Folge 1

Ivar Leon Mengers

P O R T E R V I L L E

„Von Draußen“

Raimon Weber

- Originalausgabe -

3. Auflage 2013

ISBN 978-3-942261-41-8

Lektorat: Hendrik Buchna

Cover-Gestaltung: Ivar Leon Menger

Fotografie: iStockphoto

© Verlag Psychothriller GmbH

www.psychothriller.de

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Ein Buch zu schreiben, dauert Monate. Es zu kopieren, nur Sekunden. Bleiben Sie deshalb fair und verteilen Sie Ihre persönliche Ausgabe bitte nicht im Internet. Vielen Dank und natürlich viel Spaß beim Lesen! Ivar Leon Menger

Prolog

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger von Porterville! Im Angesicht nie gekannter Gefahren ist es mein unumstößliches Ziel, die Freiheit und Sicherheit unserer wunderschönen Stadt zu bewahren. Und ich gelobe feierlich: Ich werde jeden einzelnen von euch, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, wieder heil nach Hause bringen.“

Angus Hudson

Bürgermeister von Porterville

1

Porterville ist Geborgenheit und Glück!

Draußen bedeutet Verlust und Chaos!

Ich fixiere die Leitsätze unter dem Portrait des Bürgermeisters Takumi Sato an, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Es hätte auch jeder andere Punkt im Klassenzimmer sein können. Ein winziger Schmutzfleck oder ein vergessener Klebestreifen, an dem einst ein Poster mit gut gemeinten Ratschlägen hing.

Ich kann mich noch genau an die bunten Poster erinnern, die damals im monatlichen Rhythmus wechselten. Wenn sie von der Klassenleiterin an die Wand geheftet wurden, folgte im Anschluss stets eine zweistündige Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema. Dabei ging es um Körperhygiene, Energieeinsparung oder Mülltrennung. Oder, wie vor drei Jahren, um Partnerschaft. Das Motiv habe ich mir eingeprägt. Das Poster war durch eine rote Linie in zwei Hälften geteilt. Auf der linken betrieb eine Gruppe junger Mädchen Gymnastik, in dem sie überaus geschickt bunte Bänder durch die Luft wirbeln ließen. Die rechte Seite zeigte vier Jungen mit verbissenen Gesichtern, die um einen Football rangen. Drei von ihnen lagen bereits am Boden, der vierte, ein mächtiger Bursche mit Kriegsbemalung, warf sich gerade auf sie. Er war inmitten des Sprungs festgehalten worden, so dass er trotz seines massigen Körpers wie schwerelos wirkte.

Über den gegensätzlichen Szenen prangte die Losung: Lebt eure Jugend! Lasst euch Zeit!

Unsere damalige Klassenleiterin hatte uns klargemacht, dass man die kostbare Zeit der Jugend nicht mit Schwärmereien für das andere Geschlecht vertun soll. Dafür wäre im späteren Leben noch genügend Zeit. Außerdem seien flüchtige Emotionen ohnehin nicht dazu geeignet, um eine Partnerschaft einzugehen. Die städtische Instanz für Lebensgemeinschaften würde in jedem Einzelfall erkennen, wer füreinander bestimmt ist. Und auch den richtigen Zeitpunkt mitteilen. Bis dahin hat all unser Streben dem Wohl der Stadt Porterville zu dienen.

Damals, als Zwölfjährige, klang das für mich plausibel. Wer, wenn nicht die zuständige Instanz, sollte wissen, was richtig ist. So ist es doch in allen Bereichen. Doch als ich Jonathan vor drei Monaten kennenlernte, wuchsen in mir Zweifel an der Richtigkeit.

Während ich die Leitsätze anstarre, denke ich nur an Jonathan. Mrs. Gratschow referiert monoton über ethische Grundlagen der Gemeinschaft. Ihre Sätze zerfasern in meinem Kopf zu einem monotonen Rauschen.

„Miststück!“, kreischt Carmen neben mir.

