Cover

Trevor O. Munson

Blutige Nacht

Roman

Aus dem Amerikanischen von Alexandra Baisch

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Trevor O. Munson

Trevor O. Munsons Karriere begann 2002 als Drehbuchautor in Hollywood, bevor er sich dem Schreiben von Romanen zuwandte. »Blutige Nacht« ist sein erster Roman und die Vorlage für die Fernsehserie »Moonlight«, bei der er Co-Produzent war.

Mehr über Trevor O. Munson im Internet unter: www.trevormunson.com

Über dieses Buch

Eigentlich hat Privatdetektiv Mick Angel andere Probleme, als einem ausgerissenen Teenager in L. A. hinterherzujagen. Denn als Vampir muss er tagtäglich gegen seinen übermächtigen Blutrausch ankämpfen. Doch dann soll er für eine schöne, rothaarige Burlesque-Tänzerin deren verschwundene Schwester finden. Unerwartet katapultiert dieser Fall Spürhund Mick zurück in seine eigene dunkle Vergangenheit – die ihn auf erschreckende und tödliche Weise einzuholen droht …

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011

unter dem Titel »Angel of Vengeance« bei Titan Books.

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 2010 Trevor Munson

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2013 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © Ocean/Corbis

ISBN 978-3-426-41400-2

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Für meine Eltern, Tom und Sharon, die mir mit ihrer Liebe und Unterstützung den Weg bereiteten, meine Träume zu verfolgen, ganz egal, zu welch dunklen Orten sie mich auch führten.

Prolog

Den schwarzen Arztkoffer fest an mich gedrückt, halte ich unter einer nackten Glühbirne inne, neben einer Tür mit der Aufschrift 3B, deren Farbe abblättert. Es ist spät für einen Hausbesuch, aber ich bin schließlich auch kein Arzt.

Klopf-klopf. Ich warte.

Die Tür von 3B öffnet sich, und ein dürrer, weißhäutiger Kerl blinzelt mich an. Mit dem übergroßen Adamsapfel, dem dünnen blonden Haar und der Brille mit Drahtgestell ähnelt er einem Buchhalter. Er lächelt mich irgendwie freundlich an. Es ist ein angenehmes Lächeln, ein Lächeln, dem man vertrauen kann. Doch wenn ich eines über die Jahre gelernt habe, dann, dass das Aussehen täuschen kann. Gerade ich sollte das wissen.

»Michael Ensinger?«, frage ich und beobachte, wie ein misstrauischer Ausdruck über sein nichtssagendes Gesicht wandert.

»Wer will das wissen?«

»Mein kleiner Freund hier«, sage ich und lasse ihn einen Blick auf meinen 38er-Revolver mit Perlmuttgriff werfen, den ich aus der Arzttasche hervorgeholt habe.

»Ohhh, hey, hey«, sagt Michael. Ich genieße es, als der verdrießliche Ausdruck auf seinem Gesicht verschwindet und er stattdessen seine sanften Hände, mit denen er im ganzen Leben noch keine harte Arbeit verrichtet hat, vor sich ausstreckt wie ein Bankangestellter in einem alten Western. »Was soll das? Was geht hier ab?«

»Wir müssen reden.«

»’kay, lass uns reden.«

»Nicht hier. Drinnen. Kann ich reinkommen?«

Er ist verängstigt und nickt hektisch zustimmend.

»Nein. Du musst es sagen. Kann ich reinkommen?«

Den Blick nur auf meine Waffe gerichtet, antwortet er: »Ja, ja. Komm rein.«

Grünes Licht. Mit vorgehaltener Waffe dirigiere ich ihn zurück ins Innere. Ich schließe die Tür hinter mir, lege den Riegel vor und sehe mich um. Die Wohnung selbst ist heruntergekommen, aber ordentlich gepflegt, alles an seinem Platz.

In der Glotze hinter ihm wird eine gefesselte und geknebelte, nackte Blondine von einem Kerl mit schwarzer Kapuze an den Haaren quer durch einen Raum geschleift. Es sieht ganz danach aus, als hätte ich Mikey mitten bei einer kleinen sadistischen Ich-hol-mir-einen-runter-Session gestört.

»Nette Show. Läuft die auf einem öffentlichen Sender?«

»Leck mich doch. Was willst du von mir?«

Das Ausbleiben meiner Antwort erhöht seine Nervosität, und er schluckt heftig. Der riesige Adamsapfel hüpft in seinem Ichabod-Crane-Hals auf und ab. Am besten nicht zu lange daraufstarren.

»A-alles in Ordnung?« Er muss in meinen dunklen, kristallkugelgroßen Augen etwas gesehen haben, das ihm nicht gefällt. Etwas, das ihm keine lange, gesunde Zukunft verheißt.

»Bei mir ist alles bestens. Wo ist das Badezimmer?«

Er macht eine undeutliche Geste. »Den … ähm … den Gang runter.«

»Dann gehen wir dahin.«

»Was? Warum? Also ich dachte, du wolltest nur mit mir reden.«

»Das will ich auch. Im Badezimmer.«

Es sieht so aus, als ob Ensinger etwas dagegen einwenden wollte, also spanne ich den Hahn des Revolvers. Das bringt ihn brav zum Schweigen, und ich folge ihm durch den kurzen Gang bis zum hässlich gefliesten Badezimmer. Ich ziehe die Tür hinter uns zu und inspiziere die Räumlichkeiten. Die Badewanne ist verdreckt. Die wird wohl geputzt werden müssen.

