Astrid Frank

Unsichtbare Wunden

Urachhaus

 

Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf.

Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt,

der ist ein Verbrecher!

Bertolt Brecht: Leben des Galilei

Inhalt

Cover

Titel

Dienstag, 03.09.2013

Mittwoch, 15.04.2015

Mittwoch, 04.09.2013

Mittwoch, 15.04.2015

Montag, 09.09.2013

Donnerstag, 16.04.2015

Dienstag, 10.09.2013

Donnerstag, 16.04.2015

Mittwoch, 11.09.2013

Freitag, 17.04.2015

Montag, 30.09.2013

Freitag, 17.04.2015

Dienstag, 12.11.2013

Montag, 20.04.2015

Mittwoch, 13.11.2013

Montag, 20.04.2015

Freitag, 29.11.2013

Dienstag, 21.04.2015

Donnerstag, 12.12.2013

Mittwoch, 22.04.2015

Donnerstag, 19.12.2013

Freitag, 24.04.2015

Mittwoch, 08.01.2014

Montag, 27.04.2015

Freitag, 24.01.2014

Montag, 27.04.2015

Donnerstag, 13.02.2014

Montag, 27.04.2015

Freitag, 14.03.2014

Dienstag, 28.04.2015

Mittwoch, 30.04.2014

Mittwoch, 29.04.2015

Dienstag, 03.06.2014

Mittwoch, 06.05.1015

Donnerstag, 19.06.2014

Donnerstag, 07.05.2015

Freitag, 04.07.2014

Samstag, 09.05.2015

Sonntag, 13.07.2014

Freitag, 15.05.2015

Sonntag, 13.07.2014

Freitag, 15.05.2015

Mittwoch, 30.07.2014

Samstag, 16.05.2015

Donnerstag, 31.07.2014

Samstag, 16.05.2015

Freitag, 01.08.2014

Samstag, 16.05.2015

Samstag, 16.08.2014

Samstag, 16.05.2015

Mittwoch, 20.08.2014

Samstag, 16.05.2015

Mittwoch, 03.09.2014

Samstag, 16.05.2015

Donnerstag, 04.09.2014

Samstag, 16.05.2015

Freitag, 05.09.2014

Samstag, 16.05.2015

Samstag, 06.09.2014

Samstag, 16.05.2015

Montag, 08.09.2014

Samstag, 16.05.2015

Donnerstag, 23.10.2014

Samstag, 16.05.2015

Freitag, 31.10.2014

Samstag, 16.05.2015

Montag, 10.11.2014

Samstag, 16.05.2015

Mittwoch, 12.11.2014

Samstag, 16.05.2015

Mittwoch, 12.11.2014

Samstag, 16.05.2015

Dienstag, 02.12.2014

Samstag, 16.05.2015

Freitag, 12.12.2014

Samstag, 16.05.2015

Sonntag, 14.12.2014

Samstag, 16.05.2015

Montag, 15.12.2014

Samstag, 16.05.2015

Mittwoch, 07.01.2015

Samstag, 16.05.2015

Mittwoch, 04.02.2015

Samstag, 16.05.2015

Montag, 16.03.2015

Samstag, 16.05.2015

Mittwoch, 18.03.2015

Samstag, 16.05.2015

Freitag, 20.03.2015

Samstag, 16.05.2015

Dienstag, 24.03.2015

Samstag, 16.05.2015

Samstag, 06.04.2015

Samstag, 16.05.2015

Sonntag 12.04.2015

Samstag, 16.05.2015

Montag, 13.04.2015

Samstag, 16.05.2015

Dienstag, 14.04.2015

Freitag, 15.04.2016

Die Autorin

Fußnoten

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Dienstag, 03. 09. 2013

Liebes Tagebuch,

wie schreibt man in ein Tagebuch? Ich weiß es nicht. Du liegst auf meinem Schoß und fühlst dich gut an. Dein Einband ist aus dickem, weichem, schwarzem Samt, der mal heller und mal dunkler aussieht – je nachdem, in welche Richtung man darüberstreicht. Das Wort Secrets prangt in silbernen Lettern auf der Vorderseite. Und du hast sogar eine kleine Schnalle, in die man ein Schloss einhängen kann.

»Für deine Geheimnisse«, hat Papa gesagt, als ich dich aus dem Geschenkpapier gewickelt habe.

»Ich habe doch gar keine Geheimnisse«, habe ich geantwortet. »Noch nicht«, hat Papa gesagt. »Aber mit 13 bekommt man welche.«

Heute ist mein 13. Geburtstag. Ich bin jetzt ein Teenager. Und Teenager haben Geheimnisse. Denkt zumindest mein Vater. Vermutlich meint er, dass ich jetzt anfange, mich für Jungs zu interessieren, und etwas brauche, wo ich mir heimlich meinen Liebeskummer von der Seele schreiben kann. Na ja, wir werden sehen. Bis jetzt ist Anton der einzige Junge, für den ich mich interessiere. Und Liebeskummer werde ich seinetwegen ganz bestimmt nicht bekommen.

Der heutige Tag war jedenfalls komplett kummerfrei. Und dazu noch ganz ohne Geheimnisse: Ich war mit Manu, Charlie und Vera im Kino und anschließend Pizza essen. Ich habe Anton gefragt, ob er mitkommen will, aber er wollte nicht.

