Und alles kam, wie es kommen musste, alles, wie es kommen musste.

Georg Hermann, Jettchen Gebert

Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt als »Denkmal der deutschen Kriminalliteratur«. Mit einer mehrteiligen Familiensaga, zeitgeschichtlichen Spannungsromanen und biographischen Romanen (wie »Kempinski erobert Berlin«, 2010, und »Der König vom Feuerland« über August Borsig, 2011) avancierte er zu einem der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Im Jaron Verlag veröffentlichte er daneben mehrere Bände für die Krimi-Serien »Es geschah in Berlin« (zuletzt »Mit Feuereifer«, 2011) und »Berliner Mauer-Krimis« (zuletzt mit Jan Eik »Am Tag, als Walter Ulbricht starb«, 2010). 2011 erschienen die ersten Bände seiner Mittelalter-Romanserie »Die unglaublichen Abenteuer des fabelhaften Orlando«.

Originalausgabe

1. Auflage 2011

© 2011 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013: Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520311

Cover

Es geschah in Preußen 1842

Horst Bosetzky

Tod im
Thiergarten

Von Gontards zweiter Fall

Criminalroman

Jaron Verlag

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

Zitat

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Drei

Der Königlich Preußische Major der Artillerie Christian Philipp von Gontard musste sich am Montag erst gegen Mittag auf den Weg zur Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule machen, wo er das Fach Physik vertrat, und so konnte er die freien Stunden nutzen, endlich den Dieb zu fangen, der seit Wochen die Gegend unsicher machte: einen Kerl, der nicht etwa bei Nacht und Nebel in gutbürgerliche Wohnungen einbrach, sondern am helllichten Tage, wenn der Hausherr seinem Broterwerb nachging, die Kinder in der Schule waren und die Frau des Hauses mit dem Dienstmädchen unterwegs war, um auf den Märkten ringsum Frisches einzukaufen.

Der Commissarius Werpel war ratlos. »Ich glaube langsam, dass dieser Mann nur in der Phantasie der Bestohlenen existiert«, hatte er zuletzt geäußert. »Die Leute selber oder ihre Dienstboten schaffen etwas beiseite, warum auch immer, und schieben es einem Phantom in die Schuhe.«

Gontard war da anderer Meinung gewesen. »Von Kammergerichtsrath Harrassowitz kann ich mir schwer vorstellen, dass er zu einer solchen Tat fähig ist. Und bei ihm ist letzte Woche eingebrochen worden.«

Werpel hatte unwirsch reagiert. »Sie sollten bei Ihren Leisten bleiben, Herr von Gontard, und mir nicht immer ins Handwerk pfuschen!«

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Commissarius, aber es ist nun einmal meine große Leidenschaft, dem Verbrechen auf die Spur zu kommen. Es ist ein geheimer Drang in mir, jedes Rätsel zu lösen - in welcher Profession und Wissenschaft auch immer.«

Gontard war klar, dass es sich bei dem Einbrecher um einen intelligenten Menschen handeln musste, der im Gewand eines ehrlichen Bürgers durch Berlin streifte und günstige Gelegenheiten auskundschaftete. Er hatte schon eine Zeitlang fliegende Händler, Scherenschleifer und Laufburschen beobachtet, ohne aber eine verdächtige Person entdecken zu können. Nun hatte sich Gontard eine ganz spezielle List ausgedacht, und zwar hatte er den Victualienhändler Vogel überredet, allen seinen Kunden zu erzählen, er habe eine große Erbschaft gemacht und nun sei bei ihm einiges zu holen. Wenn das kein Köder war, den Unbekannten in die Falle zu locken!

Gontard bewohnte eine Etage in einem Haus in der Dorotheenstraße und hatte bis zum Laden Victor Vogels in der Mittelstraße nur ein paar Schritte durch die Neustädtische Kirchstraße zu gehen. Er hoffte nur, keinen Bekannten zu treffen, denn so unterhaltsam kleine Plaudereien waren, sie hielten immer auf. Doch als er um die erste Ecke bog, lief er Madame Cossé in die Arme. Ihr auszuweichen war bei ihrer Körperfülle schier unmöglich. Andere Damen hätten darunter gelitten, doch als Opernsängerin war sie ausreichend exkulpiert.

»Man ist ja in dieser Stadt seines Lebens nicht mehr sicher!«, begann sie. »Wissen Sie eigentlich, Herr von Gontard, was gestern bei uns in der Mittelstraße passiert ist?«

»Nein, es tut mir leid, ich war bei meiner Familie auf unserem Gut bei Wutike.«

»Na, das hätten Sie erleben müssen!«, rief Madame Cossé. »Stehen plötzlich der Commissarius Werpel und ein Constabler beim Schneidermeister Hoppe vor der Tür und wollen Ludwig sprechen, seinen Gesellen, aber der hatte sich in der Nacht im Thiergarten aufgehängt.«

»Das ist ja weniger schön«, sagte Gontard, der auch zu Hoppes Kunden zählte und Ludwig deutlich vor Augen hatte. »Aber warum fühlen Sie sich nicht mehr sicher, Madame Cossé, wenn ein Schneidergeselle seinem Leben ein Ende macht?«

»Es ist die Angst, dass mir auch einmal in den Sinn kommen könnte, mich aufzuhängen - nach hämischen Kritiken beispielsweise.«

Gontard konnte ein Schmunzeln kaum unterdrücken. Ein Ast, der das Gewicht der Madame Cossé ausgehalten hätte, war kaum zu finden. Zum Glück aber fiel ihm eine Entgegnung ein, die wesentlich charmanter war. »Ich bitte Sie, Gnädigste, bei Ihnen ist doch die Wahrscheinlichkeit einer schlechten Kritik noch geringer als die, jetzt im Mai einen brennenden Weihnachtsbaum zu entdecken.«

»Danke für die Blumen, Herr von Gontard!« Für Madame Cossé war der Tag gerettet, und sie zog frohen Herzens weiter zur Probe.