Ich blicke zur Seite. Ein Greybug, ein besonders fettes Exemplar mit mindestens drei Zentimeter Durchmesser, krabbelt vor ihr über die Tischplatte.

Carmen schlägt mit der Faust auf den Tisch. Die Vibration lässt den Greybug auf der Stelle verharren. Carmen zückt ihr Cuttermesser und schneidet das Ding in der Mitte durch. Dabei muss sie einige Kraft aufwenden. Ein Greybug ist sehr zäh. Eine gelbliche Masse dringt aus den Körperhälften. Zum Glück ist sie absolut geruchlos. Greybugs stinken nicht, sie fressen dafür aber alles Mögliche an. Kunststoff, Holz, Kleidung und natürlich Lebensmittel. Es heißt, sie würden auch nicht vor hilflosen Menschen zurückschrecken. Kranke und Säuglinge verbringen die Nächte daher unter einem Netz aus Leichtmetall.

„Gut gemacht!“, vernehme ich Mrs. Gratschows Stimme. Sie eilt mit einer Sammelbox herbei. Die Lehrerin streift sich Latexhandschuhe über, lässt die beiden Hälften des Greybugs in der metallenen Box verschwinden und reicht meiner Nachbarin ein Papiertuch, um den Tisch abzuwischen.

Mrs. Gratschow schüttelt den Kopf. „Die Viecher werden immer aufdringlicher“, murmelt sie und schaut kurz in die Sammelbox. Ich vermute, dass sich darin schon mehrere Dutzend Exemplare befinden müssen. Das Ergebnis von weniger als einer Woche.

Ein Gongschlag beendet in diesem Moment den Unterricht. Alle Mädchen stehen wie in einer einzigen Bewegung auf, verharren kerzengerade und sehen zu, wie Mrs. Gratschow sich dem Bild des Bürgermeisters zuwendet und eine Verbeugung andeutet. Dann sind wir an der Reihe, Takumi Sato unsere Ehrerbietung zu erweisen.

Was wird der Bürgermeister dazu sagen, wenn er erfährt, dass ich mich ausgerechnet in seinen Enkel verliebt habe? Entgegen aller Vorschriften.

Beim Verlassen des Klassenraums treffe ich auf dem Flur den Hausmeister. Er ist das einzige männliche Wesen in diesem Teil der Schule. Mädchen und Jungen werden getrennt unterrichtet.

Der Hausmeister sprüht etwas aus einer grellroten Flasche in einen schmalen Spalt auf dem gefliesten Fußboden. Gift gegen die Greybugs, vermute ich. Manchmal bebt die Erde. Erst in der letzten Nacht wurde ich durch eine Welle von Erschütterungen wach. Fundamente verschieben sich, Risse entstehen auf Straßen und an Gebäuden. Daraus kommen dann die widerlichen Greybugs hervor. Ovale, graue Käfer ohne Kopf und sichtbare Sinnesorgane. Sie sind extrem widerstandsfähig. Wenn man versucht, sie zu zertreten, glaubt man nachgiebiges Gummi unter der Schuhsohle zu spüren. Anschließend flitzen sie völlig unversehrt davon. Man muss sie vergiften, zerschneiden oder verbrennen.

Ich habe jetzt einige Stunden Freizeit, die ich bei meinem Großvater verbringen möchte. Er ist der einzige Verwandte, den ich habe. Ich glaube, dass er nur mir zuliebe noch nicht gestorben ist. Obwohl er sehr krank ist und unter ständigen Schmerzen leidet. Meine Besuche, so betont er immer wieder, sind die einzigen Lichtblicke in seinem ansonsten so tristen Dasein. Manchmal, von einem Moment zum anderen, beginnt er zu weinen. Wenn ich ihn nach dem Grund frage, gibt er mir keine vernünftige Antwort.

An meine Eltern kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich war keine zwei Jahre alt, als sie durch das Draußen getötet wurden. Wie alle aus ihrer Generation.

Im Bedarfs-Center werde ich ein kleines Geschenk für Großvater besorgen.