Im Zeichen des Bösen

 

 

 

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Band 1

 

Im Zeichen des Bösen

 

von Ernst Vlcek und Neal Davenport

 

 

© DORIAN HUNTER: Zaubermond-Verlag

© DÄMONENKILLER: Pabel-Moewig Verlag KG

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go

 

© 2008 Zaubermond-Verlag

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Erstes Buch: Im Zeichen des Bösen

 

 

Im Zeichen des Bösen

 

von Ernst Vlcek

 

1. Kapitel

 

»Leichen sind etwas Wunderbares«, schwärmte der kleine, dunkle Australier mit den ungewöhnlich zarten Händen, der sich als Edward Belial vorgestellt hatte. Dann räusperte er sich und fügte erklärend hinzu: »Sie müssen wissen, dass ich Leichenbestatter bin. Und ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich in meiner Arbeit aufgehe. Wenn die Angehörigen ihre Verstorbenen zu mir bringen, dann sind sie kalt und weiß wie Wachsfiguren. Ihre Gesichter sind entstellt, vom Tode gezeichnete Fratzen. Es gibt nur wenige, die selig und sanft entschlafen. Die weitaus meisten scheiden nach langen qualvollen Leiden dahin, oder sie sterben eines unnatürlichen Todes. Wenn sie aber durch meine Hände gegangen sind, haben sie wieder einen frischen Teint und sind schöner als zu Lebzeiten. Ich liebe meinen Beruf, denn der Leichenbestatter ist der einzige, der den Toten einen Hauch von Leben schenken kann.«

Edward Belial unterbrach sich, als der Autobus über ein Schlagloch fuhr und er in die Höhe gehoben wurde. Die anderen neun Insassen, acht Männer und eine Frau, wurden ebenfalls gehörig durchgeschüttelt. Je nach Temperament und Laune schimpften sie, verdrehten die Augen und verwünschten den Fahrer. Manche von ihnen, wie zum Beispiel der Argentinier Roberto Copello, hatten eine lange Reise hinter sich und waren den Strapazen dieser Autobusfahrt nervlich nicht mehr gewachsen.

Ein kleiner dicklicher Franzose, dem trotz seiner Jugend auf der Vorderseite seines Kopfes bereits keine Haare mehr wuchsen und der auf der Bank hinter dem Fahrer saß, beugte sich zu diesem vor und fluchte auf Englisch: »Können Sie nicht besser Acht geben? Sie fahren ja, als sei der Leibhaftige hinter Ihnen her.« Er drehte sich zu den anderen um, die sich über die verschiedenen Sitzreihen verteilt hatten. Seine kleinen Augen hatten einen verschlagenen Ausdruck, und sein Blick wanderte unruhig von einem zum anderen. »Ich glaube, Sie kennen meinen Namen noch nicht«, sagte er. »Ich bin Dr. Frederic de Buer und soviel ich weiß mit neunundzwanzig Jahren der jüngste Serologe Frankreichs. Sie dort hinten in der letzten Reihe, Sie sprechen doch Deutsch? Ich glaube, Ihr Name war Hunter? Dorian Hunter? Sagen Sie doch diesem Bauernlümmel, dass er nicht so rasen soll! Wir werden noch alle im Straßengraben landen.«

Der Angesprochene, an dessen Seite die einzige Frau saß, rief nach vorn: »Müssen Sie so schnell fahren? Wir haben es gar nicht eilig.«

»Aber ich«, rief der Fahrer im Dialekt der Einheimischen zurück, ohne den Kopf zu wenden. Er kauerte mit verkniffenem Gesicht hinter dem großen Lenkrad und wandte den Blick nicht von der Schotterstraße, die sich durch den Wald schlängelte. »Ich hätte diese Fuhre gar nicht übernommen, wenn Sie kein so gutes Angebot gemacht hätten. Aber vor Einbruch der Dunkelheit möchte ich wieder zu Hause sein.«

»Warum?«, wollte Dorian Hunter wissen.

Der Fahrer lachte nur. Es klang gekünstelt.

»Da ist nichts zu machen«, meinte Dorian mit einem bedauernden Lächeln zu den anderen. »Der Mann scheint eine wichtige Verabredung zu haben.«

»Wie wir«, sagte der große stattliche Schwede, der sich als Jörg Eklund vorgestellt hatte.

»Er hat Angst«, behauptete ein Mann, der in der dritten Sitzreihe saß. Er war fast zwei Meter groß, unheimlich mager und blass und wirkte fast durchscheinend wie ein Gespenst. »Ich brauche seine Sprache gar nicht zu verstehen, um das zu merken.«

Dorian Hunter drückte seine Frau fester an sich, als er merkte, dass sie zitterte. »Was ist mit dir, Lilian?«, erkundigte er sich besorgt.

Sie wirkte neben ihm so zierlich und zerbrechlich wie eine Puppe. Dieser Eindruck wurde noch durch ihr blondes Haar und die helle Haut unterstrichen, die einen starken Gegensatz zu seinem dunklen Teint bildete. Er war einen Meter neunzig groß, schlank und sportlich; aus jeder seiner Bewegungen, selbst wenn er seiner Frau zärtlich über das Puppengesicht strich, sprach die geballte Kraft seines durchtrainierten Körpers.

»Ich habe Angst«, gestand Lilian. »Alles ist so unheimlich. Diese fremden Männer, die dasselbe Ziel haben wie du ... Wie erklärst du es dir, Rian, dass sie alle zur gleichen Zeit den Wunsch verspürt haben, nach Asmoda zu fahren? Ausgerechnet in dieses unscheinbare Dorf an der jugoslawischen Grenze, das niemand kennt.«

Dorian blickte mit einem aufmunternden Lächeln auf seine Frau herab, aber der dichte Schnurrbart verzerrte das Lächeln, und der besänftigende Blick aus seinen dunklen Augen hatte etwas Dämonisches.

»Es wird sich sicher für alles eine harmlose Erklärung finden«, sagte Dorian, aber es klang nicht sehr überzeugend.

»Daran glaubst du selbst nicht, Rian«, wisperte Lilian. »Welche Erklärung soll es denn dafür geben, dass neun Männer aus allen Teilen der Welt, die sich vorher noch nie gesehen und nichts voneinander gehört haben, plötzlich denselben Wunsch verspüren?«

»Es ist mehr als ein Wunsch. Es ist ein Drang. Beinahe ein Zwang«, berichtigte Dorian sie.