Die Waffe auf ihn gerichtet, wühle ich unter dem Waschbecken herum und tauche mit einer Bürste und Scheuermittel auf. Ich halte ihm beides hin.

»Putz die Wanne. Die sieht ja ekelhaft aus.«

Erst sieht er mich an, als hätte ich einen Witz gemacht, dann grinst er wie ein Klugscheißer. »Wie jetzt, du brichst bei anderen Leuten ein und zwingst sie dazu, zu putzen?«

Mit einem Schlag wische ich ihm das Grinsen aus dem Gesicht. Seine Brille fällt herunter. Er bricht neben der Wanne zusammen. Mehr bekommt er von mir nicht als Antwort. »Mach schon.«

Zusammengekauert sucht er nach seiner Brille und setzt sie wieder auf. Dann lässt er mit zitternden Händen etwas Heißwasser einlaufen, besprenkelt die Wanne mit Scheuermittel und schrubbt sie wie ein braver Junge.

Hinter ihm ziehe ich vorsichtig meine maßgeschneiderte Anzugjacke aus und kremple die Hemdsärmel nach oben. Aus dem Augenwinkel bemerkt Ensinger meine immer spärlicher werdende Bekleidung, woraufhin er innehält und mich ängstlich ansieht. Ich zeige auf die Wanne. »Konzentrier dich.« Er macht sich erneut an die Arbeit. Das rhythmische Kratzen der Bürste auf der Porzellanoberfläche hört sich an wie ein Zug, der langsam an Fahrt gewinnt, um eine lange, ansteigende Strecke zu bewältigen. Das passt ziemlich gut.

»Was geht denn hier nur ab? Ich weiß nicht, was hier abgeht«, sagt er mit der Stimme eines verängstigten neunjährigen Jungen.

»Die Sache ist die«, erkläre ich, während ich meinen Bogart-Hut aus Filz abnehme und neben dem Waschbecken ablege, wo er gut aufgehoben und nicht im Weg sein wird. »Ich bin hier im Auftrag von jemandem, den du wirklich gut kennst.«

»Wer?«

»Elizabeth Lowery.«

Bei der Erwähnung des Namens werden seine Augen riesengroß. Das Schrubben hört auf. Er dreht sich um und sieht mich an. »N-nein. Ich habe nicht … Das war nicht ich. Die … die Bullen hatten den Falschen geschnappt. Deshalb haben sie mich wieder gehen lassen. Sie hatten den Falschen erwischt.«

»Ts-ts. Sie hatten den Richtigen erwischt. Sie haben dich nur deshalb gehen lassen, weil Elizabeth zu viel Angst vor dir hatte, um gegen dich auszusagen. Stimmt das etwa nicht?«

»Nein.«

»Also, mir ist zu Ohren gekommen, dass die Ärzte, als du mit ihr fertig warst, Teile zusammennähen mussten, die man eigentlich nicht zusammennähen müssen sollte.«

»Nein, du hast das falsch verstanden. Ich schwöre bei Gott, das hast du falsch verstanden.«

»Du schrubbst ja gar nicht mehr.« Ich lege die Waffe ab – ich brauche sie eigentlich gar nicht, sie dient vielmehr der Show als irgendetwas anderem – und zünde mir eine Zigarette an.

Er nimmt die Arbeit wieder auf und schrubbt vor sich hin, während er versucht, sich einen Reim auf das Ganze zu machen.

»Also wie jetzt? Sie … sie hat dich angeheuert, damit du hierherkommst?«

»Nein, ich habe sie nie getroffen. Das war meine Idee. Man könnte es eine Art Hobby nennen«, sage ich und gebe mir alle Mühe, eine gute Figur als rauchender Schlot abzugeben.

»Es tut mir leid. Es tut mir leid. Ich hätte das nicht tun sollen. Das war falsch und … und es tut mir leid«, wimmert er.

»Schon okay. Ich verstehe das.«

»W-w-w-wirklich?«

»Klar. Du fügst Frauen gern Schmerzen zu. Ich kannte mal einen wie dich. Er hat Frauen auch gern Schmerzen zugefügt. Der einzige Unterschied dabei war, der Alte war mein Vater und die Frau, der er die Schmerzen zugefügt hat, meine Mutter. Ich war noch zu klein, um ihn daran zu hindern, er hat sie zu Tode geprügelt und ist ins Gefängnis gekommen …« Ich schüttle den Kopf und stoße Rauch aus. »So etwas lässt einen nicht mehr los.«

Das Schrubben hört erneut auf. Ensinger dreht sich neben der Wanne zu mir um und schaut mir zu, wie ich den Knoten meiner Krawatte löse und sie abnehme. »Klar, meine Mutter hat sich ihn ausgesucht. Aber Elizabeth Lowery hat noch nicht einmal diese Möglichkeit gehabt, oder? Sie konnte diese Entscheidung niemals treffen, weder in die eine noch in die andere Richtung, weil sie gar nicht wusste, dass es dich gibt. Und wenn sie es gewusst hätte, dann hätte sie dich einfach links liegenlassen, oder, Mikey? Und genau das turnt dich so richtig an, nicht wahr? Das ist der Grund, warum du dir genau diejenigen aussuchst, die du dir aussuchst.«

Ensinger starrt mich einfach nur an, die blanke Tatsache festgefroren in seinen Gesichtszügen.

