättern, dem Rauschen der Krone, dem Duft von Blüten, dem Reifen seiner Früchte und vielem anderen mehr. Auf diese Weise führten der Baum und der Junge viele interessante Gespräche.

Also pass auf, begann Florian, und er erzählte, erzählte lange, bis er schließlich einnickte und etwas zu hören glaubte, das den fremdvertrauten Lauten des Schulvormittags ähnlich war. Etwa so, wie ein und dieselbe Sprache stets viele Ähnlichkeiten hat, auch wenn sie von unterschiedlichen Menschen gesprochen wird. Und während Florian vor sich hin döste, kam es ihm vor, als hörte er Erwachsene und Kinder durcheinandersprechen, Große und Kleine, Alte und Junge, und ihm war, als habe er am Morgen in der Schule eine einzelne, leise jammernde Kinderstimme gehört. ›Vielleicht ist es‹, schwebte träge ein Gedanke durch seinen Kopf, ›aber auch nur der laue Wind, der durch kleine wie durch große Bäume singt.‹

»Florian! Floriaaan!«

Eine Stimme durchschnitt den geruhsamen Gedankenfluss.

»Verdammt noch mal, hörst du endlich?!«

Leon.

»Was ist denn?«

»Was wohl? Abendessen!«

Florian hörte, wie sein Bruder zum Haus zurückkehrte.

Er setzte sich schwerfällig auf. Eine kleine Weile spähte er in das Blättergebirge des Ahorns, als könne er dort seine Gedanken wiederfinden. Dann verließ er das Baumhaus.

Zusammen allein

Als Florian an den Esstisch trat, saß Herr Erdmann schon vor seinem Teller. Sein Jackett hatte er an der Garderobe entsorgt, die Krawatte abgelegt und die obersten Knöpfe seines weißen Hemdes geöffnet.

»Da ist ja auch mein Baumkronenforscher«, sagte er. Das ökologische Interesse seines jüngeren Sohnes war ihm fremd, aber er bemühte sich redlich, es positiv zu sehen. »Dann können wir anfangen.« Er wandte sich an seine Frau. »Du siehst so aus, als wolltest du noch etwas sagen, Liebling?«

Frau Erdmann nickte und schaute zufrieden in die Gesichter ihrer drei männlichen Familienmitglieder. »Ich finde es richtig gut, dass wir alle zusammen hier sitzen.« Es kam nicht oft vor, dass die vier Erdmanns gemeinsam aßen. »Ich habe heute einen sensationellen Abschluss gewuppt«, sagte Herr Erdmann.

»Interessant, Robert«, erwiderte die Mutter, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass sie überhaupt kein Interesse hatte. Aber wie alle Männer wollte Robert Erdmann seine Erfolgsgeschichte unbedingt loswerden.

»Es war ein Meisterstück. Ich habe lange gepokert, sehr lange. Schmidtbauer wollte längst kaufen. Aber ich hab geahnt, dass die Schulze-Meier KG nicht anders konnte, als alles zu akzeptieren. Am Ende habe ich den Laden fast geschenkt bekommen! Ein Werk mit kompletten Produktionsanlagen, nicht mal veraltet, Top-Grundstücke dabei und einen guten Kundenstamm. Und das alles für lächerliche zwölf Millionen!«

»Du bist toll, Robert«, sagte Florians Mutter. Sie lächelte fein, tätschelte ihrem Mann die Wange und wechselte das Thema. »Hast du eigentlich schon eine Idee, was wir den Bayers am Sonntag beim Empfang schenken sollen?«

»Nein«, sagte Herr Erdmann. So einfach war er nicht zu stoppen. »Na ja, einen Haken hat das Ding natürlich schon: viel zu hohe Belegschaft. Kein Wunder, dass Schulze-Meier Schwierigkeiten bekam.« Er hielt kurz inne, um ebenfalls zu lächeln. »Ein bisschen haben wir natürlich dabei mitgeholfen. Aber Business ist kein Kurkonzert. Wir werden ordentlich abspecken müssen.«

Er rammte seine Gabel in ein Stück Fisch wie ein Steinzeitjäger seinen Speer in ein Mammut.