Angeblich weil er keinen Bock darauf hatte, als einziger Mann mit uns Weibern eine Liebesschnulze zu sehen. Ich weiß natürlich, dass das nicht stimmt und er das nur gesagt hat, damit ich nicht zwischen den Stühlen sitze, falls Manu und Vera dumme Sprüche über ihn reißen. Aber erstens glaube ich, dass Manu und Vera das nicht gemacht hätten, weil sie das nur in der Schule machen, wo die anderen dabei sind und ihnen für einen coolen Spruch applaudieren, und zweitens hätte ich mir gewünscht, dass Manu, Vera und Charlie Anton mal so mitkriegen, wie ich ihn erlebe, wenn wir nicht in der Schule sind. Anton kann nämlich echt witzig sein. Nur in der Schule zeigt er das irgendwie nicht so. Ich finde es jedenfalls schade, dass ich diesen Geburtstag ohne Anton feiern musste. Aber wir holen das irgendwie nach.

Außer dir, mein liebes Tagebuch, habe ich noch türkisfarbene Gardinen für mein Zimmer bekommen, eine neue Weidedecke für Elrond, einen richtig tollen Trensenzaum, der am Stirnriemen mit jeder Menge glitzernder Steinchen besetzt ist, die wie Sterne funkeln, und neue Reitstiefel, denn die alten waren zu klein geworden. Ich kann es kaum erwarten, Elrond mit dem neuen Trensenzaum zu sehen! Manu hat mir die gleiche Haarspange geschenkt, die ich bei ihr immer so bewundere, von Charlie habe ich ein Pferdebuch bekommen, Anton hat mir erwärmbare Hausschuhe besorgt, weil ich mich immer über kalte Füße beklage, und Vera hat mir pinkfarbenes Lipgloss geschenkt. Bis auf das Lipgloss, mit dem ich irgendwie nichts anfangen kann, habe ich mich über alle Geschenke riesig gefreut. Aber natürlich habe ich Vera auch gesagt, dass ich mich total freue. Ich will ja nicht, dass sie traurig ist.

Morgen fängt die Schule an. Ich bin dann schon in der 7. Klasse! Hört sich gut an, finde ich. Und ich freu mich darauf, nach den langen Sommerferien alle meine Klassenkameraden wiederzusehen.

Bis morgen, liebes Tagebuch, schlaf gut.

Deine Anna

 

Die Welt ist viel zu gefährlich, um darin zu leben –

nicht wegen der Menschen, die Böses tun,

sondern wegen der Menschen,

die daneben stehen und sie gewähren lassen.

Albert Einstein

Mittwoch, 15. 04. 2015

»Es tut mir leid, es tut mir so schrecklich leid! Es ging alles so furchtbar schnell! Das Pferd lief direkt auf die Straße … ich habe auf die Bremse getreten und das Lenkrad herumgerissen … Das Pferd bäumte sich auf und … sie … sie rutschte aus dem Sattel … und … sie fiel mir mitten vor die Kühlerhaube … ich … mein Gott …« Die Frau schlug sich die Hände vor den Mund.

»Beruhigen Sie sich, bitte.« Polizeimeister Ahlvers legte tröstend eine Hand auf den Arm der Frau.

»Ja … ja … ich habe einen Sohn im gleichen Alter, ich …«

»Es war nicht Ihre Schuld. Der Notarzt wird sich gleich um Sie kümmern. Bitte beruhigen Sie sich jetzt.«

Der junge Uniformierte wandte sich ab. Er konnte die Verzweiflung der Frau nicht länger ertragen. Er konnte das alles nicht länger ertragen.

Das Opfer lag noch auf der Straße. Unter dem weißen Tuch, das er über das Mädchen gebreitet hatte, zeichnete sich der schmale Körper ab. Der junge Polizist würde den Anblick des kindlichen Gesichts, die vor Schreck geweiteten Augen nie mehr vergessen können. Aus dem linken Ohr war Blut gequollen. Und ein Bein lag merkwürdig verdreht da. Ansonsten hatte der Körper erstaunlich unversehrt ausgesehen. Himmel! Sie war so jung. So unglaublich jung!

»Mein Gott, wie schrecklich!« Es brach einfach so aus ihm heraus.

»Ja, nicht wahr? Es gibt Tage, an denen hasse ich meinen Job.« Der ältere Kollege tauchte wie aus dem Nichts neben Ahlvers auf.

»Sie sieht so jung aus …«

»Anna Martin. Sie ist 14. Wir haben ihren Schülerausweis, ihre Krankenversichertenkarte und ihr Handy in der Reitjacke gefunden.«

»Was für ein schreckliches Unglück. Die armen Eltern.« Polizeimeister Ahlvers schüttelte fassungslos den Kopf.

»Irgendjemand muss sie informieren«, sagte der ältere Kollege.

Das Irgendjemand in dem Satz ließ Ahlvers aufhorchen. »Ich … ich habe so etwas noch nie gemacht«, stotterte er. Das hatte ihm noch gefehlt, dass er als das Küken der Truppe den verhasstesten Job aufs Auge gedrückt bekam.

»Keine Sorge. Es wird sich schon einer finden, der dich begleitet.« Der ältere Kollege klopfte dem jüngeren aufmunternd auf die Schulter, bevor er sich abwandte, um sich auf seine eigenen Aufgaben zu konzentrieren.

