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Verliebt zu sein bedeutet, dass sich einem von heute auf morgen ein Grinsen ins Gesicht frisst und nicht mehr rauswill. Es pflanzt sich einfach auf die Lippen, zieht die Mundwinkel um ein paar Millimeter nach oben, peng, das war’s dann vorerst. Bis zum ersten Kuss – danach geht es meistens schnell wieder weg. Ich spreche aus Erfahrung, ehrlich, und ich find’s ausgesprochen schade, dass dieses Glücksgrinsen und das Herzflattern, dass das alles so schnell vorübergeht. Ich meine, es könnte ja auch mal vorkommen, dass man etwas länger grinst – es muss ja nicht gleich eine Ehe draus werden. Aber es scheinen auf dieser Erde keine Jungs herumzulaufen, die einem länger als, sagen wir, vier Wochen diesen gewissen Kick geben.

Bei mir hat es Ronni am längsten geschafft. Immerhin dauerte der Kick ganze sechs Wochen, Grinsen inklusive. Suse fing damals schon an sich über mich lustig zu machen. Weil ich gickelnd durch die Gegend lief, high, wie unter Drogen. Weil das ausgerechnet mir passierte, der Sachlichkeit in Person, Madame Haudegen, wie man mich in meiner Klasse zu nennen pflegt.

Klar, sollen sie doch!

Mit denen habe ich eh nichts am Hut. Pickelgesichtige kleine Jungs, die sich schon scharf finden, wenn sie nur ihre Baseballmütze verkehrt herum aufsetzen. Ich stehe auf richtige Männer, auf solche, die es nicht nötig haben, mit pubertären Heldentaten von sich reden zu machen, solche, die für sich selbst sprechen und im richtigen Moment das Richtige sagen.

Ronni war damals in der glücklichen Situation, als Referendar an unserer Schule irgendwelche pädagogischen Theorien an uns verdorbenen Schülern auszuprobieren, alles in allem Psychokram, manchmal jedenfalls, und manchmal war’s auch toll – richtig toll!

Wir hatten Ronni in Deutsch – mein Paradefach –, da konnte ich glänzen, besonders wenn er Brecht am Wickel hatte. In dieser Branche kenne ich mich aus, ohne Überteibung. Mein wertgeschätzter Pa hat in den letzten zehn Jahren kaum etwas anderes getan als sich mit Brecht und Konsorten zu beschäftigen. Eigentlich seit Mama nicht mehr da ist. Egal. Jedenfalls glänzte und glänzte ich und kassierte eine Eins nach der anderen – und das war’s auch schon. Mehr nicht. Manchmal schenkte Ronni mir noch ein Lächeln, aber das hatte eher mit meinen Leistungen als mit meinem Sex-Appeal zu tun, der wahrscheinlich doch keiner ist, pah! Und wenn man davon absieht, dass eine unerwiderte Liebe eigentlich schrecklich und keine richtige Liebe ist, dann kann ich nur sagen, Herr Referendar Ronni Heuser hat es immerhin geschafft, dieses unglaubliche Grinsen in mein Gesicht zu zaubern und meine Hormone ganz schön auf Trab zu bringen.

Schade, dass nie etwas draus geworden ist. Aber vielleicht bin ich eh nicht normal, weil mein Interesse immer verpufft, wenn die Dinge in greifbare Nähe rücken. Außerdem – ein Techtelmechtel mit einem Lehrer ist sowieso ausgeschlossen. Dumme Schulgänse wie ich interessieren so einen doch nicht die Bohne.

Vor einem Jahr hat Ronni dann die Schule gewechselt, schade, und jetzt laufe ich ohne Freund und Schwarm durch die Gegend. Höchstens noch mit einem leeren Gefühl im Bauch. Dunkel, trübe, trist ist’s in mir drin. Blöde Jahreszeit, der März. Kein bisschen Sonne und Suse ist krank. Sie liegt seit einer Woche mit Grippe im Bett und vermiest mir den Alltag. Weil ich deshalb alleine Bio-Bechler ertragen muss, weil die U-Bahn mir noch schmutziger als sonst vorkommt und weil ich nicht weiß, wie ich den Abend mit meinem Pa alleine rumkriegen soll. Wir haben nämlich nur einen Fernseher, und da mir nichts anderes in den Sinn kommt als fernzusehen, werde ich mich automatisch mit Pa wegen des Programmes in die Haare kriegen. Seine drittklassigen US-Action-Filme kann ja kein Mensch ertragen!