Gontard machte, dass er zum Victualienhändler Vogel kam. Dessen Frau war in alles eingeweiht und ließ ihn in die Wohnung, ohne dass groß Worte gewechselt werden mussten.

»Am besten, Sie verstecken sich im Schlafzimmer hinter dem Vorhang«, schlug sie Gontard vor. »Denn mein Mann hat gehört, dass sich die Einbrecher immer dorthin begeben, weil sie dort, unter der Wäsche versteckt, Schmuck und Goldstücke vermuten.«

»Eine gute Idee.« Gontard nickte und setzte sich, als sie und das Dienstmädchen die Wohnung verlassen hatten, auf die Bettkante und begann, einen Criminalroman zu lesen, der ihm wärmstens empfohlen worden war. Der Titel lautete Adele oder das grausame Verhängnis, und geschrieben hatte ihn der Jurist Jodocus Donatus Hubertus Temme, den Gontard vor Jahren als Criminaldirector in Stendal kennengelernt hatte. Temme wäre gern nach Berlin gegangen, doch wegen seiner liberalen Gesinnung sah ihn der König gerne weit weg von seiner Residenz, und so hatte man ihn zum Hofgericht Greifswald geschickt.

Nun hieß es warten …

Franz Karbusch stammte aus der Familie eines Lumpensammlers und hatte es anfangs durchaus als sozialen Aufstieg empfunden, mit einem kleinen Bauchladen durch Berlin und die Orte ringsum zu ziehen und auf billigem Papier gedruckte Schriften zu vertreiben, fromme Texte, Lieder, Abenteuergeschichten, Märchen, Sagen, sensationelle Nachrichten, Rezepte, Scherze und dergleichen. Je mehr Menschen aus den unteren Schichten das Lesen und das Schreiben erlernten, desto größer wurde auch die Nachfrage nach Lesefutter, und der Kolportagebuchhandel, der seine Wurzeln in Frankreich hatte, blühte auch in Preußen langsam auf - von den Herrschenden argwöhnisch beobachtet, fürchtete man doch die Verbreitung revolutionärer Gedanken.

Bevor er Beschäftigung als Kolporteur gefunden hatte, war Karbusch Mitglied einer Bande von Kollidieben gewesen und von ihr als »Kletterer« eingesetzt worden, das heißt, er hatte sich an Speditions- und Geschäftswagen herangeschlichen und dieselben erklommen, um das Kollo in einem günstigen Augenblick abzuwerfen. Die älteren Genossen hatten dann die Bergung übernommen. Von ihnen war er auch in die Zunft eingeweiht worden und hatte gelernt, mit Dietrich und Stemmeisen umzugehen. Wegen seiner vergleichsweise hohen Intelligenz war er nie erwischt worden, und Frieda, eine Näherin vom Hausvogteiplatz, hatte es geschafft, sein Leben in eine ehrbare Richtung zu lenken.

Doch als Frieda dann an der Cholera verstorben war, hatte er der Versuchung nicht widerstehen können, einfacher als durch seiner Hände Arbeit zu Geld und Gut zu kommen. Hatte er genug beisammen, wollte er nach Amerika auswandern und dort eine Kleiderfabrik eröffnen. Das war sein Lumpensammlertraum … Seine ersten Einbrüche hatte er als »Klingelfahrer« verübt, das heißt, er hatte vorher nichts ausgekundschaftet und auf gut Glück bei reichen Leuten geklingelt. War ihm geöffnet worden, hatte er gebettelt oder um Auskunft über irgendeinen Mieter gebeten, war aber niemand zu Hause, hatte er sich mit Hilfe seines Dietrichs Zutritt verschafft und alles mitgenommen, was sich abtransportieren ließ, ohne dadurch Aufsehen zu erregen. Bald aber war er zu einem anderen System übergegangen: der gründlichen Observation vielversprechender Objekte, dem Ausbaldowern, wie es in seinen Kreisen genannt wurde. Am einfachsten war dies im Sommer, wo die fortgesetzt verhängten Fenster verrieten, dass die Herrschaften in die Sommerfrische gefahren waren. Das zurückgelassene Dienstmädchen ließ sich schnell

»ablavieren«. Einmal hatte er es sogar mit zwei Kumpanen zusammen geschafft, eine ganze Wohnung mit Hilfe eines Möbelwagens auszuräumen.

In diesem Jahr führte er seine beiden Professionen –

Kolporteur und Einbrecher - in höchst geschickter Weise zusammen, und da er sein inzwischen angehäuftes kleines Vermögen niemanden sehen ließ und nach außen hin einen höchst ehrbaren Lebenswandel führte, war ihm auch noch niemand auf die Schliche gekommen. Er hatte immer Glück gehabt - selbst als er in der Neuen Friedrichstraße einen Rentier, von dem er bei einem Einbruch überrascht worden war, mit mehreren Messerstichen traktiert und fast getötet hätte, war kein Verdacht auf ihn gefallen. Er wusste aber genau, dass man sein Glück nicht überstrapazieren durfte, und hatte deshalb vor, im August dieses Jahres Berlin zu verlassen und in Holland an Bord eines Seglers zu gehen, der ihn nach New York bringen sollte.