Ahlvers’ Blick fiel auf das Pferd, das von Polizeimeister Möckel festgehalten wurde, damit es nicht doch noch abhaute, bevor der angeforderte Pferdetransporter eintraf. Ein Schimmel. Er hatte keine Ahnung von Pferden, aber die Weißen waren Schimmel, das zumindest wusste er. Wenn das Pferd doch nur reden könnte. Vielleicht könnte es ihnen sagen, was genau passiert war. Aber es konnte nicht reden. Es bäumte sich auf, es wieherte, es schlug mit dem Kopf, aber es sprach kein verständliches Wort. Und es würde ihm nicht dabei helfen, den Eltern die schrecklichste Nachricht zu überbringen, die Eltern überhaupt nur erhalten konnten: die Nachricht, dass ihr Kind soeben bei einem grauenvollen Unfall ihr Leben verloren hatte.

Mittwoch, 04. 09. 2013

Liebes Tagebuch,

heute war der erste Schultag nach den Sommerferien. Es hat echt Spaß gemacht, alle wiederzusehen. Wir haben uns umarmt, auch die Jungs, und es gab richtig viel zu erzählen. Ich habe von Papas und meinem Urlaub auf Mauritius erzählt. Ich glaube, die anderen waren ein bisschen neidisch, und das hat mir leidgetan. Ich will nicht, dass sie denken, ich würde angeben oder so. Zumal wir ja immer nur für eine Woche wegfahren, weil Papa nicht so lange Urlaub machen kann und ich Elrond nicht so lange alleinlassen will.

Weil Frau König weg ist, haben wir jetzt eine neue Klassenlehrerin, Frau Heintze. Und ein Mädchen ist auch neu hinzugezogen. Sie heißt Nina. Ich glaube, sie ist ganz okay. Frau Heintze fand ich ein bisschen komisch, aber vielleicht muss ich mich auch nur erst daran gewöhnen, dass Frau König nicht mehr da ist.

Nach der Schule bin ich sofort zu Elrond in den Stall gefahren. Ich wollte unbedingt wissen, wie er mit dem neuen Trensenzaum aussieht. Und es ist noch viel cooler, als ich es mir vorgestellt hatte. Wir sind lange ausgeritten. Es war traumhaft ruhig im Wald, die Sonne hat witzige Muster auf den Boden gezeichnet, und Elrond ist einfach das beste Pferd der Welt! Nichts bringt ihn aus der Ruhe. Nicht das Eichhörnchen, das vor uns den Baumstamm hochgehuscht ist, nicht die ersten herunterfallenden Blätter, nicht die aufsteigenden Vögel, nicht einmal der frei laufende Hund, der wild kläffend auf uns zugerannt ist. Und jetzt, liebes Tagebuch, kommt mein erstes Geheimnis. Ja, mir ist aufgefallen, dass es tatsächlich Dinge gibt, die ich niemandem erzählen möchte, weil ich Angst hätte, ausgelacht zu werden. Ich weiß, es klingt bescheuert, aber als ich so mit Elrond den Weg entlanggeritten bin, flog eine ganze Weile ein kleiner Schmetterling neben uns her, und ich bin mir sicher, dass er von Mama geschickt war, denn ich hatte gerade ganz fest an sie gedacht und sie hat Schmetterlinge immer so geliebt. Die meiste Zeit komme ich ja ganz gut damit klar, dass sie nicht mehr da ist. Ich habe mich in den letzten fünf Jahren wohl irgendwie daran gewöhnt, ohne sie zurechtzukommen. Aber manchmal, wenn ich ganz besonders glücklich oder ganz besonders traurig bin, dann fehlt sie mir doch. Dann habe ich das Gefühl, sie sitzt da irgendwo auf ihrer Wolke und sieht zu mir runter. Und genau dieses Gefühl hatte ich gerade, als der Schmetterling auftauchte. Ich habe mir so gewünscht, dass Mama mich und Elrond sehen könnte, dass sie wüsste, wie glücklich ich bin und wie gut es mir geht. Und genau in diesem Augenblick kam der Schmetterling, flatterte mit seinen zitronengelben Flügeln vor mir her, als brächte er mir eine Nachricht von Mama: Ich bin bei dir, mein Schatz, ich bin immer bei dir und wache über dich als dein Schutzengel. Genau das hat sie nämlich damals immer zu mir gesagt, wenn wir sie im Hospiz besucht haben.

Aber so etwas Abgedrehtes kann ich keinem erzählen! Nicht einmal Manu. Sonst halten mich noch alle für bekloppt!

Mittwoch, 15. 04. 2015

Simon Martin saß auf Annas Bett und hörte im Erdgeschoss die Haustür ins Schloss fallen. Die Polizisten waren endlich gegangen. Er war allein. Den Besuch eines Polizeipsychologen hatte er vehement abgelehnt. Und auf die Frage des jungen Polizeimeisters, ob er jemanden habe, der sich um ihn kümmern könne, hatte er eiskalt gelogen. Er hatte behauptet, er habe eine Schwester, die nicht weit entfernt wohne und die er anrufen würde, sobald die Herren Polizisten gegangen wären.

Dabei hatte er gar keine Schwester. Er hatte nie eine gehabt. Und auch keinen Bruder. Seine Eltern waren längst tot, er hatte keine Cousine und keinen Cousin, er hatte keine Ehefrau – und jetzt hatte er auch keine Tochter mehr. Er hatte niemanden. Er war allein.