Ist wohl so was wie Nachholbedarf nach all den Brecht-Jahren, die hinter ihm liegen.

Mist! Nicht mal was zu knabbern steht auf dem Tisch. Da steigere ich mich heute in Dinge rein, die man eigentlich nicht so eng sehen sollte: Pa, Liebe und das Leben im Allgemeinen – alles verrückter Blödsinn. Völlig überflüssig, diese moral-triefenden Momente, nur weil die beste Freundin mal ein paar Tage lang nicht verfügbar ist.

Und dass ich nicht verliebt bin, obwohl ich’s gerne wäre, ist doch kein Wunder. In puncto Jungen sieht es an unserer Schule nämlich wie meistens in unserem Kühlschrank aus: gähnende Leere! Da gibt’s nicht einen einzigen, der einem Ronni-Vergleich standhalten könnte, keinen, der es wert wäre, dass man zu grinsen anfängt. Gerade kommt Pa ins Wohnzimmer und guckt so selbstverliebt, Ich schätze, dass er gleich ein anderes Programm sehen will … Nein, diesmal nicht. Diesmal lächelt er nur und fragt mich, wie es in der Schule war. So lala, sage ich und habe meine Ruhe.

Raumschiff Enterprise ist unschlagbar. Dr. Zulu rast über die Kommandobrücke, Captain Kirk spinnt, Mister Spock redet in Sentenzen, Verdacht auf manipuliertes Gehirn.

Ich war schon immer in Spock verliebt. Trotzdem schalte ich nach einer Viertelstunde aus und gehe mit einer Coke in mein Zimmer. »Revival der 70er« – der Artikel für die Schülerzeitung ist längst fällig.

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Ich sitze in der hintersten Bank und habe sie im Visier. Lotte, die Superfrau. Kerzengerade sitzt sie da, die Haare fallen ihr lang und glatt auf die Schultern. Dann schnellt plötzlich ihr Arm nach oben. Ja, Lotte? Sie redet und redet, immer wie ein Buch, ohne Punkt und ohne Komma, aber was mich am meisten beeindruckt, sie sagt immer nur kluge Sachen. Nie stammelt sie herum und rot wird sie schon gar nicht. Vielleicht ist es Bewunderung oder Hass oder Neid, vielleicht alles zusammen, jedenfalls kann ich nicht anders als permanent in ihre Richtung zu starren.

Hübsch ist sie auch noch, ziemlich blond und ziemlich blauäugig. So haben Mädchen auszusehen, meint Hans. Ich stelle mir vor, wie die Jungen an ihr kleben, wenn sie abends ausgeht, da hat sie bestimmt ein ganzes Rudel Typen hinter sich und alle wollen mit ihr ins Bett.

Tatsache ist allerdings, dass sie in der Schule selten mit einem Jungen zu sehen ist. Meistens läuft sie mit ihren Freundinnen herum, Pia, Suse und wie sie alle heißen. Sie quasseln und quasseln, weshalb man bei denen nicht die geringste Chance hat, auch nur das harmloseste aller harmlosen Gespräche anzufangen.