Nun, beim Victualienhändler Vogel wollte er noch einmal fette Beute machen. Die örtlichen Verhältnisse bis hin zu den Schlössern kannte Karbusch gut, da er das Dienstmädchen regelmäßig mit Liebesromanen belieferte. Er hatte eruiert, dass Wilhelmine Vogel und ihr Mädchen das Haus immer Punkt zehn Uhr verließen, und seine heutige Tour danach ausgerichtet. Und in der Tat traten die beiden Frauen zur erwarteten Zeit auf das Trottoir hinaus und entfernten sich Richtung Schadowstraße. Karbusch wartete hinter dem Karren eines Mannes, der frischen Sand anlieferte. Ein schneller Blick die Straße hinunter zeigte ihm, dass niemand in der Nähe war, der ihm gefährlich werden konnte. Auch hinter den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses blieb alles ruhig. Schnell zog er seinen Dietrich heraus und machte sich am Schloss zu schaffen. Seine große Umhängetasche und sein breiter Rücken boten Sichtschutz genug. Er brauchte nur Sekunden, dann war er im Haus. Da er das Dienstmädchen ausgehorcht hatte, wusste er, dass beim Victualienhändler Victor Vogel Geld und Schmuck im Schlafzimmer versteckt waren, und so stieg er, ohne zu zögern, ins erste Stockwerk hinauf.

Wilhelmine Vogel hatte für ihre Einkäufe nie weniger als eine Stunde gebraucht, also musste er sich nicht übermäßig beeilen. In aller Ruhe legte er seine Umhängetasche auf das breite Doppelbett und setzte sich auf dessen Kante, um sich umzusehen und die Tapete zu mustern: Oft gab es da eine geheime Tür. Doch kaum hatte er sich niedergelassen, da sprang er auch schon wieder auf, denn nach all den Jahren als Einbrecher hatte er eine Witterung für drohende Gefahren entwickelt, die der eines Tieres kaum nachstand, und so wusste er von seinem Instinkt her in diesem Augenblick ganz genau, dass noch ein anderer Mensch in diesem Zimmer war. Und richtig: Die Schranktür flog auf, und ein Mann wurde sichtbar, der mit einer kleinen Pistole auf ihn zielte.

»Nehmen Sie die Arme hoch, stehen Sie auf und gehen Sie zur Tür!«

Karbusch wusste, dass sein Leben auf der Kippe stand. Jetzt entschied sich: Zuchthaus oder Amerika. Und da er nichts mehr zu verlieren hatte, riss er ein Messer aus seiner Umhängetasche und stürzte sich auf den Mann, der ihn dingfest machen wollte.

Die Vereinigte Artillerie- und Ingenieurschule war 1816 gegründet worden und seit 1823 Unter den Linden 74, Ecke Wilhelmstraße in einem repräsentativen Gebäude untergebracht, das kein Geringerer als Karl Friedrich Schinkel entworfen hatte. Hier fand in einjährigen Kursen die Aus- und Fortbildung der Lieutenants statt, die zuvor eine Kriegsschule besucht und anschließend ein zwei- bis dreijähriges Truppenpraktikum absolviert hatten. Um ihre Ausbildung abzuschließen, mussten sie am Ende ihr Examen bestehen. Lehrveranstaltungen fanden in den Fächern Artillerie- und Ingenieurwissenschaften, Mathematik, Chemie, Physik, Terrainlehre, Taktik, Kriegsgeschichte, Pferdekenntnis, Zeichnen, Englisch und Französisch statt. Dazu kamen Übungen im Terrainaufnehmen und Besuche bei den technischen Artillerie-Instituten.

Christian Philipp von Gontard vertrat das Fach Physik unter besonderer Berücksichtigung der Ballistik. Der galt auch seine heutige Einführungsveranstaltung: »Ballistik, meine Herren, leitet sich vom griechischen Wort für ›werfen‹ ab - und ist die Lehre von den geworfenen Körpern. Als Vater der Ballistik gilt der italienische Mathematiker Nicolo Tartaglia, geboren 1499 oder 1500 in Brescia, so genau weiß man das nicht, gestorben 1557 in Venedig. Er entdeckte die Wurfparabel. Sein Familienname ist nicht bekannt, er nannte sich aber selbst Tartaglia, und zwar aus folgendem Grund: Als die Franzosen im Februar 1512 seine Geburtsstadt Brescia plünderten und ein schreckliches Massaker anrichteten, wurde er von einem Soldaten mit Schwerthieben am Kopf und im Gesicht schwer verletzt, so dass er ohne Vollbart wie ein Monstrum ausgesehen hätte. Eine der Verletzungen ging quer durch den Mund und die Zähne, weshalb er eine Zeitlang nicht richtig sprechen, sondern nur stottern konnte. Das brachte ihm den Spitznamen Tartaglia, der Stotterer, ein, unter dem er noch heute bekannt ist.«

Gontard machte eine kleine Pause, um die Neugierde seiner Zuhörer zu befriedigen, denn es wurde heftig getuschelt, dass er, Gontard, dann wohl Glück gehabt habe.