»Jetzt sauber spülen.«

Ich drückte die Kippe im Waschbecken aus und lasse sie in eine verschließbare Plastiktüte fallen, die ich neben anderen Gegenständen – wie Phiolen aus Glas, Trichter, Ballknebel, Bügelsäge – in meiner Arzttasche aufbewahre.

Mit zitternden Händen dreht Ensinger an den Hähnen, stellt den Duschkopf an und spült die grauen Schaumblasen den Abfluss hinunter. Als er damit fertig ist, lehnt er sich mit dem Rücken an die Wanne und schaut zu mir hoch.

»Gute Arbeit.« Ich nehme den Revolver wieder auf und gestikuliere damit herum. »In die Wanne.«

»Bitte, bitte, tu mir nicht weh.«

»Ich wiederhole mich nicht gern. Das macht mich sauer. So richtig sauer, falls du es genau wissen willst. Steig jetzt in die Wanne.«

An meinem Blick kann er erkennen, dass es keine weitere Diskussion geben wird. Er steht auf und steigt hinein.

»Stöpsel in den Abfluss.«

Mit einem Schluchzer verschließt er den metallischen Stöpsel und starrt mich mit demselben fiebrig-glasigen Blick an, wie eine Kuh ihren Metzger ansehen muss, ehe die scharfe Klinge ihr den Hals durchschneidet – so stelle ich mir das zumindest vor.

»Ich werde es nie wieder tun. Ich schwöre bei Gott, ich werde es nie wieder tun.«

Ich lasse los, denn ich habe die Schwelle bereits überschritten. Die Verwandlung hat eingesetzt, und genau wie im Moment der Erlösung bei einem Orgasmus könnte selbst Moses das Folgende nicht mehr abwenden. Der Schmerz der Verwandlung ist so bitter wie süß. Knochen versetzen sich und ziehen meine Stirn nach vorn. Mein Gesicht wird länger. Meine Eckzähne wachsen. Mein Kiefer löst sich aus den Gelenken. Meine Augen werden ganz schwarz, als sie sich mit Blut füllen.

Ein Blick in Michaels Gesicht, der der Verwandlung beiwohnt, zeigt mir, dass er soeben erst feststellt, wie viel mehr es über die Realität, die er zu kennen glaubte, zu erfahren gibt. Ich empfinde nicht das kleinste bisschen Mitgefühl für ihn. Für meine Begriffe sind Bestien wie er so unnötig wie ein Kropf, weshalb ich nur auf solche Jagd mache. Keine Frauen. Keine Kinder. Keine Unschuldigen. Das sind die Regeln. Ich bin kein Held, doch wenn ich schon Leute umbringen muss – und das muss ich –, dann können das meiner Meinung nach genauso gut diejenigen sein, die es verdienen zu sterben. So habe ich mich sozusagen mit mir selbst arrangiert. So gehe ich mit dem um, was aus mir geworden ist.

»Ich weiß, dass du das nie wieder tun wirst«, sage ich.

Kapitel 1

Der Anbruch der Dunkelheit wird von Schmerzen begleitet. Ich spüre die untergehende Sonne tief in meinen Knochen, so wie alte Leute einen aufkommenden Sturm vorausahnen können. Mein Durst ist geweckt wie bei den ersten Anzeichen eines Rauschgiftentzugs. Vor Durst fast verschmachtend, erhebe ich mich mit staubtrockener Kehle.

Ich drücke den Deckel der Tiefkühltruhe auf, die so groß ist wie die einer Großküche und mir als Sarg dient. Die Gefriertruhe konserviert mich, verlangsamt die krebsartig wuchernde Verwesung, die mich im Wachzustand von innen auffrisst. Auch wenn sie erheblich langsamer voranschreitet als der allgemeine Zersetzungsprozess, so gehört der Gestank von Fäulnis zur hässlichen Wahrheit, mit der ein Untoter leben muss. Eine dieser kleinen Zugaben, von denen man nichts weiß, bevor man ein Vampir ist.

Frostdurchzogene Luft umgibt mich wie ein Cape, als ich nackt durch die dunklen Räume meiner Bude in North Hollywood gehe. Die Wohnung sieht nach nichts aus, ist nur ein heruntergekommenes Büro mit einer Kochnische sowie Dusche und WC, aber sie ist mein Zuhause.

In Bezug auf Möbel und Gerätschaften habe ich nicht viel; ich bin nicht das, was man einen Sammler nennen würde. Die Liste meiner Besitztümer kann ich in 25 Worten oder weniger zusammenfassen: Schreibtisch, Stühle, Anrufbeantworter, Telefon, Aktenschrank, Mini-Kühlschrank, Tiefkühltruhe, Bogart-Hut, fünf Anzüge, zwei Paar Schuhe, ein Auto. Ach ja, und einen Revolver. Für Adjektive müssen Sie schon extra bezahlen.