Frau Erdmann sah amüsiert zu. »Ich habe überhaupt keine Idee«, sagte sie. »Die haben doch schon alles. Genau wie wir. Was hältst du von einem speziellen Quatsch wie einem Mango-Besteck? Oder wirkt das zu ironisch?«

»Das passt schon«, antwortete Herr Erdmann. Er war nun mal mitten in seiner Erfolgsgeschichte und ließ sich davon nicht mehr abbringen. »Schmidtbauer hätte für den Laden glatt das Dreifache bezahlt. Was sagst du dazu? Der Mann ist untragbar, meinst du nicht auch?«

»Ja, Robert, du hast recht«, sagte Frau Erdmann. »Untragbar ist ein gutes Stichwort.« Sie seufzte absichtlich übertrieben. »Was soll ich bloß anziehen? Das weinrote Cocktailkleid ist für mich einfach untragbar. Deshalb habe ich es heute Nachmittag umgetauscht. Vielleicht nehme ich für den Empfang doch wieder das lange mit den großen Pailletten. Oder habe ich das bei solchen Anlässen schon zu oft angehabt?«

»Nein, Liebling«, erwiderte Herr Erdmann und wandte sich seinen Söhnen zu. »Was gibt’s bei euch Neues?«

»Djokovic hat gegen Murray gewonnen«, sagte Leon. »Glatt in drei Sätzen. Aber Nadal wär fast ausgeschieden. Gegen einen unbekannten Landsmann Tiebreak im fünften Satz!«

»Nadal kommt noch«, sagte sein Vater. »Am Anfang tut der sich oft schwer. Und am Ende gewinnt er das Turnier. Denk an meine Worte. Und wie läuft die Schule?«

»Alles okay«, sagte Leon.

»Habt ihr die Mathearbeit zurück?«

»Drei.«

Herr Erdmann zog die Augenbrauen zusammen. Er wusste, dass er seine eigene Einser-Vergangenheit nicht einfach auf seine Söhne übertragen durfte, aber er schaffte es nie, sie ganz beiseitezulassen. »Für mich war das früher gerade mal so das unterste Level.«

»Jaja«, sagte Leon. »Eine Drei, das war für mich eine Enttäuschung«, sagte Herr Erdmann.

»Ist schon klar, Papa«, sagte Leon. »Dafür kann ich bei Grün-Weiß Ranglistenerster in meiner Altersklasse werden, wenn ich Victor Bayer schlage.«

»Klingt gut.« Der Vater nickte. »Und der gleiche Ehrgeiz wie im Tennisklub oder beim Basketball käme in der Schule auch nicht schlecht.« Er wandte sich Florian zu, der lustlos an einer Kartoffel herumkaute. »Und was hast du erlebt?«

»Nix«, sagte Florian und ließ die Kartoffel auf den Teller zurückplumpsen. »Das ist kein Wunder, wenn du deine gesamte Zeit auf einem Baum verbringst. Tag für Tag.«

»Lass den Jungen mal in Ruhe«, mischte Frau Erdmann sich ein. »Der ist nicht richtig fit. Er isst seit gestern kaum was und blass ist er auch.« Sie sah Florian besorgt an. »Vielleicht solltest du mal Fieber messen.«

»Nicht nötig.« Florian winkte ab.

Auch sein Vater wirkte nun besorgt.

»Ich versuche es wirklich, aber ganz begreifen kann ich es nicht. Tag für Tag, Stunde für Stunde liegst du im Baumhaus herum und tust – nichts.«

»Das stimmt nicht«, sagte Florian.

»Dann sag mir, was du den ganzen Tag da oben machst?!«

»Ich mache meine Hausaufgaben.«

»Gelogen!«, rief Leon. »Die Schultasche und den Laptop nimmt er nie mit.«

»Also, du machst dort deine Hausaufgaben«, sagte Herr Erdmann, ohne Leons Einwurf zu beachten. »Ein Baumhaus ist kein ganz gewöhnlicher Ort dafür, aber wo sie erledigt werden, ist nicht entscheidend. Hauptsache, sie werden gemacht.«

Der Vater warf einen kurzen Blick auf Leon, der eine Sehr lustig, Papa – Grimasse zog. Herr Erdmann bemerkte sie kaum, er schaute schon wieder zu seinem jüngeren Sohn: »Was tust du noch?«

»Lesen«, sagte Florian.