»Ja, meine Herren, das habe ich wohl. Die Verletzung an meiner rechten Wange ist nicht die Folge des Auftreffens eines geworfenen Körpers, sondern die eines abgewehrten Messers, mit dem ein seit langem gesuchter Einbrecher seine Festnahme durch mich verhindern wollte.«

Man klatschte Beifall, und er verbeugte sich kurz.

»Danke! Nun aber zurück zu unserem zentralen Untersuchungsgebiet: der ballistischen Kurve, deren Idealisierung die Wurfparabel ist. Genauer gesagt ist die ballistische Kurve die von der idealen Wurfparabel abweichende Kurve unter Einfluss des Luftwiderstandes. Versuchen wir, dies mit Hilfe der Mathematik besser zu verstehen, und wenden uns dem ersten Newton’schen Gesetz zu, dem Trägheitsgesetz …«

So verging der Tag, und als Gontard die Artillerieschule verließ, war er ziemlich erschöpft. Der Kampf mit Franz Karbusch forderte seinen Tribut. Es war nicht einfach gewesen, den Mann zu überwältigen. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, auf ihn zu schießen, und nur mit Mühe und Not geschafft, dessen Messer auszuweichen. Der Griff ans Handgelenk war zwar spät gekommen, aber immerhin noch rechtzeitig genug, um Schlimmeres zu verhindern. Im Ringkampf war er dem Kolporteur dann um einiges voraus gewesen und hatte ihn schließlich nach einem Warnruf aus dem Fenster einem Constabler übergeben können.

Gontard schlenderte die Linden hinunter und hoffte, auf jemanden zu treffen, mit dem sich bei einem Schoppen Wein über das Erlebte plaudern ließ. Doch es war wie verhext: Es lief ihm niemand über den Weg, den er gut genug kannte. So blieb ihm nur der Gang ins Café. Sein Freund Friedrich Kußmaul war aber zu dieser Zeit sicherlich noch nicht bei Stehely, dazu hatte er immer zu viele wartende Patienten in seiner Praxis sitzen. Gontard überlegte einen Augenblick, dann entschloss er sich zu einem Umweg über die Mittelstraße, wo beim Schneidermeister Hoppe eine Weste abzuholen war. Aber nicht nur dieses Kleidungsstück trieb ihn dorthin, sondern auch die Neugierde. Warum sich ein derart lebensfroher Mensch wie der Geselle Ludwig Dölau erhängt hatte, wollte ihm nicht so recht eingehen.

Hoppe entschuldigte sich vielmals, dass Gontards Weste noch nicht fertig war, doch der winkte ab. »Ich weiß: Dölau …«

Hoppe rang die Hände. »Ja, wir sind fassungslos. Wo er immer so fröhlich gewesen ist! Aber da muss etwas gewesen sein …«

Gontard horchte auf. »Was muss gewesen sein?«

Der Schneidermeister verwies auf den Abschiedsbrief, dessen Inhalt er auswendig kannte. »Meine liebe Braut, ich bitte Dihr um Vergebung, aber ich konte nicht anders. Meine Schult wiecht zu schwer. Dein Ludwig.«

»Meine Schuld wiegt schwer …«, wiederholte Gontard.

»Aber was das für eine Schuld ist, darüber ist noch nichts bekannt?«

»Nein, seine Braut, die Anna, weiß auch nichts Genaueres, sagt aber, dass er manchmal mehr Geld hatte, als er bei seinem Lohn hätte haben dürfen.«

Gontard fiel dazu auch nichts weiter ein als ein langgezogenes »Hm …«. Vielleicht hatte sich Dölau auf dieselbe Art und Weise ein kleines Zubrot verdient wie dieser Karbusch, denn auch ein Schneidergeselle hörte viel und hatte immer wieder spät fertig gewordene Kleidungsstücke zu den Kunden zu bringen, konnte sich also unauffällig in der Stadt bewegen. Aber ach, was ging ihn dieser Dölau an! Was ihn interessierte waren Morde - aber keine Selbstmorde. Die waren Sache der Pfaffen.

»Wenn ich Sie höflich bitten darf, einen Augenblick zu warten, Herr von Gontard«, sagte der Schneidermeister mit einer leichten Verbeugung. »Ich werde Ihre Weste selbst mit den letzten Knöpfen versehen.«

»Gern.« Gontard hatte ja Muße genug.

Hoppe brachte ihm zudem ein Journal. »Wenn Sie sich damit ein wenig Ihre Zeit vertreiben möchten …«

Gontard bedankte sich und begann, darin zu blättern. Der Name Magnus Kahlbaum stach ihm ins Auge, den kannte er von Stehely her. Hin und wieder schrieb der etwas, diesmal war es ein Essay über das Rauchen, das in Berlin immer mehr zur Mode wurde.