Um ehrlich zu sein, ich würde auch gerne mit Lotte ins Bett gehen. Wahrscheinlich ist sie wild und erfahren und sie würde mir Dinge zeigen, von denen ich keine Ahnung habe. Ich war erst einmal mit einem Mädchen im Bett, ungefähr ein halbes Jahr ist es her, mehr zufällig als geplant, es hat sich halt so ergeben. Mireille von nebenan. Fordernd ist sie zur Sache gegangen, eine kurze, seltsame Begebenheit – das kann’s doch nicht gewesen sein! Eine Woche später ist Mireille weggezogen und Sex und alles, was dazugehört, ist aus meinem Gedächtnis verschwunden. Mit Lotte scheint es anders zu sein. Lotte ist die Über-Frau, zwar sexy bis dorthinaus, aber es ist nicht nur das. Ich will Lotte ganz und nicht nur ihren Sex. Es interessiert mich zum Beispiel nicht, wie ihre Brüste aussehen, es ist mir nur wichtig, dass es ihre Brüste sind und nicht die eines anderen Mädchens. Verrückt.

Vielleicht bin ich wirklich verrückt. Verrückter als alle anderen, die einfach mit den Mädchen schlafen und nicht so kompliziert denken.

Einmal bin ich letzte Woche mit einem Mädchen ins Kino gegangen, danach haben wir eine Pizza bei Carlo gegessen und vor Mitternacht habe ich sie höflich zu Hause abgesetzt. Wie bitte? Du hast sie nicht abgeschleppt?, hat Hans fassungslos gefragt. Die hat sich dir doch auf dem Tablett präsentiert! Na und? Ich hab sie eben nicht gewollt, das Mädchen auf dem Tablett, und gekonnt hätte ich schon gar nicht. Weil ich nicht verliebt war. Weil es mir eben nicht ausreicht, dass Mädchen hübsch sind. Vielleicht bin ich da anders als andere Jungen – ohne Gefühl läuft bei mir gar nichts. Manche denken schon, ich bin schwul.

Montagmorgen stehe ich in der Pause mit Kai zusammen und lese in der neuesten Ausgabe der Schülerzeitung. Natürlich hat Lotte wieder einen Artikel drin, eine Abhandlung über das Wiederaufleben der 70er Jahre. Nicht schlecht, der Text. Könnte ich nur annähernd so gut schreiben! Aber selbst wenn ich etwas zu sagen hätte, ich würde mich nie trauen. Ich sehe schon, wie sie alle über mich lachen, Schriftsteller, Drehbuchautor will er werden – lächerlich! Also habe ich mir etwas anderes zurechtgelegt. Medizin könnte ich studieren, zum Beispiel Herzchirurg werden. Oder Kinderarzt.

Meine Gedichte, die ich regelmäßig zu Hause schreibe, gehen im Übrigen niemanden was an. Nicht mal Hans habe ich davon erzählt, der würde es nicht verstehen. Der jagt nur Mädchen nach und dem, was sie unter ihren Röcken haben. Ich schreibe meistens auf Spanisch, da finde ich die Worte leichter als im Deutschen. Liebe ist etwas, das kompliziert wird, wenn man Worte dafür finden will, und Gefühle kann man nun mal am besten in seiner Muttersprache ausdrücken.

Montag ist der übelste Tag der Woche. Fünfte und Sechste Deutsch. Ich hasse Deutsch. Weil Frau Renzau keine Ahnung von Literatur hat und weil es mir einfach gegen den Strich geht, mir diesen Müll anzuhören. Nicht dass ich etwas gegen Goethe habe, im Gegenteil. Ich liebe zum Beispiel den Werther und die Lyrik des Sturm und Drang, aber die Renzau hat eben so eine Art, die kann man nur unerträglich nennen. Mit einer breiigklebrigen Stimme monologisiert sie vor sich hin, dass einem fast übel wird. Außerdem gibt es ihrer Ansicht nach nur eine mustergültige Interpretation eines Textes, und wenn man die in der darauf folgenden Stunde nicht exakt nachplappern kann, ist man eh unten durch.

Zum Glück stehen die Sterne heute günstig und die Renzau kündigt eine Klassenfahrt an, die wir im Einzelnen ausdiskutieren. Voraussichtlich Berlin, jüngste Geschichte und so.