»Bücher über Bäume«, rief Leon spöttisch.

»Lesen ist auch etwas, klar«, sagte Florians Vater. Gegen seinen Willen klangen die Worte, als akzeptiere er etwas, das ihm nicht recht gefiel, jedoch unangreifbar war. »Aber willst du wirklich den ganzen Tag nichts als lesen und Hausaufgaben machen? Willst du nicht auch mal irgendetwas anderes tun?!« Es klang wie: Du musst doch auch mal Basketball spielen! Oder Tennis!

»Schlafen tut er!«, rief Leon. »Er pennt den ganzen Tag!« »Und wennschon«, sagte Florian. »Dabei erlebe ich mehr als genug, Leon!« »Klar!«, rief Leon und imitierte laute Schnarchgeräusche. »Spannung im Sägewerk!« »Leon, Ruhe!«, sagte Herr Erdmann. Er wandte sich wieder Florian zu: »Was erlebt man in deinem Baumhaus denn Spannendes?«

»Wenn ich Lust dazu hätte, würde ich vielleicht versuchen es euch zu erklären«, sagte Florian. »Aber ihr würdet es sowieso nicht verstehen.«

Leon zog eine Grimasse, sein Vater die Stirn in Falten.

»Ich sag doch, der Junge ist nicht fit«, sagte Frau Erdmann.

»Genau.« Florian stand auf und wandte sich zur Tür.

»Florian, bitte!«, rief sein Vater.

»Lass den Jungen, Robert«, sagte Frau Erdmann beschwichtigend.

»Dann mach ich ab jetzt auch, was mir gerade so passt!«, maulte Leon. »Florian, bitte setz dich wieder hin!«, sagte Herr Erdmann scharf.

Lustlos ließ Florian sich auf seinen Stuhl fallen.

»Ich lege Wert darauf, mit meiner Familie gemeinsam zu Abend zu essen«, verkündete sein Vater. Er merkte, dass der Satz unangemessen steif wirkte, und fügte hinzu: »Wir haben selten genug Gelegenheit dazu.«

Wieder daneben.

›Ein Glück‹, dachte Florian.

Der Rest der Mahlzeit verlief schweigsam. Nur die Messer und Gabeln scharrten und schabten in der Stille.

Florian ging früh ins Bett. Als er unter der Decke lag, wurde er das Gefühl nicht los, dass etwas in ihm in Bewegung war. Als sei sein Körper mit seinem Zustand nicht zufrieden und experimentiere ein bisschen herum. Es tat nicht weh, rauschte nur manchmal leise und seltsam in seinem Inneren und einige Male kitzelte es unter der Kopfhaut und an den Fußsohlen. Seine Mutter irrte und hatte recht zugleich: Er war nicht ganz fit. Einerseits. Andererseits spürte er seine Kräfte wachsen. Was hatte das alles zu bedeuten?

Egal. Er nahm sein neues Lieblingsbuch und schlug es auf. Er war gerade bei dem Kapitel »Bäume – hoch entwickelte Lebewesen«, das auf höchst interessante Weise genau ihren inneren und äußeren Bau beschrieb. Die ersten zwei Sätze las er jedes Mal: Es gibt auf der Erde keine größeren, schöneren und eindrucksvolleren Lebewesen als die vielerlei Baumarten, die das Gesicht der Kontinente prägen. Sie vereinen die großartige Fähigkeit zur Fotosynthese mit teilweise geradezu unglaublichem Höhenwachstum, einem überaus standfesten Vegetationskörper und phänomenaler Langlebigkeit.

Florian fuhr an der Stelle fort, wo er das vorige Mal das Buch aus der Hand gelegt hatte:

Bäume sind trotz aller Gemeinsamkeiten Individuen, die auf unterschiedliche Standorteinflüsse plastisch reagieren und ihre in den Einzelheiten jeweils einmalige Gestalt ausprägen, hieß es da. Um nun ihre gesamte Lebensweise verstehen zu können, ist es hilfreich, sich gleichsam in die Lebensbedingungen eines Baumes hineinzuversetzen.