IN BERLIN RAUCHT ES NICHT NUR AUS ÖFEN UND SCHORNSTEINEN

Das Kraut, das in England von Sir Walter Raleigh eingeführt wurde, hat nun auch Berlin erobert und verbreitet sich in allen Gesellschaftsschichten. Jeder - ob hoch oder niedrig - zieht den Dampf der virginischen Blätter mit mehr oder weniger Wohlbehagen in sich hinein und stößt ihn mit mehr oder weniger Andacht von sich. Schon die Jugend, die noch das harte Holz der Schulbank drückt, schleicht sich mit einer stibitzten Cigarre heimlich ins entlegene Gartenhaus, um später von der Mutter, deren Geruchssinn sie nicht täuscht, mit dem Rohrstock gestraft zu werden - was aber auch nichts fruchtet. Später, als Commis oder Student, frönen die Jungen weiterhin dem geliebten Laster. Der Verkehr mit den Damen, die um ihre feinen Tüllesachen fürchten, erlaubt dem Commis den ersehnten Genuss aber nur nach geschlossenem Geschäft. Wird er zum Dandy, steckt er, um seine zarten Lippen besorgt, seine Cigarre in eine Spitze aus Horn. Eine akademische Laufbahn berechtigt zur Benutzung einer Pfeife. Der Beamte nimmt die möglichst lange Röhre aus Buchsbaum oder Meerschaum, die vorn mit Silber beschlagen ist, und raucht aus ihr seine Cigarre. Der Jüngling dagegen, der des Ladenhütens überdrüssig geworden ist und sich der großen Kaste der Handlungsreisenden angeschlossen hat, gibt sich kosmopolitisch und damit der türkischen Pfeife den Vorzug. Mit Schibuck und Fez liegt er jeden Morgen, ehe er sich zum Kundenbesuch auf den Weg macht, in den Fenstern seines Gasthofes und lorgnettiert die Fürstin wie das Dienstmädchen. Gütig lächelt er auf arm und reich; sol lucet omnibus!

Von diesen hier aufgeführten Rauchern unterscheiden sich der Arbeitsmann und die Grisette. Der Arbeiter nimmt seine kurze Holz- oder - wenn es hochkommt - Thonpfeife und stopft sie mit allem möglichen Gemüse, nur nicht mit Tabak. Die Grisette und im Allgemeinen die Damen, welche die öffentlichen nächtlichen Soireen besuchen, haben den Entschluss gefasst, sich mit der Cigarre wenigstens vertraut zu machen. Sie nehmen die uns aus Frankreich und Spanien überkommene Cigarette, gefüllt mit Tabak aus Maryland, und rauchen mit einer Verwegenheit, die einen Nachtwächter rasend machen könnte.

Mit allen gemeinsam raucht der gemeine Bummler, der sich die Cigarrenreste zusammensucht, die Pfälzer ebenso gut wie die Havanna.

Alle rauchenden Menschen machen mir einen glücklichen Eindruck, und so will ich mit dem Dichterworte schließen: Wo man raucht, da magst du ruhig harren, / Böse Menschen rauchen nie Cigarren.

Gontard, der selten zur Cigarre griff, legte das Journal beiseite. Eine auffällige literarische Begabung schien ihm bei Kahlbaum nicht vorzuliegen. Aber das konnte ja noch werden, wenn man ihn in bestimmte Kreise einführte, zum Beispiel in den literarischen Verein »Tunnel über der Spree«. Während er darüber nachdachte, kam der Victualienhändler Vogel in die Schneiderei gestürzt, um ihm überschwenglich für die Rettung seines Vermögens zu danken. Fast hätte er den Offizier umarmt. »Wie kann ich das nur wiedergutmachen, Herr von Gontard?«

»Indem Sie darüber Stillschweigen bewahren.«

»Aber einen kleinen Korb Kiebitzeier und eine Flasche Champagner darf ich Ihnen doch nach Hause schicken, oder?«

»Nun ja …« Es gab Versuchungen, denen auch Gontard nicht widerstehen konnte.

»Ihre Weste ist fertig!«, rief Hoppe. »Sie können sie anprobieren.«

»Wunderbar!« Gontard tat es und war mit dem teuren Stück - die Vorderseite bestand aus roter Seide - so zufrieden, dass er es nach der Anprobe gar nicht ausziehen wollte. »Damit laufe ich gleich zu Stehely.«

Trotz aller Schnüffelei und Repression wurde in Berlin lebhaft über alles Politische diskutiert, vor allem in den Weinstuben, von denen es fast dreißig gab - Lutter & Wegner allen voran –, und den Conditoreien und den Lesecafés, von denen zeitweise an die hundert gezählt wurden. Es seien nur Spargnapani, Kranzler und d’Heureuse genannt, besonders Stehely & Comp. in der Charlottenstraße 53 am Gensdarmen-Markt, der französischen Kirche gegenüber. Hier lagen inländische, vor allem aber ausländische Zeitungen aus, die von der geistigen Elite Preußens begierig gelesen wurden, um das, was sich in London, Paris, St. Petersburg oder Wien getan hatte, anschließend zu diskutieren und kritisch mit der Lage in Berlin in Beziehung zu setzen. Stundenlang konnte man sich hier die Köpfe heißreden über die Pressefreiheit und eine moderne Verfassung.

Christian Philipp von Gontard bevorzugte das Stehely. Als er die Tür öffnete, um einzutreten, stieß er mit einem jungen Mann zusammen, dessen hageres, feingeschnittenes Gesicht noch ernster aussah als sonst. Es war Karl Theodor Seydel aus Minden, der nach staatswissenschaftlichem Studium, Ableistung seines Militärdienstes und Ablegung des Assessorexamens in den Dienst des preußischen Staates getreten war und derzeit im Finanzministerium arbeitete.

»Was ist denn passiert, lieber Seydel?«, fragte Gontard.

»Sie sehen ja aus, als ob Sie von Ihrer eigenen Beerdigung kommen!«

»Das nicht, aber sie haben mich strafversetzt nach Oppeln.«

Gontard glaubte, den Grund zu kennen. »Weil Sie wieder einmal etwas in Gazetten veröffentlicht haben, die von Dr. Wiesenburg als regierungsfeindlich eingestuft werden?«

»Genau so ist es«, antwortete der Mann, der zwanzig Jahre später Berliner Oberbürgermeister werden sollte.