Ich gehe von der Kochnische in das eigentliche Büro. Der Motor der Kühltruhe brummt stumpfsinnig im Einklang mit dem entfernten Verkehrslärm der 101. Als meine gefrorenen Glieder langsam auftauen, setzt ein dumpfer und verhalten angenehmer Schmerz ein. Ich bemerke das kaum. Ich habe wichtigere Anliegen. Zitternd, nicht vor Kälte, sondern vor Durst, gehe ich mit steifen Beinen zu meinem Schreibtisch und mache das Licht an. Ich drücke auf den Knopf meines Anrufbeantworters. Keine Nachrichten, während ich auf Eis gelegen habe. Gar nichts.

Meine zitternden Finger öffnen eine Seitenschublade und nesteln an dem Reißverschluss meiner verschlissenen Ledertasche herum. Im Licht fällt mir auf, dass sie von einer dünnen Schicht Staub von der Friedhofserde überzogen ist, die den Boden meines Kühlhaus-Sargs auspolstert.

Zeit für einen Schuss.

Ich begebe mich zu dem kleinen Kühlschrank, der direkt unter dem mit Aluminiumfolie verdunkelten Fenster steht. Die Nachbarn denken wahrscheinlich, ich führe ein Meth-Labor, tatsächlich ist es aber so, dass die Sonne und ich nicht gerade gut aufeinander zu sprechen sind – schon seit einer ganzen Weile nicht mehr.

Ich knie mich auf den Boden. Meine gefrorenen Kniescheiben krachen so laut wie eine Pistole Kaliber 22. Ich öffne den Kühlschrank und stelle fest, dass nur fünf blutrote Glasphiolen übrig sind. Verdammt. Ich war der Meinung, ich hätte noch mehr. Ich schnappe mir eine davon, halte sie ins Licht des Kühlschranks und erfreue mich an der braunroten Färbung der Flüssigkeit, die das Glas der Phiole umschmeichelt. Abgesehen von der Farbe Rot nehmen Vampire die Welt nur Schwarzweiß wahr. Also muss man alle roten Dinge auskosten. Vergöttern.

Ich kann meinen Schuss kaum mehr abwarten, weshalb ich mich beeile. Ich trage die Phiole zum Schreibtisch. Dort nehme ich eine antiquierte Nadel, wie Knochensäger sie einst verwendeten, aus dem Sterilisator, setze sie zusammen und schraube den Düsenkopf auf den Hohlraum der Spritze. Ich lasse den Verschluss der Phiole aufploppen und tauche die schimmernde Spitze in das Blut der Götter. Dann ziehe ich den Kolben nach hinten, und eine ordentliche Portion dickes Blut fließt in die Spritze, bevor ich den Verschluss der Phiole wieder vorsichtig verschließe, um den Rest für später aufzubewahren. Danach binde ich meinen eiskalten Bizeps mit Hilfe einer Gummischlinge ab, die ich mit langen, scharfen Zähnen festzurre.

Über die Jahre ist Fixen für mich zu der Methode geworden, wie ich mir Blut am liebsten verabreiche. Das Ritual hat etwas Besänftigendes. Ein Überbleibsel aus meiner Zeit als Heroinabhängiger. Jeder Junkie wird bestätigen, dass die Auswirkungen stärker sind und etwas länger anhalten, wenn man spritzt. Was soll ich sagen? Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen.

Ich klopfe meinen Arm auf der Suche nach einer hervorstehenden Vene ab. Als ich eine gefunden habe, stoße ich die Nadel hinein, bevor die Vene verschwinden kann wie eine Schlange im Wasser. Ich muss fest zustoßen, um meine gefrorene Haut zu durchdringen. Ich drücke den Kolben herunter. Scheiße aber auch, es fühlt sich einfach gut an. Sogar altes Blut. Frisches ist am besten, aber jedes Blut wäre in Ordnung – solange es nur menschlich ist.

Ich ziehe die Nadel heraus und lecke die Spitze ab. Lecker. Als die Zähne sich zurückziehen, beruhigen sich meine angespannten Nerven, mein Durst verringert sich.

Wie immer werde ich vom einsetzenden Rausch schläfrig. Ich döse in meinem Sessel, starre aus halbgeschlossenen Lidern auf die gerahmte Schwarzweißfotografie auf der einen Ecke meines Schreibtischs. Es ist ein Schnappschuss von mir und meinen alten Band-Mitgliedern, aufgenommen nach einer Show im Million Dollar Theater zwischen der Third und dem Broadway gegen Ende des Jahres ’43. Allesamt gute Jungs. Und ich als einziger Weißer in der Gruppe.

Mit Armen so schwer wie Sandsäcke greife ich mit beiden Händen nach dem Bilderrahmen, um einen besseren Blick auf das Ich zu werfen, das ich einmal war. Groß und zu dünn, fast schon kränklich. Wahrscheinlich von den Drogen. Dunkles Haar, noch dunklere Augen. Ein wichtigtuerisches Grinsen. Ein ständig rasierbedürftiges Kinn. Gutaussehend, aber nicht zu gut aussehend. Sie wissen schon, was ich meine.