Klar, dass ich innerlich juble. Eine Klassenfahrt ist so mit das Großartigste, was mir passieren kann. Wenn ich schon nicht den Mut finde, Lotte anzusprechen, so bin ich wenigstens in ihrer Nähe – Tag und Nacht. Als ich kurz zu ihr rüberschaue, habe ich fast den Eindruck, als würde sich ihr Blick kurz in meinem verfangen, aber wahrscheinlich bildet man sich die Dinge nur ein, von denen man möchte, dass sie wahr sind.

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Ich sitze im Bus nach Berlin – Klassenfahrt. Nicht dass mich der Gedanke begeistert, fünf Tage lang mit den Idioten aus meiner Klasse auf den Spuren der jüngeren deutschen Geschichte zu wandeln. Bäh, die einstige Mauer – was soll das, dass ich andächtig vor ein paar grauen Steinen stehe, die sie versäumt haben abzureißen!

Suse sitzt neben mir und feilt ihre Nägel zu kleinen spitzen Dreiecken. Vor uns Hans’ speckiger Haarschopf, daneben Moritz’ Lockenmähne.

Vorhin hat er sich umgedreht und mir einen Joghurt angeboten. Na ja, was soll man dazu sagen? Lauwarmer Bananenjoghurt ist so mit das Widerlichste, was ich mir vorstellen kann.

»Leihst du mir die nachher?», frage ich Suse und zeige auf die Feile.

»Kannst sie haben.« Suse lächelt wie ein Engelchen. »Mann, freu dich doch, eine Woche frei!«

»Eine Woche Steine angucken und dann noch diese beknackte Jugendherberge. Da kriege ich Nackenstarre und einen verpickelten Rücken.«

Ich lehne mich zurück und fange an wütend an meinen Nägeln herumzusäbeln. Ich werde sie ganz kurz machen, bis meine ganze Wut weggearbeitet ist.

Suse taucht für die nächste halbe Stunde in einen tranceartigen Dösanfall ab, während mir immer bewusster wird, wie ich diese grässliche Busfahrt hasse. Dudelmusik über Lautsprecher. Die beiden Haarschöpfe vor mir rucken in einer Tour hin und her. Ich feile und feile, bis alles Weiße, was jemals an einen Fingernagel erinnert hat, verschwunden ist.

Draußen schiebt sich die Sonne langsam aus den Wolken, vielleicht ist ja doch alles nicht so schlimm, wie ich befürchte, vielleicht können Suse und ich uns mal loseisen. Gemeinsam durch die Stadt toben, den Ku’damm rauf, Kaffee trinken, weg von den Babygesichtern aus unserer Klasse.

Gegen drei kommt der Bus bei der Jugendherberge an. Wir sind zu viert in einem Zimmer, das geht noch, finde ich. Mädchenschweiß hoch zehn ist nämlich weitaus grausamer als Bananenjoghurt.

Suse und ich organisieren uns gleich die obere Etage der beiden Doppelbetten. Oben, so finden wir, hat man den Überblick. Über Elske, Ann-Katrin und über die Welt im Allgemeinen.

Man sollte im Leben nicht die Fäden aus der Hand geben und die Entscheidungen den anderen überlassen. Da verliert man seine Identität, da wird man bald zu einem armseligen Psychohäufchen, wie sämtliche Großmütter dieser Welt es waren und vielleicht noch sind. Ich steh auf dem Standpunkt, man soll sich sein Stückchen von der Torte, die man Leben nennt, abschneiden, und zwar ohne über Leichen zu gehen. Das ist nämlich das andere Problem, dass manche immer gleich das größte Stück von der Torte wollen und dass sie dabei eine Million Leichen am Wegesrand zurücklassen. Mädchen gehen oft über Mädchenleichen. Wenn sie zum Beispiel auf einen bestimmten Jungen scharf sind, wenn sie zeigen müssen, dass sie am besten ankommen. Dann werden sie zickig und kriegen so spitze Ellenbogen, dass sie Milchtüten damit aufschlitzen könnten. Das finde ich grässlich. Solche Mädchen kann ich nicht ausstehen und lasse sie als ebenso modrige Leichen hinter mir.