Und genau das wollte er jetzt auch sein. Die bloße Vorstellung, in dieser Situation dümmliche Psychologenphrasen ertragen zu müssen, sorgte dafür, dass ihm der kalte Schweiß ausbrach. Und ehrlich gesagt, hatte er das Gefühl gehabt, dieser junge Ahlvers war froh gewesen, so schnell wie möglich von ihm wegzukommen. Als wären Leid und Unglück ansteckend.

Simon Martin hob den Kopf und blickte sich um. Es war, als sähe er das Zimmer seiner Tochter zum ersten Mal. Nie zuvor waren ihm die Dinge, die Annas Zimmer zu ihrem machten, es unverwechselbar werden ließen, so bewusst gewesen wie jetzt: die Fotowand über dem Schreibtisch mit zig Bildern von Elrond. Fotos seiner verstorbenen Frau, Annas Mutter. Fotos von Anton. Fotos, die Manu und Anna zeigten – eins davon am Tag ihrer Einschulung. Die beiden Mädchen Arm in Arm, strahlend, obwohl sie sich gerade erst kennengelernt hatten. Fotos von ihrem letzten gemeinsamen Urlaub auf Mauritius.

Darunter der Schreibtisch. Aufgeräumt. Links ein Stapel Bücher, rechts Schulunterlagen. In der Mitte eine durchsichtige Plastikunterlage, auf der ein in schwarzen Samt gebundenes Buch lag.

Das Bett, auf dem er saß. Mit einer türkisblauen Tagesdecke und einem halben Dutzend Kuscheltieren, die ordentlich nebeneinander aufgereiht an der Wand lehnten.

Der alte Holzfußboden mit dem ebenfalls türkisfarbenen Teppich. Die türkisen Gardinen. Die hellgrau gestrichene Wand. Das überquellende Bücherregal. Der große weiße Kleiderschrank mit dem in Hellgrau gehaltenen Blumenmuster auf den Schiebetüren. Vielleicht das einzige Indiz dafür, dass er in einem Mädchenzimmer saß. Kein Poster einer Boygroup, nichts Rosafarbenes, nirgends Porzellanfigürchen oder ähnlicher Krimskrams. Alles klar und strukturiert.

Simon Martin blickte aus dem Fenster. Von hier aus konnte er den Fliederbaum im Garten sehen, der um diese Jahreszeit Blüten trug.

Frühling.

Anna liebte den Frühling. Nein, falsch. Anna hatte den Frühling geliebt. Als sie noch lebte. Jetzt war sie tot. Herr Martin versuchte den Satz zu begreifen, den er in seinem Kopf hin und her wälzte, seit der Polizist ihn ausgesprochen hatte: »Es tut mir sehr leid, Herr Martin, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass Ihre Tochter soeben bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist.«

Er verstand den Satz nicht. Er war leer. Eine Worthülse. Bedeutungslos. Egal, wie oft er ihn wiederholte. Gleich würde die Tür aufgehen und Anna würde hereinkommen. Seine kleine Prinzessin.

Sie würde ihn anlächeln und dabei ihre makellosen weißen Zähne zeigen. Ihr brauner Pferdeschwanz, den sie beim Reiten immer trug, würde auf und ab wippen und sie würde ihn überrascht fragen, was er in ihrem Zimmer machte. Nicht vorwurfsvoll, nein, es würde Anna nichts ausmachen, dass er hier saß. Sie wäre nur überrascht, ihn hier vorzufinden und nicht in seinem Arbeitszimmer.

»Sie wollte wohl die Bundesstraße überqueren, und dabei muss ihr Pferd durchgegangen sein. Die Frau am Steuer des VW hatte keine Chance, ihr Fahrzeug rechtzeitig zum Stehen zu bringen.«

Bundesstraße? Anna ritt nie über die Bundesstraße, die durch den Wald führte! Das hatte sie ihm fest versprochen! Und Elrond sollte durchgegangen sein? Elrond war noch nie durchgegangen! Nicht einmal, als er von diesem Hund angegriffen und verletzt worden war! Nein, das alles konnte nicht wahr sein. Er träumte nur irgendeinen blöden Albtraum, aus dem er gleich erwachen würde.

Schwerfällig erhob sich Simon Martin von der Bettkante. Seine Beine schienen zu schwach, um seinen Körper zu tragen. Er schwankte wie ein Verdurstender in der Wüste auf den Schreibtisch zu und stützte sich atemlos auf die Tischplatte. Sein gesenkter Blick fiel auf das schwarze Buch. SECRETS stand dort in silbernen erhabenen Buchstaben. Geheimnisse. Soweit er wusste, hatte Anna keine Geheimnisse vor ihm gehabt. Und wenn doch, so war das ihr gutes Recht. Er hatte ihr das Tagebuch zu ihrem 13. Geburtstag geschenkt, weil er sich wünschte, dass sie einen Ort für ihre Gefühle und Gedanken hatte, die sie nicht mit ihm oder einer ihrer Freundinnen teilen konnte oder wollte. Ja, wenn ihre Mutter noch da gewesen wäre … Aber sie war nicht da. Und er konnte sie auch nicht ersetzen. Er konnte seiner Tochter, in der allmählich die Frau erwachte, keine Mutter sein. Er konnte sich nur darum bemühen, ihr ein guter Vater zu sein. Anna hatte gelacht und gesagt, sie habe keine Geheimnisse. Aber das war mehr als eineinhalb Jahre her. 19 Monate waren eine lange Zeit. In 19 Monaten konnte eine Menge passieren. Erst recht im Leben eines Teenagers.

Simon Martin klappte den Buchdeckel um und ließ die Seiten durch seine Finger gleiten. Das Buch war fast voll. Nur die hintersten Blätter waren noch unschuldig weiß. Die meisten Seiten jedoch waren mit Annas akkurater kleiner Handschrift gefüllt. Ein kurzes Lächeln huschte über Simon Martins Gesicht. Er hatte nie einen Blick in dieses Buch geworfen. Nie! Selbst dann nicht, wenn Anna es einmal aus Versehen auf dem Küchentisch oder dem Wohnzimmertisch hatte liegen lassen. Er war neugierig gewesen, oh ja! Aber er hatte sich fest geschworen, Anna zu vertrauen und ihr Vertrauen in ihn niemals zu missbrauchen.

Ein ungewöhnliches Geräusch ließ Simon Martin aufhorchen. Zunächst wusste er nicht, woher es kam. Es war nichts, was ihm vertraut vorkam. Doch dann erkannte er, was er da hörte: Elrond. Die Polizei hatte ihm das Pferd gebracht, das bei dem Unfall unverletzt geblieben war. Sie hatten keine Ahnung gehabt, wo sie es sonst hinbringen sollten. Sie konnten ja nicht wissen, dass Elrond normalerweise etwa zwei Kilometer entfernt auf Lenis Pferdehof untergebracht war. Deshalb stand der Wallach nun in dem kleinen Stall neben dem Haus, in dem er seit seiner Ankunft und seinen ersten Wochen bei ihnen vor mehr als fünf Jahren nicht mehr gewesen war. Und Simon Martin war froh gewesen, als sie ihm gesagt hatten, sie hätten das Pferd in den Stall gebracht. Er hatte jetzt keine Kraft, sich um Elrond zu kümmern. Er hatte für überhaupt nichts Kraft.

Doch jetzt wieherte Elrond, als ginge es um sein Leben. Noch nie hatte er ein Pferd so wiehern hören. Es klang so aufgebracht, so verängstigt. Es war mehr ein Schreien als ein Wiehern. Und hörte er da nicht auch das dumpfe Schlagen von Hufen gegen Holz? Simon Martin seufzte. Er musste nach Elrond sehen. Er konnte ihn nicht einfach allein in dem dunklen, unbekannten Stall lassen. Ohne Einstreu, ohne Hafer, ohne Wasser. Das hätte Anna ihm nie verziehen. Und außerdem war da jemand, ein Lebewesen, das den gleichen Schmerz fühlte wie er, das einen Verlust erfahren hatte, den es zu verarbeiten suchte. Simon Martin seufzte noch einmal und machte sich auf den Weg zum Stall. Es musste ja weitergehen. Das Leben musste irgendwie weitergehen. Es machte nicht plötzlich halt – auch wenn es sich so anfühlte.

Montag, 09. 09. 2013

Liebes Tagebuch!

Manchmal gibt es echt glückliche Zufälle im Leben. Heute haben wir festgestellt, dass Nina ganz in Manus Nähe wohnt. Das ist natürlich genial, denn so konnten wir nach der Schule zu dritt zu Manu gehen, die ja nicht weit von der Schule entfernt wohnt. Wir haben uns Miracoli gekocht und Hausaufgaben zusammen gemacht. Das war echt witzig, und wir haben so viel gelacht, dass mir jetzt noch der Bauch wehtut. Trotzdem weiß ich nicht so genau, wie ich Nina finden soll. Es hat zwar Spaß gemacht, mit ihr und Manu rumzublödeln, und sie ist ziemlich cool und kann lustige Geschichten aus ihrer alten Schule erzählen. Aber ich habe mich auch tierisch über sie geärgert, als sie einen blöden Spruch über Antons Brille gemacht hat. Ich meine, wie kommt sie dazu? Sie ist gerade mal den fünften Tag an unserer Schule und redet den anderen schon nach dem Mund?

Frau Heintze fand ich heute eigentlich ganz in Ordnung. Sie ist irgendwie lockerer, als Frau König es war. Selbst als die Jungs im Unterricht Quatsch gemacht haben, hat sie nicht viel dazu gesagt. Allerdings hätte ich mir schon gewünscht, dass sie sich einmischt, als Paul Anton die Brille weggenommen hat und damit durchs Klassenzimmer gerannt ist. Der arme Anton konnte nichts mehr sehen und ist wie ein aufgescheuchtes blindes Huhn hinter Paul hergestolpert. Beinahe wäre er dabei über Jonathans wie zufällig ausgestrecktes Bein gefallen und voll mit dem Kopf gegen eine Tischkante geknallt. Alle haben sich schlappgelacht, aber ich fand das gar nicht mehr witzig. Und weil Frau Heintze nichts gesagt hat, bin ich aufgestanden und habe diesem Schwachsinn ein Ende gemacht, indem ich Paul Antons Brille abgenommen und sie Anton zurückgegeben habe. Ich weiß nicht, warum Frau Heintze nichts gesagt hat. Vielleicht hat sie es nicht mitgekriegt? Sie hat nämlich gerade die Hausaufgaben für morgen an die Tafel geschrieben. Oder dachte sie, das sei nur Spaß? Sie kennt uns ja noch nicht so gut und kann deshalb nicht wissen, dass Anton immer und immer wieder für die Scherze der anderen herhalten muss. Frau König hätte den Jungs das jedenfalls nicht durchgehen lassen. Da bin ich mir sicher.

Aber richtig sauer war ich, als Nina bei Manu immer noch voll über Anton abgelästert hat und sich gar nicht mehr darüber einkriegen konnte, wie lustig das gewesen sei, als Paul Anton die Brille abgenommen hat. Aber na ja, sie kann ja genauso wenig wie Frau Heintze wissen, dass es nicht mehr soooo witzig ist, wenn jeden Tag der Gleiche für die Unterhaltung der anderen zuständig ist. Und als ich ihr gesagt habe, dass es reicht und sie jetzt mal aufhören kann, über Anton herzuziehen, weil er mein Freund ist, da hat sie auch direkt aufgehört. Also Schwamm drüber. Denn ansonsten ist sie echt nett.

Nach den Hausaufgaben wollten Manu und Nina unbedingt an der Playsi Karaoke singen, doch ich bin lieber zu Elrond gefahren. Auf diesen Karaokemist stehe ich sowieso nicht so, und im Moment ist das Wetter noch so schön, dass ich am liebsten von morgens bis abends mit Elrond durch den Wald reiten würde. Aber morgen wollen wir nach der Schule wieder zusammen zu Manu fahren, und ich merke, dass ich mich schon darauf freue!

Donnerstag, 16. 04. 2015

Als Frau Heintze das Klassenzimmer betrat, wurde es augenblicklich still. Das lag natürlich nicht an Frau Heintze, die normalerweise mehrere Minuten brauchte, um sich ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit ihrer Schüler zu sichern – es lag vielmehr an dem unglaublich dicken und zugleich unglaublich großen Mann, der hinter ihr herwatschelte.

Anton fragte sich nicht zum ersten Mal, ob Herr Vogt tatsächlich aufgrund seiner beruflichen Fähigkeiten oder vielleicht mehr aufgrund seiner beeindruckenden Körperfülle, die ihn mit einer Aura der Macht und Autorität umgab, die Position des Schuldirektors erhalten hatte. Zumal er auch noch, wie immer, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war.

Obwohl normalerweise allein der wiegende Gang des Mannes und sein Schnaufen bei jeder kleinsten Bewegung ausgereicht hätten, um bei allen ungezügelte Lachkrämpfe hervorzurufen, hätte es niemals einer der über 1000 Schüler dieser Schule gewagt, über Herrn Vogt auch nur heimlich zu schmunzeln.

Frau Heintze sah heute blass aus, fand Anton. Herrn Vogts Gesicht war dafür ungewöhnlich rot. Sofort streckten sich alle seine Mitschüler, nahmen regelrecht Haltung an, wappneten sich für die Neuigkeiten, die jetzt kommen würden. Waren es gute oder schlechte Nachrichten, hatte irgendjemand von ihnen was wirklich Schlimmes ausgefressen – oder gab es Unterrichtsausfall? Schulfrei?

Anton ließ den Blick über die gestrafften Rücken seiner Klassenkameraden schweifen. Er hatte vier Jahre gebraucht, um von der ersten Reihe in die letzte zu gelangen: In der fünften Klasse, der ersten auf der weiterführenden Schule, hatte er ganz vorne direkt am Lehrerpult gesessen. Wegen seiner Augen. Damit er lesen konnte, was auf der Tafel geschrieben stand. Hinter sich 29 Augenpaare, die ihn durchbohrten. 29 mit Spucke durchtränkte Papierkügelchen, die er in jeder Fünfminutenpause abbekam. Nein, es waren nur 28 gewesen – Anna hatte nie mitgemacht.

In der sechsten Klasse saß er in der zweiten Reihe. Das war fast noch schlimmer gewesen, denn nun merkten die Lehrer nicht, wenn er unter dem Tisch getreten wurde, bis er an den Schienbeinen keine einzige Stelle mehr hatte, die nicht blau unterlaufen war. An der Anzahl der Blicke in seinem Rücken und an der Menge der nassen Papierkügelchen änderte sich hingegen nicht wirklich was.

In der siebten Klasse durfte er in die dritte Reihe umziehen, nachdem er mehrmals versichert hatte, dass er auch von dort alles gut sehen konnte. Ab da war es langsam bergauf gegangen. Er hatte sich zwar am Anfang das eine oder andere Mal in Kaugummi gesetzt, das auf seinem Stuhl klebte, und sich so manche Jeans damit ruiniert, aber er hatte mit der Zeit gelernt, morgens und nach der großen Pause seinen Platz zu inspizieren, bevor er sich hinsetzte.

Und nun, in der achten Klasse, hatte er sein Ziel, in der letzten Reihe zu sitzen, endlich erreicht. Hier hatte er nur noch die Wand hinter sich, spürte keine unangenehmen Blicke im Rücken und hatte nicht das Gefühl, ständig auf einen Angriff gefasst sein zu müssen, auf den er sich nicht vorbereiten konnte, weil die Feinde von hinten kamen. Und er würde alles dafür tun, um diesen Platz bis zu seinem allerletzten Schultag zu behalten. Von hier aus hatte er alles im Blick. Auch die leeren Stühle, wenn jemand fehlte.

Heute waren alle da. Alle außer Anna. Er hatte gestern Abend nach dem Training eigentlich noch bei ihr vorbeischauen wollen, es dann aber nicht mehr geschafft und ihr nur noch eine Nachricht auf ihr iPhone geschickt, auf die er mal wieder keine Antwort erhalten hatte. Vielleicht war sie krank? Oder tat zumindest so, damit sie nicht zur Schule musste? Heute würde er auf jeden Fall bei ihr vorbeischauen, nahm Anton sich vor. Er musste ihr ja unbedingt von Herrn Vogts Auftritt in der Klasse berichten und von der bedeutsamen Nachricht, die der Direktor ihnen gleich verkünden würde.

Aber erst einmal räusperte Herr Vogt sich. Minutenlang, wie es Anton schien. Und Frau Heintzes Lippen zitterten, als würde sie jeden Augenblick anfangen zu heulen. Allmählich beschlich Anton ein ungutes Gefühl. Da stimmte was nicht. Hier kam nichts, was man sich in den nächsten Tagen lachend weitererzählen würde.

»Ähem … liebe Kinder …«

Hatte der sie noch alle? Der Direktor war dafür bekannt, gleich auf den Punkt zu kommen. Rumstottern und Ansprachen wie »liebe Kinder« gehörten wahrhaftig nicht zu den Eigenschaften, für die Herr Vogt bekannt war.

»Frau Heintze hat mich gebeten, sie zu begleiten und zu unterstützen. Ich habe leider die traurige Aufgabe, euch mitzuteilen, dass eure hoch geschätzte Klassenkameradin und beliebte Freundin …«, Antons Blick war starr auf den einzigen leeren Stuhl gerichtet, »… Anna Martin gestern bei einem Verkehrsunfall …«

»Reitunfall!«, unterbrach ihn Frau Heintze.

»Ich dachte, es wäre ein Verkehrsunfall gewesen?«, wandte sich Herr Vogt an die Lehrerin.

Frau Heintze schüttelte stumm den Kopf.

»Na ja, ist ja auch egal …«

Anton spürte, wie ihm übel wurde. Wie auch immer Herr Vogt seinen Satz beenden würde, er wusste, dass es alles andere als egal war.

»… dass Anna Martin gestern bei einem Reitunfall ums Leben gekommen ist.«

Eine gefühlte Ewigkeit blieb alles mucksmäuschenstill. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Niemand rührte sich. Dann schrie Manu als Erste auf und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.

Scheinheilige Schlampe, dachte Anton und wunderte sich gleichzeitig darüber, dass er in diesem Augenblick so etwas denken konnte.

Allmählich kam Bewegung in seine Mitschüler. Die Mädchen begannen, wie auf Kommando zu weinen. Einige der Jungen drehten sich verstohlen zu Anton um, der immer noch auf den leeren Platz in der zweiten Reihe starrte.

»Natürlich ist unter diesen Umständen heute kein Unterricht möglich«, fuhr Herr Vogt fort und erstickte die drohende Hysterie allein durch die Kraft seiner Stimme im Keim. »Unsere Religionslehrerin, Frau …« Er wandte sich hilfesuchend an Frau Heintze.

»Frau Körner.«

»Frau Körner wird gleich zu euch kommen und gemeinsam mit Frau Heintze für euch da sein. Nutzt die Gelegenheit zum Gespräch!« Die letzten Worte musste Herr Vogt nun doch schreien, um sich verständlich zu machen, denn jetzt war das blanke Chaos ausgebrochen. Keiner blickte mehr nach vorn oder hörte auf das, was der Direktor sagte. Alle redeten durcheinander, warfen sich entsetzte Blicke zu, standen auf und gingen zu ihren Freundinnen und Freunden hinüber. Nur Anton saß unbeweglich auf seinem Platz und beobachtete das Chaos um sich herum, als hätte das alles nichts mit ihm zu tun. Er fühlte sich wie unter einer gläsernen Glocke, abgeschirmt von allem, was außerhalb seines Körpers geschah. Sein Blick traf auf den von Nina – sie wandte den Kopf ab. Er beobachtete, wie Herr Vogt das Klassenzimmer verließ. Er beobachtete Frau Heintze, die eine große Packung Kleenex auf einen der Tische in der ersten Reihe stellte. Er beobachtete, wie Nina und Manu einander in die Arme fielen und zu weinen begannen. Er beobachtete Charlie, die weiß wie die Wand war und mit offenem Mund aus dem Fenster starrte. Er beobachtete Thomas, der seine Brille abnahm und sich verstohlen über die Augen wischte. Jakob, der hektisch auf seinen Fingernägeln herumbiss. Finn, der kopfschüttelnd und wild gestikulierend auf Oskar einredete. Jonathan und Paul, die beide so wie er auf ihren Plätzen sitzen geblieben waren und sich nicht rührten. Sie waren in sich zusammengesunken, mit krummen Rücken, die sich noch nicht einmal beim Atmen hoben und senkten. Beide starrten stumm auf die Tischplatte vor sich, als wären sie gar nicht anwesend.

Ganz still und mit beherrschten Bewegungen erhob sich Anton und räumte Heft und Federmäppchen in seinen Schulrucksack. Er schob ordentlich den Stuhl unter den Tisch, schwang seinen Ranzen auf den Rücken und bahnte sich einen Weg zwischen den Stühlen, Tischen und Klassenkameraden nach vorne zur Tür. Er hatte im Lauf der Jahre gelernt, nahezu unsichtbar zu sein. Trotzdem folgten ihm einige neugierige Blicke, doch niemand wagte es, ihn anzusprechen oder gar aufzuhalten. Jedenfalls keiner seiner Mitschüler.

»Anton?«

Das war Frau Heintzes Stimme, aber Anton ignorierte sie. Er öffnete die Klassenzimmertür, trat hinaus in den Flur und schloss leise die Tür hinter sich. Dann nahm er seine Jacke vom Garderobenhaken an der Wand und rannte los.

Dienstag, 10. 09. 2013

Hallo, liebes Tagebuch!

Ich hatte mich so darauf gefreut, wieder gemeinsam mit Manu und Nina zu essen und Hausaufgaben zu machen, weil es gestern so lustig war. Aber erst einmal haben mich die zwei mit ihrem albernen Gegacker voll angenervt. Nina hat sich bei Manu eingehakt, und dann sind die beiden mit wackelnden Hintern vor mir herstolziert. Ich musste zusehen, dass ich hinterherkomme und habe mich dabei richtig scheiße gefühlt. Ich muss zugeben, dass mir das einen Stich versetzt hat und ich deswegen erst einmal ziemlich sauer auf Nina war. Ich meine, was soll das? Will sie mir meine Freundin ausspannen, oder was? Aber dann habe ich mich daran erinnert, dass Manu und ich seit dem allerersten Schultag in der ersten Klasse beste Freundinnen sind. »Siamesische Zwillinge« haben die anderen uns getauft, weil niemals eine von uns ohne die andere irgendwo auftaucht. Und daran wird auch Nina nichts ändern. Manu und ich sind Seelenverwandte. Wir können uns immer zu hundert Prozent aufeinander verlassen. Wir teilen alle Geheimnisse miteinander, und da kann kommen, wer will. Daran ändert sich nichts! Das wird auch Nina noch kapieren!

Das Mittagessen war dann auch wirklich wieder ganz witzig. Manu ist die Tomatensoße übergekocht und bis an die Decke gespritzt. Das sah aus wie in ’nem schlechten Horrorfilm, und wir haben gegackert wie die Hühner.

Nina ist ziemlich fit in Mathe, und die Hausaufgaben gingen dementsprechend schnell. Aber dann haben die beiden wieder dieses bekloppte Karaokespiel in die Playsi gestopft, und ich habe mich auf einmal weit, weit weg gewünscht. Ich habe Elrond vorgeschoben, um den ich mich kümmern müsse, und bin abgedampft.

Bevor ich mich jedoch zum Stall aufmachen konnte, stand Anton vor der Tür. Wir sind dann zusammen mit dem Fahrrad zu Elrond gefahren, haben ihn auf die Weide gelassen, am Zaun gelehnt und gequatscht. Anton findet Nina nicht so toll. Na ja, kein Wunder, sie hat ja auch nicht lange gebraucht, um sich der Alle-gegen-Anton-Clique anzuschließen. Und auf Frau Heintze hat er auch einen ziemlichen Hals, nach dem, was gestern im Unterricht passiert ist. Anton glaubt, Frau Heintze hat keinen Plan, und wenn sie nicht aufpasst, machen in ihrem Unterricht bald alle, was sie wollen. Ich fürchte, da liegt er gar nicht mal so falsch.

Eigentlich wollte ich ja mit Elrond ausreiten, aber andererseits habe ich mich gefreut, dass Anton da war und wir ohne dummes Gelaber den Nachmittag miteinander verbringen konnten. Ehrlich gesagt, bin ich manchmal sogar ein bisschen lieber mit Anton zusammen als mit Manu. Ich weiß nicht genau, woran das liegt. Mit ihm kann ich irgendwie besser reden. Er macht sich zu vielen Dingen ähnliche Gedanken wie ich, über die Manu nur lachen oder den Kopf schütteln würde. Andererseits kann ich natürlich auch mit Manu über manches reden, worüber ich niemals mit Anton reden würde! Ich glaube, es ist einfach gut, dass ich zwei beste Freunde habe. Und das, obwohl beide nicht einmal meine Leidenschaft für Pferde teilen! Das tut nur Charlie. Sie liebt Elrond und würde einiges dafür geben, wenn er ihr Pferd wäre. Vielleicht ist es hauptsächlich das, was mich mit Charlie verbindet. Dabei fällt mir auf, dass ich Charlie schon lange nicht mehr eingeladen habe, mit zu Elrond zu kommen. Vielleicht sollte ich sie fragen, ob sie morgen nach der Schule mitkommen will. Auf noch mal Miracoli mit Nina zu Mittag habe ich sowieso keinen Bock.

Donnerstag, 16. 04. 2015

Nach dem dritten erfolglosen Klingeln wollte Anton eigentlich aufgeben. Simon Martin war nicht zu Hause. Oder er öffnete einfach nicht. Beides war möglich. Und beide Optionen halfen ihm nicht, endlich zu verstehen, was geschehen war. Den ganzen Weg hierher hatte er darüber nachgedacht, wie es zu diesem schrecklichen Missverständnis hatte kommen können. Es konnte nicht wahr sein, dass Anna tatsächlich tot war. Und erst recht konnte es nicht stimmen, dass sie einen Reitunfall gehabt hatte. Anna wäre selbst dem Teufel davongaloppiert. Elrond und sie waren wie ein Wesen, wenn Anna auf seinem Rücken saß. Reitunfall? Anna? Undenkbar! Es sei denn … Aber diesen Gedanken schob Anton so schnell wie möglich beiseite.