»Seien Sie froh, dass es nur Oberschlesien ist!«, sagte Gontard. »Ovid haben sie ans Schwarze Meer verbannt. Und tragen Sie es wie einen Orden!«

Sie umarmten sich kurz, dann eilte Seydel nach Hause, seine Koffer zu packen. Gontard trat ins Stehely ein und setzte sich an einen Zweiertisch in der rechten hinteren Ecke des Lesecafés, von wo aus er am besten die anderen Gäste im Auge hatte, und wartete auf seinen Freund, den Arzt Friedrich Kußmaul, der vor Jahren aus der Nähe von Karlsruhe nach Berlin gekommen war. Doch der Gute ließ noch auf sich warten, so dass Gontard Zeit genug hatte, dem Gespräch am Nebentisch zu lauschen, an dem Christian Friedrich Scherenberg und Bernhard von Lepel saßen und über den »Tunnel über der Spree« diskutierten. Scherenberg kam aus Magdeburg, wo er sowohl als Schauspieler wie auch als Ehemann gescheitert war, und hielt sich und seine Kinder mit Abschreibearbeiten und Hauslehrertätigkeiten nur mühsam über Wasser. Er galt aber im literarischen Verein als hochbegabt, schrieb Gedichte und plante ein großes vaterländisches Versepos über die Schlachten bei Ligny und Belle-Alliance.

Bernhard von Lepel war aus Meppen nach Berlin gekommen und hier in das Kaiser Franz Garde-Grenadier-Regiment No. 2 eingetreten, verstand sich aber mehr als Schriftsteller denn als Offizier. Bernhard von Lepel war ein heiterer Mensch. »Stellen Sie sich vor, Scherenberg, ich komme heute Morgen an einer Schule vorbei, und da singen sie gerade Wenn alle Brünnlein fließen. In diesem Augenblick fällt mir wieder ein, dass ich Ihnen ja den Theodor Fontane für den ›Tunnel‹ empfehlen wollte.«

»Wer ist Theodor Fontane?«, fragte Scherenberg.

»Ein Apothekergehilfe aus Neuruppin, dessen Gedichte ich bemerkenswert finde. Im letzten Jahr ist er an Typhus erkrankt und kuriert sich jetzt im Oderbruch aus, in Letschin, wo sein Vater eine Apotheke besitzt.«

»Warten wir mal ab, bis er wieder in Berlin ist, dann können wir ihm ja eine Einladung ins Haus schicken.«

In diesem Augenblick kam Friedrich Kußmaul durch die Tür, und Gontard stand auf und winkte. Sie begrüßten sich mit einer angedeuteten Umarmung.

»Wie geht es dir?«, war Gontards erste Frage, als sie sich gesetzt hatten.

Kußmaul stöhnte leise auf. »Wie soll es einem Menschen gehen, dessen jüngerer Bruder als Genie gesehen wird? In Anlehnung an Hoffmann von Fallersleben könnte man sagen: Adolf, Adolf über alles.«

Die Kußmauls waren eine alte Medizinerfamilie aus dem Badischen. Vater und Großvater hatten als Physikatsärzte gearbeitet, und Friedrich wie Adolf hatten von Kind auf den Wunsch gehabt, in deren Fußstapfen zu treten.

»Adolf hat doch gerade erst sein Studium in Heidelberg begonnen«, sagte Gontard.

»Ja, aber er ist jetzt schon ungeheuer vielseitig, forscht über die Farbenerscheinungen im Grunde des menschlichen Auges und schreibt gemütvolle Verse.«

Gontard musste grinsen. »Ich kenne noch jemanden, der mit seiner ersten Profession nicht recht zufrieden ist und noch eine zweite braucht. Artillerie-Offizier und Lehrer sein reicht mir nicht, ich muss auch noch auf Verbrecherjagd gehen.«

Kußmaul winkte ab. »Ich weiß. Schließlich habe ich am Vormittag die Wunde versorgt, die das Messer des Einbrechers Franz Karbusch auf deiner Wange hinterlassen hat.«

Um von diesem Thema abzulenken, zeigte Gontard auf seine neue Weste. »Gerade eben vom Schneidermeister Hoppe abgeholt. Und diesen Knopf hier hat er persönlich angenäht, weil sein Geselle Ludwig sich ja im Thiergarten aufgehängt hat.«

»Als ob ich das nicht wüsste!«, rief Kußmaul. »Mich haben sie schließlich gerufen, um seinen Tod festzustellen.«

»Eine komische Angelegenheit«, sagte Gontard. »Hoppe und seine Braut schwören, dass er nie daran gedacht hat, Hand an sich zu legen, aber es existiert ein Abschiedsbrief, in dem von einer schweren Schuld die Rede ist, die er auf sich geladen habe.«

»Und niemand weiß, worin diese bestehen könnte?«, fragte Kußmaul.

»Nein.«

»Der Brief ist aber echt und nicht etwa gefälscht?«

»Alle sagen, es sei seine Handschrift und Tinte, Feder und Papier stammten ohne jeden Zweifel aus dem Schrank Hoppes.«

Sie konnten das Thema Dölau nicht weiter erörtern, denn in diesem Augenblick trat ein Herr an ihren Tisch, zog seinen dunkelgrauen Zylinder und fragte mit ausgesuchter Höflichkeit, ob er an ihrem Tisch Platz nehmen dürfe, denn anderswo sei kein freier Stuhl mehr zu finden.