»Hör auf damit!«, bat Lilian. »Wir hätten diese Reise gar nicht unternehmen sollen.«

»Ich habe dir freigestellt, in London zu bleiben.«

Lilian rückte ein Stück von ihm ab und meinte schmollend: »Bin ich dir lästig? Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht mitgekommen.«

Er zog sie an sich und küsste sie auf die Nasenspitze. »Sei nicht albern, Lilian!«

Sie schmiegte sich wieder an ihn. »Du weißt doch, dass ich nie – nie ohne dich sein könnte! Warum hast du keine einzige Sekunde daran gedacht, dieses alberne Vorhaben, nach Asmoda zu fahren, aufzugeben und bei mir in London zu bleiben?«

Dorian biss die Zähne aufeinander, dass seine Wangenknochen hervortraten. »Weil ich nicht anders konnte. Ich muss herausfinden, welche Kraft mich in diese gottverlassene Gegend zieht.«

Lilian zitterte am ganzen Körper. Ihre Zähne klapperten hörbar aufeinander. »Ich habe es mir nicht so schlimm vorgestellt«, gestand sie. »Ich glaubte, dass du dir alles nur einbilden würdest – diese lockenden Stimmen, die du in deinen Träumen gehört hast. Ich dachte, sie wären eine Auswirkung deiner intensiven Beschäftigung mit dem Okkultismus, den Hexenverbrennungen, der Inquisition und diesen schauderhaften Dingen. Deshalb wollte ich dich an Ort und Stelle davon überzeugen, dass alles nur ein Produkt deiner blühenden Phantasie ist. Aber jetzt ...« Sie schüttelte sich demonstrativ und fuhr mit zittriger Stimme fort: »Jetzt fange ich an zu glauben, dass es diese Stimmen wirklich gegeben hat. Es kann doch kein Zufall sein, dass diese acht Männer die gleiche Botschaft wie du erhalten haben. Hätte ich gewusst, dass wir in so unheimliche Gesellschaft geraten würden ... Sieh dir einmal den Mann an, der drei Reihen vor uns sitzt! Wenn er mir im Londoner Nebel begegnen würde, würde ich vor Angst sterben. Er hat gesagt, dass er Sizilianer sei. Ich wette, er gehört zur Mafia.«

»Jetzt geht aber deine Phantasie mit dir durch«, sagte Dorian lachend.

Der Mann, von dem Lilian gesprochen hatte, war groß und bullig. Der kleine Kopf bildete einen unheimlichen Kontrast zu seinem Körper. In diesem Augenblick wandte sich der Fremde um, als hätte er Lilians Worte gehört. Sie erblickte eine breite Narbe auf seiner linken Gesichtshälfte, die sich von der Stirn bis zum Kinn hinunter zog.

»Ich heiße Bruno Guozzi«, sagte er, als sei er aufgefordert worden, seinen Namen zu nennen.

»Er hat mich gehört«, flüsterte Lilian ihrem Mann zu. »Ich bin sicher, dass er mich gehört hat, obwohl ich leise gesprochen habe. Er kommt mir so vor, als sei er von den Toten auferstanden.«

Wie um Lilians Ängste zu schüren, fuhr Bruno Guozzi fort: »Ich weiß, dass ich keinen sehr erfreulichen Anblick biete. Das habe ich meinen Feinden zu verdanken, die versucht haben, mich lebendig einzumauern. Kann sich jemand von Ihnen vorstellen, was es bedeutet, lebendig begraben zu sein? Dieses Erlebnis hat mich geformt – äußerlich wie auch im Innern. Würde jemand von Ihnen glauben, dass ich erst neunundzwanzig Jahre alt bin?«

»Sagten Sie neunundzwanzig Jahre?«, erkundigte sich Jörg Eklund, ein Schwede mit leicht femininen Zügen. Als er den drohenden Blick des Sizilianers bemerkte, fügte er schnell hinzu: »Dann sind wir der gleiche Jahrgang. Ich bin auch neunundzwanzig. Geboren am 14. Juli.«

»Welch ein Zufall!«, rief der Argentinier Roberto Copello, der sich als Kriminologe ausgegeben hatte, mit schriller Stimme. »Auch ich bin neunundzwanzig Jahre und am 14. Juli geboren.«

Lilian gab einen erstickten Aufschrei von sich und starrte ihren Mann aus vor Schreck geweiteten Augen an.

»Habe ich Sie erschreckt?«, erkundigte sich Copello scheinheilig.

Dorian schüttelte den Kopf. »Die Überraschung meiner Frau ist wohl darauf zurückzuführen, dass ich ebenfalls in Ihrem Alter bin. Auch mein Geburtstag fällt auf den 14. Juli.«

Für einen Moment herrschte Totenstille im Autobus; nur die Fahrgeräusche waren zu hören. Durch die schlecht abgedichteten Fenster pfiff ein schauriger Wind. Die Männer sahen einander an; und sie lasen es von den Gesichtern der anderen ab, dass sie alle dasselbe dachten. Sie waren alle gleich alt, und sie waren alle am selben Tag geboren. Dies musste eine tiefere Bedeutung haben. Lilian Hunter war derselben Ansicht. Sie presste ängstlich die Hand vor den Mund, weil sie ahnte, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging.

 

Der Autobus hielt mit quietschenden Bremsen auf dem Dorfplatz.

»Das ist Asmoda?«, fragte Dr. Robert Fuller, der kleine nervöse Transplantationschirurg aus den USA, enttäuscht.

»Mir scheint, wir sind ins düstere Mittelalter verschlagen worden«, meinte Dr. Jerome Hewitt stirnrunzelnd. Er war groß und kräftig und wirkte so behäbig und ungeschickt wie ein Bär.

Der Platz war nicht groß. In der Mitte stand ein Brunnen, den ein gusseiserner Drache zierte. Früher hatte er aus seinem aufgerissenen Maul wahrscheinlich Wasser gespien, aber jetzt kam kein Tropfen mehr heraus. Zwei junge Burschen, die auf der Steinumfassung gesessen hatten, erhoben sich schnell und verschwanden in dem fünfzehn Meter entfernten Gasthaus. Die Häuser rund um den Platz waren Fachwerkbauten mit geschnitzten Giebelverzierungen und Holzläden vor den Fenstern. Einst waren es sicherlich schmucke Häuser gewesen, doch jetzt zeigten sie starke Verfallserscheinungen. Aber nicht nur die ländlichen Gebäude und der mit Kopfsteinen gepflasterte Platz machten einen verwahrlosten Eindruck; auch die wenigen Bewohner, die zu sehen waren, wirkten heruntergekommen und verschlampt. Die beiden Frauen, die eben aus dem Gemischtwarenladen traten und eiligen Schrittes, dicht an die Hauswand geduckt, davonhasteten, trugen einfache Kittel aus grobem Leinen. Ihre Gesichter verschwanden unter den schwarzen, streng geknoteten Kopftüchern. Ihre Hände, mit denen sie Einkaufskörbe umklammerten und fest an den Körper drückten, waren schmutzig. Kaum hatten sie den Laden verlassen, eilte der Besitzer heraus und schlug die Läden zu. Ein halbes Dutzend Dorfbewohner, die kurz aus den Fenstern geblickt hatten, folgten seinem Beispiel. Im Nu lag der Platz wie ausgestorben da. Der Fahrer des klapprigen Autobusses versuchte seine Gäste durch Gesten und Worte, die sie nicht verstanden, zu rascherem Aussteigen zu bewegen. Als alle draußen waren und ihre Koffer aus dem mit einem Stück Draht verschlossenen Gepäckraum holten, wandte sich Dorian Hunter an den Fahrer und fragte ihn: »Wovor fürchten Sie sich?«

»Ich habe keine Angst«, behauptete der grobschlächtige Mann wenig überzeugend. »Ich möchte nur Asmoda noch vor Einbruch der Nacht weit hinter mir wissen.«

»Das muss doch einen besonderen Grund haben, denke ich.«

Der Fahrer wischte sich nervös die Hände an der Hose ab, blickte sich dann verstohlen um und sagte mit gedämpfter Stimme: »Alle Leute der Umgebung meiden Asmoda. Sehen Sie selbst, wie seltsam sich die Bewohner benehmen! Sie misstrauen allen Fremden – und als Fremder tut man ebenso gut, den Leuten von Asmoda zu misstrauen. Man erzählt sich seltsame Dinge.«

»Wir sind nicht abergläubisch«, meinte Dorian lachend.