Ich schüttle den Kopf. Ich erkenne diesen Burschen kaum wieder. Nach allem, was ich gesehen und getan habe, habe ich den Eindruck, ich müsste anders aussehen, aber das tue ich wahrscheinlich nicht. Es ist schwierig, das genau herauszufinden.

Entgegen anderslautender Gerüchte haben Vampire Spiegelbilder. Der zufällige Beobachter würde ein menschliches Antlitz im Spiegel sehen, doch wenn ich hineinschaue, sehe ich nur das Monster, in das ich mich verwandle. Und wenn jeder Tag ein schlechter Tag im Spiegel ist, dann hört man auf, hineinzusehen.

Das schwarze Telefon vor mir klingelt schrill. Genug der Nostalgie. Ich stelle das Foto zurück und gehe ran.

»Ja?«

Eine rauchige, weibliche Stimme ertönt in der Leitung. »Mr. Angel?«

»Am Apparat.«

»Mein Name ist Reesa van Cleef. Ich hätte einen Auftrag, den ich gern mit Ihnen besprechen würde.«

»Worum geht es?«

»Ich würde lieber persönlich mit Ihnen darüber sprechen. Wäre es möglich, dass wir uns treffen?«

»Alles ist möglich. Wann passt es Ihnen?«

»Morgen hätte ich tagsüber Zeit. Ich könnte zu Ihnen ins Büro …«

»Da passt es nicht. Morgen bin ich ziemlich beschäftigt.«

»Dann übermorgen.«

»Es ist so, Miss van Cleef, ich arbeite lieber nachts. Ich bin da ein bisschen komisch. Eine Marotte, wenn Sie so wollen.«

»Oh, ich verstehe …«

»Stimmt etwas nicht?«

»Nein, es ist nur so, also … ich arbeite ebenfalls nachts. Ich bin Tänzerin, Burlesque-Tänzerin. Ich trete an fünf Abenden in der Woche im Tropicana auf.«

»Verstehe.«

»Wäre es zu viel verlangt, Sie zu bitten, dorthin zu kommen?«

Normalerweise wäre es das. Normalerweise muss ein Kunde, der meine Hilfe will, verdammt noch mal, zu mir kommen. Doch da ich den Auftrag gebrauchen kann und diese spezielle Kundin eine Burlesque-Tänzerin ist, na ja, da denke ich bei mir, ich könnte nur dieses eine Mal eine Ausnahme machen.

»Klar doch. Wann?«

»Wie wäre es mit heute Abend? Mein erster Auftritt ist um zweiundzwanzig Uhr. Er ist ein bisschen gewagt, aber wenn Sie nicht zu denen gehören, deren Zartgefühl leicht Schaden nimmt, dann können Sie gern kommen und es sich ansehen. Und zwischen den Auftritten könnten wir uns auf einen Drink an der Bar treffen.«

»Klar doch«, sage ich erneut. Es ist schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal aus einem anderen Grund als Arbeit oder Blut in der Stadt war.

»Wunderbar. Ich lasse Ihren Namen auf die Liste setzen.« Ihre Stimme ist so neckisch wie eine Zungenspitze am Ohrläppchen. »Sie werden mich schnell erkennen. Ich bin diejenige mit der roten Federboa und sonst nicht viel.«

»Und ich bin der mit dem Bogart-Hut.«

Kapitel 2

Ich parke meinen Oldtimer, einen blutroten Mercedes-Benz 300 SL Roadster, auf einem Parkplatz mit Parkuhr in der Straße etwas oberhalb des Tropicana. Ich habe mein Goldstück im Jahr ’57 neu gekauft, und unsere Liebesgeschichte hat die Zeiten überdauert. Ist Liebe nicht etwas Großartiges?

Ich bin früh dran, also hole ich mein Besteck heraus und durchlaufe den vertrauten Prozess des Fixens. Ich montiere die Nadel zusammen, binde meinen Arm ab und ziehe das Blut auf. Da meine alabasterweiße Haut nahezu durchsichtig ist, habe ich selten Schwierigkeiten, eine Vene zu finden – selbst diejenigen, die sich zurückziehen. Ich lasse die Spritze hineingleiten, drücke den Kolben hinunter und … alles ist easy.

Ich lehne mich genüsslich in die liebevolle Umarmung des Benz zurück und erlaube es mir, ein paar Minuten in dem euphorischen Zustand zu dösen und den Rausch zu genießen. Die Lider auf halbmast, beobachte ich die roten Rücklichter der Autos, die die Melrose entlangfahren. Als ich fünfzehn Minuten später langsam wieder zum vollständigen Bewusstsein zurückkehre, ist es fünf nach zehn. Jetzt komme ich zu spät. Na toll! Ich schüttle den Kopf, um wieder klar zu werden, steige aus und gehe die Straße bis zum Club zurück.

Ich laufe an der langen Schlange der Verlierertypen vorbei, direkt zum Türsteher mit Pferdeschwanz und einem Brustumfang wie ein Bierfass. Ich sage ihm, ich stünde auf der Liste. Und das tue ich sogar. Er hakt die violette Samtkordel auf und lässt mich eintreten.