Die letzte Mädchenleiche, die ich zu Grabe getragen habe, war Gritt aus meiner Parallelklasse. Supernett, superfreundlich – bis ich feststellte, dass ihr Lächeln nur den Sinn hatte, ihr Revier abzustecken und alle frei herumlaufenden Hirsche auf ihre Seite zu ziehen. Zum Beispiel wollte sie über mich nur meinen Cousin kennen lernen – damals stand er kurz vorm Abi. Es konnte ja nicht schaden, jemanden zu kennen, der ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hatte. Richard war das Objekt und ich die Mittelsfrau. Zum Glück haben wir beide nicht mitgespielt!

Arme Gritt! Leider konnte ich nicht anders als ihr sagen, dass sie eine blöde Kuh sei, und wenn sie es nötig habe, überall die Platzhirschin raushängen zu lassen, dann könne sie mich mal.

Gritt fing an zu heulen – Triumph!

Zwei Wochen lang habe ich mich wie Arnold Schwarzenegger gefühlt – zumal Richard ihr auch noch eins reingewürgt hat, indem er sein nicht vorhandenes Interesse an ihrer Person mehr als deutlich bekundet hat. Das ist übrigens das Tolle an Suse. Sie würde nie über Mädchenleichen gehen, das würden wir beide nicht tun: uns gegeneinander auszuspielen.

Betten beziehen. Ich kann nicht behaupten, dass ich dieser Tätigkeit irgendetwas abgewinne. Das Kopfkissen kriege ich meistens noch hin, aber bei der Bettdecke gelingt es mir nie, sie akkurat in den Bezug zu bugsieren. Meistens habe ich an einem der Enden nur zwei schlaffe Zipfel und dann denke ich, wie kompliziert die Welt doch ist, dass man schon bei den einfachsten Verrenkungen ins Schleudern kommt. Kaum dass ich mein Bett hingeschlampt und die Taschen ausgepackt habe, beginnt bereits das elendige Pflichtprogramm.

Wieder rein in den Bus zu einer wahrscheinlich todlangweiligen Stadtrundfahrt. West und Ost, dann wieder West. Hans und Moritz sitzen diesmal hinter uns, was für ein Zufall. Als ob da irgendwas am Laufen wäre – nur hinter wem von uns beiden Hans her ist, darauf kann ich mir keinen Reim machen. Moritz fällt sowieso aus, viel zu schüchtern ist er, um überhaupt etwas von einem Mädchen zu wollen. Moritz mit seinen romantischen Schwärmaugen.

Jetzt redet er von hinten auf mich ein. Ob ich einen Artikel über Berlin schreiben würde, fragt er. Nein, antworte ich knapp. Wahrscheinlich bin ich mal wieder viel zu unfreundlich, aber ich kann es eben nicht leiden, wenn man mir ein Gespräch aufzwingen will.

»Lieber Moritz«, sage ich, als er gar nicht mehr mit dem Thema aufhören will, »das kann ich erst beurteilen, wenn ich diese dusselige Klassenfahrt hinter mir habe.«

»Wieso dusselig?«, fragt er.

»Weil ich Berlin nur stinkig und überfüllt finde und weil ich viel lieber nach London oder nach Rom oder nach Karthago gefahren wäre.«

»Karthago?«

»Ja, Karthago.«

Er lächelt. Ich glaub, es ist das erste Mal, dass ich ihn lächeln sehe, und dabei gehen wir schon zwei Jahre lang in eine Klasse. »Kennst du Berlin?«

»Ja.«

»Verwandte?«

»Ja, genau«, sage ich und drehe mich wieder um.

Mein Hals ist inzwischen ganz verspannt vom ständigen Kopf-Hin-und-Herdrehen.

Wir kommen nun zu der Stelle, wo mal die Mauer gestanden hat. Irgend so ein dämlicher Reisebegleiter sitzt vorne und kaut die Chronologie der Ereignisse vom Herbst 1989 durch. Alles kalter Kaffee.