»Aber selbstverständlich, Herr Kahlbaum, Sie dürfen sich jederzeit zu uns gesellen.«

Zu ihnen setzte sich also Magnus Kahlbaum, jener Autor, dessen Auslassungen über die Berliner Rauchergemeinde Gontard vorhin gelesen und nicht gerade als genial bewertet hatte.

Zwei

Der Criminal-Commissarius Waldemar Werpel nutzte wie jeden Sonntag den Frühstückstisch, um seinen Kindern - acht waren es - einen der Höhepunkte preußischer Geschichte nahezubringen.

»Welchen Tag haben wir, Johannes?«

»Den 28. Juni des Jahres 1815, Vater.«

»Vorzüglich, wie aus der Pistole geschossen!« Werpel nahm seinen Kaffeetopf und setzte ihn in die Mitte des Tisches. »Dieses hier ist das kleine Städtchen Waterloo in der belgischen Provinz Brabant, fünfzehn Kilometer südöstlich von Brüssel. Folgt man in südlicher Richtung der Straße nach Charleroi, so trifft man wenige Kilometer von Waterloo entfernt auf zwei Höhenrücken. Hier …«, er markierte diese mit zwei Messern, »… zwischen diesen Erhebungen tobt dann die Schlacht, die das Ende von Napoleon Bonaparte mit sich bringt. Und wer hatte entscheidenden Anteil am Sieg der Verbündeten?«

»Der Rittmeister Waldemar Werpel!«, kam es im Chor.

»Und wo hat ihn die Kugel des Feindes getroffen?« Wilhelm glaubte es zu wissen. »In den Hintern.«

»Setzen! Unsinn! Beim Dorfe Plancenoit. Und was hat der englische Heerführer Wellington flehentlich gerufen?« Marie hatte gut aufgepasst. »Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen.«

»Sehr gut, meine Tochter. Und warum sprechen die Engländer von der Schlacht bei Waterloo, wir Preußen aber von der Schlacht bei Belle-Alliance?«

Emil, der Kleinste, wollte auch einmal belobigt werden und sagte, dies sei so, weil ihre Tante Auguste am Belle-Alliance-Platz wohne.

»Nein, mein Sohn, die Schlacht heißt so, weil …« Niemand wusste es, und so wurden alle belehrt, dass Wellington sein Hauptquartier bei Waterloo gehabt habe, während die Preußen dem Meierhof Belle-Alliance die größere Bedeutung beimaßen, weil sich dort das französische Zentrum befunden habe.

»Nun lass es einmal gut sein, Waldemar!«, sagte seine Frau.

»Wie du meinst, Minna.« Ein wenig verstimmt suchte Werpel nach anderen Gesprächsthemen. »Was habt ihr denn zuletzt in der Schule durchgenommen, Kinder?«

Der Große meldete sich und bekam das Wort erteilt.

»Da war einer beim König, einer aus Persien, und der will einen Garten bauen, wo auch im Winter was wächst.«

Werpel musste einen Augenblick lang überlegen, was gemeint war. »Ach, du meinst den Persius! Aber der kommt nicht aus Persien, sondern aus Potsdam, und der will am Thiergarten ein Treibhaus bauen, einen Wintergarten. Das ist ein Haus aus Glas, und das wird im Winter geheizt, so dass du drin sitzen kannst, ohne dass du dich tot frierst.«

Johannes lachte. »Kann sich auch einer lebendig frieren?«

Werpel hob die Hand. »Du kriegst gleich ’n paar hinter die Ohren!« In diesem Augenblick wurde heftig am Klingelzug gerissen. Werpel war so wütend über diese Störung, dass er ins Berlinische fiel. »Wat soll denn der Quatsch! Sonntagsruhe is wie Friedhofsruhe, und wer die stört, den bring ick in de Hausvogtei.«

Doch das konnte er mit dem Mann, der draußen stand, schlecht machen, denn das war der Constabler Krause, der in strammer Haltung Meldung machte.

»Im Thiergarten hat sich eena uffjehängt, und Sie sollen bei ihm komm’!«

»Beim Erhängen tritt der Tod durch plötzliche Unterbrechung beziehungsweise starke Drosselung der Blutzufuhr zum Gehirn ein«, erklärte der Arzt Dr. Friedrich Kußmaul den Umstehenden. »Der Körper hängt frei, die Fußspitzen befinden sich etwa fünf Zoll über dem Boden. Es ist davon auszugehen, dass der Selbstmörder auf diesen Baumstumpf hier geklettert ist. Danach hat er seinen Strick mit einer Schlaufe um den Ast geworfen, der schräg über ihm hängt, und festgezogen, um sich eine Schlinge um den Hals zu legen, den Strick fest zu verknoten und schlussendlich in den Tod zu springen. Sie sehen hier an den Beugeseiten seiner Finger noch Fasern. Das kommt vom Festziehen des Strickes.«

Werpel dankte dem Mediziner und wandte sich an einen der herbeigeeilten Constabler. »Abschneiden und dann ins Leichenschauhaus. Der Wagner soll sich darum kümmern.«

Das erste Berliner Leichenschauhaus für die Stadtphysici, wie die Rechtsmediziner anfangs hießen, war 1811 errichtet worden. Wegen der unzumutbaren Bedingungen dort wurden ab 1839 Räume des Leichen- und Sektionshauses der Charité für diesen Zweck genutzt. 1833 war an der Friedrich-Wilhelms-Universität die »praktische Unterrichtsanstalt für die Staatsarzneikunde« gegründet worden, wobei unter dieser Bezeichnung die Gerichtliche Medizin und die Medizinalpolizei zusammengefasst waren. Erster Lehrstuhlinhaber war der gerichtliche Stadtphysicus Wilhelm Wagner, der die Staatsarzneikunde auch als akademisches Fach etablierte.