Die kleine dunkle Bar im Stil der Vierziger riecht nach Bier und Zigaretten, Sex und Verrat. Alte Aufreißersprüche hängen schwach in der Luft. Der Schuppen hat sich kein bisschen verändert, was meines Erachtens darauf schließen lässt, dass die Besitzer entweder im Hinblick auf die zyklische Natur der Trends hellseherisch begabt oder aber einfach nur knauserig sind. Vielleicht auch beides. Der Raum ist von kleinen, mit lauschigem Kerzenlicht erleuchteten Tischen durchsetzt. Auf der einen Seite beansprucht eine kleine offene Bühne die gesamte Westmauer für sich. Große, nackte Glühbirnen stehen an ihrer Vorderseite stramm wie Soldaten, als wollten sie die sechsköpfige Swing-Band vor dem Gesindel schützen. Außer mir sind die Band-Mitglieder die einzigen, die sich der Lokalität entsprechend gekleidet haben.

Ich sehe mich nach der Bar um und entdecke sie etwas eingelassen in der Wand auf der gegenüberliegenden Seite der Bühne. Die Musik begleitet mich über den abgetretenen Teppich zu einem Barhocker. Beim Barkeeper mit dünnem Schnurrbart und wässrigen Augen, die mich an zwei schwarze, in Austern versunkene Perlen erinnern, bestelle ich einen Scotch on the Rocks. Seinen vom Gin geröteten Wangen nach zu urteilen ist Barkeeper nicht der passende Job für ihn. Als würde ein Pillensüchtiger in einer Apotheke arbeiten. Doch das ist sein Problem, nicht meins.

Ich drehe mich auf dem Stuhl um und betrachte die Leute, die die Plätze an den verstreuten Tischen einnehmen. Reesa zieht eine bunte Mischung an. Die meisten sind Schwule und Lesben, doch dazwischen findet man Hollywood-Typen mit gelöster Krawatte, lüsterne Studenten und ein paar anzüglich dreinblickende Perser.

Alle Augen sind auf die Bühne gerichtet, wo der Bandleader im weißen Smoking das Tempo des Cole Porter herunterfahren lässt und zum Mikro greift, um die betörende, die bezaubernde, die entzückende Reesa van Cleef anzukündigen. Jubel, Applaus, Pfiffe und Gejohle folgen auf die Ankündigung und nehmen an Lautstärke und Intensität zu, als die Lady selbst, verborgen hinter einem Schleier aus roten Federn, die Mitte der Bühne einnimmt.

Sie ist umwerfend. So atemberaubend wie eine sirenenhafte Filmschönheit im Goldenen Zeitalter Hollywoods, als Frauen von einer geheimnisvollen Faszination umgeben waren. Als würden sie alle etwas wissen, das einem selbst unbekannt war, und fänden diese Tatsache amüsant. Sie hätte geradewegs einem alten Schwarzweißstreifen mit Bogart entspringen können. Der einzige Hinweis darauf, dass sie kein Phantasieprodukt meiner vergangenen Tage ist, ist ihr im Stil der 40er Jahre mit vorwärtsgelockter Tolle getragenes, knallbonbonrot leuchtendes Haar. Meine Lieblingsfarbe. Ich bin keiner, der viel lächelt, doch jetzt lächle ich. Ich habe nicht geglaubt, dass es solche wie sie noch immer gibt. Wie schön, dass ich mich da getäuscht habe.

Von irgendwoher verbreitet eine Seifenblasenmaschine ihre Magie. Die Band stimmt ein altes Posaunenstück an, und Reesa bewegt sich anmutig dazu. Ihre strahlenden Augen kokettieren, als sie die Menge neckt, uns anregende Einblicke auf ihre mondblasse Haut, ihre scharfen Kurven und üppigen Jane-Russell-Brüste mit den kleinen pinkfarbenen Rosenknospennippeln erlaubt. Nennen Sie mich altmodisch, aber genau so sollte ein Strip ablaufen. Die Bezeichnung Striptease suggeriert Nacktheit mit einem gewissen Grad an Witz und Verspieltheit. Nichts davon findet man bei den heutigen Stripperinnen, wenn sie ihrer Arbeit nachgehen. Das ist ein einziges Gewinde und Gezucke, G-String-ins-Gesicht-Strecken und käufliches Erwerben von Fleisch. Hässlich. Eine solche Show lässt einen völlig deprimiert zurück, als wäre man dadurch weniger wert, als wäre man betrogen worden. Nicht dass ich mir das niemals ansehen würde. Das tue ich. Solche Schuppen haben lange auf, und ich bin eher der nachtaktive Typ. Doch Reesa mit ihren roten Federn den Shimmy tanzen zu sehen, erinnert mich an etwas, das ich fast schon vergessen hatte. Es ist, als ob ihre verführerischen Bewegungen einen Zauber weben und mich in der Zeit zurückreisen lassen. Ich fühle mich um Jahre versetzt, ich fühle mich wieder wie ein Kind.

Ich fühle mich lebendig.