Jetzt zu einem anderen Thema: Essen, Nahrungsaufnahme. Ich habe ein elendiges Loch im Bauch und ich schätze, ich werde eines noch elendigeren Todes sterben, wenn der Bus es nicht schafft, in der nächsten halben Stunde in unserer Herberge einzutrudeln.

»Habt ihr auch Hunger?«, rufe ich nach hinten den Jungs zu. Ich drehe mich um. Hans döst in der Embryostellung vor sich hin, Moritz geht auf Tauchstation, seltsam rot ist er im Gesicht. Na, dann nicht, denke ich und überlasse die beiden ihrer selbst gewählten Männereinsamkeit.

Kurze Zeit später kommen wir in der Jugendherberge an. Wir sitzen an langen Bänken, trinken Pfefferminztee und essen Brote mit Käsescheiben, die wir aus grässlichen Plastikverpackungen schälen.

Ich liebe Tomaten. Ich würde wirklich alles drangeben, in diesem Moment eine Tomate zu essen, aber es gibt eben keine. Also muss ich mich damit abfinden, dass frisches Gemüse und dergleichen das Privileg derjenigen ist, die nicht mehr auf Klassenfahrt gehen müssen.

Während Suse und ich schweigend essen und die Blicke über unsere milchgesichtige Klasse schweifen lassen, über Böttgers und die Renzau, überlege ich, ob die nicht vorhandenen Tomaten vielleicht einen Artikel für unsere Schülerzeitung wert wären.

Über Berlin schreiben alle, aber auf die Unkultur in unserer Kultur macht kein Mensch aufmerksam. Dabei ist sie an allen Ecken und Enden zu spüren. Nicht dass es nur um fehlende Tomaten in Jugendherbergen geht, nein, in allen Lebensbereichen lässt sich was finden: Zum Beispiel hemmungslose Menschen am Strand, die ihre krebsroten Bäuche zur Schau stellen; Schaulustige bei Unfällen; das Fernsehen, das so was auch noch gnadenlos ausschlachtet, Hauptsache, jemand Totes ist dabei. Immer länger wird die Liste. Ich hasse Menschen, die am Buffet drängeln und alles in sich reinfressen, weil es ja umsonst ist.

Suse sieht mich von der Seite an. Wenn ich still werde und in mich abtauche, weiß sie sofort Bescheid.

»Midlife-Crisis?«, fragt sie.

Ich zucke mit den Schultern.

»Blödsinn«, sage ich.

Glatt gelogen.

Ich bin ziemlich mies drauf, das ist die Wahrheit. Und zwar, weil ich mich nicht verlieben kann, nicht mit Haut und Haaren, und dabei ist es das Einzige auf der Welt, das mir richtig gefallen würde.

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Die Zeit rast nur so vorbei, Minute für Minute.

Immer schneller.

Abends, wenn ich im Bett liege, über mir Hans’ Schnarchen, ist es umgekehrt. Dann kommt es mir vor, als wäre ich schon eine Ewigkeit in Berlin, so voll gestopft mit Eindrücken sind die Tage. Potsdam, Neue Wache, Alexanderplatz, Checkpoint Charlie, der Reichstag – nicht dass ich so wissbegierig bin und mich gern mit Geschichte voll stopfe, aber was ich von zu Hause an Urlaubsgestaltung kenne, geht über Mallorca-Akne-am-Pool-Züchten eben nicht hinaus.

Das nenne ich Glück, wenn man die Zeit erst nicht spürt und sie dann doch spürt und wenn man es nicht mehr schafft, all die Gedanken im Kopf zu sortieren.

Dabei hält sich Lotte von mir fern und außer ein paar banalen Gesprächen ist bisher nichts zustande gekommen. Jeden Tag nehme ich mir von neuem vor es endlich zu wagen und mich mit ihr zu verabreden, aber wenn ich nur in ihrer Nähe stehe, ist mein Mut wie weggeblasen. Nur noch zweieinhalb mickrige Tage bleiben mir, meine einzige Chance. Denn wenn wir erst wieder in der Schule sind, werden sämtliche Klappen der Distanz fallen.

Und überhaupt – ich wüüäüööä