Der Einheimische warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Es geht mich nichts an, was Sie hier wollen. Sie haben mich anständig bezahlt, und ich habe Sie an Ihr Ziel gefahren. Alles Weitere hat mich nicht zu kümmern. Aber ... wollen Sie etwa die Nacht in Asmoda verbringen?«

»Es wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben.«

Der Fahrer ergriff plötzlich Dorians Arm und drückte ihn fest. »Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Tun Sie das nicht! Sie haben eine junge, hübsche Frau bei sich. Das kann gefährlich werden. Um der Sicherheit Ihrer Frau willen, bleiben Sie nicht hier!«

»Was wollen Sie damit sagen?«, erkundigte sich Dorian scharf.

»Nichts, Herr. Ich sage nichts mehr. Ich habe schon zu viel geredet.«

Dorian schüttelte seine Hand ab und packte ihn am Rockaufschlag. »Heraus mit der Sprache! Warum glauben Sie, dass meine Frau in Asmoda nicht sicher sei?«

»Ich ... Lassen Sie mich los, Herr! Ich bekomme keine Luft.«

Als sich Dorians Griff lockerte, schluckte der Mann und bekreuzigte sich. »Hoffentlich erfährt sie es nicht, dass ich Sie gewarnt habe. Verraten Sie mich nicht, Herr!«

»Von wem sprechen Sie eigentlich?«

»Von der Hexe, die hier ihr Unwesen treibt«, antwortete der Mann widerwillig. »Lachen Sie mich nicht aus, Herr! Denken Sie an meine Worte und achten Sie auf Ihre junge, schöne Frau! Es sind schon viele junge Mädchen in dieser Gegend verschwunden und nie mehr aufgetaucht.«

Dorian blies hörbar die Luft durch die Zähne und gab dem Fahrer einen Stoß, dass er mit dem Gesäß gegen das Lenkrad und auf die Hupe fiel. Ihr missklingender Ton hallte eindringlich über den stillen Platz. Ihr Klang, der so ganz und gar nicht in diese mittelalterliche Umgebung passen wollte, brachte Dorian zur Besinnung. »Entschuldigen Sie!«, meinte er verlegen. »Und danke für Ihre Warnung.« Dann wandte er sich wieder Lilian zu.

»Was wollte der Mann von dir?«, erkundigte sie sich, während er ihr beim Aussteigen behilflich war.

»Er muss verrückt sein«, sagte Dorian ausweichend. »Er hat ganz konfuses Zeug geredet.«

Lilian blieb auf der untersten Stufe stehen. »Wollen wir nicht umkehren, solange es noch nicht zu spät ist? Der Fahrer nimmt uns bestimmt mit zurück, wenn wir ihn darum bitten. Mir zuliebe, Rian!«

»Du kleine, ängstliche Närrin«, meinte er lachend und hob sie mit spielerischer Leichtigkeit von der Treppe herunter. »Solange ich bei dir bin, hast du weder Teufel noch Dämonen zu fürchten.«

»Teufel und Dämonen?«, wiederholte Lilian und schlang die Arme um den Körper.

»Das nimmst du doch nicht wörtlich?« Dorian holte ihre beiden Koffer aus dem Gepäckraum, verschloss die Klappe mit dem Draht und gab dem Fahrer mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er abfahren konnte. Der Motor heulte auf. Der Autobus setzte sich in Bewegung und war eine Minute später in einer der engen Dorfgassen verschwunden. Zurück blieben die zehn Personen mit ihrem Reisegepäck. Erst jetzt merkten sie, dass sie Fremdkörper an diesem Ort waren – Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts in einem Dorf, an dem die Zeit spurlos vorbeigegangen zu sein schien.

»Wie soll es nun weitergehen?«, fragte Jörg Eklund.

»Ich schlage vor, dass wir uns zuerst einmal ein Quartier für die Nacht suchen«, meinte Dr. de Buer. »Wollen Sie das übernehmen, Mr. Hunter? Vielleicht versuchen Sie es einmal in dem Gasthaus dort drüben. Ein anderes Lokal scheint es hier ohnehin nicht zu geben.«

Dorian stellte seine beiden Koffer wieder hin, lächelte Lilian beruhigend zu und schritt auf das Gasthaus zu. Über dem Eingang hing ein Schild mit einer abgeblätterten Schrift. Zum Güldenen Drudenfuß, stand darauf. Das Schild schien tatsächlich noch aus jener Zeit zu stammen, in der man geglaubt hatte, dass Pentagramme vor Nachtkobolden und Hexen schützen. Absurd, dass heutzutage jemand noch etwas auf diese Schauergeschichten gab.

Als Dorian den Eingang des Wirtshauses erreichte, trat plötzlich der Wirt heraus und schickte sich an, die Holzläden der Tür zu schließen. Dorian schob blitzschnell einen Fuß in die Türspalte und fragte: »Haben Sie Zimmer frei?«

Ein Blick ins Innere zeigte ihm, dass der Schankraum nur durch Kerzenlicht erhellt war. Aus dem Halbdunkel blickten ihm einige düstere Gesichter entgegen.

»Geschlossen«, sagte der Wirt in gebrochenem Deutsch und fügte anschließend etwas in einer fremden Sprache hinzu.

»Wir wollen gar nicht bei Ihnen einkehren«, versuchte Dorian ihm geduldig zu erklären. »Wir brauchen nur Quartiere für die Nacht. Wenn Sie Zimmer vermieten, würden wir sie gern ansehen.«

Der Wirt schüttelte den Kopf.

»Sie vermieten keine Zimmer?«, vergewisserte sich Dorian.

Erneutes Kopfschütteln.

»Können Sie uns dann vielleicht sagen, ob es in diesem Ort noch eine andere Übernachtungsmöglichkeit gibt?«

»Nein.«

Dorian resignierte. Er zog den Fuß zurück, und die Holzläden schlugen zu. Die anderen Reisegäste hatten neben dem Drachenbrunnen gewartet. Dorian kehrte zu ihnen zurück und hob bedauernd die Schultern. Links hörte er plötzlich ein schrilles Kichern. Als er sich umwandte, sah er einen jungen Mann unter einem Torbogen kauern. Er hockte auf einem Mauervorsprung und grinste, während er mit abgehackten, heftigen Bewegungen an einem Stück Rinde schnitzte. Dorian ging zu ihm. »Wir sind fremd hier und suchen für die Nacht ein Quartier«, sagte er. »Wissen Sie, wo wir hier in Asmoda Zimmer bekommen könnten?«

Der junge Mann blickte von seiner Tätigkeit auf. Dorian sah in das Gesicht eines Geistesgestörten, in dem ständig irgendein Nerv zuckte.