Der Auftritt geht zu Ende, schneller als der Sommerurlaub. Nachdem er vorbei ist, blinzele ich und sehe mich um, als würde ich aus einer Trance erwachen. Mein Drink ist unbemerkt neben mir abgestellt worden und steht jetzt geschmolzen und unangetastet bei meinem Ellbogen. Um klarzuwerden, schüttle ich den Kopf. Ich muss mich zusammenreißen, schließlich bin ich geschäftlich hier. Und da geht es nicht an, wie ein geifernder Schulknabe aufzutreten.

Um mit etwas beschäftigt zu sein, schüttle ich eine Kippe heraus und zünde sie an. Der Barkeeper ist unverzüglich zur Stelle, um das äußerst populäre Spielchen zu spielen, sich mit einem Raucher anzulegen.

»Es tut mir leid, mein Herr, aber Sie müssen sie ausmachen. Im Tropicana ist Rauchen nicht erlaubt«, sagt er.

Er hört sich nicht so an, als ob es ihm sehr leidtäte. Er hört sich vielmehr so an, als erfreute er sich daran, mir meinen schönen Abend zu verderben. Ich halte ihn mit Blicken fest – meinem hypnotischen Starren kann man sich genauso wenig widersetzen wie den Traktorstrahlen bei Star Trek – und sage ihm: »Ich rauche nicht.«

Ein glasiger, dümmlicher Ausdruck überzieht sein rötliches Gesicht. »Sie rauchen nicht«, wiederholt er.

»So ist es. Und jetzt geben Sie mir ein leeres Scotchglas, das ich als Aschenbecher benutzen kann.«

Er nickt, sagt nichts, sondern macht es einfach.

»Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, bis ich Sie rufe.«

»Jetzt lasse ich Sie allein«, murmelt er.

Untot zu sein hat viele Nachteile, aber es hat auch seine Vorzüge. Der hypnotische Blick ist einer davon.

Grinsend blase ich eine Wolke Rauch in das Gesicht des Typen, als er aufsteht, um sich an die Kasse zu stellen, die ihm gleichzeitig als Stütze dient.

Pause. Das Licht geht an. Die Stammkunden – Schwule genauso wie Lesben und Perser – gehen nach draußen. Ich rauche und versuche die Schmetterlinge zu ignorieren, die wie sterbende Fische in meinem Bauch herumzappeln, während ich auf Reesas Gesellschaft warte. Ich beruhige mich damit, dass sie bei näherer Betrachtung bestimmt nicht einmal mehr halb so attraktiv ist. Dass sie das ja gar nicht sein kann. Ich habe nur eine einzige Lady getroffen, bei der es so war. Das hier war nur eine Illusion, die durch die Entfernung, das Make-up und das Licht erzeugt wurde. Aus der Nähe würde ich die Schwachstellen sehen, die Risse in ihrem Venus-von-Milo-Teint, die Sprünge in ihrem Mona-Lisa-Lächeln.

Ich werfe einen prüfenden Blick auf meine Uhr, stürze meinen Drink hinunter und gebe dem Barkeeper ein Zeichen für einen weiteren, einen doppelten. Warum zum Teufel auch nicht? Ich werde nicht betrunken, es sei denn, der Alkohol befindet sich bereits im Blut des Opfers, und abgesehen davon dient mir der Drink als Stütze, beschäftigt meine Hände mit etwas. Ich drücke meine Kippe aus und zünde eine weitere an.

»Wie haben Sie das denn angestellt?«

Ich drehe mich um und sehe sie in einem roten, mit Drachen bestickten Kimono vor mir stehen. Und sofort wird mir klar, dass ich mich in Bezug auf ihr Aussehen nicht mehr hätte täuschen können. Sie ist durch und durch echt, jedes Detail ist aus der Nähe genauso schön, wie es zuvor auf der Bühne gewirkt hatte. Noch schöner. Ich empfinde eine eigenartige Enttäuschung. Ein auffälliger Makel wäre mir willkommen gewesen, hätte mir die Kontrolle über mich selbst wieder zurückgegeben.

»Was denn?«, frage ich, glücklich darüber, mich wenigstens nicht wie ein nervöser Schuljunge anzuhören. Dafür ist es verfluchte achtzig Jahre zu spät.

»Hier ungestraft rauchen zu dürfen. Ich kann gar nicht glauben, dass Ihnen bislang noch keiner etwas gesagt hat. Für gewöhnlich sind sie hier diesbezüglich richtig nervig. Sie lassen mich noch nicht einmal in meiner Umkleidekabine rauchen.«

»Na ja, wir haben sozusagen ein Übereinkommen getroffen. Wollen Sie auch eine?«, frage ich, zücke meine Schachtel und schüttle eine heraus.

Reesa zögert einen Augenblick, dann greift sie zu, ist bereit, es wie ich darauf ankommen zu lassen. Manikürte Hände mit roten Fingernägeln führen die Kippe zu einem Mund mit wunderschön geschwungenen Lippen. Noch nie zuvor war ich eifersüchtig auf eine Zigarette. Anscheinend gibt es tatsächlich ein erstes Mal für alles. Sie wartet darauf, dass ich ihr Feuer gebe. Ihr Wunsch ist mir Befehl.