Nachdem man den Toten abgeschnitten und auf den Wagen gelegt hatte, wandte sich Werpel an die Umstehenden und fragte sie, ob einer da sei, der den Selbstmörder kennen würde. Zuerst verneinten alle, dann trat aber Dr. Danewitz vor.

»Mir scheint, dass ich den Mann schon einmal gesehen habe, und zwar beim Schneidermeister Hoppe in der Mittelstraße. Er hat dort auf einem Tisch gesessen und Knöpfe an einen Rock genäht.«

Werpel bedankte sich und machte sich in seiner mitgebrachten Kladde weitere Notizen. Die Herren Dove und Dr. Danewitz baten schließlich, sich entfernen zu dürfen.

»Ja, selbstredend. Sie haben es gut, auf mich wartet noch einiges an Arbeit. Aber wie heißt es doch so schön: Ein immer helles Licht beleuchte deinen Weg - die Pflicht.«

Als sich alles entfernt hatte, die Zeugen, der Arzt und der Wagen mit dem Toten, schnappte sich Werpel den Constabler Krause und marschierte mit ihm Richtung Mittelstraße. Das war zu Fuß ein ganzes Stück: zuerst durch den Thiergarten hindurch zum Brandenburger Thor und dann Unter den Linden entlang bis zur Schadowstraße.

Krause murrte über den langen Marsch. »So wat müsste eijentlich vaboten werden, weil et schlimma is als det Turnen beim alten Vata Jahn.«

Streng sah Werpel ihn an, denn er wollte keine Scherereien mit seinen Oberen. »Den Namen möchte ich nicht gehört haben!« Im Zuge der Karlsbader Beschlüsse war der Turnvater und Burschenschafter Friedrich Ludwig Jahn als Demagoge verfolgt worden und hatte fünf Jahre in preußischen Gefängnissen absitzen müssen. Das Turnen war in Preußen und anderen deutschen Staaten verboten worden.

Bei Hoppe saß man gerade beim Mittagessen und war über die Störung durch die beiden Polizeibeamten nicht gerade erfreut. Schlurfend kam Hoppe die Stiege herunter und öffnete die Haustür.

»Haben Sie einen Gesellen, der abgängig ist?«, fragte Werpel ohne lange Vorrede.

Hoppe, der so beleibt war, wie es ein Schneider eigentlich niemals hätte sein dürfen, erklärte, zwar einen Gesellen zu haben, aber der schliefe sicherlich noch oben in seiner Kammer über der Stallung, weil er in den Nächten vom Sonnabend zum Sonntag immer erst spät nach Hause käme. Und sonntags würde er, anders als in der Woche, auch nicht mit der Familie essen. Was man denn von ihm wolle?

»Im Thiergarten hat sich einer aufgehängt, und der Dr. Danewitz meint, dass er ihn schon mal bei Ihnen gesehen hat.«

Hoppe brauchte ein paar Sekunden, das Gehörte richtig einzuordnen. »Der Dr. Danewitz, der lässt bei uns arbeiten, das stimmt. Und zuletzt hat ihm mein Ludwig einen neuen Rock angemessen. Aber der, der Ludwig, das ist einer von den Fröhlichen, der tut sich bestimmt nich uffhängen. Schon nicht, weil er eine Braut hat, die Anna, um die ihn alle beneiden.«

»Det is aba ’n janz schönet Luda, die Anna!« Oben war das Fenster aufgegangen, und die Frau Schneidermeister hatte sich dieses Kommentars nicht enthalten können.

»Ruhe!«, rief Werpel nach oben. »Hier spricht nur der, der von mir vorher gefragt worden ist. Lassen Sie uns einmal Ihren Gesellen in Augenschein nehmen.«

Hoppe lotste sie durch den schmalen Hausflur in den Hof und führte sie zum Stallgebäude. Von der Seite führte eine wacklige Leiter zu einer Luke hinauf, mit der die Schlafstube des Gesellen verschlossen werden konnte.

»Die Leiter klettern Sie mal rauf, Krause«, sagte Werpel.

»Ich bin doch kein …« So schnell fiel ihm kein Tier ein, das für einen Vergleich geeignet war. »… kein Huhn, kein Affe, kein Papagei - oder was weiß ich.«

Der Constabler stieg vorsichtig nach oben, immer gegenwärtig, dass eine der Sprossen unter seinen schweren Stiefeln zersplittern könnte. Doch er kam heil oben an und zog die Luke auf, und zwar so heftig, dass es ihn fast in die Tiefe riss. »Hier is keena!«, schrie er, nachdem er den Kopf in die Kammer gesteckt hatte. »Aba hier liegt wat.« Mit einem Zettel in der Hand kraxelte er wieder nach unten.

»Geben Sie mal her, Krause!« Werpel erkannte sofort, dass es sich um einen Abschiedsbrief handelte.