»Ja, ja«, sagte der junge Mann und kicherte wieder aufdringlich. »Ich weiß, wo Sie schlafen können. In der Herberge des fetten Jablonsky.«

»Können Sie uns den Weg beschreiben?«, fuhr Dorian schnell fort. »Oder würden Sie uns zur Herberge hinführen? Sie brauchen das natürlich nicht umsonst zu tun.«

»Geld, ja?«, erkundigte sich der junge Mann, der kaum älter als neunzehn Jahre sein konnte. Er erhob sich, verstaute die Rinde in seiner viel zu großen Hose und klappte das Taschenmesser zusammen, um es ebenfalls verschwinden zu lassen.

»Wollen Sie, dass Vukujev Sie zum fetten Jablonsky bringt, Herr?«

»Sie heißen Vukujev?«

Der junge Mann nickte und grinste dabei dümmlich. Dorian holte einen Fünfzig-Schilling-Schein aus der Tasche und drückte ihn dem Geisteskranken in die Hand. »Führen Sie uns bitte zur Herberge, Vukujev!«

Der Junge stopfte die Banknote in seine Hosentasche und eilte kichernd zu den anderen. »Ich führe die Herren«, verkündete er und eilte zwischen den abgestellten Koffern umher. Vor Lilian blieb er stehen und starrte sie mit unverhohlener Neugier an. Mit dem Handrücken wischte er sich den Speichel von den vor Staunen geöffneten Lippen. »Schöne Frau. Schön wie Anja«, sagte er bewundernd.

Lilian wich entsetzt zurück. »Rian, was will dieser Verrückte von mir?«

»Er wird uns zur Herberge führen«, erklärte Dorian und herrschte dann Vukujev an: »Tragen Sie meine Koffer, oder glauben Sie, ich bezahle Sie fürs Nichtstun!«

Zu Dorians Erstaunen zuckte der junge Mann zusammen, als hätte man ihn geschlagen. Sofort ergriff er die beiden Koffer und eilte davon. Nach zehn Schritten blieb er stehen und rief: »Kommen Sie! Schnell, Herr! Kommen Sie!« Dann setzte er sich mit den beiden Koffern wieder in Bewegung.

»Musstest du dich unbedingt mit diesem Verrückten einlassen?«, fragte Lilian vorwurfsvoll. »Wer weiß, ob wir ihn wieder loswerden.«

»Er ist harmlos«, versicherte Dorian. Er fasste Lilian um die Hüfte und drängte sie hinter Vukujev her, der sich schon fast zwanzig Meter von ihnen entfernt hatte.

»Sie haben es gut, Hunter«, sagte Dr. Fuller ächzend. »Sie haben sich gleich den einzigen Kuli weit und breit geschnappt.«

»Glauben Sie nur nicht, dass Sie den Wortführer spielen können, weil Sie zufällig die Sprache dieser Hinterwäldler beherrschen, Hunter«, rief Bruno Guozzi dazwischen. »Ich habe es nicht gern, wenn man mich herumkommandiert.«

»Dann übernachten Sie meinetwegen im Freien«, rief Dorian verärgert zurück. Je länger er mit den anderen zusammen war, desto mehr spürte er, dass sie nicht zusammenpassten. Sie waren von der gleichen magischen Kraft hierher gelotst worden, aber er war dem Ruf aus ganz anderen Motiven gefolgt als sie. Er suchte nach einer Antwort – die anderen vielleicht eher nach einer Art Bestätigung ...

Sie kamen durch winklige Gassen. Die Dämmerung senkte sich langsam auf Asmoda herab. In diesem von bewaldeten Hügeln und Bergen umgebenen Tal wurde es schneller Nacht als anderswo. In keinem der Häuser, an denen sie vorbeikamen, brannte ein Licht, und es gab auch keine Straßenbeleuchtung. In der Luft hing der Geruch von Knoblauch. Als sie zehn Minuten später das Ende des Dorfes erreicht hatten, sahen sie endlich ein Haus, in dem einige Fenster erhellt waren. Das musste die Herberge sein. Vukujev erwartete sie bereits vor dem Eingang. Er hatte sich auf einen von Dorians Koffern gesetzt und kicherte vor sich hin.

»Da hängt ein Schild«, sagte Elmer Landrop, der Großgrundbesitzer aus Kapstadt, dessen Aussehen eher einem Gespenst als einem lebenden Menschen ähnelte. »Können Sie lesen, was darauf steht, Hunter?«

Dorian warf einen kurzen Blick auf das schmierige Kärtchen, das an einer mehrfach geknoteten Schnur von der Klinke baumelte. »Keine Zimmer frei«, übersetzte er. Er holte tief Luft und öffnete die Tür. »Das wird sich herausstellen«, sagte er.

 

 

2. Kapitel

 

Über der Tür bimmelte ein Glöckchen, als Dorian die Schankstube betrat und feststellen musste, dass sie leer war. Er blickte sich um. Auf einigen der Tische standen neben halb abgebrannten Kerzen Gläser, manche von ihnen halbvoll. Aber es war kein einziger Gast da. Entweder waren alle schon längst gegangen, und der Wirt hatte nur aus Trägheit nicht abgeräumt, oder sie hatten den Schankraum erst vor kurzem fluchtartig verlassen. Wahrscheinlich letzteres, dachte Dorian.

»Ist jemand da?«, rief er laut.

Ihm war, als hörte er aus den hinteren Räumen schlurfende Schritte und verhaltenes Stimmengemurmel, aber diese Geräusche gingen in dem Lärm unter, den die anderen Fremden verursachten, als sie den Schankraum der Herberge betraten. Die Kerzenflammen des siebenarmigen Leuchters, der auf der veralteten Registrierkasse stand, flackerten unruhig im Luftzug. Dorian stellte sich schützend davor, damit sie nicht ausgehen konnten. Neben ihm tauchte Vukujev auf und kicherte nervenaufreibend. Er schlängelte sich behände durch die Tischreihen und schlürfte nacheinander die Reste aus den Gläsern.

Lilian drängte sich an Dorians Seite und flüsterte: »Komm, lass uns wieder gehen! In dieser Räuberhöhle würde ich nicht einmal für viel Geld übernachten wollen.«

»In unserer Lage dürfen wir nicht so wählerisch sein, Frau Hunter«, sagte Dr. de Buer und wischte mit der Hand naserümpfend über ein staubbedecktes Regal an der Wand.

»Hier scheint man auf unsere Devisen keinen Wert zu legen«, sagte Roberto Copello. »Dabei dachte ich, Österreich sei ein gastfreundliches Land.«

»Das hier ist nicht das Österreich, für das man in den Reisebüros wirbt«, erklärte Jörg Eklund und spreizte geziert die Hände. »Ich war schon einmal mit meiner verstorbenen Frau in diesem Land, aber das war damals ganz anders.«

»Sie waren verheiratet?«, erkundigte sich Lilian impulsiv, obgleich sie am liebsten kein einziges Wort mehr mit den anderen Männern gewechselt hätte.

»Ja«, erklärte Eklund und lächelte süffisant. »Elvira war dreißig Jahre älter als ich. Man fand sie eines Tages tot auf. Sie war furchtbar zugerichtet, als wäre sie von einem Rudel Wölfe überfallen worden – sagte die Polizei. Eine befriedigende Erklärung konnte man nicht finden.«

»Das ist ja furchtbar«, meinte Lilian.