Florian stellte erst später fest, dass er von hier an nichts mehr aufnahm. Er las aneinandergereihte Worte, aber sie fügten sich nicht zu Sätzen zusammen. Es hatte keinen Sinn, weiterzulesen. Er klappte das Buch zu, legte es beiseite und knipste das Licht aus. Nach einiger Zeit glaubte er mehrmals Laute zu vernehmen, die leise durcheinanderperlten wie Stimmen in einer vollen Kneipe. Genau. Das war’s: Stimmen! Die Laute, die ihre Fremdheit verloren und ihm nach und nach verständlicher wurden, waren Stimmen! Aber von wem?

Mit geschlossenen Augen lag er im Bett und lauschte. Was er hörte, war insgesamt leiser und zarter als am Nachmittag im Baumhaus. So ähnlich wie in der Schule. Aber keine Spur jämmerlich.

Mit einem Ruck setzte Florian sich im Bett auf, knipste das Licht an und ließ den Blick über seine Zimmerpflanzen schweifen. Diejenigen, die vom Schein der Bettlampe erfasst wurden, warfen Schatten an die Wand: der Nestfarn streng aufrechte, im oberen Teil breite, die Schefflera gefingerte wie von gespreizten Händen und der Papyrus hohe schlanke. Seine Schirme bewegten sich leicht im Luftzug, der durch das geöffnete Fenster kam. Sie sahen aus wie immer.

Hirschjagd

Der nächste Morgen war wolkig, aber von Zeit zu Zeit gab der Himmel die Sonne frei. Auf dem Weg zur Schule hatte Florian das Gefühl, dass sie ihm wohltat wie noch nie. Jeden Sonnenstrahl, den er spürte, saugte er auf vom Kopf bis in die Fußsohlen. Bald ertappte er sich dabei, wie er die Beine auf den Pedalen durchtrat, sich auf dem Rad erhob und der Sonne entgegenstreckte. Er setzte sich wieder und dachte: ›Ich fange wirklich an zu spinnen.‹

Da und wie zur Bestätigung hörte er im Klassenraum die Stimme wieder. Leise, klagend und schwächer als am Tag zuvor.

Anna fragte, ob er Lust hätte, sie auf eine wichtige Expedition in den Grunewald zu begleiten, und sie verabredeten sich für drei Uhr am S-Bahnhof. Ein bisschen Ablenkung konnte nicht schaden.

Florian mochte die Ausflüge mit Anna. Ihr Spezialgebiet waren Insekten, vor allem Schmetterlinge, Wanzen und Käfer. Anna fand ihre Leidenschaft normal. Ihr war unverständlich, wie man einen Käfer für eklig halten konnte. »Wer einmal einen Rosenkäfer genau angesehen hat«, sagte sie, »der lässt dafür jedes Meerschweinchen stehen.«

Dennoch war Anna keine Zoologin im klassischen Sinn. Die zögern meist nicht, ihren Lieblingskäfer zu töten und auf einem Sammelbrett aufzuspießen. Es kommt vor, dass ein bestimmtes Insekt nur genau identifiziert werden kann, wenn es zuvor umgebracht wird. Für Anna kam so etwas nicht infrage. Sie war stolz darauf, dass sie kein einziges präpariertes Tier besaß. »Hinterher weiß man zwar, was es ist«, sagte sie. »Aber es ist nicht mehr. Schweinerei, so was.«

Vom Bahnhof Grunewald aus marschierten die beiden los. Herr Humboldt lief mit seinen kurzen, krummen Beinen voraus und schnüffelte, den großen Kopf nach unten gerichtet, eifrig herum. Wenn er etwas witterte, das ihn interessierte, hielt er die Nase so nah am Boden, dass seine Schlappohren wie Lappen über die Erde fegten. Herr Humboldt war ein Beagle und schon ziemlich alt, aber das war ihm nicht anzumerken. Seine Herkunft war streng geheim. Florian hatte hoch und heilig schwören müssen, dass er nichts darüber verriet. Annas Vater hatte ihn nämlich in seiner Studentenzeit, als er einer zu allem entschlossenen Tierschutzgruppe angehörte, aus einem Versuchslabor befreit. Herr Humboldt hatte der Erprobung von Medikamenten gegen Verstopfung geopfert werden sollen. Das war vor zwölf Jahren gewesen. Seitdem lebte er bei Anna und ihrem Vater und bis auf gelegentlich auftretende Verstopfungen hatte er keine Schäden zurückbehalten. Seinen Namen hatte er von dem Institut, aus dem er stammte. Er war der einzige Jagdhund, der auf Käfer abgerichtet war.

Im Wald gab es Stimmen wie im Baumhaus. Am Wegrand standen Robinien, Zitterpappeln ließen ihre Blätter flattern und ein paar Rosskastanien bereiteten sich auf den Abwurf ihrer stachelumhüllten Früchte vor. Anna und Florian verließen nach einiger Zeit den Weg und tauchten in den lichten Wald aus kräftig grün benadelten Kiefern ein, die zumeist in ordentlichen Reihen wuchsen.

»Um was geht’s denn heute?«, fragte Florian, während er hinter Anna herstapfte. »Um einen kleinen Beitrag zum Artenschutz«, sagte Anna. »Man könnte es allerdings auch Familienzusammenführung nennen.«

Weit vom Weg entfernt ließ die Ordnung der Bäume nach und das Unterholz nahm zu. Anna steuerte eine kleine Lichtung an, wo Holunder, Himbeeren und Gräserhorste wuchsen. In der Mitte stand eine mächtige, alte Eiche oder besser das, was von ihr durch die Zeiten hinweg übrig geblieben war. Ein Teil der Krone war abgestorben und trug keine Blätter mehr. Sie war halb auseinandergebrochen und wirkte wie ein gebeugter, alter Mann am Stock. Aber sie ragte immer noch über zwanzig Meter hoch in den Himmel und der Stammfuß war breit wie ein großer Sessel.

Florian reagierte auf Bäume, die er zum ersten Mal sah, mit ebenso spontanen Empfindungen, wie unbekannte Menschen aufeinander reagieren. Manche mochte er auf Anhieb, andere erzeugten Abneigung und wieder andere lösten gar nichts aus.

Die alte Eiche flößte ihm gleichermaßen Respekt und Unbehagen ein. »Mindestens zweihundert Jahre alt, würde ich sagen«, staunte er. »Wolltest du mir die zeigen?«

»Auch«, sagte Anna und schnallte ihren Rucksack ab. Sie zog eine Decke heraus und breitete sie auf dem Boden aus, deutete darauf und sagte: »Mach’s dir bequem.«

Florian ließ sich im Schneidersitz darauf nieder und Herr Humboldt legte sich neben ihn. Gemeinsam betrachteten sie den knorrigen Baum-Opa. Ein richtiger Veteran.

Genau in diesem Moment hörte Florian eine Stimme, die deutlicher war als alle, die er zuvor wahrgenommen hatte. In angestrengt zackigem Tonfall krächzte sie etwas, das wie militärische Befehle auf einem Kasernenhof klang.

»Anna«, sagte er.

»Ja?«

»Hörst du was?«

»Was?«

»Ob du etwas hörst!«

»Was soll ich denn hören?« Sie sah ihn verständnislos an.

»Eine Stimme«, sagte Florian eindringlich.

»Ich höre nichts.«

»Und du?«, wandte sich Florian an Herrn Humboldt. »Was ist mit dir?«

Herr Humboldt wedelte freundlich mit dem Schwanz.

»Hört doch!«, beschwor Florian seine Begleiter.

»Ich versuch’s ja«, Anna hob die Hände an ihre Ohren und Herr Humboldt lüpfte die Schlappohren.

Die krächzige Stimme verstummte.

Annas Aufmerksamkeit war anderswo. Jagdeifer hatte sie ergriffen. Herr Humboldt spürte das. Aufgeregt sprang er auf. Anna holte aus ihrem Rucksack eine durchlöcherte Pappschachtel, hielt sie dem Beagle vor die Nase und rief: »Such, Humboldt, such!«

Begeistert rannte der Hund los, umkurvte die Eiche, quetschte sich unter einem Himbeerstrauch durch und verschwand. Nach einer kleinen Weile hörten sie ihn aufgeregt bellen.

»Los, hinterher!«, rief Anna.

Herr Humboldt erwartete sie, die Vorderpfoten auf eine riesige, verwitterte Baumscheibe gestützt. Die alte Eiche hatte früher einmal nicht allein gestanden.

Der innere Teil des Stubbens war schon tief zersetzt. Nur die äußere Holzschicht, von der die Rinde längst abgefallen war, stand noch wie eine Röhre, in deren Innerem das Holz morsch und mehlig war.

»Brav, Humboldt, brav«, sagte Anna und tätschelte ihrem Hund die faltige Stirn. Sie beugte sich über das morsche Holz und stocherte mit einem kleinen Stock vorsichtig darin herum. Sorgfältig suchte sie Stück für Stück ab, tastete hier und pulte dort. Dann sagte sie triumphierend: »Aha!«, und stupste etwas Krabbelndes mit dem Stöckchen auf ihre Hand. »Was sagst du nun?«

Auf ihrer Handfläche saß ein schwarzer Käfer mit kastanienbraunen Flügeldecken, halb so groß wie ein kleiner Finger, und schwenkte fragend seine Fühler. Am Kopf hatte er zwei kurze, kräftige Zangen.

»Ist der was Besonderes?«, fragte Florian.

»Die«, verbesserte Anna. »Das will ich meinen. Das ist ein Hirschkäferweibchen.« Liebevoll betrachtete sie das Tier. »Hirschkäfer sind ganz selten geworden«, sagte sie. »Deswegen sind sie auch geschützt. Aber das nützt ihnen wenig.«

»Ich dachte immer, die sehen ganz anders aus«, wunderte sich Florian.

»Wart’s ab.« Anna setzte das Tier behutsam aufs morsche Holz zurück und öffnete die durchlöcherte Pappschachtel. »Siehst du den kleinen, goldfarbenen Haarpinsel zwischen ihren Zangen?«, fragte sie. »Damit saugt sie an morschem Eichenholz. Davon ernähren Hirschkäfer sich. Stell dir vor, ihre Larven leben bis zu acht Jahre in so einem Stubben, ehe sie sich verpuppen!«

Sie kippte die Schachtel über der Baumscheibe aus. Ein Käfer plumpste heraus, genauso gefärbt, aber bedeutend größer als der andere. Das lag vor allem an zwei riesigen Zangen, die er am Kopf trug. Ein richtiges Geweih!

»Der größte Käfer, den es bei uns gibt«, flüsterte Anna ehrfürchtig. »Ein Hirschkäfermännchen.«

»Hoffentlich tut er ihr nichts«, sagte Florian.

»Nein, nein.« Anna winkte ab. »Mit dem Geweih kämpfen die Männchen um die Weibchen. Das kann er sich diesmal sparen.«

Jetzt standen beide Käfer sich gegenüber und bewegten zögerlich ihre Fühler. Dann wandten sie sich voneinander ab. »Ich bin sicher, ihr lernt euch noch kennen«, sagte Anna. »Wo hast du denn das Männchen gefunden?«, fragte Florian. »Du wirst es nicht glauben«, antwortete sie. »Und ich hab’s auch fast nicht geglaubt. Er krabbelte mitten in Kreuzberg herum. Auf dem Bürgersteig in der Bergmannstraße. Als wollte er einkaufen gehen. Herr Humboldt hat ihn entdeckt.«

»Wie kam er denn dahin?«

»Das frage ich mich auch«, sagte Anna. »Die Straße grenzt an einen Friedhof. Vielleicht von dort. Aber auf einem Friedhof mitten in der Stadt gibt es normalerweise genauso wenig Hirschkäfer wie auf einer Autobahn. Hier ist er jedenfalls besser aufgehoben.« Sie seufzte. »Selbst hier gibt’s ja kaum noch welche.«

Anna zog Käfer an und Käfer zogen sie an. Deswegen fanden sie sich immer. Selbst wenn die Chance eins zu hunderttausend stand.

Gedankensprache

Die Schulwoche verging mit seltsamen Geräuschen im Klassenraum. Sie waren fremd, beunruhigend und vertraut zugleich und sie wurden von Tag zu Tag schwächer.

Am Freitag wartete Florian die letzte Stunde ab und trödelte so lange herum, bis er allein im Klassenraum war. Dann begann er mit der Suche. Er schaute unter alle Tische, er durchsuchte sorgfältig den Klassenschrank und die Vitrine, in der die Pokale von den Schulturnieren aufbewahrt wurden, er ließ weder den Lehrertisch aus noch die Nischen hinter den Heizkörpern. Nichts. Da hörte er einen Laut, schwach wie ein Hauch. Er kam vom Klassenschrank.