»Ich hoffe, Sie sind Mick Angel«, sagt sie und nimmt einen tiefen Zug. »Anderenfalls komme ich mir gleich ziemlich dumm vor.«

»Das bin ich. Darf ich Sie auf einen Drink einladen?«

»Ich bekomme die Getränke hier umsonst, aber Sie können gern einen für mich bestellen.« Als sie sich auf den Barhocker neben mir gleiten lässt, ertönt das Rascheln von Seide auf Vinyl. Jetzt bin ich eifersüchtig auf den Hocker.

»Okay. Lassen Sie mich raten – Sie sehen mir nach einer Lady aus, die gern Martini trinkt.«

»Gut geraten. Und ich wette, Sie trinken Scotch.«

Wir lächeln. Verwandte Seelen.

»Wodka?«, frage ich in der Hoffnung, dass dem nicht so ist.

Sie schüttelt den Kopf, leuchtend rote Locken hüpfen um ihr hübsches Gesicht. »Gin. Drei Oliven. Dirty.«

»Aha, dirty also.«

»Je dirtier, desto besser.«

Ich rufe den Barkeeper zu uns und bestelle ihren Drink. Ihm fällt auf, dass Reesa raucht, und er vermasselt fast alles, doch ich unterbreche ihn, erkläre ihm, er hätte wieder alles falsch verstanden. Dieses Mal huscht ein Anflug von Zweifel über sein Gesicht. Das ist das Problem mit dem hypnotischen Blick. Er ist ein nettes Werkzeug, aber manche Menschen sind dafür empfänglicher als andere. Für gewöhnlich hängt es mit der Intelligenz zusammen. Ich frage mich, ob ich den hypnotischen Blick bei diesem Kerl bereits zu sehr ausgereizt habe und die Lage ungemütlich werden könnte, doch dann erlischt der Zweifel in seinem Blick, und er mixt den Drink.

»Sind Sie denn schon mal hier gewesen?«, fragt sie.

Ich nicke. »Ist aber eine ganze Weile her.«

»Schon jemals meine Show gesehen?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich glaube nicht, dass Sie aufgetreten sind, als ich das letzte Mal hier war, aber ich wäre früher hierher zurückgekommen, wenn ich gewusst hätte, was mir da entgeht.«

Das gefällt ihr. Dafür schenkt sie mir ein Lächeln.

»Das hier sieht nach einem Ort aus, an dem Sie sich wohl fühlen könnten.«

»Tatsächlich?«

Jetzt ist es an ihr zu nicken. »Na ja, also, dieser Ort hier ist etwas altmodisch, und Sie scheinen mir auch eher einer vom alten Schlag zu sein.«

Ich lächle ironisch. »Alter Schlag. Das bin ich, ganz richtig.« Mit Betonung auf alt.

»Ich stehe darauf«, versichert mir Reesa. »Das ist ein Kompliment.«

»Dann fasse ich es auch als solches auf.«

Wir lächeln. Die Drinks kommen. Ich erfreue mich an dem perfekten Abdruck ihrer vollen Unterlippe auf dem Rand ihres Martiniglases.

Doch so sehr ich das hier auch um des Vergnügens willen genießen möchte, es geht ums Geschäft, weshalb ich es auf den Punkt bringe und sie frage, womit ich ihr helfen kann.

»Ich möchte, dass Sie meine vierzehnjährige Schwester Raya finden. Sie ist verschwunden.«

»Seit wann?«

»Jetzt schon seit ein paar Monaten. Sie hat bei mir und meinem Freund gelebt, ist dann aber abgehauen.«

Irgendwo in dem Gesagten kann ich eine Lüge ausmachen, doch ich lasse sie durchgehen. Jeder lügt. Was mich viel mehr durcheinanderbringt, ist die Tatsache, dass sie einen Freund hat – um mal ganz ehrlich mit Ihnen zu sein.

»Und keiner sucht nach ihr?«

»Die Bullen sagen, dass sie das tun, aber sie haben sie noch nicht gefunden. Was bedeutet denen schon ein weiterer Teenager, der von zu Hause ausgerissen ist?«

»Warum hat sie bei Ihnen und nicht bei Ihren Eltern gewohnt?«

»Wenn Sie meine Familie kennen würden, würden Sie mich das nicht fragen. Sagen wir mal so: Bei meinem Vater läuft es meistens nicht ganz rund.«

Ich nicke. »Sie hat also bei Ihnen und Ihrem Freund gewohnt.«

»Ex-Freund. Ich habe ihn ein oder zwei Wochen danach verlassen.«

Das zu hören ist eine Wohltat für mein Herz. »Darf ich fragen, warum?« Ich schnüffle herum. Verklagen Sie mich doch, wenn Sie wollen.

»Wollen Sie die kurze oder die lange Version?«

»Die Highlights reichen mir völlig.«

»Also, abgesehen davon, dass er ein totaler Scheißkerl von einem menschlichen Wesen ist, stellte sich heraus, dass er alles, was ihm vor seinen kleinen Pimmel kam, gefickt hat.«

»Verstehe.«

»Entschuldigen Sie. Ich sollte nicht so reden. Das ist nicht gerade ladylike.«

»Keiner könnte Sie jemals für etwas anderes als für eine Lady halten«, sage ich und kassiere dafür ein weiteres hinreißendes Lächeln.