»Furchtbar?« Eklund spitzte die Lippen. »Ich habe ein Vermögen geerbt. Das ist doch nicht furchtbar.«

Einige der anderen lachten. Lilian fröstelte. In was für eine Gesellschaft war sie da geraten!

»Jablonsky!«, brüllte Vukujev durch die Schankstube. »Gäste sind da.«

Aus den hinteren Räumen ertönte eine Stimme, ohne dass sich der Sprecher blicken ließ. »Ich habe keine Zimmer frei. Das ist deutlich zu lesen. Verschwindet wieder!«

»Aber hier sind Fremde. Touristen. Willst du, dass sie im Wald übernachten?«, fragte Vukujev mit seiner schrillen Stimme und kicherte.

»Ich werde mir den Besitzer der Herberge einmal vornehmen«, sagte Dorian entschlossen und machte Anstalten, die Privaträume des Gastwirts aufzusuchen. In diesem Moment glitt eine Seitentür auf, und ein Mädchen huschte in den Schankraum. Sie war kaum ein Meter sechzig groß und stämmig. Trotz ihrer schlampigen Kleidung war zu erkennen, dass sie eine gute Figur hatte, und der Schmutz in ihrem Gesicht konnte nicht verbergen, dass sie hübsch war.

»Anja!«, rief Vukujev überrascht aus.

»Pst!«, machte das Mädchen und legte den Zeigefinger an die Lippen, während ihre großen, mandelförmigen Augen verstohlen zu der Pendeltür glitten, die zu den Privaträumen führte. Dann schürzte sie ihren Kittel und kam lautlos herangeeilt. Vor Dorian blieb sie stehen und blickte flehend zu ihm auf. »Sie verstehen, was ich sage? Ich habe gehört, dass Sie Deutsch sprechen, Herr«, raunte sie im Dialekt der Einheimischen, was sich seltsam anhörte, weil sie mit einem slawischen Akzent sprach. »Sie müssen mir helfen, Herr. Bringen Sie mich von hier fort! Bitte! Ich habe Angst.«

Dorian wollte schon fragen, wovor sie sich denn fürchte, als er das Amulett sah, das sie an einer Schnur um den Hals trug. Er griff danach und wog es in der Hand. Es war ein Pentagramm darauf abgebildet, das von Schriftmotiven aus der Kabbala eingerahmt war.

»Warum tragen Sie das Amulett?«, erkundigte sich Dorian.

»Es schützt mich vor den Dämonen«, antwortete das Mädchen scheu. Sie wirkte recht intelligent. Wahrscheinlich befürchtete sie, der Fremde würde sie wegen ihres Aberglaubens belächeln. Aber Dorian lachte sie nicht aus, und das ließ sie neuen Mut schöpfen. Hastig fuhr sie fort: »Aber ich fühle, dass ich in der kommenden Vollmondnacht hier nicht mehr sicher bin. Bitte, beschützen Sie mich! Ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen, nur nehmen Sie mich mit!«

»Anja!« Die Pendeltür wurde aufgestoßen, und ein grobschlächtiger Mann mit einem grauen, verfilzten Vollbart stürmte in die Schankstube. »Was treibst du dich hier herum, Miststück?«, herrschte er das eingeschüchterte Mädchen an und zerrte es von Dorian fort. »Los, füttere die Säue und räume die Stube auf! An die Arbeit, du faules Weib!«

Das Mädchen rannte schluchzend davon. Bevor sie in der Seitentür verschwand, warf sie Dorian noch einen flehenden Blick zu.

Hunter wollte den Mann zur Rede stellen, aber da spürte er den Druck von Lilians Händen an seinem Oberarm und entspannte sich. Es ging ihn schließlich wirklich nichts an, wie dieser Mann sein Gesinde behandelte. »Sind Sie Jablonsky?«, fragte er stattdessen nur.

»Der bin ich«, sagte der Bärtige feindselig. »Und mir gehört diese Herberge. Hier bestimme ich.«

»Dieses Recht will Ihnen niemand streitig machen«, entgegnete Dorian mit feinem Spott. Er machte eine umfassende Bewegung, in die er seine Begleiter mit einschloss, und erklärte: »Meine Freunde und ich suchen Zimmer. Wenigstens für eine Nacht. Vukujev sagte uns, dass Sie welche vermieten.«

»Haben Sie nicht bemerkt, dass Vuk nicht ganz richtig im Kopf ist?«, fragte der Herbergsbesitzer und tippte sich an die Stirn.

Vukujev kicherte.

»Er kann sagen, was er will. Ich habe jedenfalls kein Zimmer frei. Alles besetzt.«

Dorian ballte die Hände zu Fäusten. »Das können Sie nicht mit uns machen. Wir sind fremd hier. Wo sollen wir übernachten, wenn Sie uns nicht aufnehmen? Oder glauben Sie, wir könnten für unsere Quartiere nicht bezahlen?«

»Geld!«, höhnte Jablonsky abfällig. Er spie das Wort Dorian förmlich ins Gesicht. »Ich pfeife auf Ihr Geld. Meine Gesundheit ist mir lieber. Ich will keine Fremden in meinem Haus haben, die nur Unglück über mich und mein Weib bringen würden. Verschwinden Sie jetzt, bevor ich meine Hunde auf Sie hetze!«

»Wau, wau«, machte Vukujev und ahmte ein jämmerliches Gewinsel nach.

Bruno Guozzi, der richtig gedeutet hatte, welchen Verlauf das Gespräch nahm, schob Dorian beiseite und legte dem Herbergsbesitzer beide Hände auf die Schultern. Sonst tat er nichts, aber diese Berührung genügte, um den Einheimischen erzittern zu lassen.

»Nein! Nicht! Bitte, nicht!«, stammelte Jablonsky, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Sein Gesicht verzerrte sich wie unter Schmerzen. Bruno Guozzis Gesichtszüge entspannten sich dagegen. Seine knochigen Wangen bekamen Farbe. Er blühte förmlich auf, während der Herbergsbesitzer mehr und mehr verfiel.

»Was macht er mit ihm?«, fragte Lilian ängstlich.

Dorian trat entschlossen vor und stieß Bruno Guozzi zur Seite. »Schüchtern Sie den Mann nicht ein!«, herrschte er den Sizilianer an. »Wenn er uns kein Quartier geben will, dann soll er es bleiben lassen. Wir werden schon etwas finden.«

Guozzi machte ein Gesicht, als wäre er gewaltsam aus einer Trance gerissen worden. Plötzlich verlor er alle Farbe, und sein Totenschädelgesicht verwandelte sich in eine fürchterliche Fratze.

»Sie kommen mir nicht noch einmal ungestraft in die Quere, Hunter«, zischte er und stapfte aus dem Schankraum.

Dorian warf Jablonsky, der am ganzen Körper zitterte und sich auf die Theke stützen musste, noch einen letzten Blick zu, dann begab er sich mit Lilian ebenfalls ins Freie. Inzwischen war es Nacht geworden. Über den Himmel zogen dunkle Wolken. Ein kurz aufflackerndes Wetterleuchten tauchte die Gesichter der Männer in fahles Licht. Lilian klammerte sich ängstlich an Dorians Oberarm. Vukujev kicherte. Er machte keine Anstalten, die Reisegruppe zu verlassen.

»Du hast gewusst, dass der Wirt uns die Tür weisen würde«, sagte Dorian zu ihm.

»Ja, ja, Herr«, bestätigte Vukujev.

»Warum hast du uns dann hierher geführt?«, fragte Dorian verärgert. »Wir hätten uns viel Ärger ersparen können. Und vielleicht hätten wir schon längst eine Unterkunft gefunden, wenn wir uns selbst auf die Suche gemacht hätten.«

»Die Herberge des fetten Jablonsky liegt auf dem Weg«, erklärte Vukujev geheimnisvoll.

»Auf welchem Weg?«

»Auf dem Weg zum Schloss.«

»Drücke dich gefälligst deutlicher aus!«, verlangte Dorian ungehalten.

Vukujev kam ganz nahe an Dorian heran und deutete auf den Gipfel des bewaldeten Hügels, an dessen Fuß sie sich befanden. »Dort oben liegt das Schloss«, erklärte er mit Speichel auf den Lippen, den er von Zeit zu Zeit schlürfend durch die Zähne sog. »Es gehört der Gräfin Anastasia von Lethian. Sie wohnt dort seit vielen, vielen Jahren ganz allein. Sie ist furchtbar einsam. Ich weiß es, weil ich oft Arbeiten für sie verrichte, die sie mir aufgezeichnet hat. Ich kann nämlich nicht lesen und schreiben.«

»Und du glaubst, dass uns die Gräfin Quartier geben wird?«, unterbrach Dorian den Redefluss Vukujevs.

Dieser nickte eifrig. »Freilich, freilich. Schon oft habe ich Fremde zum Schloss geführt, und die Gräfin hat noch keinen vor die Tür gesetzt. Ich habe sie noch nie gesehen, aber sie muss ein gutes Herz haben. Jagt keinen Fremden davon, und wenn es auch nur ein armer Holzfäller oder ein Wanderer ist. Ich bin sicher, dass die Gräfin auch euch aufnehmen wird.«

Dorian erklärte den Vorschlag Vukujevs den anderen. Sie waren alle begeistert von der Idee, die Nacht in einem Schloss zu verbringen – bis auf Lilian. Aber alle Bedenken, die sie vorbrachte, wurden von Dorian zerstreut.

»Wovor fürchten Sie sich, Frau Hunter?«, fragte Roberto Copello in heiterem Ton. »Sie haben neun Männer zu Ihrem Schutz – und wenn man diesen Dorftrottel dazurechnet, sind es sogar zehn. Sie haben also nichts zu befürchten. Wenn Sie es wünschen, werde ich nicht von Ihrer Seite weichen.«

»Danke«, sagte Lilian und hakte sich bei Copello unter. Eingekeilt zwischen ihrem Mann und dem Südamerikaner fühlte sie sich sogleich geborgener.

Sie begannen mit dem Aufstieg. Es war ein breiter, jedoch holpriger Hohlweg. Vukujev, der an harte Arbeit gewöhnt zu sein schien, trug die beiden Koffer mit spielerischer Leichtigkeit. Die anderen taten sich schwerer, obwohl sie fast durchweg nur leichtes Gepäck hatten. Selbst der kräftige Dr. Hewitt begann bald zu keuchen. Dr. Fuller, der Chirurg aus den USA, fluchte in einem Ton, den man bei einem Mediziner eigentlich nicht erwartet hätte. Er stellte in regelmäßigen Abständen seine beiden Koffer ab, wünschte den Leuten, die diesen Weg angelegt hatten, ewige Verdammnis und rief Teufel und Dämonen an, ihm beizustehen. Am schwersten von allen hatte es aber Elmer Landrop, der große und klapperdürre Großgrundbesitzer aus Kapstadt. Obwohl er nur eine schmale Reisetasche bei sich trug, litt er am meisten unter den Strapazen des Aufstiegs. Dorian überließ seine Frau dem argentinischen Kriminologen und bot Landrop an, seine Reisetasche zu tragen.

»Nein, nein!«, lehnte der Großgrundbesitzer energisch ab und drückte seine Tasche fest an sich.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann könnten Sie mir einen Koffer abnehmen«, meldete sich der schmächtige Dr. Fuller keuchend.

»Was haben Sie da nur drin?«, erkundigte sich Dorian erstaunt, während er einen der Koffer ergriff. »Haben Sie etwa ihr gesamtes chirurgisches Instrumentarium mitgenommen?«

»Jawohl«, bestätigte Dr. Fuller. »In meinem Beruf muss man jederzeit einsatzbereit sein. Nur ein Beispiel: Wenn Ihr Herz plötzlich aussetzt, müsste ich sofort eine Herztransplantation vornehmen ... vorausgesetzt, dass sich ein Spender findet. Das meine ich ernst. Ich kann jederzeit eine Operation vornehmen, auch ohne die Hilfe komplizierter technischer Apparate. Ich habe da eigene Methoden und könnte längst weltberühmt sein, wenn ich Wert darauf gelegt hätte.«

»Das steht außer Zweifel«, meinte Dorian skeptisch.

»Jetzt machen Sie sich über mich lustig«, erwiderte Dr. Fuller gekränkt. »Aber ich kann Ihnen meine Behauptung beweisen. Dieser Vukujev wäre ein geeignetes Demonstrationsobjekt. Ihn kann man als Organspender nehmen, ohne erst seine Einwilligung einzuholen. Minderwertige Geschöpfe wie er sind verpflichtet, ihre gesunden Organe einem kranken Körper mit einem gesunden Geist zu überlassen.«

Dorian antwortete nichts darauf, aber seine Meinung über den Arzt stand fest. Lilian, die das Gespräch zwischen ihrem Mann und dem Chirurgen mitgehört hatte, presste sich fröstelnd an ihren Begleiter. »Was sagen Sie als Kriminologe zu Dr. Fullers Berufseinstellung, mein Herr?«, erkundigte sie sich.

»Ich weiß, was Sie hören wollen«, antwortete Roberto Copello, »deshalb ist es besser, wenn ich Ihnen meine ehrliche Meinung nicht sage.«

Lilian zuckte zurück. Auf einmal fühlte sie sich neben Copello gar nicht mehr geborgen. Seine schrille Stimme wurde ihr unsympathisch, und sie rümpfte die Nase über den aufdringlichen süßen Duft, der seinem pomadisierten Haar entströmte. Als er ihre ablehnende Haltung spürte, wechselte er schnell das Thema.

»Europa ist eine fremdartige, faszinierende Welt für einen Südamerikaner«, sagte er in gemütlichem Plauderton. Ihr könnt auf eine lange Tradition zurückblicken. Darum beneide ich euch. Wenn man bei uns von Tradition spricht, dann meint man die Kulturzeugen der Indianer. Reizvoll sind nur die Sitten und Gebräuche der Eingeborenen. Damit beschäftige ich mich. Das ist mein Hobby.«

»Haben Sie sich einem speziellen Gebiet gewidmet?«, fragte Lilian ahnungslos.

»Ich sammle Schrumpfköpfe.«

»Sie sammeln ...« Lilian spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten.

Copello plauderte munter weiter. »Ja, Schrumpfköpfe. Aber nicht irgendwelche. Ich sammle nur die von Verbrechern, die ich persönlich zur Strecke gebracht habe.«

»Hören Sie auf!«, rief Lilian und riss sich los. »Ich – ich ... Rian! Rian, warte auf mich!« Sie stolperte den steilen Weg hinauf und warf sich ihrem Mann schluchzend in die Arme.

»Ist ja schon gut, Liebling.« Er sprach beruhigend auf sie ein und strich ihr zärtlich über das Haar. »Wir haben unser Ziel ja erreicht.« Er hob langsam ihren Kopf und zwang sie, sich umzusehen. Sie erblickte vor sich eine dunkle, von Efeu umrankte Mauer, die sich schwarz und drohend in den Himmel erhob. Zwischen den Bäumen und Sträuchern standen Statuen, die irgendwelche Fabelgestalten darstellten. Abrupt wandte Lilian sich von diesen steinernen Schreckgestalten ab, denn sie regten ihre Phantasie noch mehr an. »In dieser Ruine sollen wir übernachten?«, fragte sie mit erstickter Stimme.

»Vukujev hat mir versichert, dass das Innere des Schlosses wohnlicher ist, als es der äußere Eindruck vermuten lässt. Er meinte, wir sollten nur durch das Hauptportal gehen, alles andere würde sich schon finden.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Verschwunden – einfach verschwunden«, antwortete Dorian und hob gelassen die Schultern. »Aber das soll uns kein Kopfzerbrechen machen. Stehen wir nicht lange hier herum, sondern ...«

Er wollte auf das nur schemenhaft erkennbare Eingangsportal zuschreiten, aber Lilian hielt ihn zurück. »Kehren wir um, Rian! Bitte, bitte, lass uns diese Ruine nicht betreten!«

»Jetzt reiß dich endlich einmal zusammen!«, fuhr Dorian sie an. »Seit wir aus dem Autobus gestiegen sind, höre ich nur dein Gejammere. Du bist doch kein kleines Kind, sondern eine erwachsene Frau!«

Lilian schluchzte auf und barg ihren Kopf an seiner Schulter. Sie merkte nur an dem kalten Luftzug und dem Knarren der verrosteten Angeln, dass Dorian die Tür öffnete. Sie nahm sich vor, die Augen diese Nacht nicht mehr aufzuschlagen. Sie wollte überhaupt nicht sehen, wo sie sich befanden. Es genügte ihr, die Wärme von Dorians Körper zu spüren. Aber dann geschah etwas, das ihre Neugierde erregte und sie alle ihre Vorsätze vergessen ließ.

Eine wohlklingende Stimme sagte: »Willkommen in meinem Schloss! Es freut mich, dass ihr noch rechtzeitig eingetroffen seid.«

Lilian öffnete die Augen. Sie befanden sich in einer weitläufigen Halle. Vor ihnen war eine breite Treppe, die sich an ihrem Absatz teilte und links und rechts zu einem Rundgang hinaufführte. Aber das alles nahm sie nur unterbewusst war. Sie sah nur die Frau, die auf dem Treppenabsatz stand und im Licht eines siebenarmigen Leuchters unwirklich schön, märchenhaft und überirdisch wirkte.

Während die neun Männer vor Überraschung kein Wort über ihre Lippen brachten, sagte die Schlossherrin: »Ich habe euch erwartet.«

 

Anja verkroch sich unter die Daunendecke und presste ihre Hände zwischen die Schenkel. Das war angenehm; das wärmte und verscheuchte die furchtbare Angst ein wenig. Das Amulett mit dem Drudenfuß hielt sie zwischen den Zähnen fest.

»Jesus und Maria, steht mir in dieser Nacht bei!«, flehte sie.

Am liebsten wäre sie zum fetten Jablonsky ins Bett gekrochen, aber der hatte seine Frau bei sich. Wie oft hatte sie sich diesem schmierigen Fettkloß widerwillig hingeben müssen, und jetzt, wo sie sich zum ersten Mal freiwillig anbieten wollte, war er nicht bereit. Sie hätte alles getan, um vor den Dämonen sicher zu sein. Sie wusste, dass sie in dieser Nacht kommen würden. Schon in den vergangenen Nächten waren Schatten vor ihrem Fenster herumgeschwirrt, hatten die Dachbalken gespenstisch geknackt und der Wind in der Sprache der Trolle und Druden gewispert ... Drudenfuß, verjage Hexen und Dämonen!

»Anja!«

Sie spürte, wie sie am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam. Der Ruf wiederholte sich. Diesmal war er lauter und eindringlicher. »Anja!«

Jetzt erkannte sie die Stimme. Sie gehörte Vukujev. Sie hob den Kopf vorsichtig und lugte über das Kopfkissen zum Fenster. Er stand auf einer der obersten Sprossen einer Leiter und klopfte mit einem rostigen Nagel gegen das Fenster. Anja wurde wütend. Glaubte dieser Idiot vielleicht, sie würde ihm nachgeben? Allerdings ... Sie stockte und überlegte. Vielleicht würde sie es doch tun. Heute Nacht würde sie jeden nehmen, nur um jemanden bei sich zu haben, der sie die schreckliche Angst vergessen ließ. Sie wickelte sich die Decke um den Körper, schlich zum Fenster und öffnete es. Ein heftiger Windstoß riss es ihr aus der Hand.

»Der fremde Herr will dich haben, Anja«, sagte Vukujev kichernd und wischte sich den Speichel vom Kinn.

»Was redest du da?«

»Ehrlich, Anja. Der fremde Herr, der dir so gefallen hat. Er will dir helfen. Aber du musst ihm deinen Körper geben. Zieh dich an! Schnell! Bevor er ungeduldig wird und es sich anders überlegt.«

»Ist das wahr, Vuk?«

»Der fremde Herr verlangt nach dir.«

»Wo ist er?«

»Auf Schloss Lethian.«

Anja zuckte zusammen. »Dorthin gehe ich nicht.«

»Doch, Anja, du musst.«

Sie wich vor ihm zurück, als er zu ihr in die Kammer stieg.

»Du bist schön«, sagte er mit völlig veränderter Stimme.

»Dann bleib du bei mir, Vuk.« Sie würde sich dazu überwinden, mit diesem Irren das Bett zu teilen. »Komm zu mir unter die Decke! Alles ist mir lieber als ins Schloss zu gehen. Nicht in dieser Nacht. Wir haben Vollmond. Komm, Vuk!«

Er folgte ihr ins Bett und war wie von Sinnen, als er ihren warmen, festen Körper eng an sich presste. Etwas regte sich in seinen Lenden, aber er unterdrückte dieses berauschende Gefühl. Er hatte einen Auftrag zu erledigen. Anja zog seinen Kopf zu sich herunter und presste ihre Lippen auf die seinen, während sich ihr Körper unter ihm wand. Vukujev gefiel das. Er verstärkte den Druck seiner Lippen, doch gleichzeitig hielt er ihr die Nase zu. Anjas Bewegungen wurden heftiger und erlahmten schließlich. Sie lag nun vollkommen still da. Vukujev kicherte, nahm Anja, die nur mit einem Nachthemd bekleidet war, auf und kletterte mit ihr aus dem Fenster. Auf Schloss Lethian wartete man bereits auf sie.

 

Ein Blitz zuckte über den Himmel und machte die Nacht zum Tag. Das folgende Donnergrollen ließ das Schloss in seinen Grundfesten erbeben. Lilian drängte sich dichter an Dorian, doch der schien sie nicht zu bemerken. Er hatte nur Augen für die Gräfin in ihrem veralteten Festkleid, das aus der Zeit um 1600 nach Christi zu stammen schien. Ihr Hals war unter einem steifen Mühlsteinkragen verborgen; das Oberteil des Kleides schmiegte sich eng an ihren Körper und ließ das Mieder darunter erahnen, das sie fest um die Taille geschnürt hatte; unter dem mit Stärke gesteiften Rüschenreif bauschte sich der Rock, der bis zum Boden hinabreichte. Die Gräfin Anastasia von Lethian stand lange Zeit stumm und bewegungslos wie eine Statue da; nur ihre Augen schienen zu leben, als sie ihre Blicke über die neun Männer wandern ließ.

Ich bin am Ziel, dachte Dorian. Er zweifelte keine Sekunde mehr daran, dass er hierher, auf dieses Schloss gewollt hatte. Dieser Wunsch, der von der wesenlosen Stimme in seinen Träumen angeregt worden war, hatte bisher tief in seinem Unterbewusstsein geschlummert. Jetzt war er an die Oberfläche gespült worden und ergriff von ihm Besitz. Es konnte keinen Zweifel mehr geben, dass er und die anderen von der Gräfin gerufen worden waren. Die Welt um ihn versank. Er sah nur diese einmalig schöne Frau, von der eine magische Kraft ausging, die ihn völlig in ihren Bann schlug. Als er dem Blick der Gräfin begegnete, meinte er, in ihren Augen zu versinken.

»Rian! Rian!«, rief Lilian leise aber drängend.

Sie schüttelte ihn, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, doch was sie auch anstellte, er wandte den Kopf nicht in ihre Richtung.

»Geh mit mir fort!«, bat Lilian eindringlich. »Verlass diesen unheimlichen Ort mit mir, bevor ich den Verstand verliere! Rian!«

Lilian spürte plötzlich, wie irgendetwas sie zwang, die Gräfin anzublicken, die immer noch in derselben Pose auf dem Treppenabsatz stand. Sie musste in diese dunklen, bodenlos tiefen Augen blicken, die nur verschwommene Punkte in dem blässlichen Gesicht darstellten und dennoch eine Anziehungskraft besaßen, der man sich nicht widersetzen konnte.

»Sie müssen von der langen Reise müde sein, Kind. Für Sie wäre es besser, sofort zu Bett zu gehen. Schlafen Sie! Entspannen Sie sich und wehren Sie sich nicht gegen die Müdigkeit in Ihren Gliedern! Dorian wird Sie auf das Zimmer bringen, das ich für Sie vorbereitet habe. Schlafen Sie jetzt! Schlafen Sie tief!«

Lilian spürte, wie die Lider ihrer Augen schwer wurden. Die Kraft schwand aus ihren Gliedern; sie wurden bleiern, und die erlösende Müdigkeit umnebelte ihren Geist. »Rian«, hauchte sie schwach.

Dorian breitete seine Arme aus und fing sie auf, bevor sie zu Boden sinken konnte.

»Bring sie auf das vorbereitete Zimmer, Dorian!«, sagte die Gräfin. »Du findest den Weg bestimmt. Und wenn du dieses schwache Menschenkind zu Bett gebracht hast, dann suche den Salon auf. Es erwartet dich eine Festtafel. Aber beeile dich!«

»Ja, ich werde mich beeilen«, versprach Dorian wie in Trance.

Mit Lilian auf den Armen, die bereits tief schlief, stieg er die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Als er an der Gräfin vorbeikam, schenkte sie ihm ein maliziöses Lächeln. Dorian wandte sich auf dem Treppenabsatz nach rechts, erreichte den Rundgang im Obergeschoss und betrat einen kleinen Korridor. Hier brannte kein Licht, aber der flackernde Kerzenschein auf der Treppe und die Blitze, die durch das große Fenster am Ende des Korridors geisterten, zeigten ihm den Weg. Er ließ alle Türen links und rechts unbeachtet und hielt erst vor der letzten, die offen stand. Als er den dahinterliegenden Raum betrat, fiel der Bann von ihm ab. Zum ersten Mal, seit er das Schloss betreten hatte, konnte er wieder klar denken. Lilian schlief tief, aber es war kein natürlicher Schlaf. Die Gräfin musste sie hypnotisiert oder sonst etwas mit ihr angestellt haben, dass sie so schnell das Bewusstsein verloren hatte. Dorian brachte Lilian zu dem breiten Holzbett, über dem ein seidener Baldachin gespannt war, und legte sie nieder. Einige Sekunden lang starrte er auf das Nachthemd, das auf dem Kissen lag. War es tatsächlich für Lilian bestimmt? Hatte die Gräfin die Wahrheit gesagt, als sie behauptete, ihren Besuch erwartet zu haben? Aber sicher! Die Gräfin selbst musste ihn und die anderen Männer gerufen haben. Davon war Dorian jetzt überzeugt. Er wusste zwar noch immer nicht, was das alles zu bedeuten hatte, aber er würde es bald erfahren. Allein aus diesem Grund musste er hier ausharren.

Er entkleidete Lilian und streifte ihr das bestickte Nachthemd über. Wie friedlich sie dalag. Für sie war es besser, wenn sie schlief und nichts von den Dingen, die um sie herum vorgingen, wahrnahm. Sie war nicht stark genug, um mit diesen seltsamen Ereignissen fertig zu werden. Er deckte sie zu und schlich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer. An der Tür blickte er sich noch einmal um. Ein Blitz zuckte über den Himmel, und der folgende Donner ließ die Fenster klirren. Lilian lag wie aufgebahrt da.

Dorian drückte die Tür leise ins Schloss und ging den Korridor hinunter. Raunen, Wispern, Keuchen und Röcheln umgaben ihn. Als er jedoch stehenblieb und lauschte, hörte er nur das Heulen des Windes, der durch die Ritzen und Spalten pfiff. Doch kaum setzte er sich wieder in Bewegung, da vernahm er erneut die unheimlichen Geräusche. Das Raunen schien direkt aus dem Gemäuer zu kommen; als ob dort Wesen hausten, die sich in ihrer überirdischen Sprache über ihn unterhielten. Als er die Treppe erreichte und ins Erdgeschoss hinunterstieg, huschten Schattengestalten vor ihm die Stufen hinunter. Einmal stolperte er über irgendetwas, das formlos, weich und glitschig war. Eine Ratte?

Er glaubte nicht an Halluzinationen. Er glaubte nicht daran, dass ihm seine überreizten Sinne nur einen Streich spielten. Die Stimmen, die auf ihn eindrangen, waren wirklich, die Schatten, die um ihn herumgeisterten, waren existent – wenn auch sicherlich nicht aus Fleisch